Geborgen in starken Armen

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Seine starken Arme sind wie ein schützender Hafen - bei Diego Ramirez fühlt die junge Ärztin Izzy sich unendlich geborgen. Niemand wäre ein besserer Daddy als er! Vorausgesetzt, Diego kann akzeptieren, dass das Kind unter ihrem Herzen nicht von ihm ist …


  • Erscheinungstag 24.02.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505741
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ich möchte wieder arbeiten.“

Die Psychologin schwieg.

„Wirklich, ich freue mich darauf“, fuhr Izzy eifrig fort. „Ein paar Leute haben mir zwar geraten, damit bis nach der Geburt des Babys zu warten, aber ich denke, es ist das Richtige für mich.“

Jess Carmichael sagte immer noch kein Wort.

„Ich will nach vorn sehen.“ Ihr Gegenüber blickte sie freundlich an, aber Izzy hatte trotzdem das Gefühl, mit einer Wand zu reden. „Ich habe einen Makler beauftragt, das Haus zu verkaufen …“

Sie fühlte sich wie bei einem Bewerbungsgespräch. Wahrscheinlich war es auch eins. Nach den schrecklichen Ereignissen vor vier Monaten hatte Ben Carter, der leitende Chefarzt der Notaufnahme, ihr geraten, sich Zeit zu lassen. Sie sollte sich erst völlig erholen, bevor sie ihre Arbeit als Oberärztin am Krankenhaus St. Piran wieder aufnahm.

Im siebten Monat schwanger hätte sie allen Grund gehabt, der hektischen Notaufnahme noch eine Zeit lang fernzubleiben. Aber Izzy fiel die Decke auf den Kopf, sie brauchte eine Aufgabe. Und um gleich Nägel mit Köpfen zu machen, hatte sie Ben Carter in seinem Büro aufgesucht und ihm ihren Entschluss mitgeteilt.

Überraschenderweise war ihr Chef alles andere als begeistert gewesen. Statt sie mit offenen Armen willkommen zu heißen, hatte er sie gebeten, erst mit einem der Psychologen zu reden.

„Das brauche ich nicht!“, hatte sie protestiert.

„Das heißt, du bist schon bei einem Therapeuten?“

„Ich war.“ Izzy schluckte. „Aber jetzt geht’s mir gut.“

„Großartig. Dann wird es dir nichts ausmachen, dich mal mit jemand anderem zu unterhalten.“

„Ben!“ Sie wurde ärgerlich. „Es ist vier Monate her. Du kennst mich …“

„Nein, Izzy“, unterbrach er sie sofort. „Wir haben tagtäglich zusammengearbeitet. Ich war bei dir zu Hause, ich habe deinen Mann kennengelernt, und trotzdem hatte ich keine Ahnung, was du durchmachst. Deshalb … nein, ich glaube nicht, dass ich dich kenne – oder dass du zu mir kommen würdest, wenn du in Schwierigkeiten bist.“

Izzy schürzte die Lippen. Ben war ein netter, sympathischer Mann, aber er konnte auch sehr direkt sein. So direkt, dass es manchmal wehtat.

„Ich habe mit den Kollegen gesprochen …“, fügte er hinzu.

„Über mich?“ Sie war empört.

„Natürlich. Und wir sind der Meinung, dass es für uns alle nicht leicht wird, wenn du in die Notaufnahme zurückkommst. Wir werden auf dich aufpassen müssen, aber du wirst genervt sein, weil wir dich alle fünf Minuten fragen, ob du okay bist. Also bestehe ich darauf, dass du erst mit einem Psychologen sprichst. Ich kann Jess Carmichael anrufen … sie ist sehr kompetent, aber dabei ziemlich locker. Ihr könntet zusammen spazieren gehen oder einen Kaffee trinken …“

„Ich setze mich nicht in die Kantine und rede über mein Leben!“, unterbrach Izzy ihn heftig. „Lieber gehe ich in ihr Büro.“

„Prima.“ Ben hatte nicht mehr ganz so unnachgiebig geklungen. „Wir wollen doch nur dein Bestes, Izzy.“

Und nun saß sie hier, an einem Freitag um die Mittagszeit, und erzählte Jess das Gleiche, was sie auch Ben und ihrer Mutter und ihren Freunden erzählt hatte. Nämlich, dass es ihr gut ging.

Richtig gut!

„Es wird geraten, dass Menschen nach einem seelischen Trauma ein Jahr warten sollten, bevor sie große Veränderungen in ihrem Leben anpacken“, reagierte Jess endlich, nachdem Izzy den Hausverkauf erwähnt hatte.

„Ich bin im siebten Monat schwanger! Ob ich nun darauf vorbereitet bin oder nicht, diese Veränderung kommt. Hören Sie“, fuhr sie etwas freundlicher fort. „Ich möchte das Baby nicht in diesem Haus großziehen, wegen der Erinnerungen, verstehen Sie?“

„Sicher. Haben Sie Leute, die Ihnen beim Umzug helfen?“

„Oh ja, auf jeden Fall. Mir fehlt nur noch jemand, der mir ein gutes Angebot für das Haus macht.“

„Wie reagieren Sie, wenn ein Fall von häuslicher Gewalt eingeliefert wird?“

Izzy hatte geahnt, dass diese Frage kommen würde. „Genau so, als würde eine Schwangere oder eine Witwe eingeliefert werden. Sie haben mein Mitgefühl, aber ich werde nicht alles auf mich beziehen.“

„Nein? Sie haben schreckliche Erfahrungen gemacht, Izzy. Sie haben versucht, sich aus einer erdrückenden Beziehung zu befreien, um Ihr ungeborenes Kind zu schützen. Ihr Mann hat Sie brutal geschlagen, bevor er sich voller Wut ins Auto setzte und davonfuhr. Der Unfall, den er daraufhin verursachte, endete für ihn tödlich. Wenn Sie also mit Patientinnen konfrontiert werden, denen Ähnliches widerfahren ist, können Sie nicht unbeteiligt …“

„Woher wollen Sie wissen, wie ich mich fühle?“, unterbrach Izzy sie und hoffte, dass ihre Stimme nicht zu zittern anfing. Ein Trip in die Vergangenheit war das Letzte, was sie heute gebrauchen konnte. „Ich bin nicht die arme Izzy, und ich brauche niemanden, der mir sagt, es war nicht meine Schuld.“

„Das sage ich ja gar nicht.“

„Ich habe es verarbeitet“, bekräftigte Izzy. „Ja, es war furchtbar, und ja, die Arbeit wird nicht leicht sein, aber ich bin bereit. Mein Leben geht weiter.“

Leider schien Jess davon nicht überzeugt zu sein. Und dabei hatte Izzy sich solche Mühe gegeben – angefangen bei ihrem Outfit. Sie trug ein schickes graues Umstandskleid, dazu schwarze Leggings und Ballerinas. Ihr kurzes blondes Haar schimmerte, und der freche Fransenschnitt wurde durch große silberne Ohrringe perfekt ergänzt. Izzy wollte von Kopf bis Fuß wie eine moderne, selbstsichere Frau wirken, die zufällig schwanger war. Niemand, auch Jess nicht, sollte hinter die Mauer blicken können, die sie um sich errichtet hatte. Für Izzy war es die einzige Möglichkeit, sich vor der Vergangenheit zu schützen und weiterzuleben.

Jess gab ihr ein paar Methoden zur Stressbewältigung an die Hand, übte mit ihr Atem- und Entspannungstechniken und riet ihr schließlich, Hilfe und Unterstützung von Freunden anzunehmen. Izzy fuhr sich durchs Haar, das früher einmal lang und üppig gewesen war, das sie aber in einem Anfall von Wut streichholzkurz geschnitten hatte. Jetzt müsste die Psychologin doch endlich fertig sein …

Weit gefehlt.

„Izzy, niemand weiß, was in der Notaufnahme durch die Tür kommen wird.“ Jess schwieg einen Moment. „Egal, was sich gerade in Ihrem Leben abspielt, egal, welche privaten Probleme Sie haben, Sie müssen absolut konzentriert und bereit sein, es mit jedem Patienten aufzunehmen. Wenn Sie also lieber …“

„Soll ich mich nur um die ambulanten Fälle kümmern?“, unterbrach Izzy sie herausfordernd. „Oder ein paar Monate die Schutzimpfungen beim Personal durchführen?“

„Izzy …“, sagte Jess beschwichtigend, doch Izzy ließ sich nicht bremsen.

Ihre grauen Augen schimmerten verdächtig, als sie fortfuhr: „Ich bin eine gute Ärztin! Ich würde niemals Leben und Gesundheit meiner Patienten aufs Spiel setzen. Wenn ich nicht bereit wäre, in die Notaufnahme zurückzukommen, würde ich es auch nicht tun.“

Sie lachte freudlos auf. „Alle scheinen zu erwarten, dass ich zusammenbreche.“ Aufgebracht nahm sie ihre Tasche und ging zur Tür. „Es tut mir leid, sie enttäuschen zu müssen, aber das wird nicht passieren.“

2. KAPITEL

„Geburtshelfer in die Notaufnahme!“

Izzy hörte die Durchsage, als sie ihren leeren Pappbecher und das Sandwichpapier in den Abfalleimer warf. Die Türen zur Abteilung wollten sich allerdings nicht öffnen, so oft sie ihre Zugangskarte auch durchzog. Sie wollen mich wirklich nicht haben.

Schließlich machte die Krankenschwester, die ungeduldig hinter ihr gewartet hatte, mit ihrer Karte den Weg frei, und Izzy folgte ihr.

Sie setzen mich in Sektion B ein.

Da war sie sich absolut sicher. Tetanusimpfungen, Kleine Wundversorgung, Knöchel und Handgelenke auf mögliche Frakturen untersuchen … Ben hatte bestimmt dafür gesorgt, dass sie einen sanften Start in den Arbeitsalltag erlebte.

„Geburtshelfer in die Notaufnahme!“

Der Aufruf ertönte erneut, aber Izzy ließ sich nicht beeindrucken. Es kam öfter vor, dass sich werdende Väter in ihrer Panik verirrten und ihre hochschwangeren Frauen statt zur Entbindungsstation in die Notaufnahme brachten.

Izzy blickte auf ihre Armbanduhr. In zehn Minuten fing ihre erste Schicht an.

Die nächsten Automatiktüren glitten auf, ohne dass sie ihre Karte einsetzen musste, und dann befand Izzy sich im heiligen Innern der Notaufnahme. Gutes Timing, dachte sie. Wenn sie ihre Tasche im Spind verstaut hatte, blieben noch ein paar Minuten bis Dienstbeginn. Sie könnte im Personalraum vorbeischauen, ein bisschen Small Talk …

„Izzy!“ Beth, eine der Krankenschwestern, mit der sie schon Jahre zusammengearbeitet hatte, rannte an ihr vorbei. „Zimmer vier … Alle anderen sind beschäftigt … Sie wurde gerade eingeliefert …“

Jess hatte recht gehabt.

Notaufnahme, das bedeutete: in Sekunden von null auf hundert. Von wegen sanfter Start, dachte Izzy, als Les, der Pflegehelfer, ihr die Tasche abnahm. Sekunden später eilte sie neben Beth den Flur entlang, während die Schwester ihr kurz und knapp die nötigen Informationen mitteilte.

„Dreiundzwanzigste Woche, aber der Termin ist unsicher“, ratterte Beth herunter. „Sie schafft es nicht mehr bis zur Entbindungsstation. Ich habe oben anrufen lassen …“

„Wer hat sie sich angesehen?“ Izzy desinfizierte sich die Hände.

„Noch niemand. Das machst du doch.“

Aha.

Nein, in der Notaufnahme blieb einem nichts erspart. Izzy entdeckte Ben, der sich gerade eine Plastikschürze umband. Sie war sicher, dass er die Patientin übernehmen und Izzy zu Sektion B schicken würde.

„Hast du das im Griff?“, rief er ihr jedoch über die Schulter zu und verschwand Richtung Schockraum.

„Klar!“

„Sie heißt Nicola“, sagte Beth.

Izzy holte einmal tief Luft und trat zu der Patientin. „Hallo, Nicola. Ich bin Izzy Bailey, Oberärztin in der Notaufnahme.“

Sie hätte nicht sagen können, wer panischer wirkte, die Pflegeschülerin, die bei der Patientin geblieben war, als Beth losgestürzt war, um eine Entbindungspackung zu holen. Oder die Patientin selbst, die keine Zeit verlor, Izzy die Dramatik der Situation aufzuzeigen.

Nicola schlug das Laken zurück. „Es kommt.“

„Okay.“ Izzy streifte sich Handschuhe über, während Beth die Packung aufriss. Es war definitiv keine Zeit, Nicola in den technisch besser ausgestatteten Reanimationsraum zu bringen. „Sag im Schockraum Bescheid, dass wir ein Baby für sie haben. Sie sollen ein Wärmebettchen vorbereiten. Und ein Notruf an das pädiatrische Team.“

„Vivienne!“ Beth gab die Anweisungen weiter, und die Pflegeschülerin rannte los.

„Uns werden von den Durchsagen gleich die Ohren klingeln“, erklärte Izzy, um die werdende Mutter zu beruhigen. „Aber keine Angst, wir trommeln nur das Personal zusammen, damit für Ihr Baby alles getan wird.“

Die Fruchtblase war noch intakt, wölbte sich jedoch schon vor. Izzy nutzte den Moment, um ihrer Patientin ein paar Fragen zu stellen. Erschöpfende Antworten bekam sie nicht.

„Bis letzte Woche wusste ich nicht, dass ich schwanger bin. Mein Jüngster ist erst sieben Monate alt, ich stille noch.“

„Waren Sie beim Ultraschall?“

„Ja“, antwortete Beth für sie. „Sie kam von dort direkt hierher.“

Aber leider ohne den Untersuchungsbefund, wie so oft in der Notaufnahme.

Darum mussten sie sich später kümmern. Das Baby hatte es eilig.

Außer Atem stürmte die Hebamme genau in dem Moment ins Zimmer, als das Kind auf die Welt kam. Aus den Lautsprechern über ihnen ertönte wieder der Aufruf an das pädiatrische Team, sich in die Notaufnahme zu begeben. Die Fruchtblase, die den Winzling noch Monate hatte schützen sollen, war noch intakt, und Izzy riss sie auf. Rasch reinigte sie mit einem Ballonsauger die Atemwege. Der Kleine war blass und gab keinen Ton von sich, aber er bewegte sich, als Izzy die Nabelschnur durchtrennte.

Obwohl sie nach außen hin ruhig blieb, hämmerte ihr Herz. Diesem jungen Mann standen noch schwere Zeiten bevor, und es war nicht sicher, dass er überleben würde.

„Sie haben einen Sohn.“ Izzy hatte das Baby in Tücher gewickelt und hob es hoch, sodass Nicola es sehen konnte. Und obwohl jede Sekunde zählte, traf Izzy eine jener spontanen Entscheidungen, die ihr Beruf immer wieder erforderte. Sie hielt das Kind ans Gesicht der Mutter, die ihm einen Kuss auf die Wange gab und ihm zuflüsterte, dass sie es lieb habe.

Für mehr war keine Zeit.

Beth hatte drüben in der Reanimation schon das Wärmebettchen vorbereitet, und Izzy überließ Nicola den fähigen Händen der Hebamme. Als sie, den Säugling in den Armen, den Flur entlanglief, tauchte ein hochgewachsener Mann in schwarzen Jeans und T-Shirt neben ihr auf.

„Was wissen wir?“ Seine tiefe Stimme hatte einen deutlichen Akzent. Er trug kein Namensschild, strahlte jedoch eine Autorität aus, die ihr gleich klarmachte, dass sie es nicht mit einem besorgten Angehörigen zu tun hatte.

„Nicht viel“, antwortete sie. „Vermutlich dreiundzwanzigste Woche.“

¡Mierda!

Damit sprach er ihr aus dem Herzen. In diesem Stadium der Schwangerschaft zählte jeder Tag in utero, aber dieser kleine Kerl hatte die schützende Gebärmutter viel zu früh verlassen. Keiner wusste, ob er lebensfähig war.

„Diego!“ Beth sah auf, als sie den Schockraum betraten. „Das ging aber schnell.“

„Ich war gerade auf dem Weg zum Dienst.“ Er hatte Izzy das Baby abgenommen und machte sich daran, es zu beatmen, während sie die Elektroden auf die schmale Brust klebte. „Ich habe die Durchsage gehört und gedacht, ihr könnt mich brauchen.“

In der Tat!

Mit seinen großen Händen rieb er das Baby, um den Kreislauf anzuregen. Sein schwarzes Haar war feucht, so als hätte er sich gleich nach dem Duschen auf den Weg zur Arbeit gemacht. Izzy stieg sein männlich herber Duft in die Nase. Moschus, intensiv und ungewohnt in der von Desinfektionsmitteln geschwängerten Krankenhausluft. Hatte er sich die halbe Flasche Aftershave über den Kopf geschüttet?

Trotzdem war sie unendlich froh darüber, dass er da war. Als Notfallärztin konnte sie mit Krisen umgehen, doch in diesem speziellen Fall überließ sie das Handeln gern einem erfahrenen Fachmann.

„Diego ist Neonatal…“ Beth zögerte. „Wie lautet dein genauer Titel noch mal, Diego?“

„Sie sind noch dabei, sich zu entscheiden. Entschuldigung …“ Er suchte Izzys Blick, und in seinen tiefgründigen braunen Augen tauchte kurz ein Lächeln auf. „Ich hätte mich längst vorstellen sollen. Diego Ramirez, ich leite den Pflegedienst der Neugeborenenstation.“

„Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie kein Verwandter sind“, antwortete Izzy, doch er konzentrierte sich schon wieder auf das Baby. Der Kleine atmete, aber er hatte Probleme. Die kleine Brust arbeitete schwer, Schaum bildete sich an Mund und Nase, und die winzigen Nasenflügel weiteten sich in dem verzweifelten Versuch, Sauerstoff in die unterentwickelten Lungen zu saugen.

„Ihr seid spät dran“, meinte Diego trocken, als der Anästhesist zusammen mit dem diensthabenden Arzt der Geburtshilfe hereinstürzte, gefolgt von Izzys Freundin Megan Phillips.

Megan war Oberärztin und die Beste im pädiatrischen Team. Sie ging in ihrem Beruf auf und kämpfte unermüdlich um jedes einzelne Leben. Ihre zierliche Statur täuschte nur denjenigen, der ihre eiserne Entschlossenheit nicht kannte, wenn ein Leben am seidenen Faden hing.

Sie würde alles versuchen, um auch dieses zu retten.

„Izzy, kannst du mit der Druckmassage beginnen, sobald ich den Zugang drin habe?“, bat sie, während sie hoch konzentriert einen Nabelschnurkatheter legte.

Diego zog Medikamente auf, der Anästhesist hatte die Beatmung des Babys übernommen. Izzy bearbeitete die schmale Brust mit zwei Fingern und hörte den schnellen Rhythmus auf dem Überwachungsgerät.

„Gute Arbeit“, lobte Megan. Sie selbst hatte den Zugang gelegt und führte dem kleinen Körper nun die Medikamente zu, die Diego ihr reichte. Währenddessen setzte Izzy die Massage eine volle Minute lang fort.

„Lasst mal sehen, was wir haben.“ Megan hob die Hand, und Izzy hielt inne.

Die Herzfrequenz war auf fast hundert gestiegen. In dem Moment schwangen die Türen auf, und ein Pfleger schob einen Inkubator herein. Aber Izzy wusste, dass das Baby erst stabil sein musste, bevor es zur Neugeborenen-Intensivstation transportiert werden konnte.

„Wir werden noch eine Weile hierbleiben müssen“, meinte Megan wie zur Bestätigung. „Tut mir leid, dass wir euren Raum belegen.“

„Kein Problem.“

„Was gibt es?“ Den Mann, der jetzt hereinkam, kannte Izzy nicht. „Ben hat mich gebeten, mal nachzusehen. Ich bin Josh, Chefarzt der Notaufnahme.“

Izzy hatte gehört, dass hier ein neuer Chefarzt, ein gebürtiger Ire, angefangen hatte. Und auch, dass alle Frauen von ihm schwärmten. Doch wer immer dieses Gerücht in die Welt gesetzt hatte, wäre jetzt eines Besseren belehrt worden. Izzy hätte es nicht erklären können, aber die Stimmung im Raum veränderte sich. Vielleicht war Josh schon nicht mehr so beliebt wie am Anfang. Jedenfalls hatte sich die Atmosphäre schlagartig abgekühlt.

„Wir haben alles unter Kontrolle.“ Izzy brach das seltsame Schweigen zuerst. „Allerdings ist der Kleine noch nicht transportfähig.“

„Die wievielte Schwangerschaftswoche?“, fragte er schroff, als er das winzige Wesen betrachtete.

„Das wissen wir noch nicht“, antwortete Megan. „Die Mutter war beim Ultraschall, als die Wehen einsetzten.“

„Dann sollten wir es schnellstens herausfinden. Soll ich mit der Mutter sprechen?“

„Wenn jemand mit ihr redet, dann ich.“ Megans Stimme klang eisig. „Aber im Moment bin ich beschäftigt.“

„Hier in meiner Abteilung finden umfangreiche Wiederbelebungsmaßnahmen an einem Baby statt, das vielleicht gar nicht lebensfähig ist … wir müssen wissen, was die Mutter dazu sagt.“

Megan sah auf, und der flammende Zorn in ihren Augen ließ Izzy innerlich zusammenzucken. „Wir sind acht Jahre weiter. Wir wickeln sie nicht mehr in eine Decke und erklären, dass wir nichts für sie tun können.“

„Soll ich euch mal was sagen?“, ertönte Diegos Stimme, locker und mit deutlich spanischem Akzent. „Während ihr zwei noch verhandelt, könnten Sie …“ Er sah Izzy an. „… mit der Mutter sprechen? Sie haben sie ja schon kennengelernt. Vielleicht erfahren Sie etwas mehr über den Empfängniszeitpunkt. Erklären Sie ihr, wie krank ihr Baby ist. Und vielleicht kann jemand die Ultraschallbilder beschaffen?“

„Okay.“

Gut, dass Diego da war! Nicht nur wegen des Frühchens … Izzy hatte ihre Freundin Megan noch nie so erlebt. Es sah ihr gar nicht ähnlich, jemanden derart zu brüskieren.

Aber Izzy schob die Gedanken beiseite. Die Unterhaltung, die ihr nun bevorstand, war alles andere als einfach.

„Ich weiß es nicht …“, schluchzte Nicola Geller. „Meine Periode ist unregelmäßig, und es ist mein viertes Kind. Ich stille das andere noch …“

„Die Ärzte werden sich die Ultraschallbilder ansehen, um das Alter Ihres Babys möglichst genau zu bestimmen. Aber ich muss Ihnen auch sagen, dass Ihr Sohn sehr schwach ist.“ Izzy empfand ein wachsendes Unbehagen. Wie musste es für die arme Mutter sein, ausgerechnet mit einer Schwangeren zu reden?

Deshalb war sie erleichtert, als Diego hereinkam. Mit solchen Gesprächen hatte er mehr Erfahrung als sie, also überließ sie ihm die Aufgabe gern.

Und er machte seine Sache sehr gut. Behutsam erklärte er Nicola, wie es ihrem Baby ging und welche Schwierigkeiten sie noch überwinden mussten.

„Wir tun alles, um Ihr Kind zu retten“, versprach er. „Aber sein Zustand ist nach wie vor ernst, Nicola. Und selbst wenn es überlebt, wird es unter Umständen gesundheitliche Probleme haben.“

„Bitte, tun Sie, was Sie können.“

„Das werden wir. Megan Phillips, unsere Kinderärztin, möchte noch mit Ihnen sprechen, aber zurzeit muss sie bei Ihrem Sohn bleiben. Wir bringen ihn bald auf die Säuglingsintensivstation. Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen einen Rollstuhl besorge, damit Sie den Kleinen vorher noch sehen können?“

Auf die Idee wäre Izzy gar nicht gekommen, denn im Schockraum herrschte immer noch rege Betriebsamkeit. Aber Diego hatte recht. Die Mutter sollte ruhig sehen, dass alles getan wurde, um ihr Kind zu retten. Und wenn es nicht überleben sollte, wäre dies die einzige Chance, ihn noch einmal zu sehen.

Halten durfte sie ihren Sohn nicht, doch Diego bat um einen Fotoapparat und machte ein paar Bilder von Nicola neben dem Baby und Nahaufnahmen des Winzlings.

„Gute Arbeit“, sagte er zu Izzy, als sein Team mit der kostbaren Fracht Richtung Intensivstation aufbrach. „Vielen Dank für alles. Tut mir leid, dass wir Ihnen ein solches Chaos hinterlassen. Wenn Sie wollen, checke ich die Ausrüstung, damit Sie wissen, was neu bestellt werden muss.“

„Das wäre großartig. Und ich muss Ihnen danken, Sie waren wundervoll.“

„Wundervoll.“ Er wiederholte das Wort, als hätte er es zum ersten Mal gehört, und lächelte breit. Ebenmäßige weiße Zähne blitzten in dem sonnengebräunten Gesicht auf, so perfekt, dass sie zuerst dachte, sie wären überkront. Aber der ganze Mann war absolut göttlich, warum sollten nicht auch seine Zähne von Natur aus blendend aussehen?

„Sie waren auch wundervoll!“, fügte Diego hinzu und musterte sie. „Sind Sie neu hier?“ Er war relativ selten in der Notaufnahme, aber Izzy Bailey wäre ihm sicher aufgefallen.

„Nein, ich arbeite seit einer halben Ewigkeit am St. Piran. Ich war … längere Zeit beurlaubt.“ Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Aber Sie sind neu.“

„Woher wollen Sie das wissen?“ Ein humorvolles Funkeln trat in seine dunkelbraunen Augen. „Vielleicht arbeite ich seit Jahren hier, habe meine Ausbildung hier gemacht …“, sagte er in neckendem Ton. „Warum denken Sie, dass ich neu bin?“

Weil du mir aufgefallen wärst.

Das war die Antwort, und beide wussten es.

Es war kein Baby da, um das sie sich kümmern mussten, kein Notfall, der ihre Aufmerksamkeit erforderte. Nein, es gab nur sie beide, und Izzy blickte zum ersten Mal seit … nun, nach ziemlich langer Zeit, einen Mann an.

Sie sah ihn nicht nur. Sie nahm ihn wahr.

Und auf einmal geschah etwas Seltsames. Die Unruhe und innere Anspannung, die sie seit vier Monaten begleiteten, waren plötzlich verschwunden. In diesem Moment hatten ihre Ängste keine Macht mehr über sie, und Izzy war nur noch Frau.

Eine Frau, die neugierig und ein bisschen sehnsüchtig einen schönen Mann betrachtete.

Sein Haar war inzwischen trocken, und es hatte diese Länge, die sexy aussah und trotzdem gerade noch als Kurzhaarschnitt durchging. Er wirkte unrasiert, aber Izzy vermutete, dass er, auch wenn er sich morgens rasierte, mittags schon wieder einen Bartschatten hatte. Die schwarze Jeans saß wie angegossen, und das T-Shirt stammte nicht aus einem der Kettenläden, in denen Izzy einkaufte. Diego Ramirez war gut gekleidet, selbstbewusst und strahlte eine professionelle Autorität aus. Dennoch hatte er etwas Gefährliches an sich, etwas Raues, Verwegenes, das die Frau in ihr ganz schwach machte.

Autor

Carol Marinelli
<p>Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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