Geheiltes Herz für den Scheich - Die Ärzte des Orients

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DIE ÄRZTIN UND DER SCHEICH von ANNIE O'NEIL
"Helfen Sie meiner Tochter!" Die schöne Chirurgin Robyn Kelly ist tiefbewegt von Scheich Idris Al Khalils Flehen. Ja, sie wird die kleine Amira operieren, um ihre Taubheit zu heilen. Aber was der feurige Wüstenprinz mit ihrem eigenen Herzen anstellt, muss ihr Geheimnis bleiben …

GEFANGEN IN DER OASE DER LEIDENSCHAFT von LAURA MARTIN
"Sebastian Oakfield, zu Ihren Diensten." Emmas Herz klopft wie rasend! Weil dieser gutaussehende Fremde quer durch den Nil zu ihrem kleinen Segelschiff geschwommen ist? Weil er ein verwegener Abenteurer zu sein scheint? Oder weil er unter dem ägyptischen Mond ihre Hand zu seinen Lippen führt und sie zärtlich küsst?

DRAMATISCHE STUNDEN MIT DR. KHALIL von MEREDITH WEBBER
Seite an Seite mit dem faszinierenden Chirurgen Scheich Khalil, ihrem Exgeliebten, rettet die schöne Ärztin Nell Warren unter dramatischen Umständen Menschenleben. Noch weiß der Mann, dem nach wie vor ihr Herz gehört, nicht, warum sie in sein Wüstenreich gekommen ist ...

DIE ÄRTZIN UND DER WÜSTENSOHN von MEREDITH WEBBER
"Ja, ich helfe. Wenn du meinen Neffen heiratest." Die junge Ärztin Kate ist sprachlos. Der Sultan von Amberach will, dass sie Fareed heiratet? Sie ist doch keine gekaufte Braut! Doch die Not ihrer Eltern ist groß, und da ist Fareeds sinnliche Ausstrahlung, heißer als die Wüste …


  • Erscheinungstag 09.02.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751520911
  • Seitenanzahl 640
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

Die Ärztin und der Scheich erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

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Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Jennifer Galka
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2017 by Harlequin Books S. A.
Originaltitel: „Healing the Sheikh’s Heart“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 110 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Claudia Weinmann

Umschlagsmotive: GettyImages_Stockbyte, Irina Devaeva

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783733717209

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

„Das war’s. Der oder die Nächste bitte.“

Idris seufzte ungehalten. Ein weiteres Vorstellungsgespräch, das er vorzeitig beenden musste. Für wie oberflächlich hielten diese Leute ihn? Glaubten sie im Ernst, es wäre ihm wichtig, dass ein Flügel des Chelsea Children’s Hospital nach ihm benannt wurde? Das war doch lächerlich. Wieso wollten sie Geld für feierliche Einweihungszeremonien und Gedenktafeln verschwenden, anstatt es in neue Behandlungsmethoden zu stecken?

Seine sehr großzügige Spende sollte etwas für die kranken Kinder bewirken; öffentlichkeitswirksame Zurschaustellung seines Reichtums fand er vollkommen unangebracht.

Für Idris gab es nur ein einziges Ziel: Er wollte, dass Amira, seine kleine Tochter, endlich hören konnte.

Kaisha räusperte sich leise. „Soll ich den nächsten Kandidaten hereinholen?“

„Sind es noch viele? Ich weiß nicht, wie viel Unterwürfigkeit und Schmeichelei ich heute noch aushalten kann.“

Seine Assistentin warf einen Blick auf ihr Clipboard. „Nein, Exzellenz. Es warten nur noch drei Bewerber.“

„Kaisha, bitte, ich habe Ihnen doch schon so oft gesagt, dass Sie mich Idris nennen sollen, wenn wir allein sind.“

„Natürlich, Exzell… Idris.“ Kaisha trat verlegen einen Schritt zurück und deutete einen Knicks an.

Sie wussten beide, dass Idris’ gedrückte Stimmung sich nicht so leicht aufhellen ließ. Seit sieben Jahren war er ein Brummbär, wie Amira es nannte. Trotz seiner Kopfschmerzen, seiner Erschöpfung und seiner Ungeduld mit den Londoner Ärzten, die er an diesem Tag empfangen hatte, zwang er sich zu einem Lächeln.

Kaisha war loyal, klug und effizient – der letzte Mensch, an dem er seinen Frust auslassen sollte. Er hatte sie anfangs eingestellt, weil sie eine Expertin für die Geschichte seines Landes Da’har war, doch mit der Zeit war sie mehr und mehr zu seiner rechten Hand geworden. Vielleicht sollte er eine Assistentin für sie einstellen.

Nachdenklich rieb er sich das Kinn und versuchte, seine Schultern zu lockern, um die Last dieses Tages irgendwie abzuschütteln. Sein Blick wanderte durch die luxuriöse Penthouse-Suite, deren übertrieben teure Einrichtung ihm fast ein wenig peinlich war.

Doch Amira liebte die Aussicht auf das London-Eye und die Houses of Parliament, und so ertrug er die dekadente Ausstattung, die so gar nicht sein Stil war.

Idris tat alles, um seine Tochter lächeln zu sehen. Die Kleine war immer so ernst, dass es ihm das Herz zerriss. Kein Wunder, fehlte ihr doch die liebevolle Fürsorge einer Mutter. Und er, ihr Vater, war viel zu oft schwermütig.

Er warf einen Blick in den Spiegel an der Wand und sah seine düsteren Gedanken bestätigt. Der Mann, der ihm entgegenblickte, hatte kantige Gesichtszüge, dunkel glitzernde Augen und tiefe Sorgenfalten auf der Stirn.

Dabei hatte es eine Zeit gegeben, in der er immer ein Lächeln auf den Lippen gehabt hatte und sein Leben mehr oder weniger perfekt gewesen war.

Doch der Tod seiner über alles geliebten Frau hatte seine unbeschwerte Heiterkeit für immer beendet. Er wandte seinen Blick ab. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für solche trüben Gedanken.

Er musste sich darum kümmern, dass seiner Tochter geholfen wurde. Für Idris gab es nur noch zwei Ziele im Leben: Amiras Glück und das Wohlergehen seines Landes. Wenn ein einzelner Mensch sein kleines Land am Persischen Golf verkörperte, dann war er es. Als Regent von Da’har besaß er Stolz, Stärke und den eisernen Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Vor seiner Hotelsuite wachten zwei seiner treuesten Mitarbeiter; in der Hotelhalle und am Fahrstuhl waren weitere Sicherheitsleute. Doch statt sich beschützt zu fühlen, glaubte Idris, keine Luft mehr zu bekommen. Am liebsten hätte er sich einen Hut tief ins Gesicht gezogen und wäre unerkannt ein wenig durch die Straßen Londons gestreift.

Aber natürlich war das nicht möglich. Er hatte Wichtigeres zu tun, denn er musste den perfekten Arzt für seine Tochter finden. Für Amira war er bereit, fast alles zu ertragen – selbst noch drei weitere Klinikvertreter, die ihm Honig ums Maul schmierten, um an sein Geld zu kommen.

„Wie lange bleibt Amira noch im Zoo?“, fragte er Kaisha.

„Noch etwa eine Stunde, Eure Exzell … Idris. Wie Sie es gewünscht hatten, haben wir den Zoo heute Nachmittag für die Öffentlichkeit schließen lassen, damit Amira ungestört ist und die Tiere privat bewundern kann.“

Idris nickte zufrieden. Für Amira war ihm kein Aufwand zu groß. Seine wunderschöne Tochter war der einzige Lichtblick in seinem ansonsten düsteren Leben.

„Sehr gut. Ich will nicht, dass sie hier im Hotel ist, bevor wir einen Spezialisten gefunden haben.“

Er bemerkte, wie ein gequälter Ausdruck über Kaishas Gesicht huschte. „Was ist los, Kaisha?“

„Nichts. Es ist nur …“

„Nun reden Sie schon!“ Geduld gehörte nicht zu seinen Kernkompetenzen.

„Sie haben bereits mit fast allen Ärzten gesprochen, aber keinen von ihnen auch nur ausreden lassen. Niemand war Ihnen gut genug …“

„Sie waren allesamt nur an meinem Geld interessiert und nicht an meiner Tochter. Aber es geht um Amira. Nur um Amira. Ich will die beste Behandlung, die es gibt. Die modernsten Verfahren, die fähigsten Spezialisten. Auf Ruhm und Ehre als nobler Spender kann ich gut verzichten. Hätte Amira sich nicht sehnlichst gewünscht, dieses Musical anzuschauen, dann hätte ich darauf bestanden, dass die Mediziner zu uns nach Da’har geflogen kommen, und nicht hier meine Zeit mit diesen Speichelleckern verplempert.“

Kaisha nickte resigniert. Sie hatte diese Tirade schon mehrfach gehört. Nach jedem Bewerbungsgespräch, um genau zu sein. Trotzdem versuchte sie, ruhig zu bleiben, denn zumindest einer musste schließlich einen klaren Kopf bewahren. Idris war offenbar kurz davor, vollends die Geduld zu verlieren.

„Gut. Wenn der nächste Bewerber wieder nicht in Frage kommt, brechen wir die Suche hier in London ab und sehen uns in Boston oder New York um, in Ordnung?“

„Wie Sie wünschen, Eure … ähm, Idris.“ Kaisha lächelte milde. „Soll ich den nächsten Kandidaten hereinbitten?“

Idris verzog sein Gesicht und setzte sich wieder in den Sessel. „Ja, bringen wir es hinter uns. Wer ist der Nächste?“

„Ähm … entschuldigen Sie … Mein Name ist Robyn Kelly. Dr. Robyn Kelly. Salem Aleikum.“

Idris sah irritiert auf – und blickte in ein Paar bernsteinfarbene Augen, die auf faszinierende Weise zu leuchten schienen. Ihm stockte der Atem.

Intuitiv reagierte er auf diese Frau, wie er erst einmal zuvor in seinem Leben auf eine Frau regiert hatte. Und diese Erkenntnis schockierte ihn bis ins Mark.

„Wie sind Sie hier hereingekommen?“, fragte er unwirsch.

„Zu Fuß“, erklärte sie lächelnd, schüttelte ihre blonden Locken und wies auf die ausgetretenen Turnschuhe an ihren Füßen.

Ihre Unbekümmertheit machte ihn sprachlos.

„Oh, jetzt verstehe ich Ihre Frage“, fuhr sie fort. „Ihre Bodyguards waren so freundlich, mich in die Suite zu lassen, weil ich mir ‚die Nase pudern‘ wollte. Ich hoffe, sie bekommen deshalb jetzt keinen Ärger. Mein Name wird übrigens mit Y geschrieben. Robyn. Keine Ahnung, was meine Eltern sich dabei gedacht haben. Sie können sich nicht vorstellen, wie oft ich das korrigieren muss.“

Idris kniff seine Augen zusammen und betrachtete die junge Frau von oben bis unten. Gut, sie sah ungefähr so gefährlich aus wie ein neugeborenes Lämmchen. Trotzdem hätte sein Sicherheitsdienst sie nicht einfach hereinlassen dürfen. Sie hätte Amira entführen können. Sein Magen zog sich bei dem Gedanken zusammen, doch dann ermahnte er sich, vernünftig zu sein. Diese Robyn stellte keine Gefahr dar, und außerdem war seine Tochter im Zoo.

Ungeniert musterte er Robyn. Sie war relativ groß, etwa in seinem Alter – also Mitte dreißig – und schlank, soweit er es unter ihrem viel zu großen Trenchcoat sehen konnte. Ihr Haar war wild und lockig, ihr Gesicht ungeschminkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich wirklich die Nase pudern wollte, bewegte sich also gegen null.

Ihre Wangen waren rosig, was natürlich an dem scharfen Wind draußen liegen konnte. Auch wenn das Wetter in Da’har schon als Winter durchgegangen wäre, wusste Idris, der drei Jahre in London studiert hatte, dass die häufigen Wetterumschläge in London zur Tagesordnung gehörten.

Robyn sah aus, als wäre sie auf dem Weg ins Hotel vom Wind ordentlich durchgepustet worden. Möglicherweise sah sie unter normalen Umständen etwas weniger zerzaust aus. Irgendwie erinnerte sie ihn an eine Elfe. Eine bezaubernde, etwas unbeholfene Elfe.

Zum Glück kam in diesem Moment Kaisha wieder herein, die sichtlich erstaunt darüber war, dass Robyn ohne Aufforderung ins Zimmer gekommen war.

„Guten Tag, Dr. Kelly. Dürfen wir Ihnen etwas anbieten? Kaffee vielleicht?“

„Dem Himmel sei Dank! Ja, sehr gerne! Für einen schönen, starken Tee mit Schuss würde ich töten.“

Als sie Kaishas fragenden Blick bemerkte, lachte Robyn. „Bitte entschuldigen Sie. Ich habe vergessen, dass Englisch ja nicht Ihre Muttersprache ist, sondern Ihre – wievielte? Dritte oder vierte Sprache?“

„Die vierte“, stellte Kaisha bescheiden richtig.

„Vier Sprachen! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich Sie beneide!“ Mit ihren leuchtenden Bernsteinaugen sah sie Idris an, als wollte sie sagen: Ist das nicht einfach unglaublich?

„Und es sind auch noch ganz verschiedene Sprachen, wenn ich mich recht an unsere Korrespondenz erinnere, nicht wahr? Der Landesdialekt von Da’har, Arabisch, Französisch, und Englisch?“

Kaisha nickte.

„Beeindruckend. Meine Fremdsprachenkenntnisse sind leider eher dürftig. Tee mit Schuss ist ein kräftiger Schwarztee mit einem guten Schluck Milch drin.“

„Keine Sahne?“

„Nein, meine Liebe.“ Robyn schüttelte den Kopf. „So vornehm bin ich leider nicht. Aber ein paar Kekse wären toll.“

Robyn drehte sich wieder zu Idris um und sah ihn mit einem entwaffnenden Lächeln an. „Tut mir leid, ich bin manchmal ein bisschen ungestüm. Soll ich nochmal von vorne anfangen? Etwas formvollendeter vielleicht?“

Ohne seine Antwort abzuwarten, streckte sie ihm ihre Hand entgegen. „Guten Tag. Dr. Robyn Kelly vom Paddington Children’s Hospital. Und Sie sind …?“

„Scheich Idris Al Khalil“, erwiderte er hoheitsvoll, während er sich erhob und nach ihrer Hand griff. Es amüsierte ihn ein wenig, dass er sich vorstellen musste.

„Sehr erfreut!“ Robyn schüttelte ihm kräftig die Hand. „Amiras Vater also.“ Sie sah sich im Raum um. „Sehr gut. Darf ich meine Jacke einfach hier aufs Sofa legen? Oder soll ich einen Bügel suchen, damit Sie sie aufhängen können?“ Suchend sah sie sich nach einem Garderobenschrank um.

Idris war sprachlos. Er konnte sich nicht erinnern, wann jemand das letzte Mal von ihm erwartet hatte, dass er einen Mantel selbst aufhängte. Oder sonst irgendetwas wegräumte. Ihr offensichtliches Desinteresse an seiner Prominenz und Bedeutung als Herrscher eines Scheichtums war erfrischend.

Inzwischen hatte Robyn sich aus ihrem Trenchcoat geschält und wickelte gerade ihren mindestens drei Meter langen, selbst gestrickten Schal ab. „Britische Sommer“, murmelte sie missbilligend und seufzte, während sie Mantel und Schal achtlos auf das elegante Sofa warf.

Ihr vollkommen unangemessenes Benehmen störte Idris kein bisschen. Er musste allerdings aufpassen, nicht zu offensichtlich in ihre verstörend schönen Augen zu blicken. Der Rest ihrer Erscheinung war genauso unkonventionell wie ihr Verhalten. Sie trug einen abgewetzten Cordrock, ein geblümtes Oberteil, das auch schon bessere Tage gesehen hatte, und arg mitgenommene Turnschuhe. Insgesamt sah sie eher wie eine Studentin als wie eine kompetente Ärztin aus, und sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit den anderen Kandidaten, die ohne Ausnahme makellos gekleidet gewesen waren.

Aber hatte es ihnen etwas genützt, sich so herauszuputzen?

Ein leichtes Lächeln umspielte seinen Mund.

„Ist was? Stimmt etwas nicht?“ Robyn sah ihn fragend an und blickte dann an ihrem Oberteil herunter, auf dem deutliche Krümel- und Schokospuren zu sehen waren. „Oh, Entschuldigung!“ Hektisch kramte sie ein Taschentuch aus ihrer riesigen Handtasche. „In der Klinik gab es heute Willkommens-Muffins für einen neuen Kollegen, und ich habe meinen mit einem meiner kleinen Patienten geteilt, während wir zusammen ein Buch gelesen haben und …“ Sie sah ihn zerknirscht an. „Man kann so was nicht essen, ohne zu krümeln.“ Sie schleckte genüsslich ein Stück Schokoglasur von ihren Fingern ab.

Idris sah ihr wie gebannt zu.

„Es war köstlich. Ich liebe Schokomuffins, auch wenn die Kinder immer ziemlich damit rumschmieren. Aber andererseits – was soll’s?“ Ungeduldig rieb sie sich die Flecken von der Bluse. „Es ist schon schlimm genug für die Kleinen, im Krankenhaus zu sein. Da hat man wirklich Besseres zu tun, als auf gute Manieren zu achten.“ Sie erwartete offenbar nicht, dass er ihr Geplapper kommentierte.

„Wo wir gerade davon sprechen, dass man oft Besseres zu tun hat: Stünde die Klinik nicht kurz vor dem Bankrott, dann wäre ich jetzt nicht hier und würde Sie mit meinem dummen Gerede nerven, sondern ich würde im OP stehen, wo ich hingehöre.“

Sie sah ihn an und wurde rot. „Oh je, ich habe wieder mal laut gedacht. Entschuldigen Sie.“

Ohne auf eine Reaktion von Idris zu warten, sprach sie weiter. „Das haben die nun davon, dass sie die leitende Chirurgin und nicht die charmante Verwaltungschefin geschickt haben.“

Idris sah sie mit offenem Mund an und überlegte, wer von ihnen beiden verrückter war: Robyn, die ununterbrochen redete, oder er, der sie nicht unterbrach, sondern seinen Blick nicht von ihrer Bluse abwenden konnte, die ein kleines, attraktives bisschen zu eng war.

Endlich gelang es ihm, seinen Blick loszureißen. Als Robyn einfach weiterredete, entspannte er sich etwas. Offenbar hatte sie nichts bemerkt – was auch besser war. Er war schließlich auf der Suche nach einem Arzt, nicht nach einer Frau.

„Also wir alle im Castle – so nennen wir das Paddington Children’s Hospital – finden, dass Amira ein ganz außergewöhnliches und tapferes Mädchen ist, und ich kann es kaum erwarten, sie endlich kennenzulernen. So, fertig!“ Robyn steckte das benutzte Tuch wieder in ihre Tasche und sah Idris erwartungsvoll an. „Wo ist sie?“

„Wie bitte?“ Idris hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt und sah Robyn so tief in die Augen, dass er an nichts anderes mehr denken konnte.

Was war nur los mit ihm? Er war es gewohnt, die Gesprächsführung zu übernehmen. Diesmal schien es umgekehrt zu sein. Wer war diese Frau? Ein zerstörerischer Wirbelsturm oder eine dringend notwendige frische Brise?

„Amira?“, hakte Robyn nach. „Wo ist sie?“ Einen kurzen Moment lang kam ihr der absurde Gedanke, sie könnte in die falsche Hotelsuite gegangen sein. Die luxuriöse Umgebung und das vornehme Gehabe verunsicherten sie. Oder lag es vielleicht an diesem Scheich dort?

Idris. Er besaß eine verstörende Präsenz.

Auf dem Foto, das man ihr im Krankenhaus gezeigt hatte, war er schon ziemlich gut aussehend gewesen. Sehr dunkle Augen, hohe Wangenknochen, dunkelbraunes Haar – insgesamt ein echter Hingucker.

Die Wirklichkeit übertraf ihre Vorstellungen jedoch bei Weitem. Ein Blick von ihm reichte, und ihre Knie wurden zu Butter. Sie hoffte nur, dass er nichts davon bemerkte.

Verlegen räusperte sie sich. „Was sagten Sie, wo Ihre Tochter gerade ist?“

„Ausgegangen“, erwiderte er knapp. So knapp, dass Robyn es fast ein wenig unhöflich fand.

Sie fand die ganze Situation alles andere als angenehm, denn normalerweise kümmerte sie sich nicht aktiv um die Gewinnung neuer Patienten. Ihr Ruf als exzellente Hals-Nasen-Ohrenärztin eilte ihr über die Grenzen Londons hinaus voraus, sodass sie es nicht nötig hatte, für sich oder ihre Klinik zu werben.

Doch in Amiras Fall hatte sie eine Ausnahme gemacht. Schon als sie zum ersten Mal die Krankenakte des Mädchens in der Hand gehalten hatte, war ihr klar gewesen, dass sie diese Herausforderung unbedingt annehmen wollte.

Entschlossen hob sie den Kopf und schaute Idris an. Sekundenlang sahen sie sich tief in die Augen. Sein Blick war so eindringlich, dass Robyn die Augen senken musste. War das eine Art Test des Scheichs? Und wenn ja, hatte sie ihn bestanden?

Sie warf ihm erneut einen Blick zu und stellte fest, dass er sie noch immer unverwandt ansah. Aufmerksam und irgendwie abwartend musterte er sie – und war dabei nach wie vor umwerfend attraktiv.

Robyn presste ihre Lippen aufeinander. Was erwartete er denn nun von ihr? Doch wohl kaum irgendeine Showeinlage, oder? Verlegen warf sie einen Blick auf ihre Uhr, musterte dann die Bilder an den Wänden, bevor sie wieder Idris ansah.

Er hatte sie offenbar keine Sekunde aus den Augen gelassen. Robyn erinnerte sich an den Rat einer Kollegin, die sich in solchen Situationen ihr Gegenüber immer in Unterwäsche vorstellte.

Dieser Ansatz stellte sich leider als wenig hilfreich heraus, denn Robyn spürte, wie sie beim Gedanken an einen halbnackten Idris knallrot anlief.

Diese lächerliche Machtprobe musste ein Ende haben! Entschlossen richtete sie sich auf. „Also … Wie soll ich Sie ansprechen?“

Er runzelte überrascht die Stirn. „Idris.“

„Oh.“ Damit hatte sie nicht gerechnet. „Ich war ein bisschen besorgt, dass Sie von mir einen Hofknicks erwarten würden und ich Sie mit Eure Hoheit oder so anreden müsste. Idris also. Großartig. Ein schöner Name. Nach einem der Propheten im Koran, nicht wahr? Wussten Sie, dass es den Namen auch im Walisischen gibt? Übersetzt heißt er ‚feuriger Lord‘ oder ‚Prinz‘. Sehr passend, oder?“

„Ich bin weder ein Prophet noch ein Prinz“, erwiderte Idris kühl.

Natürlich. Er war ja ein Scheich. Eine Art König also. Egal, es machte für Robyn keinen Unterschied. Das Einzige, was sie interessierte, war die katastrophale finanzielle Situation ihres Krankenhauses, das kurz vor dem Ruin stand. Und die endlose Warteliste mit Patienten, denen im Paddington’s geholfen werden konnte, wenn es ihnen gelang, die Klinik zu retten. Sie war bereit, alles dafür zu geben, den drohenden Konkurs abzuwenden. Selbst wenn sie dafür eine weitere Runde dieses lächerlichen ‚wer-senkt-als-erster-den-Blick‘-Spiels auf sich nehmen musste.

Sie sah zur Seite. Na gut, dann hatte er halt gewonnen. Sie konnte es nicht länger aushalten, in dieses perfekt gemeißelte Gesicht zu blicken.

Idris war zweifellos der attraktivste Mann, der ihr je begegnet war. Hohe, stolze Wangenknochen, eine markante Nase, ein karamellfarbener Teint, der Hauch eines Bartschattens auf Kinn und Wangen. Es erstaunte sie fast ein wenig, dass sein Haar so kurz geschnitten war. Langes Haar, das im Wind wehte, während er mit einem Pferd durch die Wüste ritt, hätte besser zu ihm gepasst. Falls Scheichs überhaupt durch die Wüste ritten. Sie stellte sich vor, wie sie mit ihren Fingern durch sein zerzaustes dunkles Haar strich, und errötete erneut. Das musste sofort aufhören!

„Wussten Sie, dass es in Wales auch einen Berg mit Ihrem Namen gibt? Idris Chair. Und nun sehen Sie sich an – da sitzen Sie vor mir, auf einem Stuhl.“

Erwartungsvoll sah sie ihn an. Die allermeisten Menschen hätten auf diese Bemerkung mindestens mit einem Lächeln reagiert.

Doch Idris verzog keine Miene.

Robyn gab sich alle Mühe, ihre Nervosität unter Kontrolle zu halten, was ihr immer schlechter gelang, je länger sie ihn ansah. Idris hatte sinnliche, volle Lippen. Viel zu verführerisch für einen Mann, der so offensichtlich ein Alphatier war. Mit seinen mindestens 1,85 m hatte er genau die richtige Größe für Robyn.

Nicht, dass sie nach einem Mann suchte. Dieses Thema hatte sie abgeschlossen.

Sie unterdrückte ein bitteres Lachen. Selbst wenn es anders wäre … Als ob ein Mann wie Idris Interesse an ihr haben könnte.

Sie würde jede Wette eingehen, dass er viel Sport trieb. Bestimmt zog er jeden Morgen im Hotelpool seine Runden. Anders ließen sich seine breiten Schultern unter dem maßgeschneiderten Anzug kaum erklären.

Angestrengt versuchte Robyn, sich das arabische Wort für Schneider ins Gedächtnis zu rufen.

„Hier kommt der Tee!“

Dankbar sah Robyn zur Tür, durch die Idris’ Assistentin gerade mit einem Tablett eingetreten war, auf dem nicht nur Tassen standen, sondern auch ein riesiger Teller mit köstlich aussehenden Schoko-Keksen. Wow! Ingwerkekse mit Schokoguss.

„Das ist mein Lieblingsgebäck!“, freute sich Robyn.

„Wir haben also unsere Hausaufgaben gemacht“, bemerkte Idris mit seinem kaum hörbaren Akzent. „Ich hoffe, Sie haben Ihre ebenfalls erledigt.“

Seine Worte waren eine Herausforderung, die Robyn nur zu gern annahm. „Amiras Krankenakte ist wirklich faszinierend. Ich habe die ganze Nacht darin gelesen.“

Sie bemerkte einen schwer zu deutenden Ausdruck in seinen Augen.

Kaisha stellte das Tablett ab. „Das würde ja für eine ganze Fußballmannschaft reichen!“, rief Robyn. „Bringt Amira noch Freundinnen mit?“

„Nein, die sind nur für Sie“, erklärte Kaisha und schenkte ihr Tee ein.

„Vielen Dank, meine Liebe. Sie heißen Kaisha, nicht wahr?“

„So ist es.“

Robyn wiederholte den Namen. „Wenn ich mich recht erinnere, bedeutet das auf Japanisch ‚Firma‘ oder Unternehmen.“ Fragend sah sie Idris an. Er machte den Eindruck, auf alle Fragen dieser Welt eine Antwort zu wissen.

„Hatten Sie nicht gesagt, Sie hätten keine Begabung für Fremdsprachen, Miss …“

„Doktor“, korrigierte Robyn ihn mit einem Lächeln. Ihre Arbeit war ihr Leben, und sie zog es vor, über ihren Beruf definiert zu werden und nicht über ihren traurigen Beziehungsstatus als alte Jungfer.

„Doktor“, berichtigte Idris sich leicht amüsiert. „Für jemanden, der behauptet, seine Fremdsprachenkenntnisse seien dürftig, scheinen Sie einen ganz guten Überblick über die wichtigsten Sprachen der Welt zu haben.“

„Naja …“ Verärgert bemerkte Robyn, dass sie schon wieder rot geworden war. Verlegen knetete sie ihre Hände und überlegte, wie sie es anstellen sollte, nicht wie ein kompletter Nerd zu erscheinen. Da ihr keine geeignete Idee kam, beschloss sie, einfach die Wahrheit zu sagen.

„Ich habe mehrere Zeichensprachen aus aller Welt gelernt. Als Hals-Nasen-Ohren-Spezialistin ist das ziemlich nützlich. In vielen Ländern werden die gleichen Zeichen und Gesten für identische Begriffe benutzt. Aber es ist auch gut, wenn man die gesprochene Sprache ein wenig kennt, da viele meiner tauben Patienten sehr gut von den Lippen lesen können. Um mich auf das Treffen mit Amira vorzubereiten, habe ich deshalb ein wenig Arabisch gelernt und mir die Grundzüge der im arabischen Raum gebräuchlichen Gebärdensprache angeeignet.“

„Verstehe.“ Mit undurchdringlichem Blick sah Idris sie an, und Robyns Zuversicht sank. Warum um alles in der Welt hatte die Verwaltung gerade sie zu diesem Treffen geschickt? Sie ließ sich viel zu leicht aus dem Konzept bringen und redete zu viel, wenn sie nervös war.

Alles wäre so viel einfacher, wenn sie nur mit dem Mädchen allein gewesen wäre. Beziehungsweise mit der Patientin. Die Klinikleitung bestand darauf, dass die Kinder als Patienten bezeichnet wurden.

Robyn hasste diesen Ausdruck, der die Kinder auf ihre Krankheit reduzierte. Gut, sie waren krank, sie brauchten medizinische Hilfe – aber trotzdem waren sie doch in erster Linie Kinder. Kinder mit Namen und Gesichtern, mit persönlichen Geschichten, Vorlieben und Abneigungen. Und manchmal mit ganz außergewöhnlichen Fähigkeiten – wie beispielsweise dem Talent, den längsten Schal der Welt stricken zu können. Unwillkürlich griff sie nach ihrem Schal, der ihr so viel bedeutete, als hätte eines der Kinder, die sie selbst nie haben würde, ihn für sie gestrickt.

Eine Gebärmutterhalsschwangerschaft hatte ihren Traum von einer eigenen Familie zerstört. Nun waren die vielen Kinder, die zu ihr gebracht wurden, damit sie sie operierte, ihre Kinder. Kinder auf Zeit. Nicht nur Patienten.

Diesen Blickwinkel teilten fast alle Kollegen im Castle , wie die Klinik seit Ewigkeiten genannt wurde. Bei ihnen wurden die kranken Kinder mit Respekt und liebevoller Fürsorge behandelt – egal, was ihnen fehlte. Letzten Endes waren es immer Kinder, die im Paddington Children’s Hospital nicht nur die bestmögliche Versorgung erhalten, sondern sich auch wohlfühlen sollten.

Falls die Informationen in Amiras Akte stimmten und falls Idris dem innovativen Behandlungskonzept zustimmte, das die Klinik ihm anbieten konnte, würde Robyn mit dem richtigen Team an Spezialisten und mit sehr viel Geld Idris’ Wunsch erfüllen können: Sie würde dafür sorgen, dass Amira zum ersten Mal in ihrem Leben hören konnte.

Wenn sie den Scheich davon überzeugte, dass sie die Beste war, würde sie nicht nur seiner Tochter helfen, sondern auch ihr Krankenhaus retten.

2. KAPITEL

„Könnten wir nochmal von vorne anfangen?“

Auch wenn er versucht war, Robyns ansteckendes Lächeln zu erwidern, konnte Idris seine wachsende Ungeduld nicht länger verbergen. „Ich hatte gar nicht den Eindruck, dass wir schon angefangen hatten. Zumindest nicht das Vorstellungsgespräch, wie ich es mir vorgestellt hatte.“ Ihm war klar, dass er sich etwas unwirsch anhörte, aber diese Frau brachte ihn völlig durcheinander.

Erstaunt sah sie ihn an und versuchte offenbar, den Grund für seine kühlen Worte herauszufinden – was ihr natürlich nicht gelingen würde. Um Idris für sich zu gewinnen, brauchte es mehr als ein charmantes Lächeln und unkonventionelles Benehmen. Wenn sie diejenige sein wollte, der er seine Tochter anvertraute, dann musste sie ihn erst einmal überzeugen.

Er hatte bereits einen geliebten Menschen verloren, obwohl genügend Mediziner vor Ort gewesen waren, und er sollte verflucht sein, wenn er auch seine Tochter in Gefahr brachte.

Seine Anspannung war nicht zu übersehen, denn Robyn war es innerhalb weniger Minuten gelungen, seine normalerweise undurchdringlichen Verteidigungslinien zu durchkreuzen. Diese unbekümmerte, etwas chaotische Frau war das komplette Gegenteil zu allem, was er in den letzten sieben Jahren erlebt hatte.

Während er argwöhnisch und überfürsorglich war, schäumte sie förmlich über vor Lebendigkeit, Begeisterung und Warmherzigkeit.

Keiner der anderen Chirurgen hatte sich die Mühe gemacht, mehr als bitte und danke zu Kaisha zu sagen. Ein höfliches Nicken vielleicht noch, mehr nicht. Doch für Idris war Wertschätzung etwas sehr Wichtiges. Als Staatsoberhaupt von Da’har hatte jede seiner Entscheidungen Auswirkungen auf jeden einzelnen Bürger seines Landes. Deshalb machte er sich seine Entscheidungen nie leicht und versuchte immer, alles zu berücksichtigen und sich in alle Betroffenen hineinzudenken. Es gab schon genügend Ungerechtigkeit auf der Welt. Das hatte er am eigenen Leib erfahren.

Trotzdem hatten die Bürger von Da’har es nicht verdient, einen Herrscher zu haben, der in Selbstmitleid und Trauer über den Tod seiner Frau versank.

Vor sieben Jahren hatte seine neugeborene Tochter einen Vater gebraucht, der für sie da war. Deshalb hatte er die Vergangenheit so es ging hinter sich gelassen und sich auf Amira konzentriert, die eines Tages die Herrscherin von Da’har sein würde. Doch dazu war es wichtig, dass sie ihre Untertanen hören konnte. Nur so konnte sie erfahren, was ihr Volk bewegte.

„Wo ist denn das Spielzeug?“

Robyns Frage riss ihn aus seinen Gedanken.

„Wie bitte?“ Verwundert sah er sie an.

„Amiras Spielzeug. Ihre Tochter wohnt doch auch hier, oder? Und sie ist sieben Jahre alt. Also …“

Er bemerkte, dass Robyn ihren Blick durch das elegante Zimmer schweifen ließ. „Wo spielt sie?“

„Sie ist gerade mit Thana im Zoo.“

Kaisha warf ihm einen überraschten Blick zu, denn normalerweise würde Idris einer Fremden niemals sagen, wo seine Tochter sich aufhielt. Genauso wenig, wie er Fremden erlaubte, ihn Idris zu nennen. Den anderen Chirurgen hätte er niemals so viel Vertrauen geschenkt.

Robyn hatte etwas an sich, das ihm ein Gefühl von … Vertrautheit vermittelte. Ungezwungenheit. Sie strömte eine fast spürbare Wärme aus, auch wenn sie definitiv sehr unkonventionell war. Aber sie machte einen vertrauenswürdigen Eindruck.

Dieser Gedanke erstaunte Idris, denn für gewöhnlich vertraute er fast niemandem, sobald es um seine Tochter ging.

„Und wer ist Thana?“

Robyns direkte Frage schockierte ihn fast ein wenig. In Da’har würde niemand es wagen, so mit ihm zu reden. Und nicht nur in Da’har. Er war international bekannt; die Fotos seiner glamourösen Hochzeit waren genauso um die Welt gegangen wie die Aufnahmen von ihm am Grab seiner Frau, seine kleine Tochter fest an sich gedrückt. Beim Gedanken daran zog sich sein Herz zusammen.

„Thana ist Amiras Nanny.“

Robyn sah ihn betreten an. Offenbar war ihr in diesem Moment die traurige Familiengeschichte eingefallen. Ein weicher Ausdruck von Mitgefühl huschte über ihr Gesicht, den Idris nur zu gut kannte.

Immer wieder entdeckte er ihn. Der verwitwete Scheich mit der gehörlosen Tochter. Versunken in seiner Trauer um die geliebte verstorbene Scheichin.

Nun gut. Sie hatte ihre Hausaufgaben also gemacht.

„Dann legen wir los!“, verkündete Robyn, holte eine dicke Mappe mit Unterlagen aus ihrer Tasche und warf sie auf den Glastisch. „Normalerweise verlange ich, dass bei diesem ersten Treffen das Kind dabei ist. Auch wenn ich ziemlich sicher bin, dass die Operationsmethode und die daran anschließende Behandlung für Amira perfekt geeignet sind, hätte ich sehr gern ihre eigene Meinung dazu gehört.“

„Was meinen Sie damit?“

Keiner der anderen Chirurgen hatte auch nur angedeutet, dass er Amira nach ihrer Meinung fragen wollte. Sie hatten alle nur ihre extravaganten Verfahren angepriesen … und ihre nicht weniger extravaganten Preise genannt.

„Für Menschen, die vollkommen gehörlos sind, kann es sehr verstörend sein, plötzlich hören zu können. Es überrascht Sie vielleicht, Idris, aber längst nicht alle gehörlosen Menschen haben den Wunsch zu hören.“

„Das trifft bei Amira nicht zu!“

Robyn lächelte höflich. „Genau das würde ich gern von ihr selbst erfahren. Manchmal wollen Eltern für ihr Kind etwas anderes als das Kind selbst. Würden Sie mir erzählen, wie Amira kommuniziert?“

„Meistens liest sie von den Lippen ab, doch wir benutzen auch eine Gebärdensprache, die in unserer Gegend üblich ist. Bestimmt wissen Sie, dass es im arabischen Raum keine einheitliche Zeichensprache gibt.“

Wieder nickte Robyn höflich, und Idris hatte das Gefühl, dass er ihr keine Neuigkeit erzählt hatte.

„Welche Sprachen kann sie von den Lippen lesen? Arabisch, Englisch und Französisch?“

Mit gerunzelter Stirn sah Idris sie an. „Am besten funktioniert es in unserem lokalen Dialekt. Da wir viel reisen, besitzt sie aber auch Grundkenntnisse in den anderen Sprachen. Allerdings möchte ich Sie daran erinnern, Frau Doktor, dass meine Tochter erst sieben Jahre alt ist. Mehrere Fremdsprachen wären in ihrem Alter also etwas übertrieben.“

„Ich habe schon einige sehr clevere Siebenjährige getroffen.“ Herausfordernd sah Robyn ihn an.

Machte sie sich über ihn lustig? Amira war der wichtigste Mensch in seinem Leben. Wieso sollte er seine ohnehin viel zu ernste Tochter mit Fremdsprachenunterricht überfordern, wenn das Leben selbst schon so anstrengend für sie war?

Als er Robyn wieder ansah, erstaunte sie ihn schon wieder. Sie schien seine Gedanken gelesen zu haben und lächelte verständnisvoll. Diese Ärztin brachte ihren Patienten und deren Eltern ehrlichen Respekt entgegen. Ein weiterer Pluspunkt für sie.

„Schade“, nahm Robyn das Gespräch wieder auf. „Fremdsprachen können nahezu mühelos erlernt werden, solange man noch sehr jung ist. Je jünger, desto einfacher.“

„Genau genommen ist Amiras Englisch gar nicht so schlecht“, mischte sich Kaisha schüchtern ein. „Wir haben uns sogar ein bisschen mit der englischen Gebärdensprache beschäftigt. Es hat ihr großen Spaß gemacht.“

„Davon weiß ich ja gar nichts!“

Idris hatte eigentlich keinen Grund, verstimmt zu sein, doch es störte ihn, außen vor gelassen zu werden. Der Gedanke, es könnte an ihm selbst, an seiner stets viel zu ernsthaften Art liegen, gefiel ihm ganz und gar nicht. Doch er würde deshalb kein schlechtes Gewissen haben. Er war nun einmal, wie er war: Ein Vater, dem seine Tochter mehr bedeutete als alles andere.

„Es sollte eine Überraschung sein. Für Dr. Kelly“, erklärte Kaisha hastig.

„Großartig!“, lobte Robyn. „Die britische Gebärdensprache ist der französischen sehr ähnlich. Sie haben also einen guten Grundstock gelegt, um Amiras Mehrsprachigkeit zu fördern!“

Kaisha wurde rot vor Stolz.

„Aber was hat das alles mit Amiras Operation zu tun?“, mischte Idris sich wieder ein.

„Eine ganze Menge“, erklärte Robyn ruhig.

„Es wäre nett, wenn Sie mich aufklären würden.“

„Ganz einfach. Wie bei jeder OP besteht auch hier die Gefahr, dass es nicht klappen könnte.“

Idris zuckte zusammen und brauchte einen Augenblick, um diese Möglichkeit, die keiner der anderen Mediziner auch nur erwähnt hatte, zu verdauen. Es konnte also auch schiefgehen. Ganz schön mutig von dieser Dr. Kelly, ihm das so offen zu sagen.

„Ich dachte, Sie wären die Beste.“

„Das bin ich“, entgegnete Robyn, ohne zu zögern. „Aber Amiras Fall ist sehr komplex, und mein Behandlungsansatz ist neu. Hinzu kommt, dass ich diese Behandlungsmethode noch nie mit einer Gentherapie kombiniert habe.“

„Gentherapie?“ Beunruhigt sah Idris sie an. Das hörte sich bedrohlich an.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, wehrte Robyn an. „Es ist eine sehr innovative Methode. Während meiner Zeit im Boston Pediatrics …“

„Ich dachte, Sie seien aus dem Paddington’s.“ War denn bei dieser Frau nichts so, wie es auf den ersten Blick erschien?

„Das stimmt auch“, erklärte sie geduldig. „Aber im Gegensatz zu vielen anderen Menschen benutze ich meinen Urlaub meistens nicht, um in der Sonne zu liegen, sondern verbringe ihn in anderen Kliniken, um meinen Kollegen über die Schulter zu schauen. So habe ich immer einen guten Überblick über die HNO-Szene.“

„Dann arbeiten Sie auch während Ihres Urlaubs.“

Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Es fühlt sich nicht wie Arbeit an“, erklärte sie. „Meine Arbeit ist mein Leben.“

Prüfend sah Idris sie an. Die Entschiedenheit, mit der sie gesprochen hatte, machte ihn ein wenig stutzig. Doch er konnte nicht genau erklären, was es war.

Im Moment interessierte ihn allerdings viel mehr, wie sie seiner Tochter helfen konnte. Und wieso sie Amira so dringend sehen wollte.

Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Amira hatte ihre Mutter verloren und musste seit ihrer Geburt damit leben, nicht hören zu können. Dr. Kelly – Robyn – fand offenbar, dass seine geliebte Tochter schon genug durchgemacht hatte, und wollte deshalb sichergehen, dass sie eine eventuelle Enttäuschung verkraften konnte.

Er warf einen Blick auf seine Uhr und überlegte, wie lange es dauern würde, Amira herzubringen. Allerdings hatte er Robyns Behandlungspläne noch gar nicht gehört. Auf keinen Fall wollte er Amira unbegründete oder voreilige Hoffnungen machen.

„In Ordnung, Idris … eure Hoheit, ich würde Ihnen jetzt gern meinen Plan erklären.“ Robyn war so voller Energie und Tatendrang, dass sie beim Reden am liebsten aufgestanden und umhergelaufen wäre. „Die unterschiedlichen Aspekte der OP sind sehr spannend. Ich schätze, Amira wird beeindruckt sein, wenn sie hört, dass sie das erste Kind ist, dem nicht nur ein, sondern zwei Knochen im Innenohr eingesetzt werden, die direkt aus einem 3-D-Drucker kommen – Amboss und Steigbügel. Ich nehme an, die Fachbegriffe sind Ihnen vertraut?“ Sie wartete Idris Antwort gar nicht erst ab, sondern holte aus den Untiefen ihrer Tasche ein Ohr-Modell hervor.

„Das hier hatte ich eigentlich für Amira mitgebracht, aber da sie nicht da ist, zeige ich es Ihnen.“

„Wie nett“, bemerkte Idris trocken.

Ob Robyn seinen ironischen Tonfall bemerkt hatte, vermochte er nicht zu sagen, denn sie war damit beschäftigt, das filigrane Modell auseinanderzunehmen, um ihm das Innere des Ohrs zu zeigen.

„Da sie ein Frühchen war, hatten einige ihrer Innenohr-Knochen nicht genügend Zeit, sich vollständig zu entwickeln, wodurch sie ihr Gehör verloren hat. Die möglichen Gründe dafür sind vielfältig. Außerdem wurden ihre Gehörknöchelchen geschädigt, möglicherweise schon im Mutterleib, doch ich halte es für wahrscheinlicher, dass es während der Geburt passiert ist. Die Medikamente, die man der Mutter gibt, können manchmal schädlich fürs Baby sein.“

„Hören Sie auf!“, unterbrach Idris sie. Noch nie hatte es jemand gewagt, auch nur anzudeuten, dass Amiras Gehörlosigkeit eventuell durch die medizinische Behandlung ihrer Mutter verursacht worden war. Er wäre nie auf die Idee gekommen, den Todeskampf seiner Frau mit dem Handicap seiner Tochter in Verbindung zu bringen.

Anfangs hatte er geglaubt, das Schicksal habe ihn strafen wollen, weil er zu glücklich gewesen war. Eine wunderschöne Frau, ein Volk, das ihm treu ergeben war, die bevorstehende Geburt des Wunschkindes … Die grausamen Schicksalsschläge hatten ihn schwer getroffen.

Robyn hatte sie vorgebeugt und griff nun nach seiner Hand. Instinktiv wollte Idris sie wegziehen. Schon seit Jahren hatte er keine Frau mehr berührt. Falls Robyn sein Zögern wahrnahm, ließ sie sich nichts anmerken.

„Es wäre ein großer Schritt“, begann sie, und Idris spürte, wie die Wärme ihrer Finger sich auf seine Hand übertrug. „Nicht nur für Ihre Tochter, sondern auch für Sie. Wenn es Ihnen zu riskant erscheint, blasen wir die OP einfach ab. Sie haben immer noch die Option, Amira ein Cochlea-Implantat einsetzen zu lassen. Allerdings fürchte ich, dass der Effekt bei Amira nur gering wäre. Wenn Sie möchten, lege ich Ihnen die Vor- und Nachteile aller Behandlungsoptionen dar.“

„Nicht nötig.“ Idris zog seine Hand zurück und stand auf. Er wollte, dass es endlich voranging. Seine eigenen Ängste durften ihn nicht feige werden lassen. Amira hatte es verdient, die beste Chance zu bekommen.

Das Schicksal seiner Tochter in die Hände einer Chirurgin zu legen, versetzte ihn in Angst und Schrecken, doch er war sich sicher, dass Robyn alles in ihrer Macht stehende für Amiras Behandlungserfolg geben würde.

„Wir machen es so, wie Sie es für richtig halten“, erklärte er. „Allerdings unter einer Bedingung.“

„Oh, in Ordnung …“ Überrascht von seiner schnellen Entscheidung und etwas hilflos sah sie ihn an.

Idris musste sich ein Lächeln verkneifen. Sie war wirklich durch und durch Ärztin. Von Verhandlungstaktik hatte sie keine Ahnung. Oder lag es etwa an ihm, dass sie ein wenig durcheinander zu sein schien?

„Welche Bedingung meinen Sie, Idris?“ Argwöhnisch sah sie ihn an.

„Ich will, dass Sie mit uns nach Da’har kommen.“

Robyn schnappte nach Luft. „Warum?“

„Um Zeit mit Amira zu verbringen natürlich. Das wollten Sie doch.“

Auch Robyn war nun aufgestanden und hob abwehrend ihre Hände. „Aber das ist doch nicht nötig. Ich kann Amira hier in London behandeln.“ Ein wenig panisch sah sie von Idris zu Kaisha und versuchte herauszufinden, ob es ein Vorschlag oder eine Bedingung gewesen war.

Idris wusste es selbst nicht genau. Doch eines war ihm klar geworden: Wenn er auf ihre Bedingungen einging, musste sie ihm entgegenkommen. Er konnte das Leben seiner Tochter keinesfalls einer völlig Fremden anvertrauen.

„Wenn wir in Da’har sind …“

„Um Himmels willen! Jetzt lassen Sie mal die Kirche im Dorf. Oder meinetwegen die Kamele in der Oase. Ich habe nicht gesagt, dass ich mitkomme. Ich bin die leitende Chirurgin in einem großen Londoner Kinderkrankenhaus …“

„… das kurz vor dem Konkurs steht und mit einer Klinik in der Provinz zusammengelegt werden soll, wenn ich mich recht erinnere“, unterbrach Idris sie kühl. Er hatte die finanziellen Mittel, den Verkauf des Paddington Children’s Hospital zu verhindern, doch er würde es nur zu seinen Bedingungen tun.

„Sie kommen mit uns nach Da’har, um meine Bedenken zu zerstreuen.“

„Welche Bedenken?“, fragte Robyn entrüstet.

„Nun, was haben Sie denn erwartet? Allgemeine Bedenken eines Vaters, der sich um seine Tochter sorgt. Es ist doch sicher nicht außerhalb Ihrer Vorstellungskraft, dass Eltern ihre Kinder lieben und sich Sorgen machen.“

Robyn erstarrte und schloss eine Sekunde lang ihre Augen, damit Idris den tiefen Schmerz darin nicht sehen konnte. Als sie ihn wieder anblickte, war das Leuchten aus ihren Augen verschwunden, und Idris wusste, dass er unbeabsichtigt einen Nerv getroffen hatte.

„Darüber muss ich zunächst mit unserem Klinikvorstand sprechen“, sagte Robyn schließlich sachlich.

„Gut“, erwiderte Idris, ebenfalls um einen sachlichen Ton bemüht. Egal, weshalb seine Worte sie gerade so getroffen hatten – er konnte sie weder zurücknehmen noch Robyn trösten, auch wenn die Vorstellung, sie in seine Arme zu ziehen und ihr zu versichern, dass alles gut werden würde, sehr verlockend war. „Dann wäre das ja geklärt. Für wann soll ich Ihren Flug buchen lassen? Falls Sie kurzfristig Zeit haben, könnten Sie sogar mit uns zusammen in unserem Privatjet fliegen. Wir reisen aber bereits morgen Nachmittag ab. Eigentlich wollte ich schon heute fliegen, aber Amira möchte unbedingt noch in irgend so ein Musical.“

„Haben Sie etwa Karten für Princesses and Frogs ?“, fragte Robyn ungläubig. Die Show war seit Monaten ausverkauft.

„Ja, sehr gute Plätze. Möchten Sie uns begleiten?“

Robyn lachte ironisch. „Ich bezweifle, dass Sie so kurzfristig noch eine weitere Karte bekommen.“

„Oh, das ist kein Problem. Wir buchen immer die gesamte Ehrenloge. Nur für den Fall, dass Amira eine oder zwei Freundinnen mitbringen möchte“, fügte Idris schnell hinzu, als er Robyns hochgezogene Augenbrauen bemerkte. Sie fand diese Vorgehensweise offenbar ziemlich dekadent.

„Möchten Sie vielleicht noch jemanden mitbringen?“

Sie spürte, wie sein Blick zu ihrem Ringfinger wanderte. Darauf würde sie keinesfalls eingehen. Er brauchte nicht zu wissen, dass sie ein überzeugter Single war. Sie verbrachte ihre Zeit lieber im Paddington Children’s Hospital und kümmerte sich um die Kinder, die sie selbst niemals haben würde.

Instinktiv berührte sie ihren Bauch, in dem sie ihr Baby getragen hätte, wenn alles anders verlaufen wäre. Wenn das Schicksal es ein bisschen besser mit ihr gemeint hätte. Sie blinzelte. Auch Idris war vom Schicksal nicht gerade freundlich behandelt worden.

„Ich komme allein, um in Ruhe Amira kennenlernen zu können.“ Sie sah ihn herausfordernd an. „Im Übrigen glaube ich nicht, dass es nötig ist, Ihre Zeit und Ihr Geld darauf zu verschwenden, mich nach Da’har kommen zu lassen.“

„Unsinn. Die Kosten spielen keine Rolle.“ Idris war aufgestanden und ging zu dem Sofa, auf dem Robyn saß. Verwundert sah sie ihm dabei zu, wie er ihren zusammengeknüllten Mantel hochhob und glattstrich. Dabei fiel der Schal, den eines „ihrer“ Kinder für sie gestrickt hatte, zu Boden. Gleichzeitig bückten sie sich und stießen dabei mit den Köpfen zusammen. Ein Augenblick wie aus einer Slapstick-Komödie, doch keiner von ihnen lachte.

Mit seinen wunderschönen, fast schwarzen Augen hielt er ihren Blick gefangen. Die Verbindung war fast körperlich spürbar und ließ Robyns Knie weich werden.

„Da’har ist sehr schön zu dieser Jahreszeit.“

Idris hatte sich offenbar schneller wieder gefangen als sie. Ob er das gerade auch gespürt hatte?

„Es ist kein Problem, falls Sie ein paar Tage brauchen, um Ihre Reise vorzubereiten. Ich bin mir sicher, Ihre Klinikleitung wird keine Einwände haben, wenn Sie ihnen erklären, wie komplex die OP ist, die Sie an meiner Tochter durchführen wollen.“

„Die OP bereitet mir keine Sorgen“, erwiderte Robyn mit leicht zitternder Stimme.

„Dr. Kelly, ich weiß nicht, was Ihre Vorgesetzten Ihnen über mich erzählt haben, aber Sie müssen wissen, dass ich einige Voraussetzungen erfüllt sehen möchte, bevor ich Sie mit diesem Eingriff beauftrage. Meine Tochter hat für mich die höchste Priorität, und genau wie Sie Amira kennenlernen und verstehen möchten, muss ich mir ein Bild von Ihnen machen.“

„Oh nein, ich bin nicht bereit, mich von Ihnen durchleuchten zu lassen!“ Auf keinen Fall! Egal, wie sexy, mächtig und verstörend sinnlich dieser Mann war – ihr Privatleben ging ihn nichts an. Absolut gar nichts. Sie schüttelte ihre Locken und stand auf. „Das ist nicht verhandelbar.“

„Meine Tochter, meine Regeln.“

„Das werden wir ja sehen!“ Empört sah sie ihn an. „Da muss wohl jemand noch lernen, dass nicht immer alles nach seiner Nase geht.“

Er zog eine Augenbraue hoch und antwortete – mit einer so tiefen Stimme, dass Robyn innerlich vor Erregung erschauderte: „Und jemand anderes muss wohl noch lernen, ein bisschen entgegenkommender zu sein, wenn er am Ende sein Ziel erreichen will.“

Robyn hätte schwören können, dass er sich ein Grinsen verkneifen musste. Doch Idris hatte sich sofort wieder unter Kontrolle.

„Sie müssen natürlich zunächst das Team kennenlernen, das Ihnen bei der OP in Da’har zur Seite stehen wird. Erst danach entscheide ich, ob ich die Operation erlaube.“

„Erlaube?“ Also wirklich. Scheich hin oder her, sie und nur sie allein entschied, ob sie eine OP durchführte oder nicht.

„Ganz genau. Wenn es um Amira geht, entscheide ich allein, was getan wird. Es ist Aufgabe der Eltern, solche Entscheidungen zu treffen, oder etwa nicht?“

Robyn biss sich so heftig auf die Innenseite ihrer Wangen, dass sie Blut schmeckte. Sie selbst würde niemals ein Elternteil sein und hatte daher kein Recht, ihm zu widersprechen.

Sekundenlang herrschte ein bedrückendes Schweigen.

„Was schlagen Sie denn vor, Dr. Kelly? Wie soll ich dafür sorgen, dass es meiner Tochter gut geht?“, blaffte Idris.

Er würde für Amira Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Die Kontrolle über ihre medizinische Behandlung war ein wichtiger Punkt für ihn, denn nur so konnte er sicherstellen, dass ihr nichts passierte. Er würde nicht noch einmal einen so schmerzlichen Verlust erleiden wie beim Tod seiner Frau. Entschlossen presste er seine Lippen aufeinander und sah Robyn an, die zu einer Antwort ansetzte.

„Sie könnten beispielsweise versuchen, mir und meinen Kollegen am Paddington’s zu vertrauen. Wir werden alle unser Bestes für Amira geben. Wie wir es immer tun.“ Ihr Ton war eisig geworden, und Robyn bemerkte, wie Kaisha sich unauffällig aus dem Raum entfernte.

„Dann werden Sie sicher auch in Da’har Ihr Bestes geben.“

„Oh nein, auf keinen Fall!“ Robyn schüttelte entschieden den Kopf. „Die OP wird hier in London stattfinden. Entweder ich operiere im Paddington’s oder gar nicht.“

Die Spannung zwischen ihnen war inzwischen fast körperlich spürbar, und Idris entdeckte in Robyns Blick eine Unbeugsamkeit, die er bislang nur selten erlebt hatte. Sie war hundertprozentig von ihren Fähigkeiten überzeugt – würde allerdings auf ihren Bedingungen bestehen. Und er würde sich diesen Bedingungen beugen müssen. Interessant.

Er fragte sich, wie Robyn tickte. Was gab ihr die Stärke, ihm die Stirn zu bieten, während alle anderen sich ein Bein ausrissen, um ihm zu schmeicheln? Konnte er sich vorstellen, die Verantwortung für Amira mit jemandem zu teilen, dem er vertraute?

Dieser Gedanke holte ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück. So eine Person gab es nicht. Er und nur er allein war für Amira verantwortlich.

„Ich kann dafür sorgen, dass Sie in Da’har mit Ihrem Wunschteam zusammenarbeiten. Kein Problem. Dann wäre es doch egal, wo die Operation stattfindet, oder nicht?“

„Nein, absolut nicht!“, widersprach sie und war genauso erschrocken über ihre heftige Antwort wie Idris.

Idris’ Gesichtsausdruck war wie versteinert, während man Robyn deutlich ansah, wie aufgewühlt sie war. Sie schien mit den Tränen zu kämpfen.

Idris seufzte innerlich. Ja, er wollte die Kontrolle behalten, doch nicht zu diesem Preis.

„Sind nicht alle Operationssäle gleich?“, versuchte er einzulenken.

Robyn schüttelte den Kopf.

„Das Wohlergehen meiner Tochter ist das Allerwichtigste für mich, und sie ist nun einmal am glücklichsten, wenn sie in Da’har ist.“

„Für mich ist das Wohlergehen meiner Patienten am Allerwichtigsten, und ich bin am glücklichsten – und am besten – wenn ich im Paddington’s operiere.“

„Warum? Was ist so besonders an dieser Klinik?“

Seine Stimme war weicher geworden. So weich und freundlich, dass Robyn sich etwas entspannte. Trotzdem würde sie sich ihm nicht anvertrauen.

Nicht einmal ihre engsten Kollegen wussten von ihrer Gebärmutterhalsschwangerschaft, die für immer ihren Traum von einer eigenen Familie zerstört hatte. Sie wussten nur, dass Robyn mit Leib und Seele am Paddington’s hing und die Klinik als ihr Zuhause betrachtete.

„Kommen Sie mit uns nach Da’har und verbringen Sie etwas Zeit mit uns“, bat Idris lächelnd. „Wenn Sie auf meine Bedingungen eingehen, erfülle ich auch Ihre.“

„Sie meinen, ich kann Amira dann hier im Paddington’s operieren?“

„Nur, wenn Sie zu uns nach Da’har kommen. Je früher, desto besser.“

Eine Reise nach Da’har. Der Gedanke fühlte sich seltsam an. Doch Robyn spürte, dass sie ihre Bedenken über Bord werfen musste. Es ging hier schließlich nicht um eine lebenswichtige Entscheidung. Was war schon dabei, in ein Kindermusical zu gehen und einige Tage in der Golfregion zu verbringen? Irgendwann musste jeder einmal seine Komfortzone verlassen.

Für sie waren es nur einige Tage, doch für ihre geliebte Klinik konnte es die Rettung sein.

Idris sah sie abwartend an. Er war wirklich unglaublich attraktiv…

Robyns Magen zog sich zusammen, doch sie holte tief Luft und nickte. „Ich hoffe, es gibt genügend Schoko-Kekse in Da’har.“

„Keine Sorge.“ Idris lächelte zufrieden und griff nach Robyns Hand. Wieso war ihr vorher nicht aufgefallen, wie groß seine Hände waren? Und wie kräftig. Und dabei gleichzeitig so behutsam, dass sie sich fast zerbrechlich vorkam.

Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?

„Kaisha?“, rief Idris über seine Schulter, ohne Robyns Hand loszulassen. „Würden Sie bitte die restlichen Kekse einpacken, damit Dr. Kelly sie mitnehmen kann? Bestimmt möchte sie sie in der Klinik mit ihren kleinen Patienten teilen.“

Ob er Gedanken lesen konnte?

Einige Minuten später stand eine hochrote Robyn vor dem Fahrstuhl, einen Korb, randvoll gefüllt mit köstlichen Keksen am Arm, und drückte ungeduldig auf den Knopf.

Wieso zum Teufel kam der Fahrstuhl nicht? Sie spürte die Blicke der Bodyguards in ihrem Rücken und hoffte, dass sie ihr hysterisches Lachen noch einen Moment lang unterdrücken konnte. Erst jetzt spürte sie, unter welcher Anspannung sie in Idris’ Nähe gestanden hatte.

Er hatte eine Saite in ihr zum Klingen gebracht, von der sie bis heute gar nichts gewusst hatte. Wie war das möglich? Nur eine Stunde mit ihm, dem Scheich Idris Al Khalil, hatte gereicht, um sie völlig aus der Fassung zu bringen.

Er war das absolute Gegenteil von ihr und dennoch …

Was um alles in der Welt tat sie gerade? Wieso hatte sie seinem wahnwitzigen Plan zugestimmt, mit ihm und Amira nach Da’har zu reisen? Mit einem undurchsichtigen, eiskalten Mann, der offenbar ihre Gedanken lesen konnte?

Sie hielt ihr Privatleben für gewöhnlich streng unter Verschluss, doch nur wenige Minuten mit Idris hatten gereicht, um ihr klarzumachen, dass sie seinem Röntgenblick nichts entgegenzusetzen hatte.

Ein leises Stöhnen klang in ihren Ohren. Resigniert und hoffnungslos.

Augenblick mal – dieses Geräusch hatte sie selbst von sich gegeben.

Oje.

Verlegen drehte sie sich zu den Bodyguards um und lächelte entschuldigend.

Zum Glück öffneten sich in diesem Augenblick die Fahrstuhltüren.

Je schneller sie wieder in der Sicherheit und Geborgenheit des Paddington’s war, desto besser.

3. KAPITEL

„Jetzt rede doch endlich!“

Robyn wünschte sich, die Kollegen würden sie nicht allesamt so erwartungsvoll anstarren. Sie hasste es, im Rampenlicht zu stehen. Doch das hier waren nicht nur Kollegen, es waren ihre Freunde. Menschen, denen die Zukunft des Paddington’s genauso am Herzen lag wie ihr selbst.

„Kann ich euch nicht einfach ein Memo schicken? Dann haben alle die gleichen Informationen.“

„Meine Güte, Robyn!“ Rosie Hobbs, frisch verlobt mit Dr. Marchetti, sah Robyn ungeduldig an. „Wir wollen doch keine wörtliche Wiedergabe eures Gesprächs. Sag uns einfach, was ihre Exzellenz, der Scheich, gesagt hat.“

„Du meinst Idris?“

„Ah, sie nennt ihn bereits beim Vornamen“, neckte Alistair sie und legte seinen Arm um Claire, seine Braut. „Dann ist er also einverstanden, dass du seine Tochter operierst?“

„Ja, das ist er. Aber als ich darauf bestand, den Eingriff hier am Paddington’s durchzuführen, hat er eine Bedingung gestellt. Er will, dass ich mit ihm nach Da’har komme.“

Es fühlte sich seltsam an, über ihn zu sprechen, als wären sie alte Bekannte. „Aber ich weiß noch nicht, ob ich darauf eingehe.“

„Robyn!“, drängte Rosie. „Du willst doch genauso wenig wie wir alle, dass das Paddington’s in diesen grässlichen Riverside-Park umzieht. Können wir dich irgendwie unterstützen?“

Leider nicht.

„Nein, schon gut. Ich sollte vermutlich so schnell wie möglich mit Victoria über sein Angebot reden.“

„Dein toller Scheich hat dir also ein unmoralisches Angebot gemacht?“, witzelte Matthew und erntete dafür prompt einen tadelnden Blick von Claire.

„Vielleicht langweilt der Scheich sich in seinem Harem und möchte deshalb Robyn bei sich haben“, mutmaßte Rosie grinsend.

„Raus aus meinem Büro!“, rief Robyn entnervt. „Idris hat seine verstorbene Frau offenbar sehr geliebt, und in Anbetracht seines mehr als kühlen Verhaltens ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass er vor mir auf die Knie sinken und mir irgendwelche Angebote machen wird.“

Im Übrigen war sie sowieso nicht auf dem Heiratsmarkt. Diesen Plan hatte sie nach ihrer Gebärmutterhalsschwangerschaft für immer aufgegeben.

„Ihr benehmt euch wirklich wie Teenager“, erklärte sie genervt. Trotzdem würde sie jeden Einzelnen von ihnen vermissen, falls das Paddington’s wirklich geschlossen wurde. Deshalb gab es nur eine Alternative: Sie musste einen Koffer kaufen gehen. Seufzend setzte sie ihr ‚Ich bin hier die Chefin‘-Gesicht auf und räusperte sich. „Idris möchte, dass ich für ein paar Tage nach Da’har komme, um seine Tochter kennenzulernen.“

„Dann mach das doch!“, drängte Dominic. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Victoria mir voll und ganz zustimmen wird. Wenn es hilft, das Paddington’s zu retten, dann musst du hinfahren.“

Das war emotionale Erpressung, denn alle wussten, dass Robyn ihre Arbeit in der Klinik liebte. Das Paddington’s hatte ihr das Leben gerettet. Genau in der Woche, in der sie ihr Baby verloren hatte und ihre Beziehung für immer zerbrochen war, hatte sie das Jobangebot bekommen.

Ihre Arbeit hatte sie sprichwörtlich aus dem schwarzen Loch geholt, in das sie gefallen war. Ihr war klar geworden, dass sie zwar niemals selbst eine Mutter sein würde, jedoch dafür sorgen konnte, dass die Kinder anderer Eltern überlebten.

Heute, dreizehn Jahre später, war sie immer noch hier. Doch das Paddington’s stand am Abgrund – genau wie sie damals am Abgrund gestanden hatte.

„Vielleicht könntest du ja hinfliegen, Dominic“, machte sie einen letzten verzweifelten Versuch.

„Robyn, sei bitte vernünftig“, bat Dominic. „Du bist die leitende Chirurgin hier im Castle. Und außerdem diejenige, die den Eingriff durchführen wird. Finde dich damit ab, meine Liebe: Du hast gar keine andere Wahl, als nach Da’har zu reisen. Durch diese OP werden wir so viel Publicity bekommen, dass die Schließung erst einmal vom Tisch sein wird.“ Er schenkte ihr ein so charmantes Lächeln, dass Robyn einen Moment lang verstand, weshalb Victoria sich in ihn verliebt hatte.

Für sie selbst kamen amouröse Verwicklungen natürlich nicht mehr in Frage. Schnell verscheuchte sie den Gedanken an die dunklen traurigen Augen des Scheichs aus ihrem Kopf.

„Wir streichen dich ab morgen vom OP-Plan“, erklärte Dominic und legte beruhigend seinen Arm um Robyns Schulter, als diese protestieren wollte.

Verlegen trat Robyn einen Schritt beiseite und wandte sich an einen kleinen Jungen, der gerade auf Krücken mühsam vorbeihumpelte.

„Ganz langsam, Ryan“, sagte sie. „Du bist heute zum ersten Mal aufgestanden, stimmt’s?“

Der Siebenjährige hatte eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Nach einem Brand in seiner Grundschule war er mit schlimmen Verletzungen aufgenommen worden. Er war nur einer von vielen, denen am Paddington’s geholfen worden war. Wenn sie auch in Zukunft die Behandlung dieser Kinder sicherstellen wollte, musste Robyn sich einen Ruck geben und in dieses Flugzeug steigen.

Entschlossen drehte sie sich wieder zu den Kollegen um. „In Ordnung. Ich werde hinfliegen.“

Ungeduldig trat Idris von einem Fuß auf den anderen. Wo blieb sie denn jetzt? Auf seine Bitte hin hatte Kaisha in der Klinik angerufen und Robyn alle notwendigen Informationen gegeben.

„Sie haben ihr doch gesagt, dass wir in der Ehrenloge sind, oder?“

„Natürlich.“

„Und Sie haben ihr auch die Uhrzeit gesagt? Halb sieben?“

„Ja, Eure Exzellenz. Dreimal.“

Idris wunderte sich mal wieder, dass Kaisha noch nicht längst gekündigt hatte. Selbst an guten Tagen sprühte er nicht gerade vor Fröhlichkeit, doch ihm war selbst klar, dass er heute wirklich unerträglich war.

Die Begegnung mit Robyn hatte ihn aus der Bahn geworfen, und Idris wusste nur zu gut, woran das lag. Blondes Haar, bernsteinfarbene Augen …

Ein Treffen hatte gereicht, um seitdem ununterbrochen in seinem Kopf herumzuspuken. Er räusperte sich. Egal, wie faszinierend er Robyn fand – sie hatte sich verspätet. Im günstigsten Fall. Vielleicht hatte sie aber auch einfach keine Lust, den Abend mit ihm zu verbringen. Wundern würde es ihn nicht, denn er war wie immer viel zu barsch gewesen.

Er lehnte sich zu Amira hinüber und gab ihr einen liebevollen Kuss aufs Haar. Seine Tochter beobachtete gespannt, was um sie herum geschah, und wackelte dabei gedankenverloren an einem Zahn. Am liebsten hätte Idris sie gebeten, damit aufzuhören, doch dann besann er sich eines Besseren. Amira würde eines Tages die Verantwortung für ein ganzes Land übernehmen. Sie sollte so lange wie möglich unbeschwert aufwachsen.

In diesem Moment drehte Amira sich zu ihm um und sagte in Gebärdensprache: „Daddy! Du zappelst so herum, dass der ganze Balkon wackelt.“

„Tut mir leid, mein Schatz. Ich bin nur so gespannt auf die Prinzessinnen.“

„Ich auch! Glaubst du, dass es auch tanzende Frösche geben wird?“ Erwartungsvoll sah sie ihn an.

„Bestimmt.“ Idris hoffte, dass sein Nicken begeistert aussah. Tanzende Frösche waren nicht direkt sein Fall. Doch ihm war alles recht, was seine meist viel zu ernste Tochter aufheiterte.

Als das Licht gedämpft wurde und die ersten Klänge aus dem Orchestergraben zu hören waren, zog sein Herz sich schmerzlich zusammen. Er wünschte sich sehnlichst, seine geliebte Amira könnte es ebenfalls hören. Musik hatte früher eine große Rolle in seinem Leben gespielt. Damals, als Amiras Mutter noch lebte. Doch als die Ärzte ihm gesagt hatten, dass sie nicht überlebt hatte, war mit ihrem wundervollen Lächeln auch seine Liebe zur Musik gestorben.

Ein leises Gemurmel lenkte seine Aufmerksamkeit zur Tür. War das ein Lachen? Wer wagte es, die Aufführung zu stören und auch noch mit seinem Personal zu scherzen?

Im Halbdunkeln sah er einen blonden Lockenschopf. Natürlich. Robyn Kelly. Wie ein menschlicher Wirbelwind war sie in die Ehrenloge gestürzt.

Unwillkürlich fuhr er sich durchs Haar, um gut auszusehen – und schalt sich im nächsten Augenblick für sein lächerliches Verhalten. Sie war schließlich hier, um einen guten Eindruck auf ihn zu machen. Nicht umgekehrt!

Ohne sonderlich leise zu sein, kam sie auf ihn zu, und erneut war er wie gebannt von ihren bernsteinfarbenen Augen.

Als sie näher kam und Amira erblickte, bemerkte Idris jedoch den traurigen Ausdruck in ihren Augen, den er schon im Hotel erahnt hatte. Hinter ihrer vermeintlich immer fröhlichen Fassade schlummerte ein Geheimnis, das sie mit niemandem teilte.

Sie sah ihn an und formte mit den Lippen eine stumme Entschuldigung für ihre Verspätung. Intuitiv wusste Idris, dass sie es ernst meinte.

Ein Duft von Regen und frischen Blumen wehte ihm entgegen, als sie sich neben ihn setzte. Nachdem sie ihre Tasche abgestellt und ihre Jacke ausgezogen hatte, sah sie sich mit großen Augen im Theater um. Dann lehnte sie sich nach vorn und winkte Amira zu.

Fasziniert beobachtete Idris, wie seine Tochter … lächelte. Was hatte diese Robyn an sich, dass sie eine solche Freude verströmte?

Er starrte auf Robyns Hände, während diese sich Amira vorstellte. Erst in arabischer Zeichensprache, dann in englischer.

„Robyn“, buchstabierten ihre schlanken Finger.

„Wie Robin Hood?“, fragte seine Tochter zurück.

„So ähnlich. Nur mit Ypsilon. Auf Englisch bedeutet Robyn Rotkehlchen.“

Amira machte das Zeichen für einen kleinen Vogel, und Robyn nickte.

„Wollen wir das für meinen Namen benutzen?“

Idris sah von seiner Tochter zu Robyn, die ihn bei ihrer Unterhaltung überhaupt nicht mehr zu bemerken schienen. Die Vorstellung war längst in Vergessenheit geraten, so sehr fesselte ihn diese rätselhafte Chirurgin, die in Mary Poppins-Manier seine Tochter für sich gewonnen hatte. Die Idee mit dem Zeichen für „Kleiner Vogel“ gefiel ihm gut, denn das Bild passte zu Robyn.

Robyn setzte derweil ihre geräuschlose Unterhaltung mit Amira in atemberaubender Geschwindigkeit fort. Ihre Hände schienen nicht stillzustehen und erklärten dem Mädchen gerade, dass sie sich als nächstes einen ähnlich einfachen Namen für Amira ausdenken würden, jetzt aber besser ihre Aufmerksamkeit der Show widmen sollten. Schließlich wären sie wegen des Märchens hier und die Prinzessinnen sähen wirklich wunderschön aus.

Als Idris sich in seinem Sitz zurücklehnte, umspielte ein Lächeln seine Lippen.

„Darf ich hier sitzen?“ Amira sah Robyn nach der Pause mit ihren großen dunklen Augen bittend an.

Robyn musterte Idris unauffällig. Wer konnte einem so entzückenden Kind schon etwas abschlagen? Außerdem hatte sie natürlich nichts dagegen, zwischen Idris und Amira zu sitzen. Deshalb nickte sie und hoffte, dass sie nicht zu erfreut aussah.

Diese Änderung des Sitzplans brachte allerdings auch Gefahren mit sich. In dem Augenblick, in dem Robyn Amira gesehen hatte, war ihr Herz vor Liebe für das tapfere kleine Mädchen übergelaufen. Zwischen ihnen beiden hatte es sofort eine Verbindung gegeben.

Und Robyn wusste nur zu gut, wohin so etwas führen konnte. Egal, wie häufig sie sich selbst sagte, dass die Kinder nur ihre Patienten waren – es kam viel zu oft anders. Wurden die Kleinen dann entlassen, spürte Robyn nicht selten ein schmerzliches Gefühl des Verlustes.

In diesen Situationen konnte sie den Gedanken, selbst niemals Mutter werden zu können, kaum aushalten.

Doch dies war nicht der Augenblick für solche traurigen Überlegungen. Sie hatte Victoria versprochen, Idris den Wunsch zu erfüllen, ihn und Amira ins Musical zu begleiten. Sie tat es, um das Krankenhaus zu retten. Wenn die Kleine sich freute und zufrieden war – umso besser.

Genau das schien Amira zu tun. Zufrieden lächelnd ließ sie sich auf ihren neuen Sitz fallen.

Robyn fiel auf, wie ähnlich sie ihrem Vater sah. Die gleichen großen dunklen Augen, das gleiche volle Haar. Und fast immer ein viel zu ernsthafter Ausdruck auf dem Gesicht.

Die Tatsache, dass Amira sehr hübsch war, erstaunte Robyn nicht. Bei den Eltern war nichts anderes zu erwarten gewesen. Auf der Fahrt ins Theater hatte sie Idris kurz gegoogelt und gesehen, dass seine verstorbene Frau ebenfalls eine Schönheit gewesen war. Und dass er sie offenbar sehr geliebt hatte.

„Also, wofür haben Sie sich entschieden?“

„Wie bitte?“ Verwirrt sah Robyn Idris an.

„Amiras neuer Namen in Zeichensprache.“

„Ach ja, das hatte ich ganz vergessen.“ Sie drehte sich zu Amira um. „Wir haben deinen neuen Namen vergessen“, formte sie mit ihren Lippen. „Wie wollen wir dich nennen?“

„Ich möchte, dass Sie den Namen aussuchen“, erklärte Amira.

„Ich?“

Als Robyn zu Idris hinübersah, schien er genauso verwundert wie sie selbst.

„Vielleicht können wir damit noch warten.“

„Aber was ist, wenn ich Sie nie wiedersehe?“

Nun konnte sie Idris’ erwartungsvollen Blick förmlich spüren. Sie hatte ihm noch immer keine verbindliche Antwort gegeben. Victorias Worte klangen ihr noch in den Ohren.

„Wir können deine OPs ohne Weiteres verschieben, aber wir können es nicht verschieben, das Paddington’s zu retten. Uns steht das Wasser bis zum Hals. Der Scheich ist unsere letzte Chance.“

Unfähig, Idris’ Blick zu erwidern, drehte Robyn sich zu Amira um. „Wie wäre es, wenn wir den perfekten Namen für dich beim nächsten Mal auswählen?“

Aus ihren Augenwinkeln heraus sah sie, wie Idris sich aufrichtete.

„Wenn ich in Da’har bin, haben wir reichlich Zeit dafür.“

Sie blickte Idris immer noch nicht an, denn sie fürchtete, Triumph in seinen Augen zu erkennen.

Um das Paddington’s zu retten, würde sie jedes Opfer auf sich nehmen. Selbst wenn sie sich dafür in die Gefahr begeben musste, ihr Herz an dieses entzückende Mädchen und seinen unnahbaren Vater zu verlieren.

Amira sah Idris ungläubig an und fing dann an zu strahlen. Das Licht ging aus, und die Kleine lehnte sich erwartungsvoll nach vorn, um dem Spektakel weiter zu folgen. Dabei wirkte sie auf Robyn so glücklich und so … lebendig. Dieses kleine Mädchen hatte es definitiv verdient, dass sie die neue Operationstechnik wagte. Robyn würde alles tun, damit Amira wieder hören konnte.

Wieso machte der Gedanke, nach Da’har zu fliegen, sie also so nervös? Als sie sah, wie eine große Hand sanft über Amiras Rücken strich, kannte sie die Antwort.

Idris.

Er hatte eine beunruhigende Wirkung auf sie.

Dieser Mann liebte seine Tochter über alles, doch seine kühle Reserviertheit war … schwierig. Sie kam sich vor, als würde alles, was sie tat oder sagte, unter einem Mikroskop betrachtet.

Leider reagierte sie darauf mit einer Unsicherheit, die für eine Chirurgin ihres Kalibers absolut unangemessen war.

Ein plötzlicher Wechsel in der Musik lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Aufführung. Die Lautstärke schwoll an, als der böse Froschkönig sich der schönen Prinzessin näherte. Noch ehe Robyn merkte, was geschah, war Amira auf ihren Schoß geklettert. Wie gebannt starrte das Mädchen auf die Bühne, streckte dabei aber gleichzeitig ihre Arme schutzsuchend nach Robyn aus. Instinktiv drückte Robyn sie an sich und sah Idris unsicher an.

Seine Miene war undurchdringlich, doch Robyn bemerkte ein leichtes Zucken an seinem Kinn, als er sich wieder der Bühne zuwandte, als wäre es etwas völlig Normales, dass seine Tochter bei einer völlig Fremden auf dem Schoß saß.

Viel zu früh viel zu viel Nähe. Unangemessen. Auch wenn er nichts sagte, verstand Robyn seine Botschaft.

Es gab nur eine mögliche Reaktion darauf. Sie hob Amira hoch und reichte sie zu Idris hinüber. Stirnrunzelnd sah er sie an, doch innerhalb von Sekunden wurde sein Blick weich, und er nahm seine Tochter liebevoll in die Arme.

Robyn holte ihren Pager aus der Tasche und tat so, als würde sie eine Nachricht darauf lesen. Dann zuckte sie bedauernd mit den Achseln und stand auf. Als sie leise aus der Loge ging, fühlte sie sich wie ein Feigling.

Robyn rannte förmlich die Stufen hinunter und nach draußen. Statt auf ein Taxi zu warten, würde sie die dreißig Minuten zur Klinik laufen. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Während ihres Aufenthalts in Da’har musste sie darauf achten, einen professionellen Abstand zu Amira beizubehalten. Und natürlich zu ihrem im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Vater. Sie würde nach Da’har fahren, aber allerhöchstens für zwei oder drei Tage. Sie würde Idris damit seinen Wunsch erfüllen, danach die OP durchführen und keinesfalls eine emotionale Bindung aufbauen. Zu niemandem.

„Zwei Wochen?“

Idris hielt den Hörer von seinem Ohr weg und runzelte die Stirn. Die allermeisten Leute würden sich sehr glücklich schätzen, wenn sie auch nur einen Tag in seinem Palast verbringen durften. Von zwei Wochen einmal ganz zu schweigen. Er räusperte sich, kritzelte einen kleinen Vogel auf den Notizblock neben dem Telefon und versuchte es dann noch einmal.

„Ja, Dr. Kelly. Vierzehn Tage.“

Stille.

„Sie kommen vierzehn Tage lang zu uns, oder ich beauftrage ein anderes Krankenhaus.“

Robyn starrte fassungslos auf ihr Telefon.

„Kaisha wird alle Formalitäten erledigen. Und ich bin Ihr Ansprechpartner, wenn es um Amira und ihre medizinische Behandlung geht.“

„Das ist nicht nötig.“

„Doch, das ist es.“

„Ganz wie Sie wünschen, Eure Exzellenz.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, legte Robyn auf und sah gedankenverloren von ihrem Schreibtisch auf den Krankenhausgang, wo wie immer geschäftiges Treiben herrschte. Ganz so, als wäre nichts Besonderes passiert.

Doch das stimmte nicht. Seitdem bekannt war, dass die Rettung der Klinik in greifbare Nähe gerückt war, waren alle Angestellten vor Freude aus dem Häuschen. Der Druck, allein für das Gelingen der Aktion verantwortlich zu sein, lastete schwer auf Robyn.

Idris würde alles dafür tun, dass seine Tochter wieder hören konnte. Selbst wenn er sich dafür mit einer renitenten HNO-Spezialistin arrangieren musste.

Die Opfer, die Eltern für ihre Kinder brachten, beeindruckten Robyn immer wieder. Natürlich hätte sie ganz genauso gehandelt, wenn sie Kinder gehabt hätte. Allein der Gedanke daran, wie Amira sich vertrauensvoll an sie geschmiegt hatte, sorgte dafür, dass Robyns Herz sich vor Schmerz zusammenzog.

„Klopf, klopf …“, machte Victoria sich dezent an der Tür bemerkbar. „Hast du schon gepackt? Vergiss deinen Bikini und die Sonnencreme nicht.“

„Ich fürchte, Bikinis sind in Da’har nicht gern gesehen“, erwiderte Robyn trocken.

Victoria sah sie aufmerksam an. Sie war ziemlich gut darin, andere Menschen einzuschätzen.

„Du weißt, dass du das nicht zu tun brauchst, Robyn.“

Immerhin.

Besorgt musterte Victoria die Freundin und strich sich dabei mit der Hand über den sehr schwangeren Bauch. Robyn sah zur Seite. Schwangere Frauen machten sie traurig.

„Die Frage ist nicht, ob ich es aushalte, nach Da’har zu fliegen, sondern ob ich es aushalten würde, es nicht zu tun.“

„Weil es um die Zukunft der Klinik geht?“

„Genau. Die Klinik ist der einzige Grund, weshalb ich zugestimmt habe.“

Victorias Miene hellte sich auf. „Dann hast du ja gesagt? Oh, das ist wundervoll, Robyn! Ich habe jetzt eine Vorstandssitzung und werde die gute Neuigkeit sofort verkünden!“ Sie drehte sich auf dem Absatz um, doch bevor sie ging, streckte sie noch einmal den Kopf in Robyns Büro. „Natürlich nur, wenn es dir recht ist.“

Robyn nickte lächelnd. „Und jetzt verschwinde. Ich habe noch jede Menge zu tun.“

Victoria seufzte. „Ein wenig beneide ich dich schon. Du wirst am Meer sitzen, frisch gepressten Orangensaft trinken und köstliche Früchte essen; es wird warm und sonnig sein …“ Versonnen sah sie aus dem Fenster.

„Hast du nicht etwas von einem Meeting gesagt?“

Victoria grinste. „Jetzt habe ich aber Hunger bekommen. Ich mache noch einen Abstecher in die Kantine.“ Mit beschwingtem Schritt ging sie davon.

Immerhin hatte sie einen Menschen glücklich gemacht, überlegte Robyn. Vielleicht würde es ja gar nicht so schlimm werden. Sie musste es eben als Dienstreise betrachten.

Die nächsten Wochen würden auf jeden Fall spannend werden. Sie hoffte inständig, dass Amira am Ende wieder hören konnte.

Der Eingriff durfte einfach nicht misslingen. Die Zukunft ihrer geliebten Klinik hing davon ab. Und damit auch ihre eigene.

4. KAPITEL

Obwohl sie nicht gerade klein war, hatte Robyn Mühe, mit Idris Schritt zu halten. Wieso hatte er darauf bestanden, ihr selbst das Gästezimmer zu zeigen? Als Herrscher von Da’har hatte er doch sicher einen Haufen Angestellte, die solche Pflichten für ihn übernehmen konnten.

Dennoch hatte er ihr persönlich die Tür zu seinem gar nicht palastähnlichen Palast geöffnet, nachdem ein Fahrer sie zu dem hübschen Gebäude inmitten eines wundervoll verwunschenen Gartens gebracht hatte.

Sie beeilte sich, ihm durch den langen, mit bunten Fliesen ausgelegten Korridor zu folgen. „Sie haben es wirklich hübsch hier“, versuchte sie, ein Gespräch aufrechtzuerhalten.

„Freut mich, dass es Ihnen gefällt.“ Seine Körpersprache stand in krassem Gegensatz zu seinen freundlichen Worten. Charmante Gesprächsführung schien in Da’har nicht zum Lehrplan zu gehören.

Andererseits war sie selbst ja auch nicht sonderlich höflich gewesen, als sie sich so lange geziert hatte, seine Einladung anzunehmen. Wahrscheinlich hatte sie es nicht besser verdient.

„Ich hoffe, Sie haben an Ihrer Unterkunft nichts auszusetzen.“ Mit Schwung öffnete Idris eine Tür und trat in ein Zimmer – oder waren es gleich mehrere Räume?

„Idris, es ist …“ Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. „Das war nur eine rhetorische Frage, nicht wahr?“

Er machte sich nicht die Mühe, ihr zu antworten, doch sie bemerkte ein leises Lächeln auf seinem Gesicht.

„Es ist wundervoll, aber ich brauche doch nicht …“

Gebieterisch hob er eine Hand. „Es ist uns sehr wichtig, dass Sie sich bei uns wohlfühlen.“

Robyn biss sich auf die Zunge, um nicht zu erwidern, dass sie alles andere als freiwillig hier war, und rief sich ins Gedächtnis, dass es allein um den Erhalt des Paddington’s ging. Und natürlich um ein ganz entzückendes kleines Mädchen.

Außerdem hätte sie es schlechter treffen können. Die Wohnanlage des Scheichs war atemberaubend, ohne protzig zu wirken. Vier solide Stockwerke, ein malerischer Innenhof mit hübschen bunten Fliesen an den Wänden und auf dem Boden, Balkone auf allen Seiten des Hauses und natürlich ein riesiger Pool.

Wie geschaffen für einen Traumurlaub. Die vielen Eindrücke überforderten sie fast ein wenig.

Idris räusperte sich ungeduldig, und schnell beeilte sich Robyn, in ihre Suite zu treten.

„Hier ist Ihre private Terrasse.“ Idris hatte ein großes französisches Fenster geöffnet und wies auf eine üppig begrünte Veranda. „Wenn Sie möchten, können Sie hier Ihr Frühstück einnehmen.“

„Oh, ich hatte gehofft, ich würde mit Amira zusammen essen“, protestierte Robyn und ließ sich auf das riesige weiche Bett fallen.

Sie sah zu Idris hinüber, dessen Augen verdächtig glitzerten, als er sie vor sich auf dem Bett liegen sah. Trotzdem bemühte er sich, weiterhin kühl zu wirken.

Verlegen wich sie seinem Blick aus. Sie wollte doch nur das Bett testen! Was bildete er sich ein! Unbeholfen richtete sie sich auf. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Erst die Übergabe im Paddington’s, dann die Fahrt zum Flughafen, wo sie ein bisschen beschämt darüber gewesen war, dass Idris einen Flug in der ersten Klasse für sie gebucht hatte. Das Bordpersonal war offenbar darüber informiert worden, dass sie ein persönlicher Gast seiner Exzellenz war.

„Dort drüben ist das Badezimmer.“

Statt in die Richtung zu sehen, in die Idris deutete, betrachtete sie seine langen, schlanken Finger und stellte sich vor, wie es sein musste, sie auf ihrem Körper zu spüren. Entsetzt über ihre eigenen Gedanken, zwang Robyn sich, Idris zuzuhören. Sein etwas herablassender Tonfall provozierte sie.

„Sehr schön, Idris. Danke. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir noch einige Handtücher zu holen?“

Völlig konsterniert sah er sie an, und Robyn lachte schallend. „War nur Spaß!“

Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, sich während ihres Aufenthalts erwachsen zu benehmen. Wieso konnte sie nicht einfach in ihrem OP stehen und operieren? Auf diesem Terrain fühlte sie sich einfach nicht wohl.

„Kann ich Amira sehen? Vielleicht hat sie Lust, mir Ihren Palast – ich meine Ihr Haus zu zeigen.“

Robyn zwang sich, ihn nicht länger anzustarren und erst recht nicht länger darüber nachzudenken, wie er wohl ohne seine Klamotten aussehen würde. Sein Blick war so durchdringend, dass sie befürchtete, er könnte womöglich ihre unanständigen Gedanken lesen und entsetzt sein.

Andererseits hatte er so vieles durchgemacht, dass er vermutlich nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen war. Er hatte gelitten, hatte seine große Liebe verloren und war seitdem ein verschlossener Mensch.

Dabei wünschte Robyn sich immer mehr, er würde sie, also die wirkliche Robyn, näher kennenlernen.

Dieser Gedanke erschreckte sie fast noch mehr als ihre sinnlichen Fantasien.

„Ich würde Amiras Zuhause gern durch ihre Augen sehen, und ich bin mir sicher, dass Sie Wichtigeres zu tun haben, als mich herumzuführen. Bestimmt müssen Sie … regieren?“

„Ich habe meinen Terminkalender für die Dauer Ihres Besuchs freigehalten.“

Aha. Das war überraschend. Und ein bisschen beunruhigend.

„Ich möchte Ihnen auf keinen Fall Umstände machen.“

„Das tun Sie nicht. Ich will nur sichergehen, dass die Interessen meiner Tochter bestmöglich gewahrt werden.“

Wie konnte es sein, dass er trotz seiner Hochnäsigkeit und Arroganz aussah, als würde er sagen: „Reiß mir bitte sofort die Kleider vom Leib“? Wobei … das „bitte“ würde er vermutlich weglassen. Er war eher der Typ, der Befehle gab und Gehorsam erwartete – was wiederum sexuelle Möglichkeiten eröffnete, an die sie noch gar nicht gedacht hatte.

Robyn spürte, wie ihre Wangen erglühten. Was war nur los mit ihr? Sie schien die alte, vernünftige Robyn, deren Leben sich nur ums Paddington’s drehte, am Flughafen zurückgelassen zu haben.

Wieso stand sie hier vor diesem unnahbaren Scheich und kämpfte gegen absolut unangemessene Gedanken an, anstatt das zu tun, was sie wirklich gut konnte: sich um Patienten kümmern? Sie brauchte dringend eine Aufgabe.

Idris machte keinerlei Anstalten zu gehen und musterte sie von oben bis unten. Auch wenn mehrere Meter Sicherheitsabstand zwischen ihnen waren, fühlte Robyn sich wie ein Objekt. Fast glaubte sie, seinen Blick körperlich zu spüren. Hätte sie nackt vor einer Million Pinguinen gestanden, wäre das auch nicht peinlicher gewesen.

In ihrem guten, sehr ordentlichen Londoner Kostüm fühlte sie sich verschwitzt und unwohl. Im sommerlich kühlen London war sie damit perfekt gekleidet gewesen, doch hier trugen alle weite, fließende Gewänder, die definitiv besser für die Temperaturen in Da’har geeignet waren.

Idris war zwar westlich gekleidet, doch in seinem weiten hellen Leinenhemd und der dunklen Leinenhose schien er die Hitze gut aushalten zu können. Zumindest machte er nicht den Eindruck, als wenn ihm warm wäre.

Robyn wippte verlegen auf ihren hohen Absätzen hin und her und erwiderte trotzig den Blick ihres neuen … Chefs? Wohltäters? Wie auch immer. Er sollte nicht glauben, dass sie nichts Besseres zu tun hatte, als auf seine Befehle zu warten.

„Gibt es irgendein Code-Wort, das ich benutzen muss, damit es hier endlich losgeht?“

Idris runzelte die Stirn. „Sie haben noch nie Urlaub gemacht, Dr. Kelly, nicht wahr?“

Er war wirklich ein ganz Schlauer.

„Kann schon sein.“

„Haben Sie denn noch nie etwas nur deshalb getan, weil es Spaß machte, Dr. Kelly?“

Konnte er vielleicht mal aufhören, sie so förmlich anzureden?

„Robyn!“, korrigierte sie ihn. „Und eigentlich dachte ich, wir hätten hier ein konkretes Projekt.“

Mit einem Mal wurde ihr klar, dass Idris so untätig herumstand, weil er genauso wenig wusste wie sie, wie er mit der Situation umgehen sollte. Sie waren beide nicht gerade der Freizeit-Typ.

Idris war noch damit beschäftigt, ihre Worte zu verdauen. Offenbar war er es nicht gewohnt, dass man so geradeheraus mit ihm sprach. Robyn sah ihn an und erkannte, dass sein förmliches Benehmen, sein verschlossenes Wesen und seine kühle Arroganz nur Schutzmechanismen waren.

Als ihre Blicke sich trafen, durchlief eine Welle der Erregung ihren Körper. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn er sie tatsächlich eines Tages berührte.

Der Gedanke ließ sie erschaudern. Sie musste sich zusammenreißen! Denn eines war Robyn längst klar: Wenn sie sich auf diesen Mann, der dort vor ihr stand, einließ, würde sie ihm mit Haut und Haaren verfallen.

Abrupt drehte Idris sich um und ging aus dem Zimmer. Aus ihrem Zimmer. Dem Zimmer, in dem Robyn sich später ausziehen und auf dem Bett räkeln würde. Er wünschte, er wäre nicht dabei gewesen, als sie das Bett ausprobiert hatte.

Was hatte er sich nur dabei gedacht, sie nach Da’har einzuladen? In seinen Palast. In sein Zuhause. An den einzigen Ort, an dem er sich sicher fühlte.

Ja, er wollte, dass Robyn Amira kennenlernte. Aber hatte er wirklich gewollt, dass alles so persönlich wurde? Er schüttelte den Kopf. Natürlich nicht.

Er versuchte mit aller Kraft, die Anziehungskraft, die Robyn auf ihn ausübte, zu ignorieren.

„Daddy!“ Seine Tochter rannte über den Innenhof auf ihn zu und begrüßte ihn in Zeichensprache. Idris fing sie auf und wirbelte sie übermütig herum. Dabei bemerkte er, dass Robyn am anderen Ende des Hofs stand und sie beobachtete.

„Ja?“, fragte er und setzte seine Tochter am Rand des Springbrunnens ab.

„Ich … ich war auf der Suche nach Amira …“, erklärte Robyn verlegen.

In diesem Augenblick entdeckte Amira sie und stürmte so ungestüm in Robyns Arme, dass es Idris vorkam, als wäre die Ärztin die lange verlorene … Oh nein! Das durfte er nicht einmal denken! Robyn war nicht Amiras Mutter!

Auch wenn das Lächeln, das Robyns Gesicht vor Freude leuchten ließ, als sie Amira umarmte, voller Liebe war.

Er spürte einen eifersüchtigen Stich, als er die beiden kommunizieren sah. Lebhafte Gesten, Grimassen, überdeutliche Lippenbewegungen. Sie hatten sich offenbar eine Menge zu sagen.

Idris ertappte sich dabei, wie er auf Robyns Lippen starrte. Wunderschöne, volle, hellrosa Lippen – und zum zweiten Mal empfand er eine Anziehungskraft, die er nicht mehr für möglich gehalten hatte.

Sofort fühlte er sich schuldig. Seine Liebe gehörte Malikah, seiner verstorbenen Frau. Das ganze Land war in einem Freudentaumel gewesen, als sie geheiratet hatten. Und nie hatte es eine tiefere Trauer in einem Volk gegeben, als an dem Tag, an dem sie gestorben war. Gestorben bei der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter, die nun sein Ein und Alles war. Er blickte zu ihr hinüber und stutzte.

Lachte Amira gerade? Er kniff die Augen zusammen. Ja, so war es. Robyn kitzelte Amira am Bauch, und die Kleine gab leise, glucksende Geräusche von sich. Unglaublich. Normalerweise war sie ein so verschlossenes kleines Mädchen. Genau wie ihr Vater, pflegten die Leute zu sagen. Sie nahm ihre künftigen Verpflichtungen sehr ernst für ein so kleines Kind.

Diese Worte hatten ihn immer mit Stolz erfüllt, doch jetzt … Der Klang ihres Lachens – schöner als jeder Vogelgesang, den das Land je gehört hatte – ließ ihn zweifeln.

Robyn richtete sich auf und kam mit Amira an der Hand auf ihn zu. „Amira und ich brauchen Ihre Hilfe.“

„Ach ja?“ Wieso hörte er sich schon wieder so barsch an?

„Eigentlich braucht nur Robyn deine Hilfe“, erklärte Amira in ihrer ganz persönlichen Zeichensprache, die sie und Idris im Laufe der Jahre entwickelt hatten. Voller Mitgefühl erklärte sie ihrem Vater, dass Robyns Schuhe und auch ihre Kleidung für die heißen Temperaturen in Da’har so ganz und gar nicht geeignet waren. Deshalb wollte Robyn mit Amira in den Souk, den Basar in der Altstadt, gehen.

Entsetzt sah Idris seine Tochter an. Um so einen Gefallen hatte sie ihn noch nie gebeten. Üblicherweise verließen sie das Palastgelände nur zu offiziellen Terminen oder wenn sie auf Reisen gingen. Es war Idris sehr wichtig, dass Amira immer sicher und beschützt war.

„Wir können jemanden hinschicken, der für Robyn einkauft“, schlug Idris vor.

„Aber das macht viel weniger Spaß“, protestierte Robyn. „Ich war noch nie in einem Souk.“ Robyns bittendes Lächeln brachte Idris Widerstand ins Wanken.

„Amira auch nicht.“ Seine Antwort galt nur Robyn, und sein Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er die Idee missbilligte. Es gab schließlich einen guten Grund dafür, dass sie das Gelände nicht verließen. In den überfüllten Gassen der Altstadt konnte es schnell zu unübersichtlichen Situationen, manchmal sogar zu Tumulten kommen. Selbst wenn er seine Bodyguards mitnahm, wäre es ein Risiko für Amira.

„Es wäre Wahnsinn, wenn wir einfach so im Souk auftauchten. Glauben Sie mir, das würde kein bisschen Spaß machen.“

Eine kleine Hand schloss sich um seine Finger, während Amira ihn mit großen Augen flehend ansah und mit ihrer anderen Hand kreisförmig über ihre Brust strich. „Bitte!“

Er dachte an seine eigene Kindheit. An eine Zeit voller Freiheit; ohne Bodyguards und Vorsichtsmaßnahmen. An endlose Stunden in den verwinkelten Gassen der Altstadt. An Gespräche mit den Menschen dort, für die er eines Tages die Verantwortung tragen würde. Es war ihm immer wichtig gewesen, genau zuzuhören.

Ganz genau! Zuhören. Doch das konnte Amira nicht. Für sie wäre ein solcher Ausflug der pure Stress. Die Menschen würden sie bedrängen, auf sie einreden – und sie würde nicht antworten können.

Das musste diese verrückte blonde Ärztin, die gerade angriffslustig vor ihm stand, doch einsehen! Kein Souk-Besuch. Zumindest nicht heute.

Doch als er in die großen bittenden Augen seiner Tochter sah, wusste er, dass er verloren hatte. Zwei gegen einen. Er schüttelte seufzend den Kopf und sah, dass Robyn ihn triumphierend anlächelte.

Allmählich wurde ihm klar, dass diese zwei Wochen ziemlich lang werden würden.

„Das ist ein Riesenspaß, finden Sie nicht auch?“, erkundigte Robyn sich bei Idris, ohne auf dessen immer schlechtere Laune zu achten. Amira war gerade in ein weiteres Geschäft geschlüpft.

Idris knurrte etwas Unverständliches. Spaß war nicht gerade das Wort, das er gewählt hätte. Er fühlte sich, als würde er gleich ein Magengeschwür bekommen. Da die Bodyguards ihre Hände frei haben mussten, um im Ernstfall Amira beschützen zu können, hatte Idris sich zähneknirschend bereit erklärt, die vielen Taschen und Tüten mit Robyns Einkäufen zu tragen.

Robyn, oder besser gesagt Amira, hatte sich einem wahren Kaufrausch hingegeben. Die Kleine hatte sich als sehr entschlossene Shopping-Queen entpuppt, der weder Robyn noch Idris etwas entgegenzusetzen hatten.

Als Herrscher von Da’har regierte Idris ein ganzes Königreich, doch heute ließ er sich von seiner Tochter herumkommandieren.

„Eins noch. Bitte!“ Mit ihren großen Augen sah sie ihn an, und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie ohne auf seine Antwort zu warten in den nächsten Laden stürmte. Robyns Ankunft hatte sein viel zu ernstes kleines Töchterchen in eine geschäftige, selbstbewusste junge Dame verwandelt, die fachmännisch die farbenfrohen Kleider, Schuhe und Tücher begutachtete, die in der Auslage zu sehen waren.

Robyn war voll und ganz auf das Spiel eingegangen und ließ sich von Amira bereitwillig immer neue Sachen zeigen.

„Ich glaube, Ihre Tochter würde sich in Paris auch sehr wohlfühlen“, erklärte Robyn lachend, nachdem Amira einen weiteren Schwung luftiger Kleider ausgesucht hatte.

Die Vorstellung von Amira als junger, unabhängiger Frau in Paris machte Idris Angst. Sie war doch sein kleines Mädchen. Seine Prinzessin.

„Für meine Tochter ist Da’har genau der richtige Ort auf der Welt.“

„Ich wollte doch gar nicht …“, fing Robyn an, schwieg dann aber und sah Idris prüfend an. „Natürlich ist es das“, erklärte sie versöhnlich. „Sehen Sie sie nur an.“

Mühsam riss er seinen Blick von Robyn los und beobachtete staunend, wie Amira gestenreich mit dem Ladenbesitzer kommunizierte. Sie hatte sich nie für ihre Einschränkung geschämt, denn für sie war es ganz normal, nicht hören zu können.

Eine Normalität, die Idris nicht akzeptieren konnte. Seine Tochter hatte es verdient, ohne diese Last durchs Leben gehen zu können. Sie war schließlich seine Tochter!

Und die Frau neben ihm konnte es möglich machen. Erst jetzt wurde ihm klar, wie beängstigend es für ihn war, das Schicksal seiner geliebten Amira in die Hände einer Fremden zu legen. All seine Hoffnungen.

Robyn schien sich bei Amiras Einkaufsmarathon großartig zu amüsieren. Was sie nicht wusste, war, dass seine entzückende kleine Tochter keineswegs höflichen Smalltalk mit dem Ladenbesitzer machte. Nein, sie feilschte. Nach allen Regeln der Kunst. Die künftige Herrscherin des Landes versuchte, den Preis für ein Paar Haremshosen herunterzuhandeln! Verzweifelt schüttelte Idris den Kopf, doch gleichzeitig rührte es ihn, wie unbeschwert sie auf einmal war.

Amira mit Robyn zu sehen, war schmerzhaft, denn eigentlich hätte sie diese Dinge mit ihrer Mutter erleben sollen. Mit ihrer Mutter, die sie niemals kennenlernen würde.

„In Ordnung“, sagte er und winkte Amira zu sich. „Genug jetzt. Wir fahren heim.“

Auf der Rückfahrt war Idris einsilbig und konzentrierte sich auf die Straße, während sie an den wunderschönen, verwunschenen Häusern der Altstadt vorbeifuhren. Als sie in die Nähe des Flughafens kamen, veränderte sich das Stadtbild, und moderne Wolkenkratzer bewiesen, dass Da’har seinem Ruf als aufstrebendes, modernes Land voll und ganz gerecht wurde.

Robyn beugte sich zu Amira hinüber, die inmitten der vielen Einkaufstüten eingeschlafen war. Selbst im Schlaf sah sie noch glücklich und zufrieden aus.

Schnell wandte Robyn sich ab und blickte aus dem Fenster, denn nur so konnte sie die dummen Tränen zurückhalten, die sie schon wieder hinter ihren Lidern spürte.

Sie musste mehr emotionale Distanz zu dem kleinen Mädchen halten.

Angestrengt kniff sie ihre Augen zusammen.

Sie durfte Amira nicht in ihr Herz lassen.

„Ist alles in Ordnung?“

„Natürlich.“ Sie sah Idris an, überrascht, dass er ihren Stimmungswechsel bemerkt hatte. „Es war einfach ein langer Tag.“ An dem es sie besonders schmerzte, dass sie niemals eigene Kinder haben würde.

„Sehen Sie mal nach rechts“, forderte er sie auf und fing an, ihr die Gebäude zu erklären, an denen sie vorbeifuhren. Doch Robyn hörte ihm gar nicht richtig zu. Seine tiefe Stimme hatte sie ganz in ihren Bann gezogen.

Sofort rief sie sich zur Ordnung. Sie durfte ihn nicht attraktiv finden. Obwohl er umwerfend aussah, war er unerreichbar für sie. Männer wie er standen nun einmal nicht auf sie. Trotzdem konnte Robyn eine gewisse Anziehungskraft nicht leugnen. Idris Al Khalil besaß eine sinnliche und dennoch höchst maskuline Ausstrahlung.

Und sie? Obwohl sie etwa gleich alt sein mussten, hatte Robyn das Gefühl, dass ihre Blütezeit lange vorüber war. Natürlich war sie noch nicht wirklich alt, doch keine Kinder mehr bekommen zu können, hatte sie verändert und ihr die Unbeschwertheit der Jugend genommen. Vielleicht hatte der Tod seiner geliebten Frau bei Idris etwas Ähnliches bewirkt.

Sie unterdrückte ein leises Seufzen.

„Und das dort drüben …“, er wies nach links, „… ist das Alte Schloss.“

Das riesige Gebäude mit unzähligen Türmen und Mauern erhob sich majestätisch inmitten eines weitläufigen Parks. Es schien viele hundert Jahre alt zu sein und erinnerte eher an eine alte französische Festung als an ein Schloss.

„Dann leben Sie im … Neuen Schloss?“

Idris Blick verdunkelte sich. „Nein.“

Er bog an der nächsten Kreuzung ab. „Das hier war eigentlich das Neue Schloss.“

Eine breite Allee führte zum Eingang eines Gebäudes, das wie die perfekte Mischung aus klassischer arabischer Bauweise und modernem Design mit viel Glas aussah. Tradition und Aufbruch in eine glanzvolle Zukunft. Genau so sah der Sitz eines Herrschers aus.

Robyn wurde sofort klar, dass sie auf eine Art Taj Mahal blickte. Der Palast wurde nicht mehr bewohnt, sondern diente seit sieben Jahren nur noch als Andenken an eine große Liebe.

Amira, die gerade wach geworden war, presste ihre kleinen Hände gegen die Scheiben der Limousine und warf dem Grab ihrer Mutter eine Kusshand zu.

Die Situation war so traurig, dass Robyn ihre Tränen kaum noch zurückhalten konnte. Idris’ versteinertes Gesicht, das kleine Mädchen, das an seine tote Mutter dachte, die es nie kennengelernt hatte, und dieser prunkvolle Palast mitten in Da’har – leer und verlassen.

5. KAPITEL

„Wie wäre es mit einer Modenschau?“

Idris war mindestens genauso erstaunt über seinen eigenen Vorschlag wie Robyn. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie alle ein wenig Aufheiterung gebrauchen konnten. Seit sieben Jahren war er alles andere als fröhlich – es war an der Zeit, das zu ändern.

„Na los!“ Er wies auf den Berg von Tüten und Taschen. „Wir haben doch nicht stundenlang diese anstrengende Odyssee durch all die Läden gemacht, um dann dabei zuzusehen, wie Sie sich weiterhin in diesen unbequemen, viel zu warmen Klamotten quälen.“ Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass die Vorstellung von Robyn in einem der luftigen, fast durchsichtigen Gewänder ihm ein bisschen zu gut gefiel.

„Das ist doch nicht nötig“, widersprach Robyn verlegen.

„Ich bestehe darauf!“ Sofort wurde Idris klar, dass sein Ton wieder einmal viel zu harsch war. Er lächelte entschuldigend. Bevor Amira hören konnte, musste er diesen Befehlston unbedingt ablegen. Es gab eine Menge Dinge, die er noch ändern musste.

Er sah zu seiner Tochter hinüber, die gedankenverloren und genüsslich ihr Abendessen verspeiste. Nach ihrer Einkaufstour hatten sie beschlossen, im Innenhof seines Palastes ein Picknick zu machen. Natürlich gab es im Haus einen Speisesaal, doch der schattige Hof war einer von Amiras Lieblingsorten.

Idris konnte gar nicht aufhören, sich darüber zu wundern, wie richtig es sich anfühlte, Robyn hier in seinem Haus zu haben. Sie hatte intuitiv begriffen, was sein Zuhause für ihn war – der einzige Rückzugsort von der rauen Welt.

„Würde ein Auftritt als Mannequin reichen?“, bot Robyn als Kompromiss an.

Idris nickte knapp. Zu knapp. Mit seinem kühlen und abweisenden Verhalten hielt er alle Menschen, die ihm früher etwas bedeutet hatten, auf Abstand. Freunde, Berater, Onkel, Tanten – sie alle wussten nicht, wie sie mit seiner kühlen Distanziertheit umgehen sollten. Seine über alles geliebte Tochter war die einzige Ausnahme.

Genau in diesem Augenblick warf Amira ihm einen bittenden Blick zu.

„Bitte, Robyn“, bat er. „Zeigen Sie uns, wie Sie in Ihren neuen Outfits aussehen.“

Sein Blick war so eindringlich, dass Robyn sich in die Enge gedrängt fühlte. Es kam ihr vor, als würde er mit seinen dunklen Augen bis zum Grund ihrer Seele blicken und erkennen, wer und was sie wirklich war. Nämlich nicht nur die selbstbewusste Ärztin, sondern eine Frau, die jeden Tag ihres Lebens unter dem schrecklichen Verlust ihres Babys litt.

Bittend sah Idris sie an und blickte dann zu Amira. Er wollte seiner Tochter eine Freude machen, nicht sich selbst. Robyn gab sich geschlagen. Die kleine Amira hatte sie innerhalb weniger Stunden um den Finger gewickelt. Seufzend stand sie auf.

„Da drüben ist ein Garderobenraum, in dem Sie sich umziehen können“, erklärte Idris.

Natürlich. Es hätte Robyn auch nicht gewundert, wenn er ihr eine Kammerzofe mitgeschickt hätte, die ihr beim Ankleiden half. Die Tatsache, dass es kaum Personal im Haus gab, gefiel Robyn. Für den Regenten von Da’har hatte Idris einen sehr bescheidenen Lebensstil.

Der Palast war dezent und bot gleichzeitig alle Annehmlichkeiten eines modernen Hauses. Beim Essen hatte Idris ihr erzählt, dass er im Rahmen seines Architekturstudiums die Baupläne selbst entworfen hatte. Das Gebäude war eine Liebeserklärung an die traditionelle Bauweise seines Landes mit vielen versteckten technischen Raffinessen. Wi-Fi, eine hochwertige Radio- und Lautsprecheranlage und Tablets, die unauffällig in allen Räumen zur Verfügung standen. Alles spiegelte Idris Kreativität und Stil wider.

Mit gemischten Gefühlen griff Robyn nach den Tüten und ging ins Ankleidezimmer. Sie hasste es, im Rampenlicht zu stehen!

„Noch eins!“

Lächelnd drehte Robyn sich um und verschwand erneut in der Garderobe. Sie hatte schon drei neue Kleider vorgeführt und ihre anfängliche Verlegenheit schnell abgestreift.

Amira zupfte Idris am Ärmel. Ihr hübsches Gesicht leuchtete vor Vergnügen. Ihre Hände flogen nur so hin und her, als sie ihm in Zeichensprache mitteilte, auch er müsse sich nun verkleiden, und sie würde ihm dazu einen Schnurrbart anmalen und einen Turban aufsetzen.

Lachend nahm Idris seine Tochter in den Arm und erfüllte ihr gutmütig ihren Wunsch.

Als Robyn aus der Garderobe trat, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Hochkonzentriert stand Amira vor ihrem Vater und malte ihm einen riesigen Schnurrbart ins Gesicht. Geduldig ließ Idris die Prozedur über sich ergehen. Endlich war Amira fertig und betrachtete kichernd ihr Werk.

Als nächstes holte sie ein schimmerndes Tuch und wand es ihrem Vater um den Kopf, der nun aussah wie ein Prinz aus 1001 Nacht. Vater und Tochter amüsierten sich so großartig über die Verkleidung, dass Robyn zögerte, zu ihnen zurückzugehen, da sie diesen innigen Augenblick nicht stören wollte.

Sie hätte den Moment gern mit ihnen geteilt, doch eine mahnende Stimme in ihrem Inneren erinnerte sie daran, dass dies nicht ihre Welt und auch nicht ihr Leben war. Mit ihrer Ankunft in Da’har war sie in eine Parallelwelt getreten, in der es nicht nur andere Gebäude, andere Düfte und Geräusche, sondern auch andere Gefühle und Reaktionen gab. Sie holte tief Luft. Normalerweise hätte sie sich in ihrem Zimmer verkrochen anstatt in diesen luftigen Gewändern zu posieren, in denen sie sich so erstaunlich wohl fühlte.

Sie atmete aus, richtete sich auf und lächelte. Hier war alles anders.

„Wie findet ihr das?“ Wie ein Model stolzierte sie vor Idris und Amira auf und ab, um ihnen das hauchzarte, fast durchsichtige Gewand zu präsentieren.

Idris sah sie fasziniert an. Mit ihrem unbeschwerten Lächeln sah sie plötzlich aus wie ein junges Mädchen. Doch als ihre Blicke sich trafen, entdeckte er eine Sinnlichkeit in ihren Augen, von der sie selbst offenbar am meisten überrascht war.

Idris setzte sich auf und hielt ihren Blick in seinem gefangen. Sein Körper teilte ihm unmissverständlich mit, dass er sie begehrte. Er wollte Robyn. Wollte sie an sich ziehen, ihr das leuchtend grüne Gewand hochschieben, sie berühren – am ganzen Körper. Und küssen. Ihre vollen rosigen Lippen schienen nur darauf zu warten, von ihm geküsst zu werden. Hungrig und leidenschaftlich. Bevor er dann …

Das begeisterte Klatschen seiner Tochter riss ihn jäh aus seinem Tagtraum. Noch immer sahen sie sich tief in die Augen, und Idris versuchte, Robyn nonverbal seine Gedanken mitzuteilen, denn sagen konnte er es natürlich nicht.

Sie schien zu ahnen, was in seinem Kopf vorging, denn ihr Blick war ein wenig herausfordernd, fast schon provozierend geworden.

Im gleichen Moment wurde Idris klar, was er da gerade tat. Scham und Ärger über sich selbst beendeten die Romantik abrupt. Robyn war nicht hier, um seine Geliebte zu werden. Noch nicht einmal, um sich mit ihm anzufreunden. Ihre Anwesenheit in Da’har war rein geschäftlicher Natur, und er war ein Narr, wenn er auch nur für eine Sekunde dachte, dass sie etwas anderes als Amiras Ärztin sein konnte.

„Ich glaube, für heute Abend haben wir genug Spaß gehabt.“

„Ja“, stimmte Robyn sofort zu. „Ich werde zu Bett gehen.“ Sie drehte sich um und ging zur Tür. Während der letzten Stunde hatte sie sich schön gefühlt. Anmutig.

Amira lief hinter ihr her und schlang ihre Arme um Robyns Taille. Robyn drückte sie kurz an sich und gab ihr einen Kuss auf den Haarschopf. Dann beeilte sie sich, in ihr Zimmer zu kommen, damit niemand ihre Tränen bemerkte.

„Großartig. Vielen Dank!“ Mit einem Lächeln nahm Robyn Dr. Hazari einen Stapel Akten aus der Hand. „Ist das alles?“

„Ihre Exzellenz hat uns gebeten, Ihnen alle Unterlagen zu geben, die Sie benötigen.“

Robyn war in die Klinik geflüchtet, weil sie dringend ein bisschen Zeit für sich brauchte. „Ach wirklich? Haben Sie heute Morgen schon mit ihm gesprochen?“

„Selbstverständlich. Wir dürfen die Krankenakten Ihrer königlichen Hoheit nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis Ihrer Exzellenz an Dritte übergeben.“

„Nein, natürlich nicht.“ Sie warf einen Blick auf die Unterlagen. „Und da haben Sie ihn einfach angerufen. Den Scheich, meine ich?“

„Ja. Wenn es um Amira geht, ist er jederzeit zu sprechen.“

„Wie fürsorglich von ihm.“

Ganz der beschützende Vater. Sie dankte Dr. Hazari und versuchte, sich wieder auf die Lektüre zu konzentrieren. Doch sie sah immer nur ihn. Idris Al Khalil. Seine karamellfarbene Haut, seine hohen Wangenknochen, seine fast schwarzen Augen, die sie immer so eindringlich ansahen. Und natürlich seine vollen, sinnlichen Lippen, die sich viel zu selten zu einem Lächeln verzogen. Ihr Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken an seinen Blick, als sie sich ihm am Abend zuvor in ihrem hauchdünnen smaragdgrünen Gewand präsentiert hatte. Robyn war sich sicher, dass er haargenau das Gleiche gedacht und gespürt hatte wie sie selbst – pures Verlangen.

Genug! Sie musste aufhören, sich irgendwelchen Fantasien hinzugeben. Entschlossen las sie weiter und versuchte, den Anflug eines schlechten Gewissens zu ignorieren, weil sie sich einfach aus dem Palast gestohlen hatte und in die Klinik gefahren war.

Sie kniff ihre Augen zusammen und versuchte, Idris’ Bild zu verscheuchen. Idris mit diesem lächerlichen Schnurrbart und dem riesigen Turban. Unwillkürlich musste sie lächeln. Es war ein schöner, gelöster Moment gewesen, und sie hatte den Verdacht, dass nur wenige Menschen Idris so entspannt und privat erlebten.

Doch dann hatten ihre Blicke sich getroffen, und irgendetwas war passiert. Seine Augen hatten gefunkelt und gleichzeitig war ein Anflug von Abwehr darin zu sehen gewesen. Genau wie bei ihr. Es gab keinen Zweifel daran, dass er sie genauso begehrte wie sie ihn.

Robyn holte tief Luft. Verlangen. Liebe. Leidenschaft. All das hatte sie schon vor langer Zeit abgehakt, denn sie konnte ihre Vergangenheit nicht abschütteln, sondern musste sich ihr alleine stellen. Wie schnell war aus einer ungeplanten Schwangerschaft ein wahres Horrorszenario geworden. Dabei war sie so glücklich gewesen: Ein netter Freund, vielleicht eine bevorstehende Hochzeit? Doch dann kam die Hiobsbotschaft: Gebärmutterhalsschwangerschaft. Keine Überlebenschance für das Kind und Lebensgefahr für sie selbst, wenn sie nicht …

Wie gern hätte sie ihr Kind wenigstens einmal im Arm gehalten. Es erstaunte sie, wie sehr der Gedanke an ihr Baby sie immer noch schmerzte.

Sie musste dringend an etwas anderes denken. Ob in London wohl schon jemand in der Klinik war? Sie holte ihr Telefon heraus und wählte die bekannte Nummer.

„Ist das die Art und Weise, wie Sie arbeiten?“

Ein leiser Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die Stimme erkannte. Sie sah auf und entdeckte Idris, der mit verschränkten Armen vor ihr stand – leger gekleidet und unrasiert. Seltsam.

„Falls Sie damit meinen, dass ich in die Klinik gehe, um mir die Akte meiner Patientin anzusehen, dann ja“, erwiderte sie betont gelassen und stand auf, um mit ihm auf einer Höhe zu sein. Leider konnte sie nicht verhindern, dass ihre Wangen sich verdächtig röteten.

Obwohl sie nun dicht vor ihm stand, trat Idris nicht zurück, um ihr den Raum zu geben, den die Höflichkeit eigentlich gebot. Seine Nähe ließ ihren Körper nur noch heftiger auf ihn reagieren. Trotzig hob sie ihr Kinn und blickte ihn herausfordernd an. Gut, dass er nicht sehen konnte, wie ihr Herz raste.

Sie spürte ein fast schmerzliches Bedürfnis, ihre Hand auszustrecken und ihn anzufassen.

„Nein, das meinte ich nicht. Sie haben sich einfach aus meinem Haus geschlichen, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Meine Tochter war sehr traurig, denn sie dachte, Sie wären wieder abgereist. Amira fürchtete, Sie hätten keine Lust mehr, Zeit mit ihr zu verbringen und sie zu operieren.“ Sein Blick war vorwurfsvoll, und er sah aus, als müsste er sich sehr zusammenreißen, um nicht unhöflich zu werden.

Bestürzt sah Robyn ihn an. „Ich habe nicht daran gedacht, dass …“

„Ganz genau“, unterbrach Idris sie. „Sie haben nicht nachgedacht. Wie gut, dass Sie keine eigenen Kinder haben. Sie scheinen sich nicht sonderlich gut in sie hineinversetzen zu können.“

Der tiefe Schmerz in ihren bernsteinfarbenen Augen machte Idris unmissverständlich klar, dass er gemein gewesen war.

Robyn stand wie erstarrt vor ihm und hatte offenbar Mühe, seine zornigen Worte zu verarbeiten. Doch was hätte er sonst sagen sollen? Dass sie am Morgen Robyns Zimmer leer vorgefunden und den ganzen Palast nach ihr abgesucht hatten? Dass seine geliebte Tochter am Boden zerstört gewesen war, weil sie dachte, Robyn hätte sich davongemacht? Wie hätte er ihr erklären sollen, dass er selbst Angst gehabt hatte? Angst, wieder verlassen worden zu sein. Sein Zorn war nur eine Ausdrucksform dieser Angst.

Autor

Annie O'Neil
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Laura Martin
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Meredith Webber
Bevor Meredith Webber sich entschloss, Arztromane zu schreiben, war sie als Lehrerin tätig, besaß ein eigenes Geschäft, jobbte im Reisebüro und in einem Schweinezuchtbetrieb, arbeitete auf Baustellen, war Sozialarbeiterin für Behinderte und half beim medizinischen Notdienst.
Aber all das genügte ihr nicht, und sie suchte nach einer neuen Herausforderung, die sie...
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