Happy End mit Hindernissen

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Libby Hamilton, Landärztin in Swallowbrook, hat sich längst damit abgefunden, dass ihr attraktiver Kollege Nathan nichts von ihr wissen will. Das hat er ihr vor Jahren allzu deutlich gezeigt. Umso fassungsloser ist sie, als er ihr plötzlich einen Heiratsantrag macht …


  • Erscheinungstag 15.12.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733745240
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Der zweiwöchige Urlaub in Spanien mit ihrer besten Freundin hatte ihr gut getan, aber als Libby Hamilton die letzten Kilometer in ihr Heimatdorf Swallowbrook fuhr, das in einer Seenlandschaft im Tal zwischen schroffen Bergketten eingebettet lag, freute sie sich, wieder dort zu sein, wo sie hingehörte.

Vor einem Monat hatte sie sich mit Melissa Lombard in Manchester zum Lunch getroffen. Sie war der einzige Mensch, dem Libby je gestanden hatte, was für ein großer Fehler ihre tragisch kurze Ehe gewesen war. Als sie gesehen hatte, wie blass und erschöpft Libby aussah, hatte Melissa gesagt: „Ich fahre für zwei Wochen in unsere Villa nach Spanien. Mein Mann kann leider nicht mitkommen, weil es in seinem Büro eine große Rechnungsprüfung gibt. Also, warum fährst du nicht einfach mit, Libby? Das wäre wunderbar.“

Libby hatte zunächst gezögert, doch Melissa ließ nicht locker. „Bestimmt kommen sie in der Praxis von Swallowbrook auch mal eine Weile ohne dich aus. Und wenn nicht, können sie eine Vertretung organisieren. Ich bin zwar keine Ärztin, aber ich glaube, ich kann dir guten Gewissens zwei Wochen Ruhe und Sonnenschein verschreiben, damit du wieder ein bisschen Farbe kriegst.“

„Es wäre eine schöne Abwechslung“, meinte Libby in sehnsüchtigem Ton. „Seit Ians schrecklichem Unfall habe ich keinen Urlaub mehr gehabt. Irgendwie konnte ich seit der Beerdigung keine Pause machen, um nachzudenken. Ich schätze, ich habe mich in den vergangenen Monaten wohl in die Arbeit geflüchtet.“

Melissa nickte und meinte mitfühlend: „Ein Grund mehr mitzukommen, oder?“

Lächelnd erwiderte Libby: „Du hast mich gerade zu zwei Wochen Spanien überredet, aber keinen Tag länger. Unser Seniorpartner John Gallagher geht Ende des Monats in den Ruhestand, und ich habe die Praxis übernommen. Eigentlich hat er schon so gut wie aufgehört, doch wenn ich ihn bitte, noch einmal für zwei Wochen das Zepter zu übernehmen, damit ich in Urlaub fahren kann, wird er das ganz bestimmt tun.“

Während sie jetzt im Mondschein an den Bergen vorbeifuhr, fühlte Libby sich nach ihrer Auszeit mit Sonne, Strand und Meer viel besser als vorher. Aber wie immer wärmte ihr die Rückkehr nach Swallowbrook und zu ihrem Häuschen, das der Praxis genau gegenüberlag, auch das Herz.

Das Praxisgebäude war früher ihr Elternhaus gewesen, ein Bauernhof. Noch zu ihrer Teenagerzeit war er jedoch verkauft worden, weil ihr Vater den Hof nach dem frühen Tod ihrer Mutter vernachlässigt hatte. Und nun war darin das medizinische Zentrum des Dorfes untergebracht.

Als der Mietvertrag der alten Praxis ausgelaufen war und ein neuer Standort gefunden werden musste, fiel die Wahl auf das große Bauernhaus. Äußerlich blieb es fast unverändert, doch innen war es vollständig modernisiert worden und diente nun der medizinischen Versorgung der Landbevölkerung von Swallowbrook und Umgebung.

Beim Einzug vor sechs Jahren hatte John Gallagher als Seniorpartner zusammen mit seinem Sohn Nathan hier gearbeitet. Zwei Jahre später war Libby nach ihrem Medizinstudium auch noch dazugekommen.

Im Gegensatz zu ihr hatte Nathan dann allerdings das Fernweh gepackt. Er war drei Jahre älter als sie, und schon als junges Mädchen hatte sie für den dunkelhaarigen, dynamischen Arzt mit den dunklen Augen geschwärmt. Er war einer der Gründe, weshalb sie in die Gemeinschaftspraxis eintrat. Der zweite lag darin, dass das Gebäude früher ihr Elternhaus gewesen war. Daher hatte sie ein leer stehendes Bauernhäuschen ganz in der Nähe auf der anderen Straßenseite gekauft.

Als Libby in die Praxis kam, hatte Nathan festgestellt, dass aus ihr eine schlanke blonde Frau geworden war, mit samtbraunen Augen und dem schönsten Lächeln, das er je gesehen hatte. Sie hatten ein wenig miteinander geflirtet, aber mehr nicht.

Immerhin hatte er alle Hände voll zu tun mit seiner Verlobten, die auf eine Heirat drängte und möglichst bald einen Goldring neben dem Diamantsolitär an ihrem Finger sehen wollte. Woraufhin Nathan das Gefühl bekam, die Verlobung sei ein Fehler gewesen, da er längst nicht so scharf auf diese Idee war wie sie.

Als er Libby mitteilte, dass er ins Ausland gehen würde, um dort zu arbeiten, war sie am Boden zerstört.

„Meine Verlobung ist geplatzt. Ich bin also frei, um in Afrika zu arbeiten, was ich schon immer tun wollte“, sagte er zu ihr. „Ich habe eine Stelle an einem Krankenhaus in einer kleinen Stadt angenommen, wo Ärzte dringend gebraucht werden.“

Sie wurde blass. „Wie lange wirst du weg sein?“

„Solange, wie es eben dauert, nehme ich an. Aber mein Vertrag geht über drei Jahre.“ Dann fügte er locker hinzu: „Warum kommst du nicht mit? Es gibt dort immer einen Bedarf an Ärzten.“

„Nein, danke“, erwiderte Libby. „Es wäre deinem Vater gegenüber nicht fair, wenn wir beide gleichzeitig weggehen. Außerdem muss ich mich auch um meinen Vater kümmern, den es immer noch sehr wurmt, dass er den Hof verkaufen musste. Abgesehen davon ist es immer mein Traum gewesen, dort zu arbeiten, wo ich herkomme. Ich habe das Gefühl, es unserer Gemeinde schuldig zu sein.“

Als Libby um die nächste Kurve bog, lag Swallowbrook im Mondschein vor ihr, eine vertraute Ansammlung von Häusern aus dem grauen Sandstein dieser Gegend. Vor dem Dorfpub „The Mallard“ saßen einige Wandertouristen und Dorfbewohner auf den Holzbänken und tranken einheimisches Bier.

Nicht weit davon entfernt, eine kleine Seitenstraße hinunter, lag die Gemeinschaftspraxis von Swallowbrook und genau gegenüber Lavender Cottage, wo Libby in letzter Zeit nach langen, anstrengenden Tagen viel zu viele einsame Nächte verbracht hatte.

Es handelte sich um ein Doppelhaus, dessen andere Hälfte schon eine ganze Zeit lang leer gestanden hatte. Als Libby jetzt in ihre Einfahrt einbog, war sie überrascht, dort einen Möbelwagen von einem der großen Geschäfte in der nahegelegenen Stadt zu sehen, der gerade losfuhr.

Immerhin war es zehn Uhr abends. Normalerweise wurde so spät nichts mehr ausgeliefert. Nach dem Lichtschein nebenan zu schließen, der die Dunkelheit erhellte, hatte sie offenbar neue Nachbarn bekommen.

Hoffentlich waren sie nett und gesellig. Allerdings wusste Libby selbst kaum mehr, wie sich Geselligkeit anfühlte. Ians tödlicher Reitunfall hatte ihre oberflächliche Ehe beendet, und seitdem war ihr nur noch die Arbeit geblieben, um ihr Trost und Halt zu geben.

Die Praxis lag im Dunkeln, und da es Freitagabend war, würde sie auch übers Wochenende geschlossen bleiben. Als Chefin musste Libby am Montagmorgen jedoch früh dort sein. Vielleicht ergab sich ja am Wochenende die Gelegenheit, ihre neuen Nachbarn kennenzulernen. Momentan sehnte sie sich aber nur nach ihrem Bett.

Zuerst trank sie noch einen Tee, ehe sie die Treppe zu ihrem Schlafzimmer unter dem Dach hinaufging. Gleich darauf schlüpfte sie unter die Bettdecke und war gerade im Begriff einzuschlafen, da klingelte es an ihrer Tür.

Libby stöhnte, rührte sich aber nicht. Beim zweiten Klingeln warf sie sich einen Bademantel über und lief nach unten. Bevor sie die Tür öffnete, schaute sie vorsichtshalber hinaus auf die Schwelle. Im Mondlicht sah sie unter dem Vordach die Silhouette eines breitschultrigen Mannes, an seiner Hand ein kleines Kind im Schlafanzug.

Die beiden mussten wohl zu der Familie gehören, die nebenan eingezogen war. Rasch machte Libby auf.

„Hallo, Libby.“ Nathan Gallagher begrüßte sie so zwanglos, als ob sie sich erst gestern zuletzt gesehen hatten. „Wir haben vor einer Weile deinen Wagen gehört und wollten dich eigentlich nicht stören. Aber Toby braucht seine abendliche Milch, ohne die er nicht einschlafen kann. Leider habe ich beim Einkaufen heute Nachmittag die Milch vergessen. Ich habe mitgekriegt, dass bei dir zwei Liter Milch angeliefert wurden, und wollte fragen, ob du vielleicht einen davon entbehren könntest.“

Durch den Schock, ihm so unvermittelt gegenüberzustehen, wurden ihr die Knie weich.

„Kommt rein“, brachte sie mühsam hervor und öffnete die Tür noch weiter. Als die beiden hereinkamen, fügte Libby hinzu: „Ich hol euch welche aus dem Kühlschrank.“ Mit einem Blick auf den kleinen, verstrubbelten Jungen hielt sie an der Küchentür inne. „Dann bist du also mit deiner Familie nebenan eingezogen? Du hast in Afrika eine Frau gefunden? Komisch, dein Vater hat nie was davon erwähnt“, sagte sie zu Nathan.

„Nicht ganz“, erwiderte er mit einem leicht ironischen Lächeln.

Libby fragte sich, was er damit meinte. Vielleicht war er mit der Mutter seines Kindes nicht verheiratet, oder möglicherweise waren ihm Libbys Fragen etwas zu indiskret. Sie gab ihm eine Packung Milch. „Sind eure Betten schon gemacht? Sag der Mutter deines kleinen Jungen, ich kann euch auch ein paar Bettstücke leihen, falls ihr noch nicht so weit seid.“

„Danke, aber es ist alles in Ordnung“, antwortete Nathan. „Wir sind schon seit dem frühen Morgen hier. Sobald Toby seine Milch getrunken hat, wird er in seinem Bettchen gleich neben meinem einschlafen. Wir haben einen langen Tag hinter uns, und ich glaube, keiner von uns braucht in den Schlaf gewiegt zu werden.“ Er wandte sich zum Gehen, während der Kleine seine Hand fest umklammert hielt.

„Wie lange bist du schon zurück in England?“, fragte Libby weiter.

„Seit einem Monat. Bis jetzt waren wir in London, aber ich wollte so schnell wie möglich weg von diesen Menschenmassen. Ich möchte, dass Toby in Swallowbrook aufwächst, so wie wir. Und das leere Haus neben deinem schien mir genau das Richtige dafür zu sein.“

Ihn mit seinem kleinen Sohn zu sehen war für Libby, als würde sich ein Messer in ihrem Herzen umdrehen. Denn es bedeutete, Nathan hatte jemanden gefunden, den er liebte. Sie dagegen hatte gegen alles bessere Wissen Ian geheiratet, dessen Interesse sich nur um seine Pferde und sein Vergnügen drehte und für den ihr Beruf eher ein Hindernis für seinen Lebensstil war als etwas, das ihrem Leben einen Sinn verlieh.

Als sie wieder nach oben ging, wurde ihre Müdigkeit von einem Gefühl der Trostlosigkeit verdrängt, während sie an Nathan und das stille Kind dachte. Ungläubig starrte sie auf die Trennwand zwischen den beiden Haushälften. Auf der anderen Seite würde Nathan schlafen.

Ob sein Vater gewusst hatte, dass er wieder in England war, ohne es ihr zu sagen? Wenn ja, dann wohl nur auf Nathans Bitte hin. Sonst hätte John ihr das sicher nie angetan.

Morgen musste Libby sich darauf einstellen, der Mutter des Jungen freundlich zu begegnen und sie herzlich in Swallowbrook willkommen zu heißen. In der Hoffnung, dabei ihre wahren Gefühle verbergen zu können. Mit diesem Gedanken stand sie auf und stellte noch einmal den Wasserkocher an.

Hinter der Trennwand schlief Nathan allerdings keineswegs. Im Gegensatz zu Toby, der sich nach seinem Gutenachttrunk zufrieden ins Bett gekuschelt hatte. Als Nathan auf den Kleinen hinunterblickte, erschienen ihm der Stress, der Kummer und die Verwirrung der letzten Monate als nicht mehr ganz so schlimm, weil er jetzt endlich zu Hause in Swallowbrook war.

Das letzte Mal hatte er Libby Hamilton im Vorraum der Kirche gesehen. Damals war er aus dem Taxi gestürzt, das ihn vom Flughafen hergebracht hatte, weil er hoffte, mit Libby sprechen zu können, bevor sie die Frau von Ian Jefferson wurde.

Er wollte wissen, ob sie den vergnügungssüchtigen Gestütsbesitzer deshalb heiratete, weil er selbst gegangen war. Oder ob die Gefühle, die sie ihm vor seiner Abreise gestanden hatte, nur eine vorübergehende Sache gewesen waren, sodass sie sich schnell mit jemand anders getröstet hatte. Dann hätte er sich nicht mehr mit dem schlechten Gewissen belasten müssen, das ihn seit seiner Abreise quälte.

Aufgrund seines verspäteten Fluges kam Nathan jedoch erst in dem Moment an, als der Pastor das Brautpaar gerade zu Mann und Frau erklärte. Sobald er sah, wie Libby ihren frisch angetrauten Ehemann anlächelte, verschwand Nathan so schnell, wie er gekommen war. Damit hatte er also die Antwort auf seine Frage bekommen. Libbys Gefühle für ihn waren nicht von Dauer gewesen, und wenn man gemerkt hätte, dass er am Kircheneingang auf sie wartete, hätte er wie der größte Dummkopf da gestanden.

Vor dem Tor zum Kirchhof hielt gerade ein Bus an der Haltestelle an, und Nathan stieg sofort ein, nur um möglichst rasch von hier wegzukommen. Als er danach auf seinen Flug wartete, der ihn nach Afrika zurückbringen würde, dachte er düster daran, wie Libby ihm in ihrer Verzweiflung über seine Abreise ihre Liebe gestanden hatte. An dem Tag hatte er ihr erklärt, dass er kein Interesse an ihr hätte. Seine Arroganz von damals wurde nur noch dadurch übertroffen, dass er allen Ernstes geglaubt hatte, sie würde an ihrem Hochzeitstag ausgerechnet mit ihm reden wollen.

An dem Morgen, als er nach Afrika abfliegen sollte, war sie am Flughafen aufgetaucht. Sie war die Einzige dort, denn von seinem Vater hatte Nathan sich bereits am Abend zuvor verabschiedet, und allen anderen hatte er gesagt, dass er keinen allgemeinen Abschied wollte. Daher war er angenehm überrascht gewesen, Libby zu sehen.

Es war kurz vor dem Aufruf seines Fluges gewesen, und Libby hatte ihn angefleht, nicht abzureisen.

„Ich liebe dich, Nathan“, sagte sie. „Schon immer. Bis heute Morgen hatte ich mich damit abgefunden, dass du aus meinem Leben verschwindest. Aber plötzlich wusste ich, dass ich dich noch einmal sehen musste. Ich weiß, wie wichtig dir die Arbeit in Afrika ist. Aber dafür wäre doch auch später noch genug Zeit, wenn wir eine Weile glücklich miteinander gelebt und vielleicht sogar eine Familie gegründet hätten.“

Leider hatte Libby sich einen höchst unpassenden Moment für ihr Geständnis ausgesucht, nur wenige Minuten vor dem Boarding seines Fluges. Außerdem kämpfte Nathan noch mit den Nachwehen seiner gescheiterten Verlobung. Trotz der Tränen in ihren Augen reagierte er deshalb brüsk und abweisend.

„Wie kannst du mich gerade jetzt mit so etwas konfrontieren, Libby? In wenigen Minuten geht mein Flug. Vergiss mich einfach, und warte nicht auf mich. Im Augenblick bin ich bestimmt nicht an einer Beziehung interessiert.“

Dann, etwas beschämt über seine Schroffheit, beugte er sich vor, um ihr einen Wangenkuss zu geben. Stattdessen trafen sich ihre Lippen, und innerhalb von Sekunden war alles anders.

Nathan küsste sie mit der leidenschaftlichen Intensität einer plötzlichen Offenbarung, und der Kuss wäre wahrscheinlich noch endlos weitergegangen, wenn nicht gerade in diesem Moment eine Stimme den Beginn des Boardings für sein Flugzeug angesagt hätte.

Schlagartig kehrte seine Vernunft zurück, und er wiederholte seinen Satz von eben: „Warte nicht auf mich, Libby.“

Ehe er noch zu Ende gesprochen hatte, stürzte sie schon zum Ausgang. Verärgert über sein unsensibles Verhalten nahm Nathan sich vor, sie anzurufen, sobald er an seinem Reiseziel angekommen war, um sich bei ihr zu entschuldigen. Doch in dem Chaos, das er bei seiner Ankunft vorfand, gab es für Privates keinen Platz mehr. Bis zu dem Tag, als sein Vater einige Monate später anrief, um ihm zu sagen, dass Libby am kommenden Samstag heiraten würde.

Da stiegen plötzlich die Erinnerungen wieder in ihm auf. An ihre Tränen, ihre Anmut und seine eigene Arroganz, mit der er ihre Gefühle beiseite gewischt hatte.

Aber es war zu spät. Niemals würde Nathan vergessen, wie glücklich Libby in der Kirche ausgesehen hatte.

Jetzt, als er auf Toby hinunterschaute, der unter seiner Decke so klein und schutzlos wirkte, wusste Nathan, dass er in den kommenden Monaten hohe Mauern einreißen und neue Brücken bauen musste. Seine Zeit in Afrika war vorbei, und er war jetzt endgültig nach Hause zurückgekommen.

Nach Jeffersons Tod hatte er nichts unternommen. Aber jetzt war ihm nichts anderes übrig geblieben, als nach England zurückzukehren, weil sein bester Freund und dessen Frau als Touristen bei einem entsetzlichen Fährunglück ums Leben gekommen waren. Diese Tragödie hatte sein Leben und das des schlafenden kleinen Jungen für immer verändert.

Die Teekanne vor sich, dachte Libby darüber nach, wie viel in den letzten drei Jahren in ihrem Leben schiefgegangen war, seit sie Nathan das letzte Mal gesehen hatte. Um der Welt und sich selbst zu beweisen, dass ihre Gefühle für ihn der Vergangenheit angehörten, hatte sie sich Ian Jefferson zugewandt, der ihr schon zwei Heiratsanträge gemacht hatte.

Sechs Monate später, Nathans verletzende Worte am Flughafen noch immer in schmerzlicher Erinnerung, hatte sie daher beim dritten Mal Ians Antrag schließlich angenommen. Anfangs waren sie in Lavender Cottage recht glücklich miteinander gewesen. Im Laufe der Zeit hatte Libby jedoch festgestellt, dass Ian nur eine Frau gesucht hatte, um sein Ansehen im Dorf zu steigern. Und die blonde Ärztin aus der Praxis war seine erste Wahl gewesen.

Die Ehe hatte ihn nicht davon abgehalten, endlos viel Zeit auf dem Golfplatz zu verbringen, zu segeln oder seine zahlreichen Pferde zu reiten, während seine Angestellten sich um die Ställe kümmerten.

Eines Abends war er von einer lebhaften Stute abgeworfen und dabei tödlich verletzt worden. Und wieder musste Libby sich mit einer traurigen und traumatischen Situation abfinden, bei der ihr das Herz allerdings nicht so sehr brach wie bei der Abreise von Nathan.

Nachdem sie die Teekanne leer getrunken hatte, ging Libby wieder zu Bett, wälzte sich jedoch unruhig hin und her und schlief erst ein, als der Morgen über den Bergen dämmerte.

Dann wachte sie auf, weil sie unten Stimmen hörte. Vom Fenster aus sah sie, dass der Milchfarmer, der ihr die Milch anlieferte, sich mit Nathan unterhielt. Nach der Menge zu schließen, die dieser von ihm kaufte, konnte Libby davon ausgehen, dass er und Toby wohl nicht noch einmal welche bei ihr ausborgen würden.

Da heute Samstag war, schlüpfte sie wieder zurück ins Bett und ließ sich die unerwarteten Ereignisse des gestrigen Abends noch einmal durch den Kopf gehen.

Nathan war wieder in Swallowbrook, und er hatte eine Familie. Seine Wahl war offensichtlich besser ausgefallen als ihre.

Gegen Mittag stand Libby auf, zog eine Hose und einen hübschen Pullover an und ging ins Dorf, um Lebensmittel und andere Dinge zu besorgen, die sie nach ihrer Reise benötigte. Als sie das Haus verließ, war nebenan niemand zu sehen, aber Nathans Auto stand noch da. Also waren sie entweder drinnen oder unterwegs im Dorf.

Auf dem Heimweg musste Libby an dem Park neben der Schule vorbei, der ziemlich verlassen schien, bis auf Nathan und Toby, der auf dem Kinderspielplatz von einem Gerät zum nächsten lief.

Entschlossen setzte Libby ihren Weg fort. Die beiden wirkten ein wenig verloren in dem menschenleeren Park. Nathan schubste Toby auf einer Schaukel an. Doch sobald er Libby erblickte, hob er ihn herunter und kam zu ihr.

Jetzt hatte sie mehr Zeit, ihn zu betrachten, als am Abend zuvor. Die Arbeit in Afrika hatte ihren Tribut von ihm gefordert. Nathan war hagerer geworden und strahlte nicht mehr diese Dynamik aus, die sie früher so sehr angezogen hatte. Sein dichtes, dunkles Haar sah jedoch aus wie immer, und auch die haselnussbraunen Augen waren noch genauso undurchdringlich wie zuvor.

„Ich fasse es nicht, dass du ohne ein Wort einfach vorbeigehen wolltest“, meinte er.

„Wieso?“, fragte Libby. „Was gibt es schon zu sagen?“

„Von meiner Seite aus jedenfalls, dass es mir leid tat, von Ians tödlichem Unfall zu hören, und außerdem …“

Er wurde von Toby unterbrochen, der ihn am Ärmel zupfte. „Darf ich auf die Rutsche, Onkel Nathan?“

„Ja, lauf schon mal vor. Ich komme gleich nach.“ Auf Libbys erstaunten Blick hin erklärte er: „Ich bin dabei, Toby zu adoptieren. Seine Eltern sind beide tot. Sie sind bei einem Fährunglück im Mittelmeer ums Leben gekommen. Zum Glück wurde Toby gerettet. Sein Vater war mein bester Freund, und ich bin der Patenonkel des Jungen. Nach dem Unglück bin ich hingefahren, um ihn nach Hause zu bringen, und habe gleich die Adoption beantragt, weil es keine anderen Verwandten gibt, die Anspruch auf ihn erheben. Der Antrag läuft, und bald wird Toby auch offiziell zu mir gehören.“

„Wie kommst du damit zurecht?“, erkundigte sich Libby. Ihr Schmerz, dass Nathan eine eigene Familie hatte, begann nachzulassen.

„Am Anfang war es schwer, denn obwohl er mich kannte, wollte er natürlich seine Mummy und seinen Daddy. Langsam gewöhnt er sich an die Situation, aber er lässt mich nie aus den Augen.“

Armer Kleiner und armer Patenonkel, dachte sie. Und dennoch, wie sollte sie es bloß schaffen, direkt neben Nathan zu wohnen, wo ihr doch seine Worte von damals noch so kristallklar im Gedächtnis waren?

Fragend sah er sie an, und um seiner eindringlichen Musterung zu entgehen, fragte Libby rasch: „Wie alt ist Toby?“

„Gerade fünf geworden. Das Fährunglück ereignete sich vor drei Monaten. Wahrscheinlich hast du in der Presse davon gelesen oder einen Fernsehbericht darüber gesehen.“

Sie nickte. „Willst du ihn hier in der Dorfschule anmelden?“

„Das habe ich schon getan. Allerdings weiß ich nicht, wie er auf diese neue Veränderung in seinem Leben reagieren wird“, erwiderte Nathan. „Ich muss bei ihm vorsichtig sein. Er regt sich schnell auf, was natürlich verständlich ist.“

Unwillkürlich stiegen Libby Tränen in die Augen. Es war alles so traurig. Gerade weil Nathan eine solche Verantwortung auf sich genommen hatte und offenbar wegen des Kindes nach Swallowbrook zurückgekehrt war.

Als sie gemeinsam hinübergingen, um Toby unten an der Rutsche in Empfang zu nehmen, lächelte Nathan. Und Libby wunderte sich, denn nach dem, was er ihr gerade erzählt hatte, schien sein Leben momentan nicht gerade einfach zu sein.

2. KAPITEL

Libby hatte eine Menge zu verarbeiten. Erst gestern war sie von einem erholsamen Urlaub mit Melissa in Spanien zurückgekommen. Heute stand sie hier im Park, zusammen mit Nathan und einem Kind, das er adoptieren wollte. Trotz ihres Mitgefühls empfand sie große Erleichterung darüber, dass er keine fertige Familie aus Afrika mitgebracht hatte.

Sie bückte sich nach ihrer Einkaufstasche, doch da meinte Nathan: „Die nehme ich.“ Und zu Toby, der gerade zum x-ten Mal die Rutsche herunterkam, sagte er: „Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, Kleiner.“

Dann kehrten sie schweigend zu ihrem Haus zurück. Kurz bevor sie sich trennten, fragte Libby: „Hast du deinen Vater schon besucht?“

Nathan nickte. „Wir waren gestern kurz bei ihm, in einer Pause zwischen den verschiedenen Möbel- und Hausratlieferungen. Wo warst du eigentlich gestern?“

„Ich habe mit einer Freundin zwei Wochen Urlaub in Spanien gemacht“, antwortete sie. „Und werde am Montag frisch und erholt in die Praxis kommen.“

„Ach ja“, sagte er. „Dad hat mir erzählt, dass er dir die Praxis übergeben will.“

Autor

Abigail Gordon
Abigail Gordon ist verwitwet und lebt allein in einem Dorf nahe der englischen Landschaft Pennines, deren Berggipfelkette auch das „Rückgrat Englands“ genannt wird.
Abigail Gordon hat sich besonders mit gefühlvollen Arztromanen einen Namen gemacht, in denen die Schauplätze meistens Krankenhäuser und Arztpraxen sind.
Schon immer war Abigail Gordon ein Fan von...
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