Traummänner & Traumziele: Einmal rund um die Welt 1

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  • Erscheinungstag 24.03.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751514040
  • Seitenanzahl 800
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Abigail Gordon, Joanna Neil, Rhonda Nelson, Julia James, Susan Stephens

Traummänner & Traumziele: Einmal rund um die Welt 1

IMPRESSUM

Vergiss Paris, Giselle erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2005 by Abigail Gordon
Originaltitel: „A French Doctor At Abbeyfields“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN
Band 7 - 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Ralf Kläsener

Umschlagsmotive: GettyImages_Deagreez, neirfy

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733716981

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Die Auktion fand in einem alten Pferdestall am Rande des Dorfes statt. Während Giselle sich umschaute, glaubte sie noch den Geruch der Tiere wahrzunehmen, die hier vor Jahren in ihren mit Holzwänden abgeteilten Boxen gestanden hatten.

Das Gefühl, in eine irreale Welt einzutauchen, hatte sie schon erfasst, als sie auf dem Pariser Flughafen in die Maschine nach Manchester gestiegen war.

Sie musterte die Leute, die um sie herum saßen, offensichtlich Kaufinteressenten wie sie selbst.

Was hatte sie eigentlich hier tief in der englischen Provinz zu suchen? Das fragte sie sich erneut – aber die Antwort war klar. Ihr Vater, der die vergangenen fünfundzwanzig Jahre mit Giselles Mutter Celeste, einer Französin, in Paris gelebt hatte, wollte unbedingt dorthin zurückkehren, wo er als Junge aufgewachsen war.

Sein Wunsch hatte bei Giselle keine Begeisterung ausgelöst, vor allem, weil er ihn noch an demselben Tag geäußert hatte, an dem ihre Mutter beerdigt worden war. Offensichtlich hatte er sich schon länger mit der Idee beschäftigt. Von einem alten Freund in seinem Heimatdorf hatte er erfahren, dass das Haus, in dem er aufgewachsen war, bald versteigert werden sollte.

Bestürzt hatte sie ihm zugehört.

„Wie kannst du heute an so etwas denken?“, rief sie. „Wir haben Maman gerade erst begraben.“

„Ja, mein Kind“, erwiderte er traurig. „Und ich kann den Gedanken, ohne sie in Paris zu leben, nicht ertragen. Wir sind von England hierhergezogen, als du zwei Jahre alt warst und Celeste es vor Sehnsucht nach ihrer Heimatstadt nicht mehr aushielt. Zum Glück hatte die Wirtschaftsprüfungsfirma, in der ich Direktor war, eine Zweigniederlassung in Paris. So konnte ich hierherwechseln. Aber jetzt lebt deine Mutter nicht mehr. Der Krebs hat sie uns genommen. Und ich möchte wieder nach Hause.“

Er sah müde aus. Und älter als zweiundsiebzig Jahre. „In deinem Zustand kannst du jetzt nicht nach England, Papa. Du hast dich so viele Monate Tag und Nacht um Maman gekümmert und bist jetzt selbst völlig erschöpft. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.“

„Dann musst du an meiner Stelle hinfahren“, entgegnete er.

Giselle dachte mit Schrecken daran, dass sie auf keinen Fall ihr geliebtes Paris verlassen wollte, um in einer gottverlassenen Gegend in einem Land zu leben, in dem es pausenlos regnete. Aber sie würde es nicht übers Herz bringen, ihren Vater nach dem Tod ihrer Mutter allein zu lassen. Zumindest in den ersten Monaten würde sie bei ihm bleiben.

Ihr graute davor, die große, aufregende Stadt Paris mit ihren zahllosen Annehmlichkeiten aufgeben zu müssen. Sie war ein Großstadtmensch, sie brauchte das Gefühl, unter den vielen schönen Restaurants, den Theatern und Kunstausstellungen, den Designerläden und kleinen Boutiquen auswählen zu können. In ihrer knapp bemessenen Freizeit, die ihre Arbeit als Ärztin in einem großen Krankenhaus ihr ließ, kostete sie das alles voll aus.

Außerdem lebte Raoul – groß, schlank, dunkelhaarig und attraktiv – in Paris. Während der letzten Monate hatte sie ihn wegen ihrer Mutter nicht oft gesehen. Er hatte einen Widerwillen gegen alles, was mit Krankheit und Tod zusammenhing, und fragte sie mehr als einmal, ob sie denn keinen Beruf hätte ergreifen können, der mehr Chic besaß.

Sie hatte ihren ganzen regulären Urlaub und viele Tage unbezahlten Urlaub genommen, um so lange wie möglich bei ihrer Mutter zu sein. Nach deren Tod wäre sie wieder zur Normalität ihres Berufslebens zurückgekehrt, wenn ihr Vater sie nicht mit seinem Einfall überrascht hätte.

Und jetzt war sie hier, in einem Dorf im Landkreis Cheshire, mitten unter Menschen, die sie nicht kannte, und hatte den Auftrag, alles zu tun, um ein Anwesen mit Namen Abbeyfields zu ersteigern.

Ihr Vater hatte telefonisch mit dem Makler gesprochen, bevor Giselle aus Paris abreiste, und erfahren, um welchen Preis es bei der Versteigerung gehen würde. Giselle fand ihn erschreckend hoch.

„Können wir uns das denn leisten?“, fragte sie entsetzt.

„Ja, das können wir“, entgegnete ihr Vater etwas verärgert. Das hatte ihr noch einmal gezeigt, wie entschlossen er war, seinen Wunsch zu verwirklichen.

James Morrison, ein Freund ihres Vaters, war Besitzer eines Gartencenters in dem englischen Dorf. Giselle hatte den Abend zuvor mit ihm und seiner Frau verbracht, nachdem der Makler ihr das Anwesen gezeigt hatte.

Als sie durch das alte, aus Naturstein gebaute Landhaus ging, stellte sie sich vor, wie ihr Vater hier als Junge gelebt hatte. Der Makler gab sich alle Mühe, ihr die Vorzüge des weitläufigen Gebäudes und des großen Geländes in glühenden Farben zu schildern – und wunderte sich offensichtlich über ihren mangelnden Enthusiasmus.

Aber sie war Paris und seine Prachtbauten gewohnt. Wie hätte ein Landhaus wie dieses, auch wenn es zweifellos zu den attraktivsten Gebäuden in der Gegend zählte, sie in Begeisterung versetzen sollen?

Im Büro des Maklers hatte Giselle dann noch Fragen zu einer Reihe von Details gestellt und war, als sie ging, fast mit einem Mann zusammengestoßen, der es sehr eilig zu haben schien.

Der Mann war groß und breitschultrig und trug ein typisch englisches Tweedjackett. Sein helles Haar war kurz geschnitten und ein wenig struppig. Seine tiefblauen Augen hatten sie amüsiert angezwinkert, als er sich lächelnd entschuldigte: „Sorry, ich habe nicht aufgepasst.“

Mit einem Nicken hatte sie die Entschuldigung akzeptiert und war gegangen. Sie hatte den Mann kaum wahrgenommen, weil sie in Gedanken schon bei der morgigen Versteigerung war. Wenn nun jemand mehr bot als sie? Der Makler hatte ihr zu verstehen gegeben, dass es eine Reihe von Interessenten gab. Der Gedanke, ihrem Vater bei der Rückkehr nach Paris sagen zu müssen, jemand anders hätte das Haus gekauft, war schrecklich für sie.

Während sie sich nun in dem Auktionsraum umschaute, sah sie den Mann, mit dem sie am Tag zuvor fast zusammengestoßen war, schräg vor sich sitzen. Als ob er gemerkt hätte, dass er beobachtet wurde, schaute er auf und sah Giselle an. Diesmal lächelte er nicht. Er nickte ihr nur kurz zu und beschäftigte sich wieder mit dem Auktionskatalog.

Giselle konnte nicht wissen, dass der Mann den Makler aus genau demselben Grund besucht hatte wie sie. Marc Bannerman wollte Abbeyfields ebenfalls kaufen.

Das Landhaus befand sich am Rande des Dorfs. Von dort hatte man einen großartigen Blick auf die Hügel, die den kleinen Ort umgaben. Marc Bannerman war zu der Überzeugung gekommen, dass Abbeyfields für seine Zwecke ideal geeignet war –- geräumig genug, um dort mit seinen beiden Kindern zu wohnen und zugleich seine Landarztpraxis unterzubringen.

Als der Makler ihm gesagt hatte, dass die elegante junge Frau mit den glänzenden braunen Haaren und dem ausdrucksvollen Gesicht ebenfalls an Abbeyfields interessiert war, hatte er angenommen, es handle sich wieder um jemanden aus der Großstadt, der seine Liebe zum natürlichen Leben entdeckt hatte.

Normalerweise hatte er nichts gegen solche Leute. Sie hatten das gleiche Recht, hier zu leben, wie alle anderen auch. Das Dorf hatte Charme, viele der Wohnhäuser und die meisten Läden im historischen Kern waren liebevoll restauriert und erhalten. Und die Hügel umringten das Dorf und gaben ihm das Flair eines gegen den Lärm und die Hektik der übrigen Welt geschützten Zufluchtsortes. Abbeyfields wäre das perfekte Zuhause für Tom und Alice, um dort aufzuwachsen.

Giselle wäre es lieb gewesen, wenn die Versteigerung von Abbeyfields gleich zu Beginn der Auktion an der Reihe gewesen wäre. Aber der Besitz stand ziemlich weit hinten im Katalog. Während sie mit einem Ohr der Versteigerung der anderen Auktionsobjekte folgte, dachte sie angestrengt darüber nach, wie sie sich nachher verhalten sollte.

Zu viel hing für sie und vor allem für ihren Vater von dem Erwerb von Abbeyfields ab. Er hatte es nach einem harten Berufsleben und den vielen Monaten der Sorge um ihre kranke Mutter verdient, dass sein Wunsch in Erfüllung ging.

Plötzlich war sie ohne jeden Zweifel überzeugt: Sie würde Abbeyfields kaufen! Ihr Vater würde bekommen, was er sich so sehnlich wünschte. Und wenn sie jeden Cent, den sie selbst besaß, ebenfalls dafür einsetzen musste.

Bisher hatte der Mann vor ihr für kein Objekt mitgeboten. Sie fragte sich, an welchem Besitz er wohl interessiert sei. Nun, sie würde es bald herausfinden.

Sowie die ersten Gebote für Abbeyfields abgegeben wurden, begann er mitzubieten. Als der Preis höher ging, zogen sich die anderen Anbieter nach und nach zurück. Schließlich waren nur noch Giselle und der Mann vor ihr im Rennen.

Giselle verspürte Panik. Er wirkte so ruhig und selbstsicher und war offensichtlich genauso stark an dem Haus interessiert wie ihr Vater. Die dunkelblauen Augen, die sie am Tag zuvor noch belustigt angesehen hatten, waren jetzt kalt wie Gletschereis.

Dann plötzlich war alles vorbei. Nach Giselles letztem Gebot war kein Gegengebot mehr gekommen. Der Auktionator schlug mit dem Hammer auf sein Pult. Das Haus gehörte ihr.

Mit dem Hammerschlag des Auktionators verabschiedete sich Giselle gedanklich für viele Monate von Paris. Was würde Raoul dazu sagen? Würde er es überhaupt in Erwägung ziehen, aus Paris ab und zu in die englische Provinz zu kommen?

Als sie den Auktionsraum verließ, trat der Mann, der gegen sie geboten hatte, zu ihr.

„Meinen Glückwunsch“, sagte er. „Ich hoffe, Sie werden in Abbeyfields glücklich sein.“ Er warf Giselle ein knappes Lächeln zu und ging rasch weiter.

Das war’s also, dachte Marc Bannerman enttäuscht, als er zu seiner Praxis hinüberging, die er zusammen mit seinem Schwiegervater und einem jungen Assistenzarzt führte.

Er hatte gewusst, dass es eine Reihe von Interessenten für Abbeyfields gab. Und er war darauf vorbereitet gewesen, hoch bieten zu müssen, aber die Unbekannte, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war, hatte mehr geboten, als er sich leisten konnte.

Die Vormittagssprechstunde war gerade vorbei. Stanley Pollard, sein Schwiegervater, und sein Assistent Craig Richards waren gespannt darauf, wie die Auktion ausgegangen war.

Wortlos schüttelte Marc den Kopf.

„Tut mir leid, es hat nicht geklappt“, sagte er. „Eine junge Frau hat mehr geboten. Eine Brünette mit wunderschönen grauvioletten Augen. Und einem gut gefüllten Bankkonto.“

„Ich wette, das ist die Fremde, die gestern Nacht bei den Morrisons im Gartencenter war“, vermutete Stanley. „James war heute Morgen in der Praxis und hat erwähnt, sie sei für die Versteigerung extra von Paris hergeflogen.“

„Aus Frankreich also.“ Marc nickte. „Es war klar, dass sie nicht aus dieser Gegend sein konnte. Hat Morrison gesagt, wie sie heißt und was sie hier will?“

„Offenbar kennt Morrison ihren Vater von früher. Er meinte, sie heißt Giselle oder so ähnlich.“

„Klingt ja interessant“, meinte Craig grinsend. „Wie lange sie wohl hierbleiben will?“

„Angeblich hatte sie vor, gleich nach der Auktion wieder abzureisen“, warf Stanley ein.

Marc war mit dem Ergebnis des Vormittags mehr als unzufrieden. Die Kinder hatten sich so gefreut, sie würden sehr enttäuscht sein.

Zu dem Landhaus gehörten ausgedehnte Wiesen und Felder. Der Name ging zurück auf ein Kloster, eine Abbey, die in alten Zeiten dort gestanden hatte. Alice und Tom hatten sich schon ausgemalt, wie schön es sein würde, dort zu spielen, im Gegensatz zu dem kleinen Garten ihres jetzigen Hauses, das Marc und seine Frau Amanda kurz nach ihrer Hochzeit gekauft hatten.

Aber Marc war nicht der Mann, verpassten Gelegenheiten lange nachzutrauern. Abbeyfields war verkauft, aber leider nicht an ihn. Das war nicht zu ändern. Also musste er nach etwas Neuem Ausschau halten.

Warum hatte er der Unbekannten zu dem Kauf gratuliert? Es war wohl Neugier gewesen, gestand er sich ein. Sie hatte ihn nur kurz und distanziert angelächelt und war ohne ein sichtbares Zeichen von Freude über den Erfolg schnell fortgegangen.

Er hoffte nur, sie gehörte nicht zu jenen reichen Leuten, die ein Haus lediglich als Geldanlage erwerben, um es zu vermieten.

Als sie gegeneinander boten, hatte Marc den Eindruck gehabt, sie stünde unter einem gewissen Druck. Sie hatte immer wieder nachgelegt, was nur heißen konnte, dass sie Abbeyfields um jeden Preis haben wollte. Umso mehr interessierte ihn die Frage, was sie mit dem Besitz vorhatte. Würde sie das Haus in seinem Originalzustand belassen? Oder würde sie es nach eigenen Vorstellungen umbauen und modernisieren?

Er hoffte, sie würde es so lassen, wie es seit vielen Jahrzehnten war. Das Haus hatte bisher nur zwei Eigentümern gehört – und beide hatten es mit dem nötigen Respekt behandelt.

Raoul, der in einem der schicken Einkaufsviertel von Paris eine Edelboutique besaß, war entsetzt, als er hörte, dass Giselle für einige Monate nach England ziehen wollte. Was er sich noch hätte vorstellen und akzeptieren können, war London. Die englische Metropole kannte er von den jährlichen Modeschauen. Aber ins „wilde Cheshire“ zu reisen, daran hatte er nicht das geringste Interesse. Giselle sollte sich doch noch einmal überlegen, ob sie ihre Meinung nicht ändern wollte.

„Das geht nicht“, erklärte sie kurz angebunden. „Nicht zu diesem Zeitpunkt. Mein Vater braucht meine Hilfe, gerade jetzt, wo Maman gestorben ist. Vielleicht kann ich bald nach Paris zurückkommen, wenn er sich drüben eingewöhnt und den Verlust besser verkraftet hat. In der Zwischenzeit werde ich mir dort einen Job suchen.“

Raoul wandte sich einer Kundin zu, die hereingekommen war. „Also, wir bleiben in Kontakt“, sagte er mehr beiläufig zu Giselle. „Sollte ich mal nach London kommen, rufe ich dich vorher an.“

Sie nickte ihm kurz zu und ging hinaus. Was war ich doch für eine Närrin, dachte sie, zu hoffen, er hätte Verständnis für meine Situation. Ihr war klar, mehr als ab und zu einen Anruf hatte sie von Raoul nicht zu erwarten.

Giselle und ihr Vater verkauften ihre Wohnung in Paris und ließen die Einrichtung für den Transport nach England abholen. Als sie nach ihrer Ankunft auf dem Flughafen in Manchester in einem Taxi saßen, das sie nach Abbeyfields bringen würde, wurde Giselle durch die Freude, die das Gesicht ihres Vaters strahlen ließ, für alle Unannehmlichkeiten entschädigt.

„Hast du eigentlich früher schon mal daran gedacht, nach England zurückzukehren?“, fragte sie.

„Ja, sehr oft sogar. Aber ich habe nicht darüber gesprochen – es hätte deine Mutter zusätzlich belastet. Das wollte ich ihr unbedingt ersparen.“

„Ich liebe dich“, sagte Giselle und beugte sich zu ihm hinüber, um ihn auf die Wange zu küssen. Niemals, das schwor sie sich, würde sie ihn merken lassen, wie ungern sie ihm nach England gefolgt war.

Die Umzugsfirma hatte die Möbel aus Paris bereits nach Abbeyfields geschafft. Der Lastwagen stand vor dem Haus, als Giselle und ihr Vater eintrafen. Die nächsten Stunden war sie vollauf damit beschäftigt, den Leuten Anweisungen zu geben, wie die verschiedenen Möbelstücke im Haus verteilt werden sollten.

Ihr Vater ging währenddessen mit staunenden Augen und vor Glück strahlend durch die Räume, wie ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat. Aber Abbeyfields war für ihn ja nicht neu – es war für ihn voller Erinnerungen, die er all die Jahre in seinem Gedächtnis vergraben hatte.

„Dies war mein Zuhause, bis zu dem Tag, an dem ich deine Mutter heiratete“, sagte er. „Nach dem Tod meiner Eltern hat ein entfernter Cousin das Haus gekauft. Vor ein paar Monaten ist er gestorben. Und jetzt bin ich zurückgekehrt. Aber was ist mit dir, Giselle? Ich denke nur an mich. Freust du dich auch über unser neues Daheim?“

Es war ein langer, anstrengender Tag für Giselle gewesen. Sie lächelte ihren Vater etwas müde an. „Ja, natürlich freue ich mich“, versicherte sie ihm und wünschte, es wäre tatsächlich so.

Marcs Kinder waren schrecklich enttäuscht. Der neunjährige Tom verkniff sich tapfer die Tränen, seine sechsjährige Schwester Alice fragte schluchzend: „Können wir denn nicht wenigstens auf der großen Wiese spielen? Das Gras steht so hoch, dass uns niemand sieht.“

„Ich fürchte, das geht nicht“, meinte Marc bedauernd. Einen Moment lang wünschte er, ihre Mutter wäre hier, um sie zu trösten. Aber Amanda, deren große Liebe das Reiten und der Pferdesport gewesen waren, lebte nicht mehr.

Auf einem ihrer Ausritte vor zwei Jahren war sie gestürzt. Sie hatte den Unfall nicht überlebt. Seither mussten die drei allein zurechtkommen, zum Glück mit der liebevollen Unterstützung von Marcs Schwiegereltern.

„Ich verspreche euch, ich werde ein anderes Haus kaufen“, sagte Marc, „wo ihr viel Platz zum Spielen haben werdet. Und das auch noch groß genug für die Praxis ist. Ich möchte unbedingt den ganzen Tag in eurer Nähe sein.“

Im Vorbeifahren hatte er gesehen, wie die neuen Besitzer in Abbeyfields einzogen. Er hatte einen kurzen Blick auf eine weibliche Gestalt mit langen Beinen und hautenger Jeans werfen können. Die junge Frau hatte ihr braunes Haar im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammengebunden, sodass er ihr Gesicht, an das er seit der Versteigerung manchmal hatte denken müssen, gut erkennen konnte.

Seine Neugier, wer die Unbekannte war, die ihn bei der Versteigerung überboten hatte, war inzwischen durch ein längeres Gespräch mit James Morrison befriedigt worden. James hatte ihm erklärt, Giselle Howard habe das Haus für ihren Vater gekauft, der dort mit seinen Eltern gelebt hatte, bis er eine Französin heiratete und nach Paris ging.

„Sie werden sich kaum an ihn erinnern“, meinte James Morrison zu Marc. „Aber ich habe all die Jahre den Kontakt zu Philip Howard aufrechterhalten. Ich fürchte, Sie müssen mir die Schuld dafür geben, dass Sie das Haus nicht bekommen haben, Marc. Ich hatte ihm geschrieben, dass es zum Verkauf stünde. Da seine Frau vor Kurzem gestorben ist, entschloss er sich, in seine Heimat zurückzukehren. Er ist überglücklich, wieder in seinem Elternhaus leben zu können. Was seine Tochter Giselle angeht, so habe ich den Eindruck, sie war glücklicher dort, wo sie herkommt.“

Das war also die Geschichte des neuen Besitzers von Abbeyfields. Sie machte es für Marc erheblich erträglicher, sich mit dem Verlust abzufinden.

Am Morgen nach ihrem Einzug in Abbeyfields fühlte sich Philip Howard nicht wohl. Er war mit starken Kopf- und Gliederschmerzen aufgewacht. Nachdem Giselle ihn rasch untersucht hatte, rief sie James Morrison an und fragte ihn, ob es in dem Dorf einen Arzt gäbe.

„Natürlich“, hatte James geantwortet. „Aber du bist doch selbst Ärztin?“

„Schon, aber außer einem Stethoskop und ein paar Schmerztabletten habe ich nichts dabei. Und ich befinde mich in einem fremden Land, in dem ich keine Zulassung als Ärztin habe. Wahrscheinlich waren die Aufregung und die Hektik gestern einfach etwas zu viel für Papa, aber ich möchte sicher sein, dass es nichts Schlimmeres ist.“

„Die Praxis liegt an der Hauptstraße, gar nicht weit von euch“, meinte James. „Wenn du gleich hinübergehst, kannst du noch mit einem der Ärzte sprechen, bevor die Sprechstunde anfängt.“

Ein ziemlich unansehnliches Gebäude, dachte Giselle, als sie die Eingangstür des Hauses öffnete, in der sich die Praxis befand. Das Natursteingemäuer war im Lauf der Jahre stellenweise fast schwarz geworden, aber das war nur äußerlich, wie sie schnell feststellte. Im Inneren präsentierte sich ihr eine helle, moderne Eingangshalle mit einem Empfangstisch, hinter dem eine freundlich lächelnde Frau mittleren Alters saß.

„Mein Vater und ich sind gestern erst hier angekommen“, sagte Giselle. „Ich fürchte, wir brauchen dringend einen Arzt. Meinem Vater geht es heute Morgen nicht gut. Könnte jemand zu uns hinüberkommen und ihn untersuchen?“

Die Dame hinter dem Tresen nickte. „Die Ärzte sind noch nicht da. Es ist erst acht Uhr fünfzehn. Aber sie müssten gleich eintreffen. Dann können Sie sofort mit einem von ihnen sprechen.“

In diesem Moment hielt ein Wagen vor der Tür. „Das wird Dr. Bannerman sein“, meinte die Sprechstundenhilfe.

Marc Bannerman hatte gerade die Kinder zur Schule gebracht, die am anderen Ende des Ortes lag. Dabei war Tom eingefallen, dass er sein Sportzeug zu Hause vergessen hatte. Also war Marc noch einmal zurückgefahren, um die Sachen zu holen. Er seufzte. Tom und Alice morgens pünktlich wach zu bekommen, das Frühstück zu machen, darauf zu achten, dass die Kinder alles hatten, was sie für den Schultag brauchten, sowie die Fahrt zur Schule waren immer ziemlich hektisch.

Und jetzt wartete ein anstrengender Tag in der Praxis auf ihn. Er war heute allein – sein Assistent Craig besuchte ein Seminar an der Universität. Und Marcs Schwiegervater hatte gerade angerufen, er müsse ausfallen – er habe eine verdammte Gürtelrose.

Als Marc mit eiligen Schritten in die Empfangshalle kam, rief er zu der Sprechstundenhilfe hinüber: „Können Sie mir einen großen Kaffee besorgen, Mollie? Ich bin heute Morgen nicht zum Frühstücken gekommen. Die Kinder waren spät dran.“

Die Empfangsdame lächelte ihm zu und nickte.

„Natürlich, Herr Doktor, ich setze gleich Kaffeewasser auf. Inzwischen können Sie mit der Dame sprechen, die schon auf Sie wartet.“

Als er sich herumdrehte, stand Giselle langsam auf und sah ihn entgeistert an. Vor ihr stand der Mann, der auf der Auktion gegen sie geboten hatte.

„Hallo, Sie sind es“, sagte er kühl. „So sieht man sich wieder.“

„Ja“, entgegnete sie nervös. „Es tut mir leid, dass ich Sie heute Morgen schon bemühe. Ich bin ja erst gestern eingezogen …“

„Ja, ich weiß“, unterbrach er sie. „Ich habe Sie gesehen.“

„Wirklich?“

„Als ich vorbeifuhr, war der Möbelwagen gerade da.“

„Mein Vater fühlt sich heute Morgen nicht gut. Könnten Sie bitte nach ihm sehen? Er hat starke Kopfschmerzen, und die Gelenke tun ihm weh.“

„Ich werde in zehn Minuten bei Ihnen sein“, meinte Marc Bannerman. Giselle atmete erleichtert auf. Das gab ihr etwas Zeit, sich von ihrer Überraschung zu erholen.

„Danke“, sagte sie und überließ ihn seinem Kaffee oder dem, was er sonst in den nächsten zehn Minuten vorhatte.

Als Giselle gegangen war, trat Marc Bannerman in sein Sprechzimmer und ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen. Er hatte sich schon gefragt, wann er der jungen Frau wieder begegnen würde. So rasch hatte er allerdings nicht damit gerechnet. Und jetzt würde er das Haus betreten, von dem er gehofft hatte, es würde ihm gehören.

Mollie kam herein und stellte eine große, dampfende Tasse Kaffee vor ihm auf den Schreibtisch. Er trank einen Schluck und sah sich nach seiner Tasche um. Dann würde er jetzt also der bemerkenswerten Giselle und ihrem Vater einen Besuch abstatten.

„Ich kann nichts Auffälliges feststellen“, schloss Marc, nachdem er Philip Howard untersucht hatte. „Die Kopfschmerzen können eine Folge vom Umzugsstress sein. Und die Gelenkschmerzen … haben Sie gestern schwer gehoben, Mr. Howard?“

Giselle schüttelte den Kopf, aber ihr Vater lächelte schuldbewusst. „Ich habe eine paar Möbelstücke hin und her geschoben, wenn meine Tochter gerade nicht hinschaute.“

„Das könnte der Grund sein“, meinte Marc. „Dabei haben Sie Muskeln angestrengt, die Sie sonst kaum benutzen. Aber rufen Sie mich bitte an, wenn die Beschwerden nicht bald verschwinden.“

Giselle begleitete Marc hinaus in die Eingangshalle. Als sie sicher war, dass ihr Vater sie nicht mehr hören konnte, sagte sie: „Ich bin selbst Ärztin, aber ich wollte die Meinung eines Kollegen hören.“

Marc schaute sie verdutzt an.

„Bisher habe ich in einem Pariser Krankenhaus gearbeitet“, erklärte Giselle rasch.

Marcs tiefblaue Augen hatten sich erstaunt geweitet.

„Tut mir leid, dass sich Sie herbemüht habe“, meinte Giselle. „Ich habe leider keine medizinische Ausrüstung dabei, und ich bin im Moment so müde und gestresst, dass ich nicht klar denken kann. Mein Vater hat so darauf gebrannt, hierher zurückzukommen, dass die Vorstellung, etwas könnte seinen Traum platzen lassen, für mich unerträglich wäre.“

„Und was ist mit Ihnen? War es auch Ihr Traum, herzukommen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich wäre lieber in Paris geblieben. Alle meine Freunde sind dort … und mein Job. Aber ich kann meinen Vater nicht allein lassen. Wir haben erst vor Kurzem meine Mutter beerdigt. Er braucht mich.“

„Also ist das Leben auf dem Lande nicht ganz nach Ihrem Geschmack?“

„Stimmt, aber ich denke, ich werde mich daran gewöhnen. Ich muss es einfach.“

„Waren Sie deshalb so angespannt auf der Versteigerung?“

„Ja. Und aus Angst, zu versagen, den Auftrag meines Vaters nicht ausführen zu können. Ich wusste, wie sehnlich er sich dieses Haus wünschte. Es tut mir leid, dass ich es Ihnen sozusagen weggenommen habe. Ich fühle mich da irgendwie schuldig.“

Marc lachte. „Unsinn, dazu haben Sie keinen Grund. Der – oder die – Höchstbietende soll gewinnen. Weil unsere Praxis so gewachsen ist, war ich auf der Suche nach einem geräumigeren Haus. Und es musste außerdem noch groß genug sein für mich und meine beiden Kinder. Das hätte mir das ständige Pendeln zwischen der Wohnung und der Praxis erspart. Die Kinder waren übrigens ganz wild darauf, auf den großen Wiesenflächen hinter dem Haus zu spielen.“

Giselle lächelte bitter. „Jetzt fühle ich mich noch schlechter.“

„Das wollte ich nicht. Wir werden bestimmt etwas anderes finden.“

„Ihre Frau war wohl auch enttäuscht?“

„Meine Frau ist tot“, entgegnete er spröde. „Sie starb bei einem Reitunfall.“

„Oh, wie schrecklich“, hauchte sie bestürzt.

Marc nickte. „Ja, das war es. Aber das Leben teilt immer wieder solche Schläge aus. Wie zum Beispiel, dass eine Pariserin auf dem primitiven Land leben muss.“

Jetzt lächelte sie wieder. „Dr. Bannerman …“

„Einfach nur Marc. Wir sind hier nicht so förmlich.“

„Ihre Kinder sind uns jederzeit willkommen, wenn sie auf dem Gelände hinter dem Haus spielen wollen. Mein Vater und ich werden nicht häufig dort draußen sein. Und sie müssen nicht jedes Mal um Erlaubnis fragen. Sie können das Seitentor benutzen.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wie soll ich Sie nennen … Giselle? Dr. Howard?“

„Giselle. Es kann einige Zeit dauern, bis ich wieder den weißen Kittel anziehe.“

Er wollte gehen, blieb aber noch einmal stehen. „Es hat mich wirklich gefreut, Sie zu treffen … Giselle. Ich hoffe, Sie werden wegen des Dorfes und seiner Bewohner nicht mehr so enttäuscht sein, wenn Sie uns ein wenig besser kennen.“

Dann winkte er kurz und ging rasch über die Straße zu seiner Praxis hinüber. Was sie von den übrigen Dorfbewohnern halten würde, wusste sie nicht. Aber Marc Bannerman hatte sie ganz und gar nicht enttäuscht.

Er war ein Mann, der eine große Verantwortung trug und sich anscheinend voll für seine Patienten einsetzte. Sie hoffte, sie würde besser drauf sein, wenn sie sich das nächste Mal über den Weg liefen. Und besser aussehen. Sie seufzte. Was sollte sie nur hier mit all ihren schicken Pariser Sachen machen?

Ihr Vater fühlte sich im Laufe des Tages wieder besser. Während Giselle immer noch aufräumte, ging ihr die Unterhaltung mit Marc nicht aus dem Sinn.

Er war sehr einsilbig gewesen, als er vom Tod seiner Frau gesprochen hatte. Sie hätte nicht neugierig sein und nach seiner Frau fragen sollen. Aber der Gedanke, was er wohl für eine Frau hatte, war ihr schon bei der Versteigerung gekommen.

Raouls Bild tauchte in ihrem Kopf auf, wie er in seiner Edelboutique die Kundinnen bezirzte. Jetzt, da sie Marc Bannerman kennengelernt hatte, fragte sie sich, was sie an dem Franzosen fand.

Was der gut aussehende Landarzt wohl über sie dachte? Hielt er sie für hochnäsig, für jemanden, der auf die Dorfbewohner hinabschaute? Hoffentlich nicht. Giselle nahm sich selbst übel, dass sie aus ihrer Abneigung gegen das englische Landleben keinen Hehl gemacht hatte. Marc würde sie für eingebildet halten, für einen Snob. Aber das war sie nicht.

2. KAPITEL

Die Beschwerden ihres Vaters waren am nächsten Morgen völlig abgeklungen. Da die Sonne von einem wolkenlosen Himmel schien, beschloss Philip Howard, zu Fuß zu erkunden, ob er sich in seinem Heimatdorf noch zurechtfand, und dann seinen Freund im Gartencenter zu besuchen.

Er fragte Giselle, ob sie nicht mitkommen wolle, aber sie lehnte lächelnd ab. Seinen ersten Erkundungsgang durch Abbey wollte er sicher lieber allein machen. Er nahm ihr jedoch das Versprechen ab, ihn zum Mittagessen in dem Hotel zu treffen, das nicht weit von Marcs Praxis entfernt lag.

Zögernd hatte sie zugestimmt, denn sie wollte nicht schon wieder auf Marc treffen. Wenn er ihren Vater gesund und munter durch die Gegend marschieren sah, würde er bestimmt annehmen, sie neige zu Panik oder Hysterie.

Als sie später auf dem Weg ins Hotel an der Praxis vorbeiging, war von Marc nichts zu sehen. Giselle atmete erleichtert auf.

Wieso interessiert es mich überhaupt, was Marc Bannerman von mir denkt? fragte sie sich verwundert. Aber bei der vielen Arbeit in der Praxis und mit den beiden Kindern würde sie ihn sowieso nicht oft zu Gesicht bekommen. Bei dem Gedanken empfand sie ein leichtes Bedauern.

Bei dem Hotel angekommen, stellte sie fest, dass ein Schwimmbad und ein modernes Sportzentrum angegliedert waren.

Sowie sie die Eingangshalle betrat, sah sie als erstes Marc Bannerman. Er kniete neben einem Mann mittleren Alters, der zwischen den Sofas und den Sesseln auf dem Boden lag. Angestellte des Hotels und mehrere Gäste schauten betroffen zu.

Als habe er ihre Nähe gespürt, schaute er auf. „Hallo, Giselle, Sie schickt der Himmel. Der Mann hat einen Herzanfall. Kein Puls und keine Atmung. Wir müssen versuchen, ihn wiederzubeleben.“

„In Ordnung.“ Sie ließ sich ebenfalls auf die Knie nieder. Die Haut des Mannes war kalt und feucht, seine Lippen blau. Die Stirn war mit Schweiß bedeckt.

„Ich mache die Mund-zu-Mund-Beatmung“, entschied Marc. „Sie übernehmen es, seinen Brustkorb zu massieren.“

Giselle nickte. Sie legte beide Hände übereinander auf das Brustbein und begann zu pressen. Nach fünf Stößen hielt Marc dem Mann die Nase zu und blies ihm seinen Atem in den Mund. Dann war wieder Giselle an der Reihe. Abwechselnd wiederholten Marc und Giselle die Prozedur mehrmals.

Der Rettungswagen, den der Hotelmanager angerufen hatte, traf ein. Sanitäter und ein Notarzt eilten herbei. Marc berichtete ihnen in aller Eile, was passiert war.

„Gut“, sagte der Notarzt, „wir nehmen ihn sofort mit ins Krankenhaus und machen ein EKG, dann wissen wir Bescheid.“

„Der Mann hat unglaubliches Glück gehabt, dass Sie beide hier waren“, sagte einer der Sanitäter zu Marc und Giselle. „Sonst wären wir garantiert zu spät gekommen, um noch etwas für ihn zu tun.“

Marc und Giselle sahen der Ambulanz nach, die mit Blaulicht und Sirene losfuhr. Dann gingen sie zu dem Hotelmanager hinüber, um ihm ein paar Fragen zu stellen.

„Er kommt regelmäßig zweimal die Woche her und macht ein ausgiebiges Fitnesstraining“, berichtete der Hotelchef. „Er hatte gerade geduscht und wollte zu seinem Wagen gehen, als er plötzlich vornüberfiel. Ich war unglaublich erleichtert, dass Sie gerade hier waren, Dr. Bannerman.“

„Und ich war genauso erleichtert, als Dr. Howard hereinkam“, lachte Marc. Er drehte sich zu Giselle um. „Eigentlich wollte ich nach der Frau des Hoteldirektors schauen. Sie hat eine böse Sommergrippe erwischt.“

Giselle war noch benommen von der unerwarteten Situation. „Und ich hatte mich mit meinem Vater hier im Hotelrestaurant zum Mittagessen verabredet.“

„Sie sehen, das Landleben ist doch nicht so eintönig, wie Sie befürchtet haben“, sagte Marc lächelnd. Giselle lächelte ihn ebenfalls an.

„Sieht ganz so aus. Aber ich muss jetzt zu meinem Vater. Er fragt sich bestimmt schon, wo ich so lange bleibe.“

„Ich möchte Sie nicht aufhalten“, entschuldigte sich Marc. „Übrigens – danke für Ihre Hilfe, Giselle.“

„Das war doch selbstverständlich.“

Es blieb ein Tag mit unerwarteten Begebenheiten. Am späten Nachmittag, als ihr Vater es sich auf der Couch bequem gemacht hatte, um sich ein wenig auszuruhen, hörte Giselle plötzlich die Stimmen und das Lachen von Kindern aus dem Garten. Als sie zur Hintertür hinausschaute, sah sie zwei fröhlich herumtobende kleine Gestalten auf der großen Wiese.

Sie lächelte. Das mussten Marc Bannermans Kinder sein. Sie hatten schnell von ihrem Angebot Gebrauch gemacht. Als Tom und Alice sie erblickten, kamen sie zu ihr herüber. „Hallo, ihr beiden“, begrüßte Giselle sie.

„Unser Dad hat gesagt, wir dürfen herkommen und auf der Wiese spielen“, rief Tom etwas atemlos.

„Das stimmt. Ich heiße übrigens Giselle. Und ihr?“

„Ich bin Tom. Und das ist Alice.“ Der Junge zeigte auf seine Schwester.

„Wie war es heute in der Schule?“

„Ganz gut“, meinte Alice. „Wir sind danach schnell nach Hause gegangen, haben uns umgezogen und sind gleich hergekommen.“

„Wollt ihr etwas trinken?“

„Ja, gern“, tönte es im Chor.

„Milch oder Orangensaft? Etwas anderes habe ich nicht, wir sind ja gerade erst eingezogen.“

„Ich weiß“, meinte Tom. „Dad wollte das Haus kaufen, aber er hat uns gesagt, eine Dame aus Frankreich mit einer Menge Geld hätte es bekommen.“

Giselle stöhnte innerlich. Ihr Schuldgefühl meldete sich sogleich wieder.

„Mein Vater hat das Haus gekauft, nicht ich“, erklärte sie. „Und so ganz richtig ist das nicht, was euer Dad gesagt hat. Ich bin halb Engländerin. Und reich bin ich auch nicht.“

Leider. Bald würde sie sich nach einem Job umsehen müssen. Vielleicht gab es in einem der großen Krankenhäuser eine Stelle für sie. Allerdings würde sie ihren Vater dann jeden Tag viele Stunden allein lassen müssen. Seine Erschöpfung nach seinem Rundgang durch das Dorf heute zeigte ihr, wie sehr ihn die lange Krankheit und der Tod seiner Frau mitgenommen hatten.

Doch darüber konnte sie sich später Gedanken machen. Im Augenblick genoss sie den warmen Sommernachmittag.

Sie betrachtete Tom, der mit seinem struppigen hellen Haar und den blauen Augen seinem Vater sehr ähnlich sah. Alice hatte braune Augen und dunkles Haar.

Die beiden entschieden sich für ein Glas Milch und zogen dann zufrieden wieder zum Spielen auf die Wiese.

Um halb fünf kam ihr Vater vorbei, um sie abzuholen. „Haben sie sich auch anständig benommen, Giselle?“, wollte er wissen.

Sie lächelte. „Keine Probleme.“

„Ich habe es fürchterlich eilig. Es ist mitten in der Nachmittagssprechstunde. Ich wollte nur rasch die Kinder zu meinen Schwiegereltern bringen, sie sind dort zum Abendessen eingeladen. Aber ich würde gern nachher etwas mit Ihnen besprechen. Oder haben Sie heute Abend schon etwas vor?“

Giselle hätte fast aufgelacht. Was sollte sie schon vorhaben? Außer Marc Bannermann und den Morrisons kannte sie niemand in dem Dorf.

„In Ordnung“, meinte sie zögerlich. Sie fragte sich, was er wohl mit ihr besprechen wollte. Sie hoffte, es wären keine schlechten Neuigkeiten, die zum Beispiel den Herzinfarktpatienten aus dem Hotel betrafen.

„Ich komme so gegen neunzehn Uhr, ganz genau weiß ich aber nicht, wann ich fertig sein werde. Und dann muss ich auch noch einen Babysitter für die Kinder besorgen.“

„In Ordnung“, sagte sie noch einmal. Marc musste ja annehmen, sie hätte nur einen sehr begrenzten Wortschatz. Er sprach völlig normal und geschäftsmäßig – und sie benahm sich wie ein verstörter Teenager.

„Der Doktor, der gestern hier war, kommt heute Abend noch einmal vorbei“, teilte sie zu ihrem Vater mit, als Marc gegangen war.

„Aber ich bin doch wieder ganz in Ordnung“, protestierte er.

Giselle lächelte. „Er besucht mich.“

„Wirklich? Na so was …“

„Er ist verwitwet und hat zwei Kinder“, erzählte sie ihm. „Also komm nicht auf dumme Ideen.“

„Jeder andere Mann wäre mir lieber als dieser Modefatzke aus dem Kleiderladen in Paris“, stieß er verächtlich hervor. „Ich habe nie verstanden, was du an ihm findest.“

„Gefunden habe“, verbesserte Giselle ihren Vater. „Die Sache mit Raoul ist aus und vorbei.“ Sie musste lächeln, wenn sie sich vorstellte, was Raoul davon hielt, dass ihr Vater seine elegante Boutique einen „Kleiderladen“ nannte. Es gab nur eins, was Raoul noch mehr treffen würde – wenn jemand seine exquisiten Modelle „Klamotten“ nannte.

Als Marc am Abend kam, wirkte er angespannt. Er hatte die Absicht, mit Giselle eine wichtige Frage zu besprechen – mit einer völlig Fremden, wenn er auch dieses Gefühl bei ihr eigentlich nicht hatte.

Es erschien ihm fast so, als ob sie ihm geschickt worden wäre, um ein Problem zu lösen, das ihn sehr beschäftigte. Er hoffte, sie würde seine Sicht der Dinge teilen.

Giselle hatte eine Flasche französischen Rotwein aus einer der Kisten herausgesucht, die sie immer noch nicht vollständig geleert hatte. Ihr Vater begrüßte Marc und versicherte ihm, er fühle sich schon viel besser. Dann zog er sich zurück.

Als Marc und Giselle bei einem Glas Wein zusammensaßen, begann er ohne Umschweife: „Sie fragen sich sicher, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte.“

„Ja. Ich habe keine Ahnung, außer, es gibt schlechte Nachrichten über den Herzinfarktpatienten.“

„Nein, nein, das ist es nicht. Ich habe heute Nachmittag im Krankenhaus angerufen. Es geht ihm schon wieder etwas besser. Aber er hat trotzdem etwas damit zu tun. Der Zwischenfall im Hotel heute Mittag hat mich auf eine Idee gebracht.“

Giselle wünschte, er käme endlich mit seinem Anliegen heraus.

„Mein Schwiegervater hat eine böse Gürtelrose. Er ist unverzichtbar in unserer Praxis, obwohl er bereits seit Jahren davon spricht, dass er aufhören will. Ich habe den Eindruck, jetzt ist der Augenblick für ihn gekommen, sich tatsächlich zurückzuziehen. Jedenfalls ist seine Erkrankung für mich ein Riesenproblem.“

„Das kann ich mir vorstellen“, murmelte Giselle, die immer noch nicht wusste, worauf Marc hinauswollte.

„Also, ich bin gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie daran interessiert wären, in der Praxis mitzuarbeiten. Und wenn es nur für einige Monate ist.“

Sie schüttelte den Kopf, bevor er seinen Satz beendet hatte. „Ich glaube nicht. Ich kenne keinen Menschen hier. Und soviel ich mitbekommen habe, kennt hier jeder jeden. Ich bezweifle, dass eine fremde Ärztin von den Leuten akzeptiert werden würde.“

Giselle war klar, dass das eine schwache Ausrede war. Aber etwas anderes war ihr so schnell nicht eingefallen. Marcs Vorschlag hatte sie völlig überrumpelt. Dabei musste sie zugeben, dass seine Überlegung durchaus etwas für sich hatte. Sie war Ärztin, im Augenblick ohne Job und lebte im Dorf. Aber hatte dieser beeindruckende Mann vergessen, was sie ihm über ihren Wunsch, nach Paris zurückzukehren, gesagt hatte?

Marc war überrascht, wie sehr er von ihrer schnellen, ablehnenden Antwort enttäuscht war. Er stellte sein Weinglas auf den Tisch und stand langsam auf. Trotzdem versuchte er, ihre Haltung zu verstehen. Sie kam aus einer ganz anderen Welt, war in einer der schönsten und aufregendsten Städte der Welt aufgewachsen – und fand sich hier am Ende der Welt wieder. Kein Wunder, dass sie so etwas wie Fluchtdrang verspürte.

„Was die Patienten angeht, so haben sie nur den Wunsch, in der Praxis gute Ärzte zu finden“, sagte er und schaute sie an. „Es ist unwichtig, ob sie den behandelnden Arzt schon in kurzer Hose kannten oder ob er neu ist.“

„Aber woher wollen Sie denn wissen, ob ich eine gute Ärztin bin?“, fragte Giselle. „Nur weil ich Ihnen bei dem Mann mit dem Infarkt ein paar Minuten zur Hand gegangen bin? Ich habe bisher in einem großen Krankenhaus gearbeitet. Wer sagt Ihnen, dass ich das Zeug habe zu einer Landärztin?“

„Niemand. Ich verlasse mich auf meinen Instinkt. Aber das heißt nicht, dass ich gegebenenfalls nicht an Einzelheiten Ihres Berufslebens interessiert wäre. Außerdem müsste ich Informationen bekommen, um Ihre Beschäftigung hier mit den Behörden abzustimmen. Dazu müsste ich Kontakt aufnehmen mit den Gesundheitsbehörden in Frankreich.“

Giselle fühlte sich ein wenig überrollt. War Marc immer so direkt und dominant? Er hatte ihr bei dem Notfall im Hotel kurze und knappe Anweisungen gegeben. Und sie hatte kein Problem damit gehabt, das zu akzeptieren. Aber dies hier war jetzt etwas anderes – er war dabei, ihr Leben neu zu organisieren.

Sie schüttelte wieder den Kopf. „Es wäre besser, Sie suchten sich jemand anders. So schwer kann es doch nicht sein, einen Assistenzarzt zu finden.“

„Grundsätzlich natürlich kein Problem, aber das dauert. Und ich brauche jetzt sofort jemanden, der für meinen Schwiegervater einspringt. Sonst wird er es sich nicht ausreden lassen, trotz seiner Krankheit in die Praxis zu kommen. Das kann ich nicht verantworten.“

Marc fragte sich, warum er ihr Nein nicht als endgültige Absage betrachtete. Spukte da vielleicht die Idee in seinem Kopf, die Arbeit in der Praxis würde viel anregender sein, wenn er Tag für Tag die junge Frau mit den beeindruckenden grauvioletten Augen um sich hätte? Sollte das der Fall sein, schaute er zum ersten Mal seit Amandas Tod eine Frau nicht nur aus beruflichem Interesse an.

„Tut mir leid, dass ich Sie damit überfallen habe. Ich werde jetzt meine Kinder von den Schwiegereltern abholen. Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geschenkt haben, Giselle.“

Er neigte den Kopf in der Andeutung einer Verbeugung und ging.

Giselles Vater kam die Treppe herab. „Na, was wollte der gute Doktor von dir?“

„Er hat mir vorgeschlagen, in seiner Praxis mitzuarbeiten.“

„Und? Was hast du geantwortet?“

„Ich habe abgelehnt. Es erscheint mir noch zu früh, eine neue Verpflichtung einzugehen.“

„Das wäre eine gute Möglichkeit, die Leute hier besser kennenzulernen.“

Etwas in die Richtung hatte Marc vorhin auch gesagt. Aber wollte sie das eigentlich? Nicht unbedingt. Sie hatte sich damit abgefunden, eine Zeit lang hier leben zu müssen. Das hieß nicht, dass sie unbedingt ein voll anerkanntes Mitglied der Gemeinde werden wollte.

Ihr Vater meinte, es wäre nicht gut für sie, wenn sie ihre Arbeit als Ärztin zu lange unterbrechen würde.

„Das weiß ich, Papa. Aber ich würde lieber wieder in einem großen Krankenhaus arbeiten als in einer kleinen Landpraxis.“

„Das liegt bei dir. Triff deine Entscheidung, wenn die Zeit dafür reif ist. Und jetzt werfe ich noch einen Blick auf die wunderschönen Hügel um uns herum und gehe dann ins Bett.“

Er küsste seine Tochter auf die Stirn. Dabei machte er eine Bemerkung, die ihre Verwirrung und Unsicherheit noch steigerte. „Für welchen Job du dich auch entscheidest, sieh bitte zu, dass es irgendwo in der Nähe ist. Die Tage ohne dich werden schon lang genug sein.“

Als er gegangen war, seufzte Giselle leise. Was hätte sie dafür gegeben, jetzt in Paris zu sein, und sei es in Begleitung des arroganten, eingebildeten Raoul?

Langsam ging sie die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Die Gedanken drehten sich in ihrem Kopf, und sie konnte sehr lange nicht einschlafen. Plötzlich musste sie an die Kinder denken, an Tom und Alice. Sie waren süß und offensichtlich wirklich gut erzogen. Aber sie würden ihren Vater nicht sehr oft zu Gesicht bekommen, wenn die Praxis unterbesetzt war.

Der nächste Tag war ein Samstag. Marcs Kinder machten mit Freunden und deren Eltern einen Ausflug. Als Marc zu der kurzen Vormittagssprechstunde in die Praxis kam, musste er unentwegt an das Gespräch mit Giselle am Abend zuvor denken.

Ohne die Hilfe seines Schwiegervaters konnten er und sein Assistent die Arbeit nicht lange bewältigen. Natürlich hätte er sich nach einer Aushilfe umsehen können, wie Giselle ganz richtig vorgeschlagen hatte, aber er wollte sie in seiner Praxis haben. Sie ging ihm nicht aus dem Kopf.

Seit Amandas Tod hatte er nur zu sehr wenigen Frauen Kontakt gehabt. Er wusste, dass er als gute Partie galt, aber zwei kleine Kinder machten die Sache nicht einfacher. Er würde sehr sorgfältig überlegen müssen, ob er noch einmal eine feste Beziehung eingehen wollte.

Amanda war die Tochter aus einer angesehenen, begüterten Cheshire-Familie gewesen. Ihr Interesse galt dem Golfspiel, der Jagd und vor allem dem Reiten. Sie hätte es gern gesehen, wenn er sich mehr an ihren sportlichen Aktivitäten beteiligt hätte. Doch seine Arbeit ließ ihm nicht viel Freizeit, und es war ihr schwergefallen, das zu akzeptieren.

Sie war eine treue Ehefrau und liebevolle Mutter gewesen, aber in vielen Dingen hatten sie sehr unterschiedliche Meinungen vertreten.

Marc musste lächeln, als er den Wagen vor der Praxis parkte und ausstieg. Die Frau, die gestern Abend seinen Vorschlag abgelehnt hatte, war das genaue Gegenteil von Amanda. Giselle war zierlich und relativ klein. Ihr glänzendes dunkelbraunes Haar trug sie entweder im Nacken zusammengeknotet oder offen.

Die Praxis war leer. Marc nahm die Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Eingangstür. Die einzige Angestellte, die am Samstag an der Rezeption saß, war offensichtlich noch nicht da. Plötzlich bemerkte Marc, dass im Schatten neben dem Eingang jemand wartete. Er trat einen Schritt näher und fuhr überrascht zurück.

„Giselle!“, rief er, als er sie erkannte.

„Guten Morgen, Dr. Bannerman“, sagte sie ganz ruhig. „Kann ich Sie kurz sprechen, bevor die Sprechstunde anfängt?“

„Selbstverständlich.“ Marc lächelte sie an, während er sekundenschnell ihr Bild in sich aufnahm – schlanke Beine in maßgeschneiderter Jeans, eine weiße Bluse und eine Sonnenbrille, die die grauvioletten Augen verbarg.

Er führte sie zu seinem Sprechzimmer und bat sie, Platz zu nehmen. „Wollen Sie mir noch einmal in aller Deutlichkeit klarmachen, dass ich mich aus Ihrem Leben heraushalten soll?“

„Nein. Ich bin gekommen, weil ich mich umentschieden habe. Wenn Sie noch wollen, arbeite ich gern in Ihrer Praxis mit.“

„Das ist wirklich eine großartige Neuigkeit“, sagte Marc. „Und was hat Sie dazu gebracht, Ihre Meinung zu ändern?“

„Ich habe noch einmal über alles nachgedacht und mit meinem Vater gesprochen“, meinte sie. „Es gibt mehrere Gründe, auf die ich jetzt nicht näher eingehen möchte.“

„Hauptsache, Sie haben sich so entschieden. Am Samstagmorgen kommen normalerweise nur wenige Patienten. Ich werde mich um sie kümmern. Sie könnten sich ja in der Zwischenzeit in der Praxis umschauen. Wir reden dann später weiter.“

Giselle nickte. Sie stand auf und folgte Marc in die Eingangshalle, wo Mollie gerade ihren Mantel auszog. „Kümmern Sie sich um Dr. Howard, Mollie“, sagte Marc Bannerman. „Sie wird unser Team verstärken.“

„Ich habe nur kurz in einer Praxis für Allgemeinmedizin gearbeitet, bevor ich den Job im Krankenhaus bekam“, erzählte Giselle später, nachdem Mollie gegangen war und sie wieder in Marc Bannermans Sprechzimmer saß.

„Ich kann Ihnen alle Zeugnisse geben, auch die Unterlagen über mein Studium und meine Zulassung. Knapp drei Jahre habe ich dann als Stationsärztin für Gynäkologie in einem Pariser Krankenhaus gearbeitet, bevor ich eine längere Auszeit genommen habe, um meine kranke Mutter zu pflegen. Nach ihrem Tod wollte ich meine Arbeit dort wieder aufnehmen, aber mein Vater wollte unbedingt nach England. Den Rest kennen Sie.“

Marc nickte. „Ich habe Verständnis dafür, dass die gegebene Situation nicht unbedingt Ihren Idealvorstellungen entspricht“, erwiderte er. „Aber ich kann Ihnen versichern, dass besonders die weibliche Bevölkerung Sie hier mit Begeisterung begrüßen wird. Ich werde alles daransetzen, um die Formalitäten mit den Gesundheitsbehörden bezüglich Ihrer Zulassung in diesem Land so rasch wie möglich abzuwickeln. Auf jeden Fall würde ich mich freuen, wenn ich Sie am Montagmorgen hier sähe.“

„Einverstanden. Ich werde da sein“, stimmte sie zu. „Und wenn sich zeigt, dass ich Ihren Vorstellungen nicht gerecht werde, werde ich still und heimlich wieder verschwinden.“

„Das klingt fast so, als ob Ihnen das nicht unlieb wäre“, entgegnete er trocken.

„Schon möglich“, gab sie zu, „aber die Arbeit hier in der Praxis wird mein schlechtes Gewissen ein wenig beruhigen.“

„Was für ein schlechtes Gewissen?“

„Sie waren so enttäuscht und Ihre Kinder auch, dass sie das Haus nicht bekommen haben. Und wenn ich Ihr Angebot abgelehnt hätte, wäre ich dafür mitverantwortlich gewesen, dass Sie Tom und Alice noch weniger sehen als jetzt.“

Er sah sie überrascht an. „Es gibt nicht den geringsten Grund für Sie, mir oder den Kindern gegenüber Schuldgefühle zu haben“, erklärte er kühler, als er beabsichtigt hatte. „Ich verstehe durchaus, dass Sie Ihre eigenen Prioritäten haben.“

„Und ich denke, dass Sie vielleicht Mitleid mit einer Fremden haben, die sich in einer neuen Umgebung mit neuen Menschen nicht zurechtfindet.“

„Das war nicht der Grund für mein Angebot. Meine Motive sind ganz egoistisch. Ich brauchte dringend Unterstützung. Und Sie brauchen, wenn ich das richtig einschätze, einen Job. Dabei sollten wir es belassen, nicht wahr?“

Er stand auf, um anzudeuten, dass die Unterhaltung beendet war. Giselle erhob sich ebenfalls. Sie hatte das ungute Gefühl, dass der erste Versuch, sich besser kennenzulernen, nicht so positiv verlaufen war, wie sie gehofft hatte.

„Bis Montagmorgen dann“, sagte er und streckte die Hand aus. Als Giselle sie ergriff, wusste sie schon vorher, dass sie die Berührung mögen würde. Und so war es auch. Marcs Hand war warm, trocken und fest. Sein Händedruck war der eines Mannes, der selbstbewusst und ohne Allüren war, der mit allen Problemen, die sich ergaben, fertig wurde und der kein Mitgefühl oder Bedauern brauchte.

Anstatt direkt nach Hause zu gehen, beschloss Giselle, eine erste Shoppingtour durch das Dorf zu machen. Sehr viele interessante Geschäfte gab es hier nicht. Eine Metzgerei, einen Bäckerladen mit einem ansehnlichen Angebot an Brot- und Süßwaren, eine Apotheke und einen Friseursalon für Männer und Frauen. Und schließlich noch ein relativ großes Kaufhaus und die Post.

„Sie sind bestimmt die junge Frau, die gerade in Abbeyfields eingezogen ist“, sagte die ältere Verkäuferin in der Bäckerei und schaute sie freundlich an, als Giselle ein frisches, knusperiges Brot und einen Obstkuchen kaufte.

„Ja“, meinte sie einsilbig und ohne weitere Erklärung. Aber so schnell entkam sie nicht der Neugier der Dorfbewohnerin.

„Ich habe gehört, Philip Howard hat das Haus gekauft. Sie sind bestimmt seine Tochter.“

„Ja“, bestätigte Giselle zurückhaltend. Sie diskutierte ihre privaten Umstände nicht gern in der Öffentlichkeit.

„Nun, dann grüßen Sie ihn von Jenny Goodwin. Wir waren in derselben Klasse. Nehmen Sie hiervon etwas mit, als Erinnerung an alte Zeiten.“ Sie legte ein Stück Bakewell-Torte, eine krosse Pastete mit Marmeladenfüllung und Mandelcreme, zu Giselles Obsttorte.

„Darüber wird mein Vater sich bestimmt sehr freuen“, bedankte sich Giselle.

„Es ist mir ein Vergnügen“, meinte die ältere Frau. „Sie haben gerade Ihre Mutter verloren, nicht wahr?“

„Ja, es war ein schrecklicher Schlag für mich und Dad.“ Giselle konnte nicht glauben, dass sie das zu einer Frau sagte, die sie erst seit fünf Minuten kannte. Dann fügte sie sogar noch hinzu: „Wir haben in Paris gelebt. Meine Mutter war Französin.“

„Ja, ich erinnere mich an das wunderschöne französische Mädchen, das Ihr Vater mit in unser Dorf brachte, um es seinen Eltern vorzustellen. Die beiden haben dann sehr schnell geheiratet.“

Giselle fühlte, wie ihre Kehle eng wurde. Das war eine Zeit aus dem Leben ihres Vaters, über die sie so gut wie nichts wusste. Und sie konnte kaum glauben, dass sie gleich auf jemanden traf, der sich an all das erinnerte.

„Wie heißen Sie?“, fragte die Verkäuferin.

„Giselle.“

„Giselle, es war mir eine große Freude, Sie kennenzulernen. Sollten Sie mal wieder ein wenig plaudern wollen, schauen Sie ruhig vorbei. Wenn man neu irgendwohin zieht, braucht man einige Zeit, um sich einzugewöhnen.“

Giselle verabschiedete sich, bevor das Gespräch noch intimer wurde.

Als sie die wenigen hundert Meter nach Abbeyfields zurückging, musste sie lächeln. Jenny Goodwin war eine herzensgute alte Dame. Wenn die restlichen Dorfbewohner ähnlich waren wie Jenny und der Doktor, würde das Leben hier vielleicht doch nicht so trostlos sein, wie sie befürchtet hatte.

Als ihr Vater die Bakewell-Torte sah und hörte, wer sie ihm schickte, strahlte er. „Jenny Goodwin! Ich erinnere mich gut an sie“, rief er. „Wir sind oft gemeinsam zum Aufsammeln losgegangen.“

„Zum Aufsammeln?“

„In der Erntezeit darf man die Äpfel und Birnen einsammeln, die vom Baum fallen. Na ja, ich muss zugeben, dass Jenny und ich manchmal durch Schütteln etwas nachgeholfen haben, wenn der Besitzer der Obstbäume nicht zu sehen war.“ Er lachte. „Oft sind wir auch aus den Gärten gescheucht worden.“

„Jenny erinnerte sich auch an Maman.“

Philip Howard nickte. „Das tut sie ganz sicher, denn eine Zeit lang sah es so aus, als ob Jenny und ich ein Paar werden könnten. Aber dann lernte ich Celeste kennen. Jenny scheint nie geheiratet zu haben, wenn sie immer noch Goodwin heißt.“

Das unterschied das Leben in einem Dorf von dem in der Großstadt, dachte Giselle am Abend, als sie aus ihrem Schlafzimmerfenster sah. Die Menschen, die hier lebten, waren für die anderen keine namenslosen Gesichter. Hier kannte jeder jeden und interessierte sich für ihn. Das hatte irgendwie etwas Beruhigendes. Jedenfalls fühlte sie sich nicht mehr so verloren und allein, als sie an diesem Abend einschlief.

3. KAPITEL

Als Giselle am Montagmorgen aufwachte, war es ein merkwürdiges Gefühl, nach langer Zeit wieder pünktlich irgendwo zum Dienst erscheinen zu müssen.

Vielleicht hatte ihr die Arbeit tatsächlich gefehlt, und sie war aus diesem Grund melancholisch geworden. Sie dachte an Marc. Vielleicht hatte der Landarzt ihr sogar einen Gefallen getan, als er sie als Vertretung für seinen kranken Schwiegervater engagierte.

Vor der Praxis standen drei Autos, aber der Wagen, den Marc am Samstag gefahren hatte, war nicht dabei. Wahrscheinlich brachte er gerade seine Kinder zur Schule.

Ein junger Mann mit einem grauen Anzug, Oberhemd und Krawatte stand beim Empfang. Als er Giselle erblickte, kam er zu ihr und stellte sich als Marcs Assistent Craig Richards vor. Dann überließ er sie Mollie, die sie freundlich begrüßte.

Während Mollie das Wasser für den obligaten Tee heiß werden ließ, führte sie Giselle herum und stellte ihr die anderen Mitarbeiter der Praxis vor. Es gab noch zwei weitere Sekretärinnen und zwei Krankenschwestern. Und eine Frau mittleren Alters mit einem klugen Gesicht, die sich als die kaufmännische Leiterin der Praxis vorstellte.

Giselle stand am Empfangstisch in der Eingangshalle und nippte an ihrem Tee, als der Mann hereinkam, an den sie das ganze Wochenende hatte denken müssen.

Seit Marc am Samstagmittag nach Hause gekommen war, hatte er keine Minute freie Zeit gehabt. Zum Glück waren die Kinder mit Freunden unterwegs gewesen, sodass er alles waschen konnte, was sich die Woche über angesammelt hatte. Dann bügelte er Hemden. Anschließend machte er sich daran, den Rasen rund um das Haus zu mähen, der ziemlich hoch geworden war. Er erledigte alle anfallenden Hausarbeiten, damit er den Sonntag für Tom und Alice frei hatte.

Um das Saubermachen kümmerte sich zweimal in der Woche eine Putzfrau. Marc wusste, dass er das alles ohne die Hilfe seiner Schwiegermutter kaum würde schaffen können. Jeden Abend an den Wochentagen waren er und die Kinder bei ihr zu Gast zum Essen. Und auch sonst stand sie immer zur Verfügung, wenn es notwendig war.

Auf diese Weise war das Leben für Marc und seine Kinder erträglich organisiert. Die Kinder waren glücklich und zufrieden, wenn sie auch ab und zu ihre Mutter sehr vermissten. So zum Beispiel Alice, als sie ihre erste Tanzstunde hatte und von ihrer Großmutter dorthin begleitet wurde statt von der Mutter. Und als Tom vor kurzem einen Unfall mit seinem Skateboard hatte und sein Bein heftig blutete, hatte er unter Tränen nach seiner Mutter gerufen.

Wie sehr Marc selbst Amanda vermisste, hätte er schwer sagen können. Manchmal hatte er sie für egoistisch gehalten, weil sie sich so ausschließlich ihren Freizeitvergnügungen Golf, Jagen und Reiten widmete. Aber sie war eine pflichtbewusste Mutter gewesen, hatte die Kinder morgens zur Schule gebracht und auch sonst gut für sie gesorgt.

Manchmal hatten Marc und Amanda am Wochenende zusammen gejoggt. Aber es war wohl für beide nicht die große, leidenschaftliche Liebe gewesen. Trotzdem hatte er von Zeit zu Zeit ihre Nähe vermisst, wenn er allein in dem großen Bett lag. Aber meist war er einfach zu müde für solche Gedanken.

An diesem Wochenende war alles ganz anders. Er war zwar ebenfalls todmüde ins Bett gefallen, aber er hatte nicht schlafen können, weil in seinem Kopf ständig das Bild der Frau aufgetaucht war, die ihn jetzt vom Empfangstresen her anschaute. Ihr Gesicht mit der hellen, glatten Haut, den hohen Wangenknochen und dem Mund, der danach verlangte, geküsst zu werden, waren ihm nicht aus dem Sinn gegangen.

„Hallo, Giselle“, begrüßte er sie lächelnd. „Willkommen. Sind Sie schon allen Mitarbeitern vorgestellt worden?“

Sie nickte. „Ja, Mollie hat mich herumgeführt.“

Er bedankte sich, als Mollie ihm eine Tasse Tee brachte. „Darauf habe ich mich schon gefreut. Am Montagmorgen ist es immer besonders schwer, in Gang zu kommen.“ Er seufzte. „Na, dann wollen wir mal. Kann jemand nachschauen, ob die Laborergebnisse für Mr. Benyon schon da sind? Er wollte heute früh nachfragen.“

Marc drehte sich zu Giselle um. „Ich schlage vor, dass Sie heute bei mir im Sprechzimmer bei den Untersuchungen dabei sind. Dann bekommen Sie schnell einen Eindruck, wie das bei uns so abläuft.“

„Gern“, stimmte sie zu, obwohl sie nicht davon ausgegangen war, ihren ersten Tag sozusagen auf Tuchfühlung mit Marc zu verbringen.

„Maisie, das ist Dr. Howard“, stellte Marc sie der ersten Patientin vor, einer hageren, älteren Frau. „Sie vertritt Dr. Pollard.“

„Ja, ich habe schon gehört, dass er krank ist.“ Sie schaute Giselle an. „Man sagt, Sie kämen von drüben.“

Giselle antwortete nicht. Marc warf ihr einen raschen Blick zu. Hoffentlich würde sie nicht annehmen, im Dorf würde über sie getratscht. Aber die Patientin war schon bei einem anderen Thema. „Geht es Stanley immer noch schlecht, Doktor?“

Giselle unterdrückte ein Lächeln. So familiär und intim war der Umgang zwischen Patienten und Ärzten in ihrem Krankenhaus nicht gewesen.

„Ich fürchte, ja“, antwortete Marc ernst.

Giselle amüsierte sich innerlich, als Maisie fortfuhr. „Dann ist es wohl keine gute Idee, wenn ich ihm eine Fleischpastete backe, oder?“

Marc schüttelte den Kopf. „Das ist sehr nett von Ihnen, aber Stanley isst zurzeit sehr wenig.“

„Ich verstehe. Vielleicht ein anderes Mal.“ Maisie begann mit der Aufzählung ihrer Leiden. Marc hörte ihr ein paar Minuten zu. Schließlich unterbrach er sie. „Die Beschwerden, die Sie schildern, haben offensichtlich alle ihren Ursprung in Ihren Gelenkschmerzen, Maisie. Haben Sie die Medikamente regelmäßig genommen, die ich Ihnen letzte Woche verschrieben habe?“

„Ich … äh … ich glaube schon.“

„Sie müssen sie unbedingt regelmäßig nehmen. Kaufen Sie sich in der Apotheke eine von diesen speziellen Tablettenschachteln mit Tageseinteilung. Dann merken Sie gleich, wenn Sie mal vergessen, eine der Pillen zu nehmen. Außerdem schreibe ich Ihnen eine Überweisung an das Krankenhaus, damit dort Ihre Gelenke geröntgt werden.“ Als sie die Stirn runzelte und ihn fragend ansah, versuchte er sie zu beruhigen. „Das ist heute eine Standarduntersuchung bei älteren Frauen. Also haben Sie keine Angst.“

„Wozu soll das gut sein?“

„Dadurch erkennt man zum Beispiel die ersten Anzeichen von Knochenschwund, von Osteoporose.“

„Und in welches Krankenhaus soll ich gehen?“

„In das Universitätskrankenhaus von Manchester.“

Maisie seufzte und stand langsam auf. „War das alles, Herr Doktor?“

„Nein, ich möchte noch Ihren Blutdruck messen. Schieben Sie bitte Ihren Ärmel hoch, Maisie?“

Als die alte Dame gegangen war, wandte sich Marc Giselle mit einem amüsierten Lachen zu, das seine weißen Zähne sehen ließ. Sein Mund war gut geschnitten, seine Wangenknochen stark ausgeprägt. Unwillkürlich stand ihr Raouls Bild vor Augen, sein schmales, gut aussehendes, aber weit weniger maskulines Gesicht. Die beiden Männer waren so unterschiedlich, als kämen sie von verschiedenen Planeten.

„Maisie hat ihr Herz am rechten Fleck“, sagte Marc. „Aber da alle wissen, dass sie von der Gartenarbeit direkt in die Küche geht und sich nicht lange mit Händewaschen aufhält, vermeidet es jeder möglichst, die Produkte ihrer Kochkünste, die sie freigiebig anbietet, zu genießen.“

Dann wurde er wieder ernst. „Es tut mir leid, dass Ihre Ankunft in unserem Dorf so viel Aufmerksamkeit erregt hat. Aber die Leute meinen es nicht böse. Es ist eben eine kleine Gemeinde, in der jeder sich für den anderen interessiert.“

„Das mag sein“, meinte Giselle, „aber ich gehöre nicht dazu. Und ich lege Wert auf meine Privatsphäre. Sie wissen ja, ich bin nicht ganz freiwillig hergekommen.“

Marc nickte. Sie merkte, dass ihre Antwort ihn enttäuscht hatte. „Sie sagen, Sie wären keine von uns. Aber Sie sind die Tochter Ihres Vaters. Und das hier ist seine Heimat.“

Ihr Gesichtsausdruck wurde weich. „Sie haben recht. Ich glaube, ich brauche einfach noch etwas Zeit, um mich an alles zu gewöhnen. Am Samstag hatte ich ein Gespräch mit der Verkäuferin in der Bäckerei. Stellen Sie sich vor, sie ging mit meinem Vater in eine Klasse und kannte meine Mutter. Das hat mir geholfen, mich nicht mehr ganz so fremd zu fühlen.“

Als die Vormittagssprechstunde zu Ende war, kam Craig zu Marc Bannerman. „Wird Giselle uns auch bei den Hausbesuchen begleiten?“

„Natürlich“, antwortete Marc.

„Dann biete ich an, sie mitzunehmen.“

Marc lachte. „Ich bin sicher, das möchten Sie gern. Aber heute kommt Dr. Howard mit mir. Vielleicht kann sie in ein paar Tagen mit Ihnen fahren.“

„Sehr gern“, meinte Craig. Amüsiert stellte Marc fast, dass Craig aus seinem Interesse an Giselle kein Hehl machte. Er gestand sich ein, dass es auch für ihn ein angenehmer Gedanke war, Giselle bei sich zu haben.

„Na, wie fanden Sie den ersten Vormittag bei uns?“, fragte Marc, als er mit seinem Wagen auf die Straße einbog. „War es schlimmer, als Sie erwartet hatten?“

„Keineswegs. Es ist nur ganz anders als meine bisherige Arbeit im Krankenhaus. Ich habe noch nie Patienten erlebt, die so entspannt waren – und so vertraut mit ihrem Arzt.“

Marc warf einen raschen Blick zu ihr hinüber. Er sah die feine Linie ihres schlanken Halses über dem Kragen ihrer eleganten weißen Seidenbluse, die sie für ihren ersten Tag in der Praxis gewählt hatte. Das erschien Marc etwas zu hochgestochen.

War das hier vielleicht doch nicht der richtige Ort für sie? Hatte er sich gefühlsmäßig dazu verleiten lassen, eine falsche Entscheidung zu treffen?

„Und? Hat Ihnen das gefallen oder nicht?“

Jetzt schaute Giselle überrascht zu ihm hinüber. „Natürlich hat es mir gefallen! Ich fand es bewundernswert, wie Sie das gemacht haben.“

Ihre Worte waren noch nicht verklungen, als Giselle schon bereute, sie ausgesprochen zu haben. Marc konnte alles Mögliche heraushören, wenn er wollte, und nicht nur ihre Bewunderung für ihn als Arzt.

Marc lächelte. „Ich freue mich, dass Ihr erster Arbeitstag Sie nicht enttäuscht hat. Schön, dass Sie bei uns sind. Unsere Patientinnen werden das bald zu schätzen wissen. Sie werden Sie mit offenen Armen empfangen.“

Er hielt vor einem Haus an der Hauptstraße. Bevor sie ausstiegen, erklärte er ihr kurz, was sie erwartete.

„Die Patientin, die wir jetzt besuchen, leidet an dem seltenen Münchhausen-Syndrom. Irene Jackson ist nicht verheiratet, sie lebt allein. Viele Jahre hatte sie ihre Mutter gepflegt, die Parkinson hatte. Seit deren Tod leidet Irene plötzlich an ständig wechselnden Symptomen, aber eine echte Erkrankung habe ich bisher nicht feststellen können.“

Er zog den Zündschlüssel aus dem Schloss. „Ich habe sie ein paarmal zu Tests ins Krankenhaus überwiesen, aber dort hat man auch nichts feststellen können. Sie bildet sich die Krankheiten offensichtlich nur ein und fügt sich manchmal absichtlich selbst Verletzungen zu“.

Besorgt schüttelte er den Kopf. „Eines Tages könnte sie ernstlich krank werden – und dann glaubt ihr keiner. Heute hat sie angerufen, weil ihre Arme und Beine unkontrolliert zittern.“

„Typische Symptome der Parkinsonkrankheit“, meinte Giselle.

„Genau. Ihre Krankheitsbilder wechseln ständig. Das Beste, was ich für Mrs. Jackson tun kann, ist, sie vor überflüssiger Behandlung oder vor Eingriffen zu bewahren. Ich habe ihr schon mehrfach vorgeschlagen, sich mal von einem Psychiater untersuchen zu lassen, aber das lehnt sie ab. Ich glaube, sie will krank sein. Diese eingebildeten Leiden sind, so komisch das klingt, zu ihrem einzigen Lebensinhalt geworden.“

„Das ist sehr traurig.“

„Ja, da haben Sie recht“, stimmte Marc zu.

Bevor sie noch die Eingangstür erreicht hatten, wurde sie aufgerissen. Eine aufgeregte ältere Frau, mager und mit strähnigen Haaren, stand auf der Schwelle.

„Warum stehen Sie so lange da draußen herum?“, rief sie mit schriller Stimme. „Ich muss sofort ins Krankenhaus.“

„Nur nichts überstürzen, Irene, wir müssen uns erst mal ein Bild machen“, meinte Marc Bannerman beruhigend. „Das hier ist übrigens Dr. Howard. Sie arbeitet in unserer Praxis und wird Sie gleich untersuchen.“

„Aber nur, wenn sie mich danach ins Krankenhaus bringen lässt.“

„Wir können erst eine Einweisung veranlassen, wenn wir festgestellt haben, dass es notwendig ist.“

Giselle trat auf die ältere Frau zu und erstickte ihren erneuten Protest im Keim. „Zuerst werde ich mal Ihr Herz abhorchen“, schlug sie vor, „und dann messe ich Ihren Blutdruck.“

Als sie damit fertig war, lächelte sie die Patientin beruhigend an. „Herzschlag und Blutdruck sind in Ordnung“, sagte sie. „Und nun beschreiben Sie mir bitte, was es mit dem Zittern auf sich hat.“

„Beide Arme und Beine zittern“, klagte Mrs. Jackson. „Und wenn Sie nicht bald die Ambulanz anrufen, sind Sie verantwortlich dafür, dass ich sterbe.“

„Ich werde Ihnen zuerst einmal etwas zur Beruhigung geben, dann fühlen Sie sich gleich besser.“

„Aber ich will mich nicht beruhigen“, schluchzte die Patientin. „Ich will im Krankenhaus behandelt werden.“

„Das halte ich nicht für notwendig“, erklärte Giselle entschieden. „Was Sie brauchen, ist etwas Abwechslung. Haben Sie Kontakt mit anderen Leuten?“

„Natürlich nicht. Wer will schon mit jemandem zu tun haben, der ständig krank ist? Wenn Sie mich nicht sofort ins Krankenhaus schicken, werde ich mir etwas antun.“

Giselle schaute zu Marc hinüber, der sich bisher nicht eingemischt hatte. Aus Erfahrung wusste er, dass die Diskussion mit der neurotischen Patientin wieder einmal in einer Sackgasse gelandet war. Er würde also das tun, was er schon mehrere Male getan hatte – sie ins Krankenhaus schaffen lassen.

Dort kannte man sie und wusste, wie mit ihr umzugehen war. Wenn sie Irene Jackson jetzt allein zu Hause ließen, war tatsächlich nicht vorherzusehen, auf welche absurden Ideen sie kommen würde. Nach der Untersuchung im Krankenhaus, das wusste er aus Erfahrung, würde sie ein paar Wochen lang Ruhe geben.

„Also gut, ich lasse einen Wagen kommen“, gab er nach. „Aber Dr. Howard hat völlig recht. Sie sollten mehr unter Leute gehen, Irene, sich etwas Abwechslung gönnen. Dann würden Sie nicht ständig an Ihre Beschwerden denken.“

Irene richtete sich kerzengerade auf und funkelte Marc böse an. „Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, Dr. Bannerman, dass ich eine schwerkranke Frau bin!“

„Ich rufe jetzt die Ambulanz, aber ich fürchte, Sie werden bald für die häufigen Fahrten ins Krankenhaus selbst bezahlen müssen, Irene.“

„Nicht, wenn es mir so schlecht geht wie heute“, schluchzte Mrs. Jackson.

Marc und Giselle warteten ab, bis der Krankenwagen abgefahren war. Dann stiegen sie wieder in Marcs Auto.

„Ich glaube, Irenes Problem ist, dass die lange Krankheit ihrer Mutter sie überfordert hat. Krankheit und Leiden sind zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden. Als ihre Mutter starb, hat Irene beschlossen, jetzt sei sie dran, von anderen Aufmerksamkeit und Fürsorge einzufordern. Natürlich ist ihr das nicht bewusst.“

Giselle nickte. „Ich sah das Britische Medizinlexikon auf ihrer Fensterbank liegen. Daraus holt sie sich wohl ihre Anregungen. Sie ist zu bedauern – und ich konnte leider für meinen ersten weiblichen Patienten nichts tun.“

„Zum Glück sind Patienten wie Irene die Ausnahme“, meinte Marc. „Jetzt haben wir noch zwei Hausbesuche zu machen, dann ist erst einmal Mittagspause.“

Der letzte Besuch hatte sie zu einem Farmer geführt, der weit außerhalb des Dorfes mitten im Moor wohnte. Marc erzählte Giselle, dass Frank Fairbanks es gewesen war, der Amanda nach ihrem Reitunfall tot in einem Entwässerungsgraben gefunden hatte. Frank hatte bei einem Traktorunfall ein Bein verloren. Und Marc fühlte sich verpflichtet, in regelmäßigen Abständen nach ihm zu sehen, auch wenn er nicht um einen Besuch gebeten hatte.

„Es ist schon nach ein Uhr“, sagte Marc, als sie auf dem Rückweg waren. „Was halten Sie davon, wenn wir zusammen irgendwo essen? Ich kenne ein hübsches altes Landgasthaus ganz in der Nähe. Die Küche dort ist ausgezeichnet.“

Giselle antwortete nicht sofort. Marc fragte sich, ob er sie zu sehr unter Druck setzte. Schließlich war es ihr erster Arbeitstag in der Praxis – und er lud sie gleich ein.

Er begriff, dass die Frau, die da so plötzlich in sein Leben getreten war, seine Gedanken in einem Ausmaß beschäftigte, das ihn selbst überraschte. Hatte er sie gebeten, in der Praxis mitzuarbeiten, weil er dringend Unterstützung brauchte – oder wollte er sie nur in seiner Nähe haben?

„Ja, das wäre nett“, stimmte Giselle zu. Marcs Laune besserte sich schlagartig. Sie würden nur Zeit haben für ein Sandwich und einen Kaffee, aber wenigstens würde er sie ein paar Minuten für sich allein haben.

„Erzählen Sie mir von Ihren Kindern“, bat Giselle, als sie sich in dem Gasthaus an einen Tisch nahe bei der Bar gesetzt hatten.

Marc lachte. „Was wollen Sie wissen?“

„Alles. Was sie mögen und was sie nicht mögen. Wie sie in der Schule zurechtkommen …“

„Was das Essen angeht, so ist Tom völlig problemlos. Alice ist schon wählerischer. Sie ist eine hervorragende Schülerin, Tom ist nur Durchschnitt.“

„Die beiden vermissen ihre Mutter bestimmt sehr.“

„Heute nicht mehr so stark wie in der ersten Zeit nach dem Unfall. Kinder finden sich erstaunlicherweise selbst mit so einschneidenden Veränderungen irgendwann ab. Aber ich fürchte, dass solche Erlebnisse aus der Kindheit Spuren hinterlassen, die sie ihr ganzes Leben lang mit sich tragen.“

Er machte eine Pause. „Ich tue alles, was mir möglich ist, um den beiden den Verlust erträglicher zu machen. Meist klappt das auch, aber es gibt auch schlimme Momente. Zum Glück sind Amandas Eltern trotz ihrer eigenen Trauer um den Verlust ihrer Tochter immer für die Kinder da.“

Merkwürdig, dachte Marc, Giselle ist die einzige Frau, die sich mehr für meine Kinder interessiert als für mich. Aber ihre Neugier war verständlich, schließlich hatte sie die beiden schon kennengelernt. Wenn ihre Zeit nicht so knapp bemessen gewesen wäre, hätte er sich gern noch länger mit ihr unterhalten.

Marc bemerkte, wie Giselle den Blick über die Hügelkette und die Moorlandschaft schweifen ließ. „Ganz anders als Paris, nicht wahr?“, fragte er.

Giselle nickte. „Und ob, aber die Landschaft hier hat ihre eigenen Reize. Die Stille überrascht mich zum Beispiel immer noch. Kein Verkehrslärm, kein Flugzeugdonnern in der Nacht. In Paris ist es niemals still. Aber wir hatten das Glück, in einem wundervollen Apartment direkt am Ufer der Seine zu wohnen. Meine Eltern hatten es gekauft, als ich zwei Jahre alt war.“

„Haben Sie Heimweh nach Paris?“

„Anfangs schon. Aber nachdem ich Sie kennengelernt habe, Ihre Patienten und die Verkäuferin in der Bäckerei, die sich an meine Mutter erinnert, ist es leichter für mich.“

Also bin ich nur einer von mehreren, dachte Marc trocken, nicht der Stern am Himmel, der ihren Aufenthalt erleuchtet. Aber wenigstens schloss sie ihn nicht aus. Giselle war die faszinierendste Frau, die ihm seit Jahren begegnet war, und zwar nicht erst seit dem Tod seiner Frau.

Seine Ehe mit Amanda hatte schon längere Zeit nur noch auf dem Papier bestanden. In Wirklichkeit hatten sie nicht zusammen, sondern nebeneinanderher gelebt.

Amanda fuhr schon morgens hinaus zum Reitstall und verbrachte dort den ganzen Tag. Und wenn er spät am Abend nach Hause kam, hatten die Kinder bereits gegessen und gebadet und sich zum Schlafen fertiggemacht. Sein Abendessen stand auf dem Herd oder in der Mikrowelle.

Amanda war fast jeden Abend fort, zu Freunden, zu ihrem Bridgeklub, in den Pub oder wohin auch immer. Er hatte bald aufgehört, sie danach zu fragen.

Schließlich hatte er sich damit abgefunden, dass sie sich nicht mehr viel zu sagen hatten. Um der Kinder willen hätte er seine Ehe nie infrage gestellt. Aber glücklich war er dabei nicht gewesen.

Giselle fühlte sich in Marcs Gegenwart wohl, so wohl, wie bisher noch mit keinem Mann, auch nicht mit Raoul. In seinem Umfeld in Paris war Raoul ihr extravagant und aufregend erschienen, aber seine Reaktion bei ihrem Abschied hatte ihr sämtliche Illusionen genommen. Das Thema Raoul war für sie beendet.

Sie wunderte sich, wie interessant sie ihren ersten Arbeitstag in einer ländlichen Praxis gefunden hatte. Der Umgang mit den Patienten war hier ganz anders als der mit anonymen Kranken in einem großen Hospital.

Sie spürte Marcs Blick auf sich ruhen und lächelte ihn an. „Ich hatte nicht erwartet, dass mich jemand so rasch aus meiner Lethargie aufwecken würde, wie Sie es getan haben.“

„Heißt das, Sie finden uns Dörfler doch nicht todlangweilig?“

„Überhaupt nicht. Ich war es, die Sie gelangweilt haben muss mit meinem Selbstmitleid.“

„Davon kann überhaupt nicht die Rede sein“, widersprach er entschieden. Er stand auf und schob seinen Stuhl zurück. „So leid es mir tut, aber wir müssen jetzt aufbrechen. Das Wartezimmer ist mit Sicherheit schon gut gefüllt.“

4. KAPITEL

In ihrer ersten Woche in der Praxis wurden Giselle einige Dinge klar, die sie bisher falsch gesehen hatte. Zum einen gab es so viel zu tun, dass wohl nie Langeweile aufkommen würde. Und darüber hinaus war ihre Sorge unberechtigt gewesen, eine Landarztpraxis könnte altmodisch und verstaubt sein.

Die kaufmännische Leiterin wurde von zwei Halbtagssekretärinnen unterstützt. Sie kümmerten sich um den gesamten Papierkram, was für die Ärzte eine enorme Entlastung war. Die Empfangsdamen waren freundlich und kompetent. Und mit den beiden Krankenschwestern zusammenzuarbeiten machte richtig Spaß, weil sie so locker waren.

Warum hatte Giselle eigentlich etwas anderes erwartet? Marc hatte zwar neben seiner beruflichen Tätigkeit noch für zwei Kinder zu sorgen, aber er strahlte so viel Energie und Kompetenz aus, dass seine alleinige Verantwortung für die Praxis von niemandem in Zweifel gestellt wurde. Das Team stand uneingeschränkt hinter ihm. Und jeder würde sich bemühen, ihn nicht zu enttäuschen.

Als Giselle an ihrem ersten Tag abends nach Hause kam, fragte ihr Vater besorgt, wie es gelaufen sei. Aber er merkte, dass sie sich langsam mit dem Leben in der Dorfgemeinschaft anzufreunden begann, und war darüber sehr glücklich. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er wusste, dass Giselle keineswegs seinen Enthusiasmus teilte, hier zu leben.

„Recht gut“, antwortete sie. „Zuerst war alles ein bisschen fremd, aber inzwischen fange ich an, es zu mögen.“

„Gott sei Dank!“ Er seufzte erleichtert. „Wenn es dir nicht gefallen hätte, hätte ich vorgeschlagen, dass du bald nach Paris zurückkehrst.“

„Zurück nach Paris?“ Sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht eines Tages, aber nicht in der nächsten Zeit. Ich möchte erst ganz sicher sein, dass es dir gut geht und du hier wieder heimisch geworden bist.“

„Dann vermisst du den geschniegelten Kerl aus dem Kleiderladen also nicht?“

„Nein. Das ist aus und vorbei.“ Giselle wunderte sich, dass bei dieser Antwort Marcs Gesicht vor ihrem geistigen Auge auftauchte – und nicht das von Raoul.

Tom und Alice spielten regelmäßig auf dem Gelände von Abbeyfields, wenn Giselle am späten Nachmittag aus der Praxis nach Hause kam. Ihre Großmutter setzte sie nach der Schule dort ab. Und Marc, der nach der Sprechstunde regelmäßig noch länger in der Praxis blieb, nahm sie später wieder mit.

Giselle freute sich immer, wenn sie ihn sah. Es befriedigte sie, dass die Kinder das Gelände so ausgiebig nutzten, wenn sie schon nicht in dem Haus leben konnten.

Am Freitagnachmittag ihrer ersten Arbeitswoche war jedoch von den Kindern nichts zu sehen. Giselle war enttäuscht. Sie hatte ihnen wie gewöhnlich auf dem Heimweg von der Praxis ein paar Süßigkeiten gekauft. Und normalerweise erwarteten die beiden sie bereits am Zaun. Heute nicht.

Als sie ins Haus ging, fand sie schnell heraus, was passiert war. Alice saß schluchzend in der Küche. Tom stand mit ängstlichem Gesicht daneben. Giselles Vater kramte in dem Erste-Hilfe-Kasten.

„Was ist passiert?“, fragte Giselle.

„Wir saßen auf dem Gartentor und haben dort auf Sie gewartet“, erklärte Tom ihr. „Dann ist Alice heruntergefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen.“

„Ich suche schon nach einem Pflaster“, sagte ihr Vater.

„Lass mich das machen“, meinte Giselle. „Marc kommt jeden Moment, um sie abzuholen. Nicht weinen, mein Schatz“, versuchte sie Alice zu beruhigen. „Ich schaue mir rasch an, was mit deinem Kopf ist. Es tut bestimmt gleich weniger weh.“ Dann fragte sie Tom: „Ist Alice auf Gras gefallen oder auf den harten Boden?“

„Auf den Boden.“

Giselle nickte. Das hatte sie sich schon gedacht, weil die Beule recht groß war.

„Ich werde das mit einem feuchten Tuch kühlen“, sagte sie zu Alice, die schon weniger heftig schluchzte als vor ein paar Minuten. „Gleich kommt dein Dad.“ Sie nahm Alice auf die Knie und wiegte sie tröstend.

Dann klingelte es an der Haustür. Philip Howard öffnete, und sie hörte ihn sagen: „Giselle und die Kinder sind in der Küche. Alice ist hingefallen und hat sich den Kopf gestoßen.“

Als Marc in die Küche kam, hielt er den Atem an. Seine Tochter saß auf Giselles Schoß, lutschte am Daumen und hatte den Kopf voller Vertrauen an Giselles Schulter gelegt, während diese den Hinterkopf der Kleinen mit einem feuchten Tuch kühlte.

Er hatte erwartet, Alice würde sich Trost suchend in seine Arme stürzen, aber sie blieb auf Giselles Schoß sitzen. Als er sie fragte, was passiert sei, kuschelte sie sich noch enger an sie.

Giselles Schilderung des Unfalls klang nebensächlich und harmlos, aber mit den Augen gab sie Marc einen Hinweis, der ihre Besorgnis zeigte. Als Marc das feuchte Tuch anhob, verstand er, was sie meinte. Die Schwellung sah böse aus. Er griff den lockeren Ton auf, um das kleine Mädchen nicht zu beunruhigen. „Was meinst du, sollen wir ins Krankenhaus fahren? Die Ärzte dort sorgen bestimmt dafür, dass du dich wieder besser fühlst.“

„Nein, ich will nicht ins Krankenhaus.“

„Auch nicht, wenn Giselle mitkommt?“

Alice drehte ihren Kopf und sah sie fragend an. Giselle lächelte. „Wenn du möchtest, fahre ich gern mit.“

„Also gut, Daddy …“

„Dann wollen wir gleich los“, entschied Marc. Giselle behielt Alice auf dem Arm, und Marc griff nach Toms Hand, während sie zu dem Wagen gingen.

„Denken Sie an das Gleiche wie ich?“, fragte Marc leise, als sie kurze Zeit später vor dem Krankenhaus ankamen.

„Hämatom. Die Schwellung ist weich und schwammig. Genaueres kann man nur durch Röntgen oder Computertomografie feststellen.“

Marc nickte. Er sah blass aus. Giselle konnte seine Angst nachempfinden. Er hatte schon seine Frau bei einem Unfall verloren. Nicht auszudenken, was es für ihn bedeuten würde, wenn seiner Tochter etwas zustieße.

Er nahm ihr Alice ab und folgte der Krankenschwester eilig auf die Notfallstation. Giselle blieb mit Tom im Warteraum. Sie war froh, dass sie sich nützlich machen konnte, aber würde Marc nicht meinen, sie mische sich zu viel in seine Familienangelegenheiten ein?

„Soll ich Ihre Schwiegermutter anrufen?“, rief sie ihm nach, bevor er durch die Tür verschwand.

„Ja, bitte. Sie wird sich schon wundern, warum wir nicht zum Abendessen erschienen sind. Tom hat die Nummer.“

Margaret Pollard war erschrocken, als Giselle ihr am Telefon schilderte, was vorgefallen war. Am Schluss bedankte sie sich und fragte sie: „Wie ist Ihr Name, bitte? Ich habe ihn nicht verstanden.“

„Giselle Howard. Ich bin Ärztin und arbeite als Aushilfe in der Praxis, bis Ihr Mann wieder gesund ist.“

„Ich verstehe.“ Marcs Schwiegermutter hatte also nichts davon gewusst, dass Marc Giselle engagiert hatte. Vielleicht war sie mit ihrem kranken Mann zu beschäftigt gewesen, als dass der Dorfklatsch bis zu ihr vorgedrungen wäre. Jedenfalls schien Giselle für Marc keine so wichtige Rolle zu spielen, wie sie gehofft hatte, wenn er sie gegenüber seiner Schwiegermutter nicht erwähnt hatte, die er immerhin täglich sah.

Marc kam mit Alice in den Warteraum zurück. Es würde noch ein paar Minuten dauern, bis die Ergebnisse vorlagen. Alice schien ein wenig benommen. Tom schaute sich aufmerksam um, betrachtete die medizinischen Gerätschaften, die ausgestellt waren, und musterte neugierig die Ärzte und Krankenschwestern, die geschäftig hin und her eilten. Marc hielt Alices kleine Hand und versuchte, sie ein wenig aufzumuntern.

Am liebsten wäre Giselle zu ihm gegangen, um ihn zu trösten und ihn in den Arm zu nehmen, wie er Alice hielt. Aber dazu kannten sie sich nicht gut genug. Irgendwie schien er in düsteren Gedanken versunken zu sein und war sich nicht einmal bewusst, dass sie da war. Plötzlich aber schaute er auf und sah sie an. „Danke, Giselle, dass Sie bei uns geblieben sind.“

„Ich möchte in diesem Moment nirgendwo anders sein“, antwortete sie leise. „Wenn ich noch etwas für Sie, Alice oder Tom tun kann, sagen Sie es einfach.“

In diesem Moment kam der Stationsarzt auf sie zu. Er lächelte. „Wollen Sie zuerst die gute oder die schlechte Nachricht hören?“

Marc und Giselle sahen ihn wortlos fragend an.

„Also, keine Blutungen, kein Schädelbruch, auch kein Schädeltrauma“, erklärte er kurz. „Aber es war gut, dass Sie Alice gleich hergebracht haben. Ich nehme an, in zwei, drei Tagen ist sie wieder völlig in Ordnung.“

Marc sah erleichtert aus. Trotzdem fragte er: „Und warum ist sie so benommen?“

„Sie und Ihre Frau“, sagte der Arzt mit einem Seitenblick auf Giselle, „kennen Ihre Tochter doch am besten. Ich nehme an, es ist eine Art Schockreaktion. Morgen früh, wenn sie ausgeschlafen ist, sollte das vorbei sein.“

Giselle war rot geworden, weil er sie für Alices Mutter hielt. Und Marc hatte es nicht richtiggestellt. Auch auf der Rückfahrt zum Dorf kam er nicht darauf zu sprechen. Er sagte nur plötzlich, er habe richtigen Hunger.

„Margaret wartet schon ziemlich lange mit dem Abendessen auf uns. Was hat sie gesagt, als Sie anriefen?“

„Sie war sehr aufgeregt und fragte mich, wer ich sei. Ich habe es ihr erklärt.“

Als Marc vor Abbeyfields anhielt, war Alice schon wieder recht munter. „Ich verspreche dir, dass ich mich nie mehr auf das Tor setze, Giselle“, meinte sie.

„Das ist gut. Dein Vater hat sich große Sorgen um dich gemacht, Alice.“

„Hast du dir auch Sorgen gemacht?“, wollte die Kleine wissen.

„Na, und ob“, versicherte Giselle mit Nachdruck. „Ich war schon beunruhigt, als ich nach Hause kam und euch nicht auf der Wiese sah. Aber es ist schon spät, ihr müsstet längst im Bett sein. Deshalb wünsche ich euch jetzt eine gute Nacht.“

Marc nickte ihr freundlich zu. „Wir sehen uns dann am Montag, Giselle.“

„Ich würde Ihnen gern die Sprechstunde am Samstag abnehmen. Dann können Sie sich um die Kinder kümmern.“

„Meinen Sie, dass Sie das allein schaffen?“, fragte er. „Oder soll ich Craig Bescheid sagen, dass er Ihnen hilft?“

„Das ist nicht nötig. Es sind ja nur die paar Stunden bis zum Mittag.“ Sie wollte lieber nicht mit dem jungen Assistenzarzt allein in der Praxis sein, der so auffällig an ihr interessiert zu sein schien. „Außerdem ist Mollie ja da.“

„Dann nehme ich Ihr Angebot gerne an.“ Zum ersten Mal, seit er Alice mit der Beule am Kopf gesehen hatte, lächelte er. „Vielleicht schaue ich mal kurz vorbei.“ Er winkte Giselles Vater zu, der in der offenen Haustür stand, und fuhr los.

„Ihr habt Alice wieder mitgebracht? Also ist es nichts Ernstes?“

„Gott sei Dank nicht“, antwortete Giselle, als sie mit ihrem Vater ins Haus ging. „Die Tests und Röntgenaufnahmen haben gezeigt, dass es nur eine starke Beule ist.“

„Marc wird sehr erleichtert sein. Als er vorhin ankam, schien er äußerst besorgt um Alice.“

„Er hat seine Frau bei einem Reitunfall verloren“, erklärte Giselle. „Verständlich, dass ihn der Sturz von Alice erschreckt hat.“

„Oh, das wusste ich nicht. Hat er es dir erzählt?“

„Ja. Übrigens, im Krankenhaus hielt mich der Stationsarzt für Alices Mutter.“

„Tatsächlich? Jetzt schon?“

„Hör bloß auf, so zu reden, Papa. Das ist nicht witzig.“ Ärgerlich schob Giselle ein Fertiggericht in den Mikrowellenofen.

„Schon gut“, meinte ihr Vater beschwichtigend. „Aber ich sage dir, wenn der gute Doktor noch nicht auf die Idee gekommen ist, du wärst die richtige Stiefmutter für seine Kinder – die kleine Alice ist es längst.“

„Unsinn!“, entgegnete Giselle scharf. „Und wenn, dann würde ich alles tun, um die beiden schnellstmöglich von dieser Idee wieder abzubringen.“

Marc saß in einem bequemen Liegestuhl in seinem Garten. Die Kinder waren schnell eingeschlafen, und er dachte noch einmal über die aufregenden Ereignisse der letzten Stunden nach.

Er war froh, dass Alice in ihrem eigenen Bett lag und nicht im Krankenhaus. Wieder sah er das Bild vor sich, wie sie sich vertrauensvoll und Schutz suchend an Giselle gekuschelt hatte.

Er war ehrlich genug zuzugeben, dass er Giselle seit ihrer Ankunft im Dorf ziemlich unter Druck gesetzt hatte. Und jetzt hatte er sie auch noch in die Sorge um seine Kinder mit hineingezogen.

Als der Stationsarzt im Krankenhaus davon ausging, Giselle sei Alices Mutter, hatte er nicht widersprochen, sondern so getan, als habe er es nicht gehört. Er wusste, dass sie es nicht gern hatte, wenn über sie geredet wurde. Und jeder Versuch einer Erklärung hätte noch mehr Aufmerksamkeit erregt. Aber es war nicht so, dass ihm die Idee nicht gefallen hätte.

Als die Sonne hinter der Hügelkette unterging, stand er auf und reckte sich. Er wusste, er würde in dieser Nacht nicht gut schlafen, weil ihm so viele Gedanken durch den Kopf gingen. Bevor er in sein Schlafzimmer ging, schaute er noch einmal nach seinen Kindern.

Wie er befürchtet hatte, fand er trotz seiner Müdigkeit keinen Schlaf. Schließlich stand er auf und ging zum Fenster hinüber.

In der Ferne konnte er die markante Silhouette von Abbeyfields im Mondlicht erkennen. Er wusste genau, was der Grund für seine Schlaflosigkeit war – der befand sich in Abbeyfields. Er sehnte sich nach Giselle, so sehr, wie er sich noch nie nach einer Frau gesehnt hatte.

Es erschien ihm, als habe der Himmel sie gesandt. Um ihn daran zu erinnern, was schon so lange in seinem Leben fehlte.

Bevor er Giselle getroffen hatte, war sein Leben in sehr ruhigen Bahnen verlaufen. Manchmal hatte er daran gedacht, irgendwann einmal wieder zu heiraten. Aber er hatte keine Eile verspürt, sich aktiv um eine neue Beziehung zu bemühen.

Jetzt wusste er, warum. Er hatte auf Giselle gewartet. Was sollte er tun? Sollte er sie über seine Gefühle aufklären, obwohl sie sich erst seit kurzer Zeit kannten, und damit einen Korb riskieren? Oder sollte er abwarten und sich vor Sehnsucht nach ihr verzehren?

Es hatte ihn gefreut, dass sie von sich aus angeboten hatte, die Sprechstunde am Samstagvormittag zu übernehmen. Es war ein Schritt zu mehr Vertraulichkeit. Aber das war rein beruflich. Im Moment war ihre gemeinsame Arbeit nicht das, was ihn vorrangig interessierte. Er befürchtete, Giselle würde in dem Moment, wo sie erfuhr, was er dachte und fühlte, sofort ihre Schutzmauer aufrichten.

Als Giselle am Samstagmorgen in der Praxis ankam, saß Mollie bereits hinter dem Empfangstresen und lächelte sie an.

„Sie haben heute Morgen die Sprechstunde übernommen, damit Dr. Bannerman sich um seine Tochter kümmern kann, nicht wahr?“, fragte Mollie.

„So ist es“, antwortete Giselle knapp. Die Buschtrommeln im Dorf arbeiteten sehr effizient.

„Geht es Alice wieder gut?“, wollte Mollie wissen.

„Ja. Es ist nur eine Beule. Beim Röntgen wurde nichts festgestellt.“

„Gott sei Dank. Für ihren Vater war es schon schwer genug, seine Frau zu verlieren.“

„Ja, das war ein schwerer Schlag für die drei“, murmelte Giselle. Sie war sich nicht sicher, ob sie noch mehr Einzelheiten aus Marcs Familienleben hören wollte, aber sie hatte wohl keine Wahl.

„Seine Frau war nie zu Hause“, plauderte Mollie weiter. „Immer ritt sie durch die Gegend, ganz auf hohem Ross, auch in ihrem Benehmen. Man hätte fast meinen können, sie trainiere für die Olympischen Spiele. Amandas Eltern, Margaret und Stanley, sind angesehene Leute in der Gemeinde. Und sie waren nach Amandas Tod für Dr. Bannerman und die Kinder eine wirklich große Hilfe.“

Die Tür ging auf, und der erste Patient kam herein. Giselle nutzte die Gelegenheit, um Mollis Mitteilungsdrang zu entkommen, und ging in ihr Sprechzimmer. Rasch las sie den Patientenbericht durch, den Mollie auf ihren Schreibtisch gelegt hatte.

Trevor Kershaw kam herein. Er war stämmig, hatte klare Augen und eine gesunde Gesichtsfarbe. Zweifellos machte er den Eindruck eines Mannes, der sich vorwiegend im Freien aufhielt.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Giselle.

„Ich bin Verwalter auf einem großen Gut oben in den Hügeln“, erklärte er. „Vor ein paar Wochen wurde ich angeschossen.“

„Angeschossen?“, fragte Giselle ungläubig.

„Es war ein Unfall“, erklärte Mr. Kershaw. „Sie sind fremd hier, da können Sie nicht wissen, dass am zwölften August in den Hochmooren die Jagd auf Graugänse beginnt. Mein Chef lädt dazu immer ein paar Freunde aus der Stadt ein. Leider können nicht alle besonders gut mit einem Gewehr umgehen“, meinte er trocken. „Jedenfalls bekam ich einen Schuss ins Bein ab.“

„Wie wurde die Verletzung behandelt?“

„Im Krankenhaus hat man die Schrotkugeln entfernt. Das war’s. Aber seitdem habe ich eigentlich ununterbrochen Schmerzen. Ich frage mich, ob ich noch einmal unters Messer muss. Was meinen Sie?“

„Ich schaue mir das Bein mal an.“

Mr. Kershaw zog das Hosenbein hoch und die Socke herunter.

„Es sieht auf den ersten Blick gut aus“, stellte Giselle fest. „Keine Anzeichen für eine Entzündung. Scheint so, als ob keine Schrotkörner übersehen wurden. Das Beste wird sein, wenn das Bein noch einmal geröntgt wird. Ich schreibe Ihnen eine Überweisung aus. Übrigens – Sie sollten keine festen Strümpfe über der kaum verheilten Wunde tragen und zusätzlich noch die Hose darüberziehen. Versuchen Sie mal, ein paar Tage Shorts zu tragen und keine Socken. Warm genug ist es ja.“

Als Mr. Kershaw gegangen war, hörte sie Marcs Stimme in der Eingangshalle. Er stand mit den beiden Kindern bei Mollie und redete mit ihr.

„Sie sollten doch mal ausspannen“, meinte Giselle vorwurfsvoll. Sie schaute Alice an, die strahlte, als sie sie erblickte. „Und wie geht es meiner Kleinen heute Morgen?“, fragte sie. „Ist die Beule schon kleiner geworden?“

„Ja … hier, du kannst es selbst sehen“, sagte das Mädchen und zeigte auf ihren Hinterkopf.

Marc starrte Giselle an. Ihr Anblick machte ihn sprachlos. Die ganze Nacht hatte er an sie denken müssen. Er wusste, er war in die schlanke braunhaarige junge Frau verliebt. Und er musste all seine Willenskraft aufwenden, um sie nicht in die Arme zu nehmen und zu küssen.

Tom brannte darauf, seine Neuigkeit loszuwerden.

„Ich will auch Arzt werden, wenn ich groß bin“, platzte er heraus. „Gestern im Krankenhaus hat es mir gefallen. All die Instrumente und Apparate und die Ärzte in ihren weißen Kitteln. Und Blut zu sehen macht mir nichts aus.“

Marc wandte widerwillig den Blick von Giselle ab und sah Tom an. „Warten wir erst mal ab, wie dein Schulabschluss wird. Dann sehen wir weiter.“

„Meine Entscheidung steht fest“, erklärte Tom. „Im Fernsehen habe ich auch oft gesehen, was Ärzte machen.“

„Ich will aber nicht Krankenschwester werden“, verkündete Alice. „Lieber eine Ballerina.“

Giselle musste lachen.

„So, dann sind also die zukünftigen Berufskarrieren beschlossene Sache“, meinte Marc grinsend. Dann wurde er wieder ernst. „Wie läuft es hier, Giselle?“

„Gut. Es war erst ein einziger Patient da. Ein Mann namens Trevor Kershaw, der angeschossen wurde.“

„Ein Jagdunfall?“

„Ja.“

„Er ist Verwalter auf einem der großen Landgüter. Was ist passiert?“

„Er sagt, bei der Gänsejagd wurde er aus Versehen getroffen.“

Marc nickte. „Das passiert leider jedes Jahr. Meistens sind es die Treiber, die etwas abbekommen. Sie scheuchen die Vögel aus dem hohen Gras auf und treiben sie den Jägern zu.“

Alice zupfte ihren Vater an der Jacke. „Können wir auf der Wiese hinter Giselles Haus spielen, Daddy?“

„Heute nicht, Alice. Nach deinem Sturz gestern solltest du vorsichtig sein. Was haltet ihr davon, wenn wir heute Nachmittag ein Picknick machen?“

„Oh, ja“, riefen beide Kinder begeistert. Marc sah Giselle an. „Ich weiß nicht, ob Sie Lust haben, uns Gesellschaft zu leisten? Ich werde gleich bei Jenny in der Bäckerei vorbeigehen und einen Picknickkorb bestellen. Das ist eine Spezialität von ihr.“

Giselle fühlte, wie sie errötete. Am liebsten hätte sofort zugestimmt, aber sie zögerte. Sie dachte daran, worüber sie am Abend zuvor gegrübelt hatte. Es war verlockend, mit Marc und den Kindern einen Ausflug zu machen, aber sie hatte nicht vor, sich immer tiefer in diese Beziehung verstricken zu lassen. Sie wollte hier nicht zu sehr Wurzeln schlagen, denn irgendwann würde sie nach Paris zurückkehren. Und das Letzte, was sie beabsichtigte, war, die drei zu enttäuschen.

Marc wünschte nach einem Blick auf ihr Gesicht, er hätte sie nicht gefragt. Er hatte impulsiv gehandelt, weil er gern mit ihr zusammen sein wollte. Aber er war sicher, sie würde ablehnen.

„Schon gut“, meinte er rasch. „War nur eine Frage. Sie haben sicher schon etwas anderes vor, nehme ich an.“

„Ja, das stimmt“, antwortete sie, obwohl es natürlich eine Lüge war. Als sie sah, dass Alice Tränen der Enttäuschung in die Augen stiegen, hätte sie fast ihren Entschluss geändert. Aber Marc nahm seine Tochter in den Arm und tröstete sie. „Giselle wird bestimmt ein anderes Mal mit uns kommen.“

„Ja, das verspreche ich“, sagte sie unsicher.

Als ein neuer Patient hereinkam, verabschiedete sich Marc. „Wir gehen dann. Ein schönes Wochenende, Giselle.“

Giselle fühlte sich ausgesprochen unwohl. Alice hatte geweint, und sie selbst hatte gelogen. Am liebsten hätte sie der Kleinen gesagt, sie würde doch mitkommen. Aber sie hatte die Gelegenheit verpasst. Und jetzt lag ein langes Wochenende wie ein Albtraum vor ihr, denn sie wusste, sie würde an nichts anderes denken können.

Am Sonntagabend hielt sie es nicht länger aus und ging zu Marcs Haus. Sie hatte das Gefühl, sie müsste ihm erklären, warum sie seine Einladung abgelehnt hatte.

Als er die Tür öffnete, schaute er sie erstaunt an. „Bitte, kommen Sie herein. Ist etwas passiert?“

Giselle schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Ich finde nur, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.“

„Ich verstehe nicht.“ Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr er fort: „Kommen Sie doch kurz mit in die Küche. Ich bin gerade beim Bügeln, das Eisen ist noch an.“

Sie lachte. „Kann ich Ihnen vielleicht dabei helfen?“

„Nicht nötig“, meinte er. „Ich werde ganz gut damit fertig.“

„Das bezweifle ich nicht“, entgegnete Giselle lächelnd.

„Ich wollte ohnehin eine Pause machen und einen Kaffee trinken. Möchten Sie auch einen? Und dann erzählen Sie mir, warum sie gekommen sind. Die Kinder schlafen schon.“

Eigentlich wollte sie keinen Kaffee. Sie wollte nur eins – so rasch wie möglich sagen, was sie sich vorgenommen hatte, und dann wieder gehen. Aber sie hielt es für unhöflich, sein Angebot abzulehnen. Also nickte sie zustimmend.

„Wollen wir uns in den Garten setzen?“, fragte Marc.

„Ja, gern.“ Sie folgte ihm nach draußen.

Beide tranken schweigend ihren Kaffee. Dann stellte Marc seine Tasse ab. „Worum geht’s?“

„Ich wollte keine lange Rede halten“, begann Giselle. „Aber ich möchte Ihnen erklären, warum ich Ihre Einladung zu dem Picknick abgelehnt habe.“

„Augenblick, Giselle“, unterbrach Marc sie. „Sie brauchen mir gar nichts zu erklären. Wir – das heißt ich – haben Sie bedrängt. Das tut mir leid.“

„Das dürfen Sie nicht sagen, Marc. Sie haben mehr dafür getan, meine trübe Stimmung aufzuheitern, als irgendjemand anders. Es ist nur so, dass ich irgendwann nach Paris zurück möchte. Und wenn die Kinder sich zu sehr an mich binden, würde ich sie furchtbar enttäuschen. Das will ich auf keinen Fall.“

„Das heißt also, wir haben Sie letztendlich nicht davon überzeugen können, hierzubleiben.“

„Ich werde nicht eher fortgehen, bis ich sicher bin, dass mein Vater hier ohne mich auskommt.“ Bittend sah sie Marc an. „Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür. Aber ich habe mein ganzes Leben in Paris verbracht. Vermutlich würden Sie auch nicht gern von hier weggehen und ganz woanders leben wollen.“

Er war versucht zu antworten, dass er mit ihr zusammen auch zum Nordpol gehen würde, wenn sie es wollte. Aber sie bat ihn so inständig darum, ihre Lage zu verstehen, dass er genau das tat. Und er verfluchte sich dafür.

Giselle war jung und attraktiv. Sie hatte ihm eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie lediglich auf der Durchreise war. Und er war ein Witwer mit zwei Kindern, die er viel zu sehr liebte, als dass er sie aus der gewohnten Umgebung herausreißen wollte.

„Sollten die Kinder vielleicht besser nicht mehr auf Ihrem Grundstück spielen?“, fragte er.

„Nein, so habe ich das auf keinen Fall gemeint“, protestierte Giselle. „Natürlich sind sie weiterhin jederzeit willkommen.“

„Also wollen Sie den Kontakt nicht ganz abbrechen?“

„Nein, ganz und gar nicht! Und hören Sie auf, mir das Gefühl zu geben, ich würde Kinder nicht mögen. Ich habe nur versucht, Ihnen zu erklären, wie meine Lebensplanung aussieht.“

Sie hat vermieden, hinzuzufügen, dass ich darin keine Rolle spiele, dachte Marc. Aber er war sich darüber klar, dass sie genau das meinte.

Marc irrte sich. Während sie sich anschauten, begriff Giselle, dass sie drauf und dran war, sich in diesen großen blonden Mann zu verlieben. Im Vergleich zu ihm war Raoul ein Mann, der sich nur um einen einzigen Menschen kümmerte – um sich selbst. Dieser Dorfarzt, der ihr gegenübersaß, tat genau das Gegenteil. Er kümmerte sich um jeden, der seine Hilfe brauchte, sie eingeschlossen.

Marc seufzte. „Ich verstehe, warum Sie die Kinder ein wenig mehr auf Distanz halten wollen. Aber wie ist das mit mir? Durch unsere Arbeit in der Praxis werden wir Tag für Tag miteinander zu tun haben.“

Giselle fühlte sich unbehaglich. Sie hatte ihn vor den Kopf gestoßen, das war klar. Das hatte sie nicht gewollt, aber schließlich konnte er nicht ahnen, wie stark sie sich längst zu ihm hingezogen fühlte. Und dass dieser Gedanke sie mehr als beunruhigte.

Sie stand langsam auf. „Ich sollte jetzt gehen, Marc. Es war wohl keine gute Idee, heute Abend herzukommen.“

Marc stand ebenfalls auf und blieb dicht vor ihr stehen. „Ist es das, wovor Sie Angst haben, Giselle?“ Er zog sie in seine Arme, beugte sich hinunter und küsste sie leicht auf den Mund. Als sie vor Überraschung erstarrte, fragte er: „Oder vielleicht davor?“

Er küsste sie noch einmal, aber dieses Mal nicht sanft und zurückhaltend, sondern hart und fordernd. Giselles Herzschlag hatte sich von einer Sekunde zur anderen beschleunigt. Ihr wurde fast schwindelig. Als er sie losließ, wäre sie um ein Haar getaumelt.

„Tut mir leid“, stieß Marc heiser hervor. „Ich nehme an, damit habe ich alles noch schlimmer gemacht.“

Giselle antwortete nicht. Sie nahm ihr Jackett, ging zur Tür und trat hinaus in die Nacht.

5. KAPITEL

Als Giselle nach Abbeyfields zurückkam, war ihr Vater schon schlafen gegangen. Sie war allein in dem großen Wohnzimmer, kickte die Schuhe von den Füßen und legte sich bequem auf die Couch. Nachdenklich schaute sie zur Decke empor.

Warum hatte er das getan? Sie hatte ihm doch nur Minuten zuvor erklärt, dass sie nicht auf Dauer in dem Dorf bleiben wollte. Und er schien genau verstanden zu haben, was sie damit meinte. Doch dann hatte er die ganze Unterhaltung mit einem Schlag gegenstandslos gemacht. Besser gesagt, mit einem Kuss – und was für ein Kuss!

Hatte er ihre Reaktion testen wollen? Hatte er sie herausfordern wollen? Sie fühlte sich total verunsichert. Wollte er seine männliche Ausstrahlung – und davon besaß er mehr als genug – dafür einsetzen, sie zum Bleiben zu bewegen? Zum einen brauchte er sie in der Praxis. Aber sie war sicher nicht die einzige Aushilfe, die er bekommen konnte, wenn er sich nur darum bemühte.

Sie runzelte die Stirn. Noch Stunden hätte sie so liegen und vor sich hingrübeln können, ohne schlauer zu werden. Das Beste würde sein, sie wahrte ab Montagmorgen mehr Distanz zu Marc.

Eine andere Frage war, ob sie nicht besser die Arbeit in der Praxis so bald wie möglich beenden sollte. Aber sowohl die Arbeit dort wie auch das kleine Team, das sie so freundlich aufgenommen hatte, gefielen ihr. Warum sollte sie die Flucht ergreifen?

Giselle ging hinauf in ihr Schlafzimmer. In dem Moment, als sie sich unter die Decke kuschelte, waren plötzlich alle Zweifel und Fragen wie weggeblasen. Sie konnte nur noch daran denken, wie sie in Marcs Armen gelegen hatte. Raoul hatte sie nie so geküsst. Bei ihm hatte sie sich nie so begehrt und behütet gefühlt.

Sollte sie ausgerechnet in diesem kleinen Dorf das finden, wovon sie immer geträumt hatte? Nein, sie durfte in den einen Kuss nicht zu viel hineinlegen. Ein einziger Kuss durfte sie nicht dazu bringen, alle ihre Pläne über den Haufen zu werfen.

Sie drehte sich um und fiel dann in einen unruhigen Schlaf.

Marc versuchte nicht, Giselle aufzuhalten, als sie ging. Er konnte nicht begreifen, wieso er sich dazu hatte hinreißen lassen, sie zu küssen. Sie war als Gast in sein Haus gekommen – und er hatte sich benommen wie ein Halbstarker.

Was war aus dem zurückhaltenden Witwer geworden, der seit Langem beschlossen hatte, sich Frauen gegenüber sehr vorsichtig zu verhalten? Giselle hatte ihm gerade erklärt, sie habe nicht die Absicht, in Mittelengland zu bleiben, sondern bei der ersten Gelegenheit nach Paris zurückzukehren. Und dann hatte er sie gegen ihren Willen geküsst, als ob er sie zwingen wollte, das Gleiche zu fühlen wie er selbst.

Es würde ihn nicht überraschen, wenn Giselle am Montagmorgen nicht in die Praxis käme. Das wäre ganz allein seine Schuld. Aber er war verliebt, zum ersten Mal in seinem Leben richtig verliebt.

Marc kam am Montag als Letzter in die Praxis, weil er praktisch die ganze Nacht nicht geschlafen und dann den Wecker überhört hatte. In aller Eile hatte er das Frühstück bereitet und die Kinder zur Schule gebracht.

Am Empfangstisch war niemand zu sehen, aber das Wartezimmer war voll. Er sah, wie ein Patient in Craigs Sprechzimmer ging. Die Tür zu Marcs Sprechzimmer war verschlossen. Er stöhnte. Das hatte er erwartet – Giselle war nicht erschienen.

Plötzlich ging die Tür auf – und da war sie. Giselle verabschiedete einen Patienten und bat den nächsten herein.

„Wir müssen miteinander reden“, sagte er schnell.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das müssen wir nicht. Reden führt bei Ihnen zu nichts, das ist mir gestern Abend klar geworden.“

„Ich möchte Ihnen aber erklären …“

„Es gibt nichts zu erklären. Lassen sie mich einfach meine Arbeit machen.“ Sie wandte sich an den neuen Patienten. „Kommen Sie herein, Mrs. Pritchard“, bat sie. „Was kann ich für Sie tun?“

Nach der Vormittagssprechstunde fragte Marc Giselle: „Keine Sorge, es ist rein beruflich. Ich hätte gerne, dass Sie mich wie geplant auf meinen Hausbesuchen begleiten. Einverstanden?“

„Wie Sie meinen.“

Autor

Abigail Gordon
Abigail Gordon ist verwitwet und lebt allein in einem Dorf nahe der englischen Landschaft Pennines, deren Berggipfelkette auch das „Rückgrat Englands“ genannt wird.
Abigail Gordon hat sich besonders mit gefühlvollen Arztromanen einen Namen gemacht, in denen die Schauplätze meistens Krankenhäuser und Arztpraxen sind.
Schon immer war Abigail Gordon ein Fan von...
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