Und plötzlich kamst du ...

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Wieder in Swallowbrook! Ruby freut sich über die Rückkehr in ihre Heimat. Einzig Dr. Hugo Lawrence macht ihr Sorgen. Ihr Kollegescheint ein einsamer Wolf zu sein - dazuein so attraktiver, dass Ruby sich fragt, wie sie täglich Seite an Seite mit ihm arbeiten soll …


  • Erscheinungstag 02.01.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733745431
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Als Hugo Lawrence in die Einfahrt des Hauses einbog, in dem er die letzten anderthalb Jahre als Gast gewohnt hatte, fühlte es sich seltsam an, dass jetzt er der Eigentümer war.

Das große graue Steinhaus, das Lake’s Rise hieß, lag auf einer kleinen Anhöhe oberhalb eines der größten Seen in dieser Gegend und hatte vorher seiner verwitweten Schwester Patrice und ihren zwei kleinen Töchtern gehört.

Achtzehn Monate zuvor hatte Patrice ihren Mann Warren durch einen nicht diagnostizierten Herzfehler verloren. Völlig überwältigt von ihrem Schmerz, war sie absolut nicht imstande gewesen, die Situation zu meistern. Daher war Hugo vor allem der Kinder wegen von einer allgemeinärztlichen Praxis in Südengland hierher nach Swallowbrook gezogen, um eine ähnliche Arbeitsstelle anzunehmen. Auf diese Weise konnte er die trauernde Familie am besten unterstützen.

Das tägliche Zusammenleben mit ihnen, während er versucht hatte, so gut es ging Trost zu spenden und mit ihnen gemeinsam den Alltag zu bewältigen, war unglaublich anstrengend gewesen. Und es hatte ihm gezeigt, wie viel Schmerz und Kummer entstehen konnte, wenn man zu sehr liebte.

Hugo und Patrice hatten ihre Eltern schon im frühen Teenageralter verloren, und als der Ältere hatte Hugo sich immer für seine jüngere Schwester verantwortlich gefühlt. Ihre glückliche Ehe hatte ihm eine fünfjährige Pause von diesem erdrückenden Verantwortungsgefühl gegönnt. Jetzt, durch ihren Umzug nach Kanada, konnte er endlich wieder freier atmen. Natürlich bereute er es nicht, ihr dabei geholfen zu haben, wieder auf die Beine zu kommen. Aber jetzt freute sie sich auf einen Neuanfang in einem neuen Land und er auf ein eigenständiges Leben in einem eigenen Heim.

Als Patrice das Haus loswerden wollte, hatte er beschlossen, es zu kaufen. Hugo liebte seine Arbeit und kam gut mit den beiden anderen Ärzten in der Praxis klar. Außerdem war es ein sehr attraktives Grundstück. Vor allem jedoch hatte ihn der atemberaubend schöne See am Fuß der hoch aufragenden Berge, die so viele Wanderer und Kletterer anlockten, in seinen Bann gezogen.

Nun konnte er es gar nicht abwarten, die Tür aufzuschließen, hineinzugehen und zu feiern, dass er ohne jegliche Verpflichtungen und Swallowbrook sein neues Zuhause war.

Duschen, umziehen und dann ein gutes Essen bei einer Flasche Wein, das hatte Hugo sich für den heutigen Abend versprochen. Danach vielleicht noch ein interessantes Buch oder ein bisschen fernsehen, und um den Abend abzurunden, ein kleiner Spaziergang zum Dorfpub „The Mallard“ für eine gemütliche Runde mit Freunden. Und schließlich ins Bett in dem herrlich großen Schlafzimmer, ohne sich um irgendjemanden Sorgen machen zu müssen.

Zuerst wollte er jedoch das Zeug ausladen, das er aus seiner früheren Wohnung im Süden geholt hatte. Die größeren Teile sollten zunächst in der Garage untergebracht werden. Hugo öffnete gerade die Heckklappe, als eine Frauenstimme ihn unten von der Einfahrt her ansprach.

Er blickte hoch. Obwohl es schon dämmerte, sah er die Frau im Licht einer Straßenlaterne. Sie war groß, schlank und wirkte recht jung.

Sie trug ein rotes Cape mit Kapuze, schwarze Stiefel mit ex­trem hohen Absätzen und umklammerte den Griff eines großen Koffertrolleys mit Blumenmuster.

„Könnten Sie mir helfen?“, bat sie. Ihre Stimme klang so erschöpft, als würde sie gleich umkippen. „Wissen Sie vielleicht, wo ich Libby Gallagher finde? Sie ist anscheinend nicht zu Hause. Und Sie sind der erste Mensch, den ich überhaupt getroffen habe, seit ich aus dem Zug gestiegen bin. Wo sind denn alle?“

„Beim Abendbrot, nehme ich an“, erwiderte Hugo trocken. „Später wird es im Dorf sicher ziemlich lebendig, wenn Einheimische und Touristen sich am Pub versammeln.“

„Erwähnen Sie bloß kein Essen.“ Sie stöhnte, kam aber nicht näher heran. „Ich bin am Verhungern.“

Er ging die Einfahrt hinunter auf sie zu. „Erwartet Libby Sie denn? Es sieht ihr gar nicht ähnlich, nicht da zu sein, wenn jemand sich angemeldet hat.“

„Sie weiß, dass ich nach Swallowbrook zurückkomme, und hat mir angeboten, bei ihr und ihrem Mann zu wohnen, bis ich eine eigene Wohnung gefunden habe. Aber wir haben keinen genauen Zeitpunkt ausgemacht.“

„Mit anderen Worten, Libby erwartet Sie nicht?“

„Nicht direkt.“

Hugo unterdrückte ein Stöhnen. Libby und Nathan waren in ihrem Haus auf der Insel im See, zusammen mit Toby, Nathans Adoptivsohn. „Ich weiß, wo die Gallaghers sind“, erklärte er steif. „Und sie werden erst am Montagmorgen wieder zurück sein, da sie ihr Wochenende so lange wie möglich genießen wollen. Das heißt, Sie müssen sich wohl eine Unterkunft suchen. Im Pub gibt es ein paar Betten. An Ihrer Stelle würde ich es also mal dort probieren. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen …“ Er begann, seinen Kofferraum auszuladen.

Doch die Frau ließ sich nicht abschrecken. „Offenbar kennen Sie die Gallaghers gut, aber so ist es hier eben, habe ich recht? Hier kennt fast jeder jeden, das hat Libby mir zumindest erzählt.“

Hugo seufzte. Er war nicht in der Stimmung für Smalltalk, aber er wollte zumindest höflich bleiben. „Ja, ich kenne Libby und Nathan sehr gut. Mein Name ist Hugo Lawrence. Ich bin auch Allgemeinmediziner und arbeite mit den beiden in derselben Praxis.“

„Oh, dann haben Sie ja vielleicht schon von mir gehört“, meinte sie schon etwas fröhlicher. „Ich bin Ruby Hollister und werde bald als Assistenzärztin bei Ihnen anfangen.“

Er musterte sie skeptisch. Das konnte doch wohl kaum die junge Frau sein, die Libby und Nathan unbedingt mit im Team haben wollten, weil sie ein ausgezeichnetes Abschlussexamen an einer der renommiertesten Universitäten Englands gemacht hatte, oder?

Da Libby schwanger war und ihre Arbeitszeiten reduzieren wollte, hatte es Überlegungen gegeben, einen weiteren Arzt in die Praxis aufzunehmen. Wenn das Baby da war, würde Libby ohnehin erst einmal ganz zu Hause bleiben.

Ruby Hollister hatte früher bis ins Teenageralter mit ihrer Familie hier im Dorf gelebt, dann waren sie weggezogen. Aber wie Libby hatte auch sie offenbar schon immer den Wunsch gehabt, als Ärztin in der schönen Seenlandschaft mitten zwischen den Bergen zu arbeiten.

„Ah, jetzt verstehe ich“, sagte Hugo. „Ich wusste, dass Sie erwartet wurden. Aber ich war die ganze letzte Woche weg. Daher war mir nicht klar, dass es schon so bald sein würde.“

Sie lehnte sich schwer auf ihren Koffer. Ihre hängenden Schultern zeigten, wie erschöpft sie war.

Hugo wies auf das Haus und fuhr zögernd fort: „Dann kommen Sie am besten mal mit rein, damit wir eine Unterkunft für Sie organisieren können, bis Libby und Nathan wieder aus ihrem Wochenende zurück sind.“

„Das wäre sehr freundlich“, antwortete Ruby erleichtert.

Er nahm ihr den Koffer ab, trug ihn zum Haus, schloss auf und führte sie ins Wohnzimmer. Dort setzte sie sich auf die Sofakante und schaute sich teilnahmslos um. Ihre Erschöpfung war nicht zu übersehen.

Resigniert verabschiedete Hugo sich innerlich von seinem schönen entspannten Abend und fragte: „Was ist Ihnen lieber, ein Brandy oder ein heißer Tee?“

„Tee wäre wunderbar.“ Mit ihren großen braunen Augen sah sie ihn an. „Und ich könnte auch eine Scheibe Toast vertragen, wenn ich Ihnen damit nicht zu große Mühe mache.“

„Ich glaube, das kriege ich gerade noch hin“, erwiderte er ironisch. Er war keineswegs begeistert von der Aussicht, seine neue Kollegin den ganzen Abend unterhalten zu müssen.

Doch als er mit Tee und Toast wieder im Wohnzimmer erschien, fand er sie schlafend auf dem Sofa. Noch immer in das rote Cape gehüllt, lag Ruby in den Kissen, die hochhackigen Stiefel ordentlich neben sich auf dem Teppich.

Also holte Hugo eine Decke von oben und deckte sie fürsorglich damit zu. Danach kochte er sich das gute Essen, das er sich versprochen hatte. Mit einer Extraportion für seinen unerwarteten Gast, wenn sie wieder aufwachte. Nach dem Essen setzte er sich mit einem Buch zu ihr ins Wohnzimmer.

Die Zeit verging jedoch, und Ruby schlief noch immer. Um zehn Uhr trug er die junge Frau schließlich nach oben und legte sie behutsam auf sein Bett, weiterhin in die warme Decke gehüllt. Wenigstens war sie hier in Sicherheit, und er würde dann eben unten schlafen.

Mit einem steifen Nacken und trockenem Mund wachte Hugo in der blassen winterlichen Morgendämmerung auf und dachte sofort an die junge Frau, die oben in seinem Bett lag. Schlief sie noch, oder hatte er nur geträumt, dass sie aus dem Nichts aufgetaucht war und ihm den ersten Abend seines friedlichen, freien Lebens ruiniert hatte?

Aus der Küche hörte er das Geräusch von klapperndem Geschirr. Er hatte also nicht geträumt, und als Hugo nachsah, war Ruby im Begriff, eine Kanne Tee und Toast zu machen.

Da er an der Tür stehen blieb, wandte sie sich zu ihm um. „Es tut mir furchtbar leid, dass ich Ihnen gestern Abend zur Last gefallen bin, Dr. Lawrence. Ich hatte einen schrecklichen Tag hinter mir und war so dumm, es für selbstverständlich zu halten, dass Libby und Nathan zu Hause sein würden.“

Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen. „Ich hatte meine Studentenwohnung gekündigt, um nach Swallowbrook zu ziehen, und war in der Zwischenzeit bei einer Freundin untergekommen. Gestern Vormittag hatte ich einen Termin im Krankenhaus und musste dort sehr lange warten. Auf dem Rückweg ging mein Auto kaputt und musste abgeschleppt werden. Aber das war noch nicht alles. Als ich zu meiner sogenannten Freundin zurückkam, hatte sie inzwischen jemand anderem meinen Platz in ihrem Apartment überlassen. Mir blieb also nichts anderes übrig, als meine Sachen zu packen und gleich hierherzufahren anstatt erst in zwei Wochen, wie ursprünglich vereinbart. Weil ich aber kein Auto hatte, musste ich stundenlang auf den Zug nach Swallowbrook warten.“

Sie holte tief Luft. „Ich weiß, es war blöd, nicht zu fragen, ob die Gallaghers zu Hause sind, aber ich war so kaputt, dass ich einfach davon ausging. Jetzt wissen Sie also, warum ich wie eine verlorene Seele herumgewandert bin, als ich Sie entdeckte. Wenn Sie mich nur noch ein paar Minuten ertragen, bis ich schnell was gefrühstückt habe, dann werde ich mich im Ort umschauen, wo ich den Rest des Wochenendes bleiben kann, um Sie in Ihrem schönen Haus in Ruhe zu lassen. Wie lange wohnen Sie denn schon hier?“

„Anderthalb Jahre als Gast und gerade mal eine Woche als Besitzer. Ich habe es meiner Schwester abgekauft, als sie ins Ausland gezogen ist“, antwortete Hugo. „Es tut mir leid, dass Sie gestern einen solchen Horrortag erlebt haben. Ich hoffe, Ihr Termin im Krankenhaus hat das Ganze nicht noch verschlimmert.“ Bevor sie etwas erwidern konnte, setzte er hinzu: „Wir haben übrigens einen Ersatzwagen für die Praxis, den Sie so lange benutzen können, bis Ihr Auto repariert ist.“

Mit dem Gefühl, liebenswürdig genug gewesen zu sein, schenkte er sich eine Tasse Tee ein, bestrich eine Scheibe Toast mit Butter und setzte sich schweigend Ruby gegenüber an den Tisch.

Wie kann er nur so cool, ruhig und gelassen sein, fragte sie sich. Es war eindeutig, dass er sie möglichst schnell wieder loswerden wollte, was ihm nicht einmal zu verdenken war. Da sie in ihren Kleidern geschlafen hatte, bot sie einen grauenhaften Anblick. Und sein Gesichtsausdruck, als er hörte, dass sie die neue Assistenzärztin in der Praxis war, hatte Bände gesprochen.

Hugo Lawrence war geradezu umwerfend attraktiv, lebte aber offenbar allein in diesem sagenhaften Haus, was alles Mögliche bedeuten konnte. Vielleicht war er geschieden, zu wählerisch oder ein Mann, der die Frauen liebte. Jedenfalls wirkte er nicht besonders humorvoll. Aber wer wäre das schon, wenn er sein eigenes Bett an eine völlig Fremde abtreten musste?

Obwohl Ruby selbst nicht gerade klein war, überragte Hugo sie noch um einiges. Er hatte eine durchtrainierte Figur, blaue Augen, dunkle Haare und einen fantastischen Mund, der zum Küssen einlud.

Dass Ruby sich als Jahrgangsbeste ausgerechnet bei einer abgelegenen ländlichen Gemeinschaftspraxis beworben hatte, war für viele sicher nicht verständlich. Doch es gab einen Grund dafür. In ihrer frühen Jugend, kurz vor dem Umzug ihrer Familie in den Norden des Landes, war Rubys kleiner Bruder Sam schwerkrank geworden. Nur durch das prompte Eingreifen des damaligen Seniorchefs der Praxis wurde ihm das Leben gerettet.

In ihren Gesprächen mit Libby hatte Ruby erfahren, dass John Gallagher sich mittlerweile zur Ruhe gesetzt und sie und ihr Mann die Praxis von ihm übernommen hatten.

Sobald Sams Zustand sich stabilisiert hatte, war Rubys Familie damals weggezogen, da die Arbeit ihres Vaters davon abhing. Doch Ruby hatte niemals vergessen, was man in Swallowbrook für ihren Bruder getan hatte. Beim Abschied hatte sie dem alten Dr. Gallagher versprochen, eines Tages zurückzukommen, um in der Praxis mitzuarbeiten. Und nun wollte sie ihr Versprechen wahr machen.

Ich kann sie ja nicht einfach auf die Straße setzen in der Hoffnung, dass der Pub heute Abend ein freies Zimmer für sie hat, dachte Hugo bei sich. Es war gerade mal halb neun am Sonntagmorgen. Abgesehen von den Glocken, die die Kirchgänger an den Gottesdienst erinnerten, war alles still im Dorf.

Wo sollte Ruby ohne eine Unterkunft an diesem kalten Frühlingstag bleiben?

Über der Doppelgarage befand sich ein ausgebautes Apartment. Wenn sie gestern Abend nicht gleich so tief und fest eingeschlafen wäre, hätte er sie vielleicht dort untergebracht. Er könnte ihr anbieten, es bis morgen zu nutzen. Somit hätte er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Erstens würde es sein Gewissen beruhigen, weil er sie gerne loswerden wollte. Und zweitens hätte sie dadurch ein Dach über dem Kopf.

Vor dem Umbau in ein Apartment war es das Büro seines Schwagers gewesen. Nach dessen Tod hatte Patrice es in eine Ferienwohnung umgewandelt, um auf diese Weise ein wenig Geld zu verdienen. Sonst wurde das Apartment ab Ostern an Touristen des Lake District vermietet, doch da die Saison noch nicht begonnen hatte, stand es momentan leer.

Ruby, die Hugos Miene beobachtete, fragte sich, was wohl als Nächstes kommen würde. Sie spürte, dass er sie als Störfaktor betrachtete, was ihr äußerst unangenehm war. Sein Vorschlag kam daher mehr als unerwartet.

„Über der Garage ist eine Ferienwohnung“, erklärte er. „Wenn Sie wollen, können Sie sie bis morgen benutzen. Sie brauchen sich nicht extra eine Unterkunft zu besorgen. In meinem Kühlschrank und in der Gefriertruhe ist mehr als genug zu essen. Also bedienen Sie sich einfach, falls Sie das Apartment nehmen möchten.“

Das großzügige Angebot rührte Ruby fast zu Tränen. Sie hatte absolut keine Lust, wieder mit ihrem Blumenkoffer durchs Dorf zu ziehen.

„Das wäre toll“, sagte sie dankbar. „Wenn es dort eine Badewanne gibt, kann ich ein schönes langes Bad nehmen, als Ausgleich für den Stress gestern.“

„Natürlich gibt es eine Badewanne“, antwortete Hugo sachlich. „Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich habe gerade gehört, dass die Sonntagszeitung durch den Briefschlitz geworfen wurde. Deshalb werde ich mich jetzt darüber informieren, was in der Welt so los ist.“

An der Küchentür blieb er noch einmal stehen. „Sagen Sie mir Bescheid, wann Sie in die Wohnung wollen. Dann mache ich eine kleine Führung mit Ihnen.“

„Am liebsten jetzt gleich.“ Ruby hatte Angst, dass er es sich womöglich anders überlegte.

„Okay. Dann suchen Sie sich doch schon mal die Lebensmittel zusammen, die Sie mitnehmen möchten. Ich hole solange Ihren Koffer von oben. Je eher Sie es sich dort gemütlich machen, desto besser werden Sie sich fühlen. Auch wenn es nur für einen Tag ist.“

Selbst wenn Sie mich dann erst mal los sind, Dr. Lawrence, in der Praxis werden Sie meine Anwesenheit leider doch aushalten müssen, dachte sie im Stillen.

„Oh, das ist ja wunderschön!“ Begeistert schaute Ruby sich in der offenen Wohnküche um, ehe sie zum Fenster ging. „Durch die Bäume kann man sogar den See sehen!“

Hugo, der gerade prüfte, ob Licht und Heizung angeschaltet waren, antwortete nicht. Mit einem Nicken wies er auf das Schlafzimmer und das angrenzende Bad, damit sie diese Räume ebenfalls in Augenschein nahm.

„Hoffentlich finde ich auch so was Tolles, wenn ich mir nächste Woche eine Wohnung suche.“ Sie wartete, ob er darauf eingehen würde, doch er reagierte nicht.

Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass er Ruby mit den Gegebenheiten des Apartments vertraut gemacht hatte, sagte er: „Libby und Nathan kommen meistens montags morgens gegen halb acht von ihrem Wochenende zurück. Das heißt, ab da können Sie sie sich mit ihnen in Verbindung setzen. Sollten Sie die Wohnung verlassen, wenn ich schon in der Praxis bin, werfen Sie den Schlüssel einfach durch den Briefschlitz.“

Damit ging er, um sich endlich seiner Sonntagszeitung zu widmen, während Ruby ein paar Sachen auspackte und sich das ausgiebige Bad gönnte, auf das sie sich schon so sehr gefreut hatte.

Danach bereitete sie sich aus den vom Haus mitgebrachten Lebensmitteln eine Mahlzeit zu, ehe sie Jeans und einen dicken Pullover anzog und an den See hinunterging, der ihr von früher her noch so vertraut war. Dabei achtete sie darauf, nicht direkt an den Fenstern ihres Gastgebers vorbeizugehen. Denn dass der attraktive, aber nicht sonderlich liebenswürdige Dr. Lawrence entschieden genug von ihr hatte, war ihr durchaus bewusst.

Sobald Ruby jedoch das Seeufer erreichte, vergaß sie ihn sofort. Sie freute sie sich an dem Anblick eines Dampfers, der vorbeifuhr, und der Jachten, deren weiße Segel sich gegen die schroffen dunklen Berge abhoben, die grünen Wächter über das Tal.

Es fühlte sich genau richtig an, wieder in Swallowbrook zu sein, wo sie vor langer Zeit ihr Versprechen gegeben hatte, in die ärztliche Praxis einzutreten. Der einzige dunkle Fleck am Horizont war der schweigsame Dr. Lawrence, der sie gar nicht schnell genug aus seinem Haus hatte hinausbefördern können. Falls Ruby seinetwegen irgendwelche Rosinen im Kopf gehabt hätte, wären diese ganz schnell verschwunden bei dem Gedanken daran, dass er die Sonntagszeitung ihrer Gegenwart vorgezogen hatte.

Zum Abendessen ging sie in den Pub, da sie ein wenig Gesellschaft brauchte. Als sie dort zwischen den zahlreichen anderen Gästen saß, fühlte sie sich gleich nicht mehr so einsam.

Eine Stunde, bevor der Pub schloss, erschien auf einmal ihr Gastgeber. Er war erstaunt, sie vor dem großen Kamin sitzen zu sehen, der dem Dorfpub sein besonderes Flair verlieh.

Als sie Hugo erblickte, stand Ruby sofort auf, um zu gehen. Als hätte er sie bei etwas ertappt, was er missbilligte. Sie wünschte ihm einen schönen Abend und versuchte, an ihm vorbeizukommen.

Da sagte er: „Wenn Sie zum Apartment zurück wollen, werde ich Sie begleiten.“ Ehe sie protestieren konnte, setzte er hinzu: „Bitte keine Widerrede. Es ist nicht gut, wenn Sie zu so später Stunde alleine draußen herumlaufen.“

Ruby erwiderte nichts weiter, sondern ging zur Tür. Hugo folgte ihr und dachte daran, wie langweilig sein Abend bis jetzt gewesen war. Nachdem er Ruby in das Apartment über der Garage abgeschoben hatte, war er davon ausgegangen, dass er sich über die lang ersehnte Rückkehr zur Normalität freuen würde. Stattdessen war er jedoch nur rastlos und angespannt gewesen.

Und jetzt, anstatt mit Freunden und Bekannten gemütlich bei einem letzten Bier zusammenzusitzen, machte er schon wieder einen solchen Wirbel um diese junge Frau, die wahrscheinlich überhaupt kein Problem damit hatte, den kurzen Weg bis zu seinem Haus allein zu gehen.

Wortlos liefen sie nebeneinanderher, bis Ruby schließlich das Schweigen brach. „Heute Nachmittag bin ich am See spazieren gegangen. Es war so schön, wieder dort zu sein. Sind Sie auch oft am Wasser?“

Lächelnd antwortete er: „Es war vor allem der See, der mich dazu veranlasst hat, in Swallowbrook zu bleiben, anstatt wieder in den Süden zurückzukehren. Erinnern Sie sich von früher noch an das Haus auf der kleine Insel? Dort verbringen die Gallaghers immer ihre Wochenenden. Unter der Woche wohnen sie hier im Dorf in zwei Doppelhaushälften, die sie jetzt zu einem gemeinsamen Haus haben umbauen lassen. Sonst hätten Sie vielleicht die eine Hälfte mieten können.“

„Ich werde schon was finden, und wenn ich auf einer Parkbank oder in einem leeren Bootshaus übernachten muss“, versicherte sie leichthin.

Immerhin hatte er sie erneut daran erinnert, dass ihre jetzige Unterkunft nur vorübergehend war.

Da sie sich seinem Grundstück näherten, erklärte Ruby: „Noch einmal herzlichen Dank für Ihre Begleitung, Dr. Lawrence. Sie sind sehr liebenswürdig. Wollen Sie wieder in den Pub zurück?“

„Ich denke schon“, erwiderte er. Schließlich sollte sie nicht glauben, dass er ihr jederzeit zur Verfügung stand.

2. KAPITEL

Auf dem Weg zurück zum Lichtschein und dem Lärm von „The Mallard“ hatte Hugo ein unbehagliches Gefühl bei dem Gedanken daran, wie Ruby vorhin sofort aufgestanden war, sobald er im Pub erschien. Als ob sie jeden weiteren Kontakt mit ihm vermeiden wollte.

Er hatte gleich bemerkt, dass sie statt des roten Capes dunkelblaue Jeans und eine kurze weiße Jacke trug. Mit flachen Laufschuhen wirkte sie auch kleiner als auf den hohen Absätzen vom Tag zuvor.

Sie war attraktiv, wirkte aber äußerst fragil. Das Leben als Allgemeinmediziner war nicht immer leicht. Ob jemand, der so verletzlich aussah wie Ruby, dem tatsächlich gewachsen sein würde?

Noch immer fest entschlossen, distanziert zu bleiben, hatte Hugo sich nicht länger aufgehalten, nachdem er sie nach Hause begleitet hatte. Abgesehen davon, dass sie unverhofft in sein lang ersehntes freies Wochenende geplatzt war, hatte Ruby sich nicht das Geringste zuschulden kommen lassen. Und trotzdem behandelte er sie, als hätte sie die Pest.

Die Vorstellung, wieder zurückzugehen, um mit Freunden ein Bier zu trinken, verlor plötzlich ihren Reiz. Daher kehrte er um, und als er wieder zu Hause ankam, lag das Apartment bereits im Dunkeln. Hugo überzeugte sich davon, dass es von allen Seiten gesichert war, ehe er die Haustür aufschloss und hineinging.

Ruby, die hellwach im Bett lag, hörte ihn an ihrer Tür. Bei jedem anderen Mann hätte sie ein zweifelhaftes Motiv dahinter vermutet, bei Hugo Lawrence jedoch nicht. Er hatte sicher nicht vor, ihr nachts Gesellschaft zu leisten, wie manch anderer Typ es möglicherweise versucht hätte.

Autor

Abigail Gordon
Abigail Gordon ist verwitwet und lebt allein in einem Dorf nahe der englischen Landschaft Pennines, deren Berggipfelkette auch das „Rückgrat Englands“ genannt wird.
Abigail Gordon hat sich besonders mit gefühlvollen Arztromanen einen Namen gemacht, in denen die Schauplätze meistens Krankenhäuser und Arztpraxen sind.
Schon immer war Abigail Gordon ein Fan von...
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