Historical Exklusiv Band 91

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DER DIEB IST EINE LADY von ANNE HERRIES
Ertappt! Captain Richard Hernshaw, Geheimagent des Königs, erwischt einen Straßenjungen beim Diebstahl. Doch er lässt Milde vor Recht ergehen – und entdeckt erstaunt, dass der Knabe in Wirklichkeit eine junge Frau in Verkleidung ist! Georgina Bridges, reiche Erbin auf der Flucht vor ihrem Verlobten, ist so hinreißend, dass sie seine Sehnsucht weckt …

EIN LORD FÜR MISS LILY von LOUISE ALLEN
„Ich heirate mindestens einen Baron!“ Das musste Lily, die Tochter eines reichen Teehändlers, ihrem Vater schwören. Doch als sie von einem adeligen Verehrer während einer Kutschfahrt unsittlich belästigt wird, flieht sie verzweifelt ins nächste Gasthaus – direkt in die Arme von Jack Lovell. Ausgerechnet dieser einfache Mann, ein Arbeiter ohne Adelstitel, weckt heißes Verlangen in ihr. Hin- und hergerissen zwischen Leidenschaft und Pflicht, steht Lily bald vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens …


  • Erscheinungstag 14.09.2021
  • Bandnummer 91
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502290
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Herries, Louise Allen

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 91

1. KAPITEL

London, 1815

Captain Richard Hernshaw hielt inne und lauschte angespannt in die bedrohliche Dunkelheit der engen Gasse, die hinter ihm lag. Er wurde verfolgt. Dank seiner Arbeit als Geheimagent der britischen Regierung hatte er ein untrügliches Gespür für Gefahren entwickelt. Er wusste, dass er ein Risiko einging, als er seine Kontaktperson im finsteren Straßenlabyrinth des Armenviertels getroffen hatte. Aber der Mann wollte sich an keinem anderen Ort zeigen. Es handelte sich um einen Erzhalunken, wenn nicht um weit Schlimmeres. Immerhin war das Treffen gut verlaufen. Richard hatte genau das erhalten, was er wollte. Doch seit er den Kontaktmann verlassen hatte, folgte ihm ein Schatten. Wer stellte ihm nach und aus welchem Grund?

Auf diese Frage brauchte er unbedingt eine Antwort. Die wichtigen Papiere, die er bei sich führte, enthielten vermutlich den Schlüssel zu einem Komplott, das er und seine Kollegen aufdecken mussten. Man befürchtete, dass ein Mordanschlag auf mehrere prominente Regierungsmitglieder und sogar auf den Prinzregenten vorbereitet wurde. Richard nahm an, dass die Dokumente, die er in der Innentasche seines Gehrocks trug, die Namen der Verschwörer verrieten. Wenn mein Verfolger von den Papieren weiß, laufe ich Gefahr, sowohl die Dokumente als auch mein Leben zu verlieren, dachte er.

Angriff ist die beste Verteidigung! Er bog um die Ecke und lehnte sich in Erwartung seines Verfolgers dicht gegen die Hauswand. Seine Ahnungen bewahrheiteten sich, denn schon nach wenigen Augenblicken eilte ein kleiner dunkler Schatten um die Ecke. Blitzschnell schnappte er nach dem Arm des Schurken. Sein Griff war eisern wie eine Handschelle.

„Lassen Sie mich los!“ Die Stimme klang wütend und furchtsam zugleich. „Was zum Teufel woll’n Sie von mir?“

„Das wollte ich dich eigentlich gerade fragen“, erwiderte Richard und blickte in das schmutzige Gesicht eines Straßenkindes. Die jugendliche Entrüstung in den Augen seines Gegenübers brachte ihn beinahe zum Lachen. „Du bist mir eine ganze Zeit gefolgt, Bürschchen. Ich mag es überhaupt nicht, verfolgt zu werden, schon gar nicht, wenn ich nicht weiß, warum.“

Der junge Kerl rieb sich die Nase und schniefte. „Ich tu niemand was, Sir“, erwiderte er trotzig. „Verdammt! Lassen Sie mich los, sonst tret ich!“

„Das würde dir sehr schnell leidtun“, versicherte Richard. Er überlegte, was er mit dem Jungen machen sollte. Sein Griff lockerte sich. Ein Bursche wie dieser mochte hinter seiner Geldbörse her sein, aber das war wahrhaftig nicht die Art von Gegner, mit der er gerechnet hatte. Fast musste er schmunzeln, als der Junge mit ihm rang. Doch schließlich trat der Festgehaltene ihm heftig gegen das Schienbein, riss sich los und floh in die Richtung, aus der er gekommen war.

Richard begriff sofort, dass er beraubt worden war. Der Junge hatte seine Hand in die Innentasche seines Gehrocks gleiten lassen und blitzschnell die Dokumentenmappe herausgezogen, während er ihn mit seiner Stiefelspitze am Schienbein traf. Für einen Augenblick hatte er den Halt verloren, und der Kerl hatte sich aus der Umklammerung lösen können. Richard fluchte. Wie konnte er nur auf so einen simplen Trick hereinfallen?

Unter Geschrei setzte er dem Burschen nach. Etwas beinahe Engelhaftes in den Zügen des Jungen hatte ihn dazu verleitet, fahrlässig zu werden. Verdammter Narr! Es war der älteste Trick, ein Kind vorzuschieben, um den Feind zu überrumpeln. Der Junge vor ihm rannte wie um sein Leben, doch Richard war ihm mit seinen längeren Beinen und der größeren Ausdauer dicht auf den Fersen. Früher oder später würde er ihn zu fassen bekommen. Der Zufall kam ihm zu Hilfe, denn der Junge übersah in seiner Eile den Unrat auf dem Gehweg. Als seine Füße über den aufgeweichten Müll schlitterten, den ein argloser Händler liegen gelassen hatte, rutschte er aus, verlor das Gleichgewicht und landete in der Gosse. Offensichtlich hatte der Kerl sich bei seinem Sturz nicht verletzt, denn er versuchte gerade, sich aufzurichten, als Richard vor ihm auftauchte.

„Verflucht, warum sind Sie hinter mir her?“, beschwerte er sich jammernd. „Ich hab nix getan, Sir. Ehrlich, gar nix.“

„Du hast mir etwas gestohlen“, antwortete Richard und streckte die Hand aus. „Gib es zurück und nicht noch so ein Trick, sonst werde ich dir eine ordentliche Tracht Prügel verpassen. Hast du mich verstanden?“ Kraftvoll zog er den Burschen hoch und schüttelte ihn leicht. „Hast du verstanden, was ich sagte, Freundchen?“

„Ich heiß Georgie“, murmelte der Junge und zog die Nase hoch. „Hab seit Tagen nix gegessen und wollt’ nur ein paar Münzen ergattern. Wenn Sie mich nicht festgehalten hätten, hätt’ ich’s, verdammt nochmal, nie getan.“

„Tatsächlich?“ Misstrauisch zog Richard die Augenbrauen hoch. „Also Georgie, nicht wahr? Nun, Georgie, wenn du mich gefragt hättest, hätte ich dir schon einen Shilling gegeben, aber du verdienst es, dass man dich auf der Wache abliefert …“

Der Junge holte die Dokumentenmappe hervor und reichte sie Richard, der sie sofort wieder in seiner Innentasche verschwinden ließ. Das Siegel war unversehrt. Die Papiere verrieten Ahnungslosen nichts, die den Entzifferungscode nicht kannten. Aber wer sagte ihm, dass der Bursche nicht für einen Hintermann arbeitete?

„Lassen Sie mich geh’n, Sir“, bettelte Georgie. „Ich schwör, ich hab so was vorher noch nie getan, und ich bin schrecklich hungrig …“ Er schniefte und wischte seine Nase mit dem Ärmel ab. „Ich wollt’ wirklich nix Böses tun …“

„Du wolltest mich bestehlen“, stellte Richard klar und blickte den Jungen streng an. „Aber ich habe meine Mappe zurück, und wenn du wirklich hungrig bist, bekommst du etwas zu essen.“

„Geben Sie mir ’nen Shilling, Sir, und ich werd Sie nie wieder belästigen.“ Georgie hielt die Hand auf.

Schon wollte Richard eine Münze hervorholen, doch dann zögerte er. Etwas stimmte mit dem Straßenkind nicht, auch wenn er nicht genau sagen konnte, was ihn irritierte.

„Ich werde dir kein Geld geben“, erklärte er. „Gleichwohl biete ich dir eine Mahlzeit an. Wir suchen eine Gastwirtschaft auf, die ich kenne. Nicht hier in der Gegend. Ich halte nichts von diesen Pinten für Saufbrüder. Wir gehen in ein Lokal, wo wir beide unser Essen genießen können.“

Der Bursche wirkte unschlüssig. Einen Augenblick dachte Richard, er würde erneut versuchen, davonzulaufen. Stattdessen zuckte er mit den Schultern. „Okay, wenn Sie das möchten, Sir.“

„Komm mit.“ Richard hielt ihn nach wie vor am Arm fest. „Und versuche nicht, wegzurennen, Georgie. Keine faulen Tricks, hast du verstanden? Die Mappe ist für mich wichtig, aber für dich besitzt sie keinen Wert. Wenn du noch einmal Anstalten machst, mir etwas zu stehlen, kenne ich kein Pardon.“

„Schon gut.“ Der Junge warf ihm einen trotzigen Blick zu. „Außerdem tun Sie mir weh. Ich werd schon nicht abhau’n. Ich geb Ihnen mein Wort.“

Der eigenwillige Stolz des Burschen weckte Richards Argwohn. Er war sich fast sicher, dass Georgie – falls der Name überhaupt stimmte – kein gewöhnliches Straßenkind war. Der erste Eindruck schien trügerisch. Richard lockerte seinen Griff ein wenig, stellte aber sicher, dass er den Jungen unter Kontrolle hatte, als sie die letzte Gasse des Armenviertels hinter sich ließen. Hier gab es eine bessere Straßenbeleuchtung, und als er den Knaben musterte, wusste er, dass sein Misstrauen berechtigt war. Wenn ihn nicht alles täuschte, stammte dieser Junge nicht aus Londons Elendsviertel. War er aus einer Schule oder vor einem tyrannischen Vater fortgelaufen? Richard war sich sicher, dass der Bursche den Gossenslang nur vortäuschte, zumal er ihn nicht durchgängig beibehielt. Was führte dieser Georgie im Schilde?

„Wo gehst du zur Schule?“, wollte Richard wissen.

„Gar nicht“, entgegnete der Junge. „Bin ich auch nie gewes’n, Sir.“

Er sprach nicht die Wahrheit. Richard besaß eine gute Menschenkenntnis. Seine Neugier wuchs. Der Kerl machte einen ziemlich jungen Eindruck, und trotz des versuchten Diebstahls wollte er ihm helfen, falls das möglich war. Nur zu gut wusste er, wie rasch die stinkenden Gassen auch Unschuldige in den Abgrund zogen. Die Erinnerungen erfüllten ihn mit Verbitterung. Aber daran wollte er jetzt nicht denken! Es lag hinter ihm. Er hatte sich in seine Arbeit gestürzt, um zu vergessen. Nie wieder sollte die alte Tragödie ihn einholen.

Vor ihnen tauchten die Lichter eines ansehnlichen Gasthofs auf. Eine große Laterne erhellte den Gehsteig. Zahlreiche kleine Lampen beleuchteten den Torbogen, der in den Hof der Wirtschaft führte. Richard schritt zielstrebig auf die Eingangstür zu. Er spürte, dass der Junge sich sträubte und sah ihn an.

„Hier gibt es nichts zu fürchten, Georgie. Vielleicht bist du solche Orte nicht gewohnt, doch man wird uns schon bedienen. Keine Sorge.“

„Ich hab keine Angst“, erwiderte der Bursche. „Is’ nicht nötig, dass Sie länger an mir rumzerren. Ich lauf schon nicht weg. Ich fürcht’ mich nicht vor Ihnen. Außerdem krepier ich fast vor Hunger!“

„Hier wird tadelloses Essen serviert“, antwortete Richard. Während sie eintraten, betrachtete er das Gesicht des Jungen. Georgie besaß ein ungewöhnlich zartes Profil, eine blasse Gesichtsfarbe und reichte ihm kaum bis zur Schulter. Er wirkte sehr schlank, und Richard fand es schwierig, sein Alter einzuschätzen. Zuerst hatte er ihn für ein Kind von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren gehalten. Als er dem Knaben nach dessen Sturz aufgeholfen hatte, war ihm aufgefallen, wie wenig der Junge wog. Bei Lichte betrachtet, wirkte er älter – vielleicht war er schon fünfzehn.

„Womit kann ich Ihnen dienen, Sir?“ Der Gastwirt eilte mit einem strahlenden Lächeln auf sie zu, das sich sichtlich eintrübte, als er das Straßenkind bemerkte. „Captain Hernshaw, nicht wahr? Ich glaube, ich hatte bereits die Ehre, Sir?“

„Bei einer ganzen Reihe von Gelegenheiten“, erwiderte Richard lässig und ignorierte den Gesichtsausdruck des Mannes. „Bei Ihnen gibt es hervorragende Koteletts und gute Pasteten. Mein junger Freund hier ist hungrig, und ich bin es ebenfalls. Wir wollen das Beste von allem, was Sie heute Abend anzubieten haben.“

„Natürlich, Sir. Wünschen Sie einen Tisch im Privatsalon, Sir?“

Richard zögerte. Er bemerkte die Anspannung seines Schützlings und überlegte, was dem Burschen durch den Kopf ging. „Ja, Goodridge. Wir nehmen Plätze am Kamin.“

„Ganz wie Sie wünschen, Sir. Bevorzugen Sie Wein oder Bier?“

„Bringen Sie mir Wein“, sagte Richard. „Haben Sie einen Stärkungstrunk für den Jungen? Er ist mein Stallbursche und hat mir mit den Pferden geholfen. Ich fürchte, er schwächelt ein bisschen.“

„Aha.“ Der Gastwirt nickte und schien erleichtert über die Erklärung. „Es ist immer dasselbe mit den jungen Kerlen, Sir.“

Georgie beäugte seinen Begleiter nachtragend, als sie in den Privatsalon eintraten, schwieg jedoch, bis der Wirt ging und die Tür hinter sich schloss.

„Warum haben Sie das gesagt?“

„Ich hielt es für besser, mir eine Geschichte auszudenken, sonst fantasiert sich Goodridge selbst etwas zusammen. Nicht, dass es nachher heißt, ich belästige kleine Jungs.“ Richard lächelte ironisch. „Sofern du selbst solche Verdächtigungen hegst, kannst du ganz beruhigt sein. Derartige Vorlieben sind nicht nach meinem Geschmack.“

„Oh …“ Georgie musterte ihn prüfend aus dunklen Augen, die klug und naiv zugleich wirkten. „Daran hab ich ohnehin nicht gedacht. Die Sorte kenn ich, und Sie sind keiner davon. Ich verbürg mich für Sie, falls er so dreist ist, so ’nen Blödsinn zu erzählen.“

„Ich danke dir“, entgegnete Richard mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme. „Wenn ich deine Hilfe brauche, gebe ich rechtzeitig Bescheid.“

„Sie müssen nicht so überheblich tun“, empörte sich Georgie. „Ich habs bloß angeboten …“

„Ich danke dir“, wiederholte Richard, diesmal mit einem Lächeln auf den Lippen. Georgies Verhalten bestätigte seinen Verdacht. Das ist kein Straßenkind! Er wusste nicht, warum der Knabe versucht hatte, ihn zu bestehlen, oder warum er auf der Straße lebte, was man ihm fraglos ansah. Dreck verunstaltete die feinen Gesichtszüge, seine Kleidung war völlig verschmutzt, und er roch unangenehm. „Ich denke, wir sollten Waffenstillstand schließen – meinst du nicht – zumindest solange wir unsere Mahlzeit einnehmen?“

Georgie antwortete nicht, ging stattdessen zum Kamin, blieb davor stehen und wärmte seine Hände über den Flammen. Er rieb sie aneinander und fröstelte, als bemerkte er jetzt erst, wie kalt es draußen war. Stumm blickte er in das Feuer, bis sich die Tür öffnete. Die Frau des Gastwirts und eine Dienstmagd traten ein. Sie trugen große Tabletts, auf denen sich Teller mit Speisen stapelten.

„Setz dich und iss, Junge“, forderte Richard ihn auf. „Es duftet vielversprechend.“

Der Bursche drehte sich um, betrachtete eine Weile die Speisen und näherte sich dem Tisch. Kaum hatte er auf der Bank Platz genommen, griff er nach einem Teller mit Lammkoteletts. Er nahm ein Stück und biss gierig in das zarte Fleisch.

Er hat ungewöhnlich weiße Zähne für einen Straßenjungen, dachte Richard.

Der Junge griff sofort nach dem nächsten Kotelett und schlang es genauso eilig hinunter wie das erste, wobei er das Fett von seinen Fingern leckte.

„Das reicht“, sagte Richard, als das zweite Fleischstück verschlungen war. „Iss jetzt anständig und langsamer. Wenn du seit Tagen nichts gegessen hast, wird dir nur schlecht, wenn du zu viel auf einmal in dich hineinstopfst. Probiere etwas von der Schweinepastete. Sie schmeckt großartig.“ Er schnitt sich selbst eine Scheibe herunter, legte dazu Salzgurken auf seinen Teller und brach ein Stück Brot ab.

Georgie schaute zu und machte es ihm nach. Mit sichtlichem Behagen begann er kleine Stücke der Pastete zu essen und bestrich dann sein Brot mit Butter.

Richard fiel auf, dass er geschmeidige, zarte Hände besaß. Jetzt, wo der Junge ohne Hast speiste, schien er sogar Tischmanieren zu besitzen. Er nippte an seinem Stärkungstrunk und war mit dem Geschmack offenkundig zufrieden.

Richard schmunzelte. Der Junge kommt aus gutem Hause. Was auch immer ihn bewogen hat, sein Heim gegen ein Leben auf der Straße einzutauschen, ich werde es herausfinden. Während sein Schützling das Messer niederlegte und sich gesättigt zurücklehnte, trank Richard Wein und beobachtete ihn nachdenklich.

„Besser?“, fragte er schließlich. Der Junge nickte. „Magst du mir davon erzählen?“

„Was meinen Sie?“ Verunsichert schaute der Bursche ihn an.

„Dein Gassenjargon klingt nicht sehr glaubwürdig“, erwiderte Richard. „Da du nicht immer so sprichst, verrätst du dich zwangsläufig. Ich glaube nicht, dass du in den Elendsvierteln aufgewachsen bist, Georgie. Also, wo kommst du her, und wie bist du dorthin gelangt?“

„Wollen Sie das wirklich wissen?“ Der Junge starrte ihn argwöhnisch an. „Wozu?“

„Weil ich dir helfen möchte, falls ich das kann. Ein Leben als Dieb ist nichts für einen Jungen wie dich. Ich denke, du bist von zu Hause weggerannt oder von deiner Schule – warum?“

„Ich bin weggelaufen von …“ Georgie stockte der Atem. „Ich kann es Ihnen nicht sagen. Sie würden es mir nicht glauben.“ Plötzlich stand er auf. „Danke für das Essen …“

Richard streckte ein Bein aus und hinderte den Jungen daran, vorbeizugehen. „Setz dich, und erzähle mir die Wahrheit.“

„Nein! Sie können mich nicht zwingen …“ Georgie versuchte, sich durchzuschlängeln. Richard sprang auf und hielt ihn fest. Dabei rutschte die dreckige Kappe herunter, und lange dunkle Locken fielen herab, die ein Gesicht umrahmten, das nun entschieden feminin aussah. Richard nickte grimmig und fühlte sich bestätigt. Er hatte sich gleich gedacht, dass etwas nicht stimmte! Das war gar kein schwächlicher Bursche, sondern ein Mädchen! „Oh!“ Georgie versuchte verzweifelt, ihre Haare wieder zu verstecken. „Verflucht! Sie versprachen doch, mich gehen zu lassen …“

„Das werde ich auch tun, wenn du mir eine befriedigende Antwort gibst. Wer bist du, und was hattest du im Armenviertel zu suchen?“

Sie zögerte einen Moment und atmete tief aus. „Mein Name ist Georgie Brown. Ich habe als Zofe gearbeitet“, sagte sie und nahm wieder Platz. „Ich bin von meiner Herrin weggelaufen, weil ihr Sohn nicht aufhörte, mich zu belästigen. Ständig versuchte er, mich zu küssen, und … ich konnte es nicht länger ertragen, nahm ein paar alte Kleidungsstücke und lief davon.“

„Du hast doch sicherlich Familienangehörige, die dich aufnehmen können?“ Georgie schüttelte den Kopf. Richard zog die Stirn in Falten. „Gar keine Freunde? Warum hast du dir nicht einfach eine neue Anstellung gesucht?“

„Ich konnte meine Herrin nicht um das Entlassungsschreiben bitten, sie gibt mir alle Schuld … niemals hätte ich ein brauchbares Zeugnis erhalten …“ Tränen traten in ihre Augen. „Sie haben keine Ahnung wie es ist, von der Gnade anderer abhängig zu sein …“ Ein ersticktes Schluchzen brach aus ihr hervor.

Richard blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Das erklärt nicht, warum du ausgerechnet auf der Straße leben und zur Diebin werden musst. Du kannst doch unmöglich so leben wollen?“

Georgie schniefte. Nach wie vor standen Tränen in ihren Augen, gegen die sie tapfer ankämpfte. „Ich besaß etwas Geld, doch es wurde mir am ersten Tag gestohlen, als ich in London ankam. Ich hoffte, Arbeit zu finden und hatte genug gespart, um mich bis dahin über Wasser zu halten. Aber …“ Tränen kullerten ihre Wangen hinunter, trotz ihrer Anstrengungen, sie aufzuhalten. Mit dem schmutzigen Ärmel rieb sie sich über das Gesicht, sodass sich der Dreck verteilte. „Als mein Geldbeutel gestohlen wurde, wusste ich einfach nicht mehr, was ich tun sollte. Niemand wollte mir Geld oder Essen geben.“

„Also dachtest du, Taschendiebstahl sei eine passable Lebensgrundlage?“ Richard blickte befremdet zu Boden. „Unglücklicherweise hast du dir ausgerechnet mich als erstes Opfer ausgesucht – oder war ich vielleicht doch nicht der Erste?“

„Ich habe ein paar Früchte von einem Marktstand geklaut und … und einen Schal von einem älteren Herrn. Den habe ich verkauft …“ Georgie wurde über und über rot. „Schauen Sie mich nicht so an! Ich war schrecklich hungrig!“

„Das bestreite ich nicht.“ Richard zweifelte, ob sie ihm die ganze Wahrheit erzählte. „Und du hast ganz sicher keine Familie? Falls sie auf dem Land wohnt, könnte ich dir helfen, dorthin zu gelangen.“

Einen Moment wirkte Georgie unentschlossen, schüttelte dann jedoch den Kopf. Sie band ihr langes Haar wieder unter der Kappe zusammen, und ihre Tränen trockneten. „Lassen Sie mich gehen. Sie haben mir zwar eine Mahlzeit spendiert, aber auch versprochen, mich wieder ziehen zu lassen.“

„Ich werde dich nicht festhalten“, beteuerte Richard. „Allerdings kenne ich eine Dame, die dich aufnehmen könnte. Sie ist schon älter und braucht jemanden, der nach ihr sieht – und sie nimmt dich vielleicht meinetwegen in ihre Dienste.“

„Ich komme schon zurecht.“ Georgie musterte ihn skeptisch, ganz offenkundig vertraute sie ihm noch immer nicht. „Ich weiß nicht …“

„Gut, ich gehe“, entschied Richard. Er stand auf und warf ein paar Münzen für die Dienstmagd auf den Tisch. „Du kannst mitkommen oder deinen eigenen Weg suchen … das liegt ganz in deiner Hand.“

Georgie antwortete nicht, folgte ihm jedoch aus dem Privatsalon und blieb ein wenig abseits stehen, als ihr Begleiter dem Wirt das Essen bezahlte.

Ohne sie nochmals anzusehen, verließ Richard den Gasthof. Er verharrte einen Augenblick unter der Straßenlaterne, deren verqualmtes Licht einen gelben Ring auf den Gehsteig warf. Als er sich gerade abwandte, näherten sich einige Gentlemen. Plötzlich spürte er, wie Georgie ängstlich an seiner Seite Schutz suchte und rasch neben ihm herging. Richard schwieg, bis die Wirtschaft außer Sicht war. Ihm blieb nicht verborgen, dass das Mädchen sich mehrfach furchtsam umblickte.

„Was ist los?“, wollte er schließlich wissen. „Was hat dich so erschreckt, als wir aus dem Wirtshaus kamen?“

Georgie kämpfte mit sich. „Haben Sie es ernst gemeint, als Sie anboten, mir zu helfen, aufs Land zu kommen?“

„Ich sage niemals etwas, das ich nicht ernst meine.“

„Bitte – ich muss London verlassen. Ich kann hier unmöglich bleiben …“ Ein stummer Hilfeschrei lag in ihren Augen. „Bitte helfen Sie mir. Ich habe Angst …“

„Ja, das sehe ich“, entgegnete Richard und zog die Stirn in Falten. Bis dahin hatte sie auf ihn furchtlos gewirkt, doch jetzt stand ihr der Schrecken ins Gesicht geschrieben. „Möchtest du mir vielleicht verraten, warum?“

Georgie schüttelte stumm den Kopf. Richard spürte, dass er in eine Sache hineingezogen wurde, die ihm eine Menge Ärger einbrachte. Ärger, auf den er wahrhaftig verzichten konnte. Doch ihre hilflosen Blicke rührten ihn zutiefst, sie erinnerten ihn an etwas … an jemand anderen. Er hatte diesen Menschen im Stich gelassen, auch wenn es nicht wirklich seine Schuld gewesen war. Niemals würde er es noch einmal geschehen lassen.

„Also gut, ich nehme dich mit“, entschied er. „Du bekommst einen Platz zum Schlafen und anständige Kleidung, und dann sehen wir weiter. Wenn ich dir beistehen soll, musst du mir allerdings vertrauen. Ich verspreche dir, dass ich dir kein Leid zufüge, aber helfen kann ich dir erst, wenn ich die Wahrheit weiß.“ Er seufzte, als er sah, wie sie zu Boden blickte. Es fiel ihr sichtlich schwer, Zutrauen zu fassen. „Gut, behalte deine Geheimnisse vorerst für dich, Kind. Wenigstens schläfst du heute in einem sauberen Bett, und vielleicht ist dir morgen danach zumute, mir deine wahre Geschichte zu erzählen.“

Scheu musterte Georgie das strenge Profil des Mannes, der neben ihr ging. Er war groß und stark, sein Gesicht wirkte ansprechend, wenn auch nicht schön. Ärger verhärtete seine Züge. Sie fand, dass er ein gutes Recht besaß, zornig auf sie zu sein. Immerhin hatte sie ihm gegen das Schienbein getreten und versucht, seine Mappe zu stehlen. Zweifelsfrei hätten die meisten Männer sie geohrfeigt oder nach einem Konstabler gerufen. Er hingegen führte sie in ein gutes Wirtshaus und spendierte ihr eine Mahlzeit. Es gab keinen Grund, ihm zu misstrauen. Aber das Leben hatte sie gelehrt, dass Menschen oft nicht das waren, was sie zu sein schienen. Sie wollte ihm vertrauen und brauchte jemanden, auf den sie sich verlassen konnte. Die beiden letzten Wochen auf der Straße hatten ihr gezeigt, dass sie nicht darin geübt war, auf sich aufzupassen.

Ihre Flucht war spontan und ohne langes Nachdenken erfolgt. Weltfremd wie sie war, hatte sie geglaubt, es wäre leicht, eine Weile allein zurechtzukommen, wenigstens so lange, bis sie weitere Entscheidungen treffen konnte. Doch der Verlust ihres Geldbeutels am allerersten Tag hatte die Situation schlagartig geändert. Sie war so unvorsichtig gewesen, den Beutel beim Einkaufen lose an den Schnüren zu halten, anstatt ihn sofort wieder einzustecken. Der Mann, der sich ihr Geld schnappte, handelte so schnell, dass sie seine böse Absicht erst bemerkte, als er längst auf und davon war. Wie betäubt war sie von da an verloren durch die Straßen geirrt. Wie sollte sie genug verdienen oder stehlen, um zu überleben? Sie war völlig verzweifelt, als sie ihn durch Zufall entdeckte … Captain Hernshaw, wie der Wirt ihn genannt hatte.

Was ist das für ein Mann? Georgie konnte es nicht genau sagen. Er wirkte wie ein Militär, und sein Titel bestätigte es. Doch er war anders als die Offiziere, die sie kannte. Er hatte etwas Hartes und Wachsames an sich, als befände er sich in ständiger Alarmbereitschaft. Zuweilen bekam sie eine Gänsehaut, wenn er sie ansah. Ein Teil von ihr hieß sie wegzurennen, solange die Möglichkeit dazu bestand. Ihn zum Feind zu haben, schien keinesfalls ratsam. Zweifelsfrei war mit seinem Zorn zu rechnen, sobald er erfuhr, dass sie ihn angelogen hatte. Doch das Grauen, dass sie erfasste, als sie ihn sah, während sie mit Captain Hernshaw aus der Wirtschaft trat, ließ alle anderen Überlegungen in den Hintergrund treten. Sie wusste, was ihr bevorstand, wenn er sie fand.

Sie lief nun dicht neben dem Captain her, den sie unwillkürlich als Beschützer empfand. Ihre Furcht kannte keine Grenzen, bevor sie sich nicht so weit wie möglich von ihm entfernt hatten. Sollte sie Captain Hernshaw die ganze Wahrheit anvertrauen, sich seiner Gnade ausliefern und hoffen, dass er ihr half? Er ist doch ein Fremder! Wenn er die Wahrheit kennt, kann er das ausnutzen. Es war schwierig zu entscheiden, auf wen sie sich verlassen konnte … wenn es überhaupt noch jemanden gab, der ihr Vertrauen verdiente.

Georgie fröstelte. Sie erreichten eine Zeile mit vornehmen Stadthäusern an einem eleganten Platz. Wenigstens handelte es sich um eine gute Adresse, um einen Ort, an dem sie sich vielleicht ein paar Tage verstecken, wieder zu Kräften kommen und ihre Lage überdenken konnte. Sie blieb nahe bei ihrem Beschützer, der den Türklopfer betätigte. Ein alter Butler, ganz in Schwarz gekleidet, öffnete.

„Ah, da sind Sie ja, Sir.“ Seine blassblauen Augen streiften Georgies Gesicht, aber er ließ kein Anzeichen von Neugier erkennen. „Sie sind heute Abend früh dran, Captain Hernshaw.“

„Ja, Jensen“, erwiderte Richard mit mattem Lächeln. „Wie Sie sagen, bin ich früh dran, obwohl ich später noch einmal los muss. Hat Mrs. Jensen sich schon zurückgezogen?“

„Nein, Sir. Soll ich ihr melden, dass Sie ihre Dienste benötigen?“

„Sie soll mich bitte im Salon aufsuchen. Ich möchte, dass sie diesen jungen Burschen in ihre Obhut nimmt.“

„Den jungen Burschen in ihre Obhut?“ Einen Augenblick lang schien Jensens Gesicht zu versteinern, doch innerhalb von Sekunden fing er sich wieder. „Ja, natürlich, Sir. Ich werde es Mrs. Jensen sofort ausrichten. Haben Sie sonst noch einen Wunsch, Sir?“

„Danke, Jensen“, sagte Richard anerkennend. „Nichts bringt Sie aus der Fassung, nicht wahr? Nein, ich brauche sonst nichts. Ich beabsichtige, das Haus noch einmal zu verlassen, sobald ich eine Kleinigkeit erledigt habe.“

„Ganz wie Sie wünschen, Sir.“

Der Butler entfernte sich. Georgie folgte ihrem Beschützer in ein Zimmer von mittlerer Größe. Es war mit schweren Mahagonimöbeln ausgestattet, die ihm einen herrschaftlichen Anstrich verliehen. In diesem Haus wohnte eindeutig ein alleinstehender Mann. Vitrinen mit naturwissenschaftlichen Geräten aus Messing oder Stahl dominierten den Raum, außerdem zwei große Globen auf Ständern zu beiden Seiten des Fensters, vor dem ein Schreibtisch stand, auf den das Licht der Straßenlaterne fiel. Er war überhäuft mit seltsamen Fundstücken, die Georgie zunächst für alte Knochen hielt.

„Sind Sie Wissenschaftler?“, fragte sie ihren Retter neugierig.

„Nein, aber mein Onkel war Wissenschaftler“, erläuterte Richard. „Er hinterließ mir dieses Haus, und ich habe nichts daran verändert, wie du siehst. Onkel Frederick hat nie geheiratet. Er vermachte mir seinen Besitz, weil ich sein Lieblingsneffe war und …“ Er brach ab. Schmerz lag in seinen Augen. „Ich habe einmal viele seiner Interessen geteilt, aber ich war lange Jahre fort.“

„Oh …“, Georgie nahm einen Gegenstand in die Hand. „Was ist das?“

„Das Fragment eines urzeitlichen Echsenknochens“, erklärte Richard. „Mein Onkel beschäftigte sich mit Fossilien aller Art. Ich selbst hege kein besonderes Interesse für Knochen. Ich nutze dieses Haus fast nie, außer wenn ich in der Stadt bin.“ Er sah sie nachdenklich an. In der besseren Beleuchtung seines Hauses erkannte er, dass sie kein Kind mehr war. „Dich wird das alles nicht sonderlich interessieren. Willst du mir nicht lieber erzählen, wer du wirklich bist und was dich veranlasst hat, wegzulaufen?“

„Ich …“, begann Georgie, noch immer unsicher, ob sie ihm die ganze Geschichte anvertrauen sollte. Erleichtert nahm sie wahr, dass jemand an die Tür klopfte. Richard verzog ein wenig das Gesicht, zögerte aber nicht.

„Kommen Sie herein, Mrs. Jensen.“

Eine ältere Frau trat ein. Sie war von molliger Statur, hatte weiße Haare und machte einen freundlichen Eindruck, auch wenn sie etwas überrascht und besorgt schien. Offensichtlich konnte sie sich keinen Reim aus dem machen, was ihr Gatte ihr berichtet hatte.

„Kann ich etwas für Sie tun, Sir?“

„Ja, Mrs. Jensen“, antwortete Richard. „Ich möchte, dass Sie diesem Jungen helfen. Er steckt in Schwierigkeiten. Ich habe ihn aus Sicherheitsgründen mitgebracht. Er hat bereits gegessen, allerdings braucht er ein Bad, angemessene Kleidung und ein Bett zum Schlafen. Könnten Sie das bitte in die Wege leiten, Dora?“

„Selbstverständlich, Sir.“ Dora Jensen schaute Captain Hernshaw mit einer solchen Verehrung an, dass Georgie sofort klar wurde, dass sie ihn seit vielen Jahren kannte und ihm bedingungslos vertraute. „Der arme kleine Kerl. Ich nehme ihn sofort mit, wenn es Ihnen recht ist, Sir?“

„Ja, wenn Sie so nett wären.“ Er drehte sich zu Georgie um. „Dora war lange Jahre die Haushälterin meines Onkels. Sie kannte mich schon, als ich noch kurze Hosen trug. Sie wird sich um dich kümmern, Georgie. Ich muss noch einmal geschäftlich fort, aber wir sehen uns morgen früh. Dann sollten wir weiterreden.“

„Ja … vielen Dank.“ Sie lächelte ihn unsicher an. „Sie waren sehr … freundlich.“

Wortlos nickte er ihr zu. Georgie bemerkte, dass die Haushälterin auf sie wartete, und folgte ihr aus dem Salon die Stufen hinauf.

„Wir halten stets ein paar Zimmer für den Fall parat, dass der Captain einen Gast zum Übernachten einlädt. Obwohl er uns normalerweise wenig Aufwand bereitet.“ Mrs. Jensen blickte über die Schulter, um sicherzugehen, dass Georgie hinter ihr war. „Ich sage immer zu Jensen, dass sich kaum etwas geändert hat, seit der alte Herr verstarb.“

„Sie sprechen von Mr. Frederick Hernshaw?“

„Sir Frederick“, verbesserte Mrs. Jensen. „Er war ein Gelehrter, ruhig und überaus gebildet. Er hatte manchmal ein paar Dozenten zu Gast – Universitätsprofessoren wie er selbst – aber niemals eine Dame. Es gab in diesem Haus nie eine Herrin, so lange ich zurückdenken kann …“ Sie setzte eine grüblerische Miene auf. „Das führt mich zurück zu Ihnen, junger Mann, wenn Sie es nicht unhöflich finden, dass ich danach frage. Wer sind Sie, und wie sind Sie dem Captain begegnet?“

Georgie holte tief Luft und lächelte. „Das ist eine lange Geschichte, Mrs. Jensen. Captain Hernshaw weiß noch nicht alles über mich, aber wenn Sie mir versprechen, es für sich zu behalten, werde ich Ihnen einen Teil meines Geheimnisses anvertrauen.“ Sie streifte die hässliche Straßenkappe vom Kopf, und ihre langen dunklen Locken ringelten sich über ihre Schultern. Tapfer hielt sie dem erstaunten Blick der Haushälterin stand. „Ich möchte Sie nicht irreführen, Mrs. Jensen. Ich bin nicht, was ich derzeit zu sein scheine“, verriet Georgie und verbarg ihr Haar wieder unter der Kappe.

„Meine Güte“, sagte Dora Jensen. „Sie sind eine junge Dame! Ich dachte mir schon, dass etwas an Ihnen sonderbar ist, als ich Sie eben zum ersten Mal sah. Sie wirkten auf mich wie ein Mädchen, aber Ihre derzeitige Bekleidung machte es unwahrscheinlich. Wenn ich geradeheraus sprechen darf – es gehört sich nicht für eine Dame, sich im Haus eines unverheirateten Gentlemans aufzuhalten.“

„Da haben Sie völlig recht“, pflichtete Georgie ihr bei. „Wenn ich Ihnen jedoch erzähle, dass ich beinahe verhungert war, als er mich fand, haben Sie vielleicht ein Nachsehen mit mir.“

„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen“, sprach Mrs. Jensen sanft. „Ich erkenne eine anständige Person, wenn ich sie sehe, und etwas sagt mir, dass Sie in schrecklichen Schwierigkeiten stecken.“

„Ja, das stimmt“, gab Georgie zu, und ihre Unterlippe zitterte. „Ich bin in einer entsetzlichen Lage – und ich habe fürchterliche Angst. Nur deshalb bin ich hierhergekommen, in das Haus eines Fremden. Er gab mir zu essen und sicherte mir seine Hilfe zu, aber er kennt die wahre Geschichte noch nicht, auch wenn er weiß, dass ich ein Mädchen bin.“

„Sie sollten ihn niemals anlügen, Miss!“

„Ja, das ist sicher richtig. Doch ich konnte ihm zunächst nicht alles anvertrauen“, erklärte Georgie, die zu der älteren Frau Zutrauen fasste. „Ich bin in großer Gefahr. Mehr kann ich Ihnen nicht verraten, denn … nun, ich kann es einfach nicht!“

„So etwas“, Dora schüttelte den Kopf. „Das muss ja eine schreckliche Angelegenheit sein – wenn es stimmt, was Sie da andeuten …“

Georgie kreuzte ihre Finger hinter dem Rücken. Es kam der Wahrheit näher, als das, was sie Captain Hernshaw gestanden hatte. Sie hatte Angst, dass ihr Beschützer ihr keinen Glauben schenken und sie zurück zu ihrer Familie schicken würde. Das musste sie um jeden Preis verhindern.

„Ich lüge Sie nicht an, Mrs. Jensen. Ich kann nur niemandem die ganze Geschichte erzählen.“

„Ich gehe davon aus, dass Sie mich nicht belügen“, entgegnete die Haushälterin und musterte Georgie. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was wir mit Ihnen tun sollen, Miss. In diesem Haushalt gibt es keine jungen Damen, und meine Kleider sind viel zu groß für Sie.“

„Oh, ich will mich gar nicht wie ein Mädchen kleiden“, offenbarte Georgie. „Ich könnte hier unmöglich bleiben, wenn die Leute mich erkennen – und das wäre wahrscheinlich der Fall, sobald ich in Mädchenkleidung gesehen werde. Ich gehöre der feinen Gesellschaft an. Wenn man erfährt, dass ich mich in diesem Haus aufhalte, setze ich meinen guten Ruf aufs Spiel. Könnten Sie mir nicht etwas Passendes besorgen?“

„Also ich weiß nicht, Miss.“ Dora blickte sorgenvoll drein. „In diesem Haus gibt es praktisch nur Herrenbekleidung, weil hier immer nur Junggesellen wohnten – aber möglicherweise besitzt der Captain noch das ein oder andere Stück aus seiner Jugendzeit.“

„Notfalls könnten Sie vielleicht meine Kleidung waschen?“ Georgie schaute fragend an sich herunter.

„Das werde ich keinesfalls tun“, sagte Dora entschieden. „Diese Sachen gehören in die Lumpensammlung. Sie können einen Morgenmantel des Captains anziehen. Ich werde Henderson bitten, Entsprechendes für Sie herauszusuchen – er ist sein Diener und hat ihn bereits während seiner Militärzeit begleitet.“

„Oh …“, Georgie zögerte. „Sie verstehen doch, dass es besser ist, die Leute glauben, ich sei ein Junge?“

„Ja, Miss“, erwiderte Dora, obwohl sie skeptisch blieb. „Hier ist Ihr Zimmer, Miss – oder vielleicht sollte ich Sie besser Master nennen?“

„Nennen Sie mich Georgie. Das ist mein Name, und er kann sowohl für einen Jungen als auch für ein Mädchen stehen, nicht wahr?“

„Sie sind mir ja was“, sagte Dora und schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, was wir mit Ihnen anstellen sollen, aber der Captain hat Sie in meine Obhut gegeben, und ich werde mein Bestes tun. Henderson kommt gleich mit dem Badezuber hoch. Das heiße Wasser bringe ich selbst. Machen Sie es sich bequem, Master Georgie, ich bin bald zurück.“

Georgie dankte ihr und betrat den Raum. Es war ein hübsch geschnittenes Schlafgemach, auch wenn es – wie das Arbeitszimmer – mit schweren dunklen Möbeln eingerichtet war, und die Vorhänge und Bettbezüge düstere Farben aufwiesen. Alles wirkte sehr junggesellenhaft und anders als das, was sie ihr ganzes Leben lang umgeben hatte. Allerdings war es hier weit besser als auf der Straße.

Als Mrs. Jensen die Tür hinter sich schloss, ließ sich Georgie in einem Sessel am Fenster nieder und schaute hinaus. Vorläufig war sie hier in Sicherheit. Niemand würde in diesem Haus nach ihr suchen. Noch saß der Schrecken tief, dass sie ihn gesehen hatte, als sie mit Captain Hernshaw das Gasthaus verließ, und sie war erleichtert, dass ihr neuer Bekannter ihr Schutz gewährte. Für einen Moment schloss sie die Augen. Sie fühlte sich krank vor Angst. Dieser schreckliche Mann war ganz in der Nähe! Sie war darüber zutiefst beunruhigt, auch wenn er sie in ihrer Jungenkleidung wahrscheinlich nicht erkannt hatte. Doch die Bedrohung ließ ihr keine Ruhe, denn sie wollte lieber sterben, als zurückzukehren. Man würde sie zu einem Leben zwingen, das sie nicht ertragen konnte.

Sie war von ihrer Tante und ihrem Onkel fortgelaufen, die mit diesem Unmenschen unter einer Decke steckten, um sie ihres Erbes zu berauben. Sie wollten sie zwingen, einen Mann zu heiraten, den sie hasste.

Ich werde ihn niemals heiraten! Nie und nimmer! Lieber sterbe ich, als seine Frau zu werden.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber es gelang ihr, sich zusammenzureißen. Der schlimmste Teil der Prüfung lag hinter ihr. Sie hungerte und fror nicht mehr, und vielleicht war es möglich, die schrecklichen Erinnerungen an das Leben auf der Straße zu vergessen. Sie musste einen klaren Kopf bewahren und entscheiden, was sie als Nächstes tun sollte, denn sie befand sich nach wie vor in einer heiklen Lage.

Sie hob den Kopf, als sie das Klopfen an der Tür vernahm. „Herein!“

Ein Mann Mitte dreißig betrat den Raum mit einem großen Metallzuber, den er direkt vor dem Kamin abstellte. Dann kniete er nieder, steckte den Zunder an und schob die Flamme in die Mitte der trockenen Holzscheite, die rasch Feuer fingen, als er mit dem Blasebalg nachhalf.

Georgie schaute ihm gedankenverloren zu. Er blickte zu ihr auf, und sie sah die schreckliche Narbe auf seiner Wange. Anstatt zurückzuschrecken, empfand sie Sympathie für ihn und lächelte, in der Hoffnung er würde bemerken, dass seine Entstellung bei ihr keinen Ekel hervorrief.

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen, Sir.“

„Nennen Sie mich Henderson“, entgegnete er, und seine dunklen Augen verengten sich. „Ich bin der Kammerdiener des Captains. Ich war mit ihm bei der Armee. Er rettete mein Leben, als ich verwundet war, und gab mir Arbeit. Wie Mrs. Jensen mir erklärte, sind Sie hier, weil er Sie ebenfalls gerettet hat.“

„Ja …“ Georgie zögerte, da sie nicht genau wusste, was die Haushälterin ihm noch erzählt hatte. „Ich brauche Kleidung, Henderson. Besitzt der Captain etwas, das mir passen könnte?“

„Seine Sachen werden Ihnen zu groß sein, aber ich kümmere mich darum“, versprach er. „Ich denke, vorerst müssen Sie mit dem Vorhandenen vorlieb nehmen, Master, obwohl Sie natürlich nicht damit ausgehen können.“

„Ich danke Ihnen. Ich will das Haus heute ohnehin nicht mehr verlassen“, erwiderte Georgie. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Mrs. Jensen mit einem großen Krug eintrat. Ihr folgte ein junger Bediensteter, der zwei Wasserkannen trug, die er im Zuber leerte. Beim Hinausgehen warf er ihr einen neugierigen Blick zu.

„Sie können jetzt gehen, Henderson“, erklärte Mrs. Jensen dem Diener des Captains, dem es inzwischen gelungen war, das Feuer vollständig zu entfachen. „Ich werde dem Jungen helfen.“

„Ich finde etwas zum Anziehen“, beteuerte Henderson und verließ den Raum. Georgie blieb allein mit der Haushälterin zurück.

„Sie sollten besser die Tür abschließen“, empfahl Mrs. Jensen. „Wenn wir Ihr Geheimnis bewahren wollen, sollte niemand ohne Vorwarnung eintreten. Im Kleiderschrank ist ein Morgenrock, den ein Gast hier vergessen hat. Ziehen Sie ihn unbedingt an, bevor Sie die Tür öffnen, oder möchten Sie, dass jemand Verdacht schöpft?“

„Nein, natürlich nicht“, stimmte Georgie zu. „Vielen Dank, Mrs. Jensen. Ich war mir nicht sicher, was Sie Mr. Henderson erzählt haben.“

„Ich habe ihm nicht mehr als nötig gesagt“, erwiderte Dora. „Aber er ist kein Dummkopf. Ich bezweifle, dass er lange braucht, um von selbst dahinterzukommen.“

Georgie nickte. Sie schloss die Tür hinter der Haushälterin und zog sich aus. Der Anblick des Dampfes, der vom Badezuber aufstieg, war verlockend. Seit ihrer Flucht aus dem Haus ihres Onkels hatte sie kein Bad mehr nehmen können. Das Wasser duftete angenehm. Sie seufzte vor Vergnügen, als sie in die Wanne stieg und ganz in das warme Wasser eintauchte. Es besaß genau die richtige Temperatur, nicht zu heiß und nicht zu kalt. Sie schloss ihre Augen und lehnte sich entspannt mit dem Rücken gegen ein Handtuch. Was für eine Wohltat! Wie sehr hatte sie die gewohnten Annehmlichkeiten vermisst! Sie fand es schrecklich, sich schmutzig zu fühlen. Wie ertragen es Menschen bloß, so zu leben? Wohl nur, weil sie keine andere Wahl haben, genau wie ich, nachdem mir mein Geld gestohlen wurde.

Eine Träne lief ihr über die Wange. Vor zwei Jahren war sie noch das geliebte einzige Kind nachsichtiger Eltern gewesen. Der tragische Kutschenunfall, bei dem sie gleichzeitig die Mutter und den Vater verlor, veränderte ihr Leben von Grund auf. Sie geriet in die Obhut Henry Mowbrays, des ältesten Bruders der Mutter. Zunächst gaben sich Tante und Onkel einigermaßen freundlich, aber kaum rückte ihr neunzehnter Geburtstag näher und damit auch ihr Anrecht auf das Vermögen der Eltern, verhielten sie sich mit einem Mal ganz anders. Zunächst waren ihr nur die seltsamen Blicke und die abrupt abgebrochenen Gespräche aufgefallen, sobald sie den Raum betrat. Doch dann hatte sie eines Morgens zufällig gehört, wie sie über sie sprachen.

„Er erlässt mir die Schulden, wenn wir ihm das Mädchen geben“, hatte Onkel Henry gesagt, als Georgie sich der Salontür näherte. „Ich bin ihm völlig ausgeliefert. Wenn ich ablehne, kann er mich ruinieren – und er wird nicht zögern, es zu tun!“

„Du hättest dich niemals auf seine Pläne einlassen dürfen“, hatte Tante Agatha ungehalten erwidert. „Sie bedeutet mir nichts, natürlich nicht, aber nichtsdestotrotz … bei diesem Mann läuft es mir kalt den Rücken herunter. Ich kann das nicht gutheißen. Bist du sicher, dass es keinen anderen Ausweg gibt?“

„Er will sie und das Geld, aber wenigstens willigt er ein, uns die Schulden zu erlassen. Die Kleine schnappt er sich ohnehin, auch wenn ich ablehne – und mich kann er in vielerlei Hinsicht ruinieren.“

„Aber dieser Mann … er macht mir Angst, Henry. Und sie ist doch fast noch ein Kind. Ich mag gar nichts davon hören.“

„Er will sie oder sein Geld zurück, und du weißt, dass ich nicht zahlen kann.“

Da ihr Onkel auf die Salontür zugeschritten war, hatte Georgie sich schleunigst entfernt. Es schien ihr besser, ihn nicht wissen zu lassen, dass sie alles mit angehört hatte. Sonst hätte er sie eingeschlossen, bis er sie dazu gebracht hatte, diesen Mann zu heiraten! Sie wusste, wen der Onkel meinte. Ihr war nicht entgangen, wie er sie bei seinem letzten Besuch beäugt hatte. Seine schmutzigen Blicke widerten sie an! Sie würde diesen Kerl niemals heiraten, was immer sie ihr auch antun mochten.

Noch in derselben Nacht war Georgie aus dem Haus ihres Onkels geflohen, entschlossen, ein Versteck zu finden, bis sie ihr Erbe antreten konnte. Sobald sie es in Händen hielt, würde sich problemlos ein eigenes Heim mit angemessener Gesellschaft finanzieren lassen. Ihre Pläne waren zunächst unausgereift gewesen. Sie hatte ganz intuitiv gehandelt, als sie in die Postkutsche nach London stieg, mit der Idee im Hinterkopf, die Anwälte ihres Vaters aufzusuchen. Aber nachdem ihr der Geldbeutel gestohlen worden war, hatte sich ihre Situation dramatisch verschlechtert. Es ging nur noch ums Überleben. Und nun befand sie sich im Haus eines Gentlemans, dem sie heute zum ersten Mal begegnet war!

Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das Glück ihr hold gewesen war. Londons Straßen waren weit gefährlicher, als sie es sich jemals hatte vorstellen können. Wenn sie es geschickt anstellte, würde Captain Hernshaw ihr weiterhelfen. Vielleicht konnte sie sich an ihre Großtante wenden, obwohl es ihr widerstrebte, denn die alte Dame hatte sich stets distanziert verhalten. Unter den gegebenen Umständen stellte sie trotzdem einen Hoffnungsschimmer dar. Möglicherweise wäre es klüger gewesen, sie direkt um Hilfe zu bitten, doch Georgie hatte in ihrer Not ganz impulsiv gehandelt, erfüllt von der Angst, zu lange zu warten.

Sie verweilte im Bad, bis das Wasser erkaltete, dann stieg sie aus der Wanne und trocknete sich ab, bevor sie den weichen Seidenmorgenmantel überzog, den die Haushälterin für sie herausgelegt hatte. Er war so groß, dass er ständig von ihren Schultern rutschte. Sie musste ihn hochraffen und weit über der Taille festknoten, damit sie nicht ständig über seinen Saum stolperte. Aber er fühlte sich warm an. Sie ging zur Frisierkommode und betrachtete sich im Spiegel. Ihr langes dunkles Haar glänzte. Es war noch feucht, und die Locken umspielten ihre Schultern. Ein verräterisches Merkmal meiner Weiblichkeit! Sie biss auf ihre Unterlippe, denn sie wusste, dass sie die Wahrheit nicht lange verbergen konnte, wenn sie ihre Haare so beließ. Sie wollte sie nicht abschneiden, doch ihr war klar, dass ihr nicht viel anderes übrig blieb.

Georgie zog die obere Schublade der Kommode hervor und entdeckte eine Schere. Zögernd tastete sie nach dem ringförmigen Griff und fasste das Werkzeug schließlich mit Entschiedenheit. Wenn sie nicht entdeckt werden wollte, musste sie tapfer sein. Sie hielt eine Hand voll Haare nach oben und setzte die Schere an. Es nutzte nichts, sie musste ihre Lockenpracht opfern!

„Das würde ich nicht tun, wenn ich an Ihrer Stelle wäre.“ Georgie drehte sich erschrocken um und sah, dass Henderson durch den Ankleideraum eingetreten war. Sie hatte bis dahin gar nicht bemerkt, dass es eine zweite Tür gab. „Eine echte Schande, die schönen Locken abzuschneiden, wenn Sie mich fragen.“

Georgie stand auf, Bestürzung lag in ihrem Gesicht. „Ich hatte abgeschlossen …“

„Ich habe die angrenzende Tür benutzt. Ich klopfte an, aber Sie haben mich nicht gehört.“

„Ich war ganz in Gedanken versunken.“ Georgie blickte ihn an. „Sie wussten von Anfang an, dass ich ein Mädchen bin, nicht wahr? Hat Mrs. Jensen es Ihnen gesagt?“

„Ich habe es nur vermutet“, erklärte Henderson. „Ich habe zwar schon zarte Jungen gesehen, und bei schlechter Beleuchtung kann man sich irren. Aber jeder, der Sie jetzt sieht, wäre sich ganz sicher. Ich habe Ihnen ein paar Kleidungsstücke mitgebracht – und eine Kappe, sodass Sie Ihr Haar verbergen können.“

„Ich muss es abschneiden“, sagte Georgie. „Würden Sie mir dabei helfen, Henderson? Ich weiß nicht, ob es mir am Hinterkopf gelingt.“

„Ich schneide es ab, wenn Sie das wirklich ernst meinen“, erwiderte der Diener. „Doch wenn Sie mich fragen, ist es eine gehörige Schande, Miss.“

„Nennen Sie mich Georgie“, bat sie. „Wenn irgendjemand die Wahrheit erfährt … Sie müssen wissen, ich bin in fürchterlicher Gefahr. Es gibt jemanden, der mir … großen Schaden zufügen will.“ Es war alles, was sie ihm mitteilen konnte, sie wagte nicht, ihm mehr zu verraten. Mit Tränen in den Augen schaute sie ihn an.

„Nicht, wenn ich nah genug bin, um ihn daran zu hindern“, versicherte Henderson und zog ein grimmiges Gesicht. „Sie sollten es dem Captain erzählen, Georgie. Er wird es nicht zulassen.“

„Ich kann ihm das unmöglich aufbürden“, erwiderte sie. „Er hat mir bereits genug geholfen. Ich muss zu meiner Großtante. Sie lebt in Yorkshire und ist die einzige Person, der ich vertrauen kann.“

„Reden Sie mit dem Captain. Er wird Ihnen helfen, dorthin zu gelangen.“ Henderson näherte sich, betrachtete skeptisch ihr langes Haar und die Schere. „Sind Sie sicher, dass es abgeschnitten werden soll?“

„Ja …“, bevor Georgie weiterreden konnte, hörte sie Geschrei. Jemand schlug verzweifelt gegen die Tür. Sie sprang auf, um zu öffnen, und Mrs. Jensen stolperte in den Raum. „Ist etwas passiert?“

„Der Captain“, schrie die Haushälterin. „Er ist schwer verletzt worden, Miss, gar nicht weit entfernt von hier. Er ist gerade ins Haus getaumelt, von oben bis unten voller Blut. Er ist von Blut durchtränkt! Was für ein grauenhafter Anblick! Er braucht Sie, Henderson!“ Ihre Hände zitterten. „So etwas ist nie passiert, als Sir Frederick noch lebte. Ich kann den Anblick von Blut nicht ertragen. Das konnte ich noch nie.“

„Wo ist er?“, herrschte Henderson sie an. „Reißen Sie sich zusammen, Frau! Ich brauche Ihre Hilfe.“

Mrs. Jensen schlotterte am ganzen Körper und schien völlig außer sich. „Sie haben ihn in sein Schlafgemach getragen. Ich kann Ihnen nicht helfen. Es tut mir leid, aber es geht einfach nicht …“

„Dann mache ich es“, rief Georgie sofort. „Ich habe keine Angst vor ein bisschen Blut. Gehen Sie zu ihm, Mr. Henderson. Ich folge Ihnen, sobald ich angekleidet bin.“

„Oh, Miss“, wimmerte die Haushälterin und vergaß in ihrer Not alle Diskretion. „Der arme Herr! Wir haben nach dem Doktor gerufen, aber es steht schlecht um ihn.“

2. KAPITEL

Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging Henderson hinaus. Georgie schlüpfte eilig in die Kleidung, die er für sie dagelassen hatte. Während sie hastig die viel zu großen Breeches und das weite Hemd anzog, kehrte sie der Haushälterin den Rücken zu. Georgie rollte die Hemdsärmel und versteckte ihr langes Haar unter der Kappe.

„Sagen Sie mir, wo er ist“, forderte sie Mrs. Jensen auf, die noch immer wie benommen vor sich hinstarrte. „Mr. Henderson braucht Hilfe, wenn Captain Hernshaw ernsthaft verletzt ist.“

„Folgen Sie mir“, sprach Dora, die Georgies Worte aus dem Trancezustand rissen. „Ich bringe Sie hin, aber fragen Sie nicht, ob ich helfe, denn allein der Anblick macht mich ohnmächtig. Blut konnte ich noch nie ertragen. Das ist nicht zu ändern!“

„Wir schaffen das schon“, entgegnete Georgie, die Verständnis für Dora Jensens Reaktion aufbrachte. „Meiner Tante erging es genau wie Ihnen. Als mein Onkel eine Schussverletzung hatte, musste ich ihn verarzten, bis der Doktor kam …“ Georgie hielt inne. Sie hatte schon zu viel gesagt. Ihren Onkel hatte sie überhaupt nicht erwähnen wollen!

„Ich dachte …“ Dora schüttelte den Kopf. Der Anblick des Captains, wie er blutüberströmt ins Haus gestolpert war, hatte sie zutiefst erschüttert und sie in einen Schockzustand versetzt. Sie war davon ausgegangen, dass Georgie ganz allein auf der Welt war. Nun stellte sich heraus, dass sie eine Tante und einen Onkel hatte. Es war jedoch nicht die Zeit, um an etwas anderes zu denken als an Captain Hernshaw. „Kommen Sie schnell mit.“

Georgie eilte hinter der Haushälterin her durch den Korridor bis zu einer Flügeltür, die in die Räume des Captains führte. Sie trat ein und ließ Mrs. Jensen an der Türschwelle zurück. Sie erreichte einen Salon, der weniger dunkel eingerichtet war als der Rest des Hauses, und hörte eine Stimme aus dem dahinterliegenden Schlafgemach.

„Hierher!“

Rasch folgte Georgie Hendersons Ruf und fand ihn über den Körper seines Herrn gebeugt. Überall war Blut. Henderson versuchte verzweifelt, eine Kompresse gegen eine offene Wunde an Captain Hernshaws Schulter zu pressen, während er einen anderen Bediensteten anwies, dasselbe mit einer Wunde am Oberschenkel zu machen.

„Was soll ich tun?“, fragte Georgie.

Henderson blickte auf. „Sie fallen mir nicht in Ohnmacht?“

„Nein“, versicherte sie. „Soll ich versuchen, den Verband gegen die Wunde an der Schulter zu pressen, während Sie den offenen Schenkel behandeln? Er sieht am schlimmsten aus. Versuchen Sie es zu nähen oder abzubinden, bis der Doktor da ist!“

„Wir können nicht warten“, entgegnete Henderson knapp. „Wenn ich die Wunde nicht schließen kann, wird er verbluten.“

„Dann tun Sie, was Sie können“, sagte Georgie. „Ich werde die Kompresse an seiner Schulter anbringen, dann können sie den Captain zu zweit festhalten. Er wird wahrscheinlich wieder zu Bewusstsein kommen und gegen den Schmerz ankämpfen, sobald Sie mit dem Nähen beginnen.“

„Sie haben damit Erfahrung“, bemerkte Henderson und warf ihr einen anerkennenden Blick zu. Er schob den Bediensteten auf die andere Seite und untersuchte die tiefe Wunde am Oberschenkel seines Patienten. „Ich werde es erst einmal nur grob zunähen, um die Blutung zu stoppen. Das wird nicht schön ausschauen, aber vielleicht rettet es ihn.“

„Verlieren Sie keine Zeit“, riet Georgie und drückte die Kompresse so fest wie sie konnte gegen die zweite Wunde. „Andernfalls stirbt er. Keiner übersteht einen solchen Blutverlust.“

Fast eine Stunde später betrachtete Georgie den Mann, der inmitten der blutbefleckten Bettlaken lag. Sein Gesicht war kreidebleich. Sie hielt ihn für bewusstlos, denn er hatte so heftig getobt, als Henderson anfing, die Wunde am Oberschenkel zu nähen, dass der Kammerdiener ihn mit einer hohen Dosis Laudanum hatte außer Gefecht setzen müssen.

Sie zitterte, denn sie wusste, wie knapp er in dieser Nacht dem Tod entkommen war. Nach den Anstrengungen, sein Leben zu retten, fühlte sie sich schwach. Es war weit schlimmer gewesen als bei der Schussverletzung ihres Onkels. Und nach wie vor gab es keine Garantie, dass der Captain überleben würde. Wie leicht konnte er Fieber bekommen. Außerdem bestand die Gefahr, dass sich die genähte Wunde entzündete.

„Sie sehen schrecklich aus“, sorgte sich Henderson. „Sie sollten sich hinlegen, Georgie. Ich schaffe es jetzt allein.“

„Er wird viel Pflege benötigen“, erwiderte Georgie. Sie wusste nicht, warum, doch es widerstrebte ihr, den Captain zu verlassen, der so reglos und blass dalag. „Ich habe etwas Ähnliches schon einmal erlebt. Es war nicht ganz so furchtbar, aber schlimm genug. Ihr Herr schwebt weiterhin in Lebensgefahr, weil er so viel Blut verloren hat.“

„Ja, das weiß ich. Der Doktor muss noch nach ihm sehen, aber wir hätten nichts anderes tun können.“

„Besser als Sie hätte es ein Arzt auch nicht machen können“, lobte Georgie. „Haben Sie das beim Militär gelernt?“

„Mein Vater war Wundarzt in der Armee. Er wünschte sich, dass ich in seine Fußstapfen trete, aber ich wollte Soldat werden. Da draußen habe ich dann rasch gelernt, wie wichtig die Fähigkeiten meines Vaters waren. Deshalb habe ich versucht, mir so viele Kenntnisse wie möglich anzueignen – von ihm und aus Büchern.“

„Sie haben Captain Hernshaw das Leben gerettet.“

„Falls er durchkommt.“

Georgie nickte, denn sie wusste, dass der Ausgang offen war. „Ich lege mich jetzt hin, aber ich komme später und löse sie ab.“

Todmüde ging sie auf ihr Zimmer, und Henderson beseitigte das Durcheinander, das sie bei der Operation verursacht hatten.

Alles war so schnell gegangen. Erst jetzt begriff Georgie, was geschehen war. Während sie um Captain Hernshaws Leben gekämpft hatten, war sie nur von dem Gedanken angetrieben worden, dass er nicht sterben sollte! Ihn in Lebensgefahr daliegen zu sehen, hatte sie mehr berührt, als sie es sich hatte vorstellen können. Sie kannte ihn erst wenige Stunden und bangte bereits um ihn wie um einen guten Freund. Sie wusste nicht, warum, aber sie spürte, dass es für sie bedeutsam war, dass er am Leben blieb.

Kaum dass ihr Kopf ins Kissen gesunken war, schlief Georgie ein. Als sie erwachte, krochen die ersten Strahlen der Morgensonne durch das Fenster. Einen Augenblick streckte sie sich wohlig aus, bemerkte, dass sie in ihrer Kleidung eingeschlafen war, und all die Ereignisse der vergangenen Nacht kamen ihr zu Bewusstsein. Sie sprang auf und eilte den Korridor entlang in die Räume des Captains. Als sie das Schlafgemach betrat und zum Bett ging, legte Henderson dem Patienten gerade ein nasses Tuch auf die Stirn.

„Wie geht es ihm?“

„Er hat Fieber“, erwiderte Henderson. „Das Laudanum hat ihn zunächst ruhiggestellt. Doch jetzt beginnt er zu kämpfen.“

„Sie waren die ganze Nacht auf“, sorgte sich Georgie. „Ich wollte Sie ablösen, aber ich bin zu fest eingeschlafen. Geben Sie mir das Tuch. Ich werde mich um ihn kümmern, dann können Sie sich endlich ausruhen.“

„Ja, ich brauche ein bis zwei Stunden“, stimmte Henderson zu. „Der Arzt war inzwischen hier und brachte Medizin gegen das Fieber. Ich habe dem Captain bereits eine Dosis verabreicht. Mehr sollte er in den nächsten zwei Stunden nicht einnehmen. Wenn ich zurück bin, werde ich ihm wieder etwas geben. Nur damit Sie für alle Fälle Bescheid wissen, er soll dann nicht mehr als einen Löffel einnehmen.“

„In Ordnung“, antwortete Georgie und schaute zu der Kleidertruhe hinüber, auf der die braune Flasche stand. Sie blickte auf die Wanduhr und merkte sich die Zeit. „Er muss also die Medizin wieder um neun Uhr fünfundvierzig einnehmen.“

„Richtig“, bestätigte Henderson. „Dann überlasse ich Ihnen jetzt eine Weile die Pflege – ich danke Ihnen.“

„Er hat mir geholfen. Es ist nur recht und billig, dass ich ihm beistehe.“

Henderson sah sie einen Augenblick an, sagte aber nichts mehr, drehte sich um und ließ sie mit dem Patienten allein.

„Justin …“ Georgie wandte sich dem Captain sofort zu, als sie dessen fiebriges Gemurmel vernahm. „Verzeihe mir … ich hätte dort sein müssen … stirb nicht … es tut mir leid … es war nicht deine Schuld … es war nicht deine Schuld …“

Georgie tauchte das Tuch in kaltes Wasser, wrang es aus und legte es auf seine erhitzte Stirn. Sein dunkles Haar hing ihm in Strähnen ins Gesicht. Er trug es etwas länger als die meisten Männer. Wie ein Rebell schaut er aus, einer, der sich nichts aus der Tagesmode macht.

„Justin … nein …“ Er gab einen gequälten Schrei von sich, richtete den Oberkörper auf und stierte mit wildem Gesichtsausdruck geradeaus. „Du darfst nicht sterben … vergib mir … vergib mir …“

„Er vergibt Ihnen“, beruhigte ihn Georgie, während er stöhnend zurück in die Kissen sank. Sie war sich nicht sicher, ob er sie in seinem Fieberwahn hören konnte. Um ihn zu besänftigen, streichelte sie ihm die Wangen. Ihn zu berühren, fühlte sich seltsam an. Sie merkte, dass er sie brauchte, und sie sehnte sich danach, ihm zu helfen. Seine Schmerzen rührten sie zu Tränen. „Er weiß, dass Sie ihn retten wollten … es ist nicht Ihre Schuld, wenn er …“

Plötzlich fasste er nach ihrem Handgelenk. Er blickte sie an, aber seine Augen sahen durch sie hindurch. „Ich wusste es“, murmelte er. „Ich wusste, was sie ihm antaten! Ich hätte sie stoppen müssen. Es war nicht seine Schuld … sie haben ihn getötet …“

„Es ist alles in Ordnung.“ Wieder streichelte Georgie ihn zärtlich. „Ruhen Sie sich aus. Justin ist in Sicherheit …“

„Nein, er starb …“ Tränen rannen seine Wangen hinunter. „Er starb, weil ich nicht dort war, um ihm zu helfen …“

„Aber Sie wollten es“, tröstete ihn Georgie, deren Herz sich angesichts seiner Verzweiflung zusammenzog. „Sie hätten ihm geholfen, wenn Sie gekonnt hätten …“

„Ich habe ihn im Stich gelassen …“ Seine Augen schlossen sich wieder, und er schien ein wenig ruhiger zu werden.

Sie strich ihm über das Haar und wischte mit dem kühlen Tuch den Schweiß von seiner Stirn und die Tränen aus seinem Gesicht. Der fiebrige Anfall hatte viel über ihn offenbart. Wer hätte gedacht, dass ihn etwas so tief bewegte? Er schien ein ernster Mann zu sein, der sich keine Gefühle anmerken ließ, aber offenkundig täuschte dieser Eindruck. Ohne es zu wollen, hatte er eine andere Seite seines Charakters preisgegeben, eine, die sie vermutlich nie kennengelernt hätte, wenn er nicht so gefährlich verletzt worden wäre. Es berührte sie und weckte zarte Gefühle, die ihr neu vorkamen. Um wen es sich wohl bei Justin handelt? rätselte Georgie. Warum fühlte sich Captain Hernshaw für dessen Schicksal verantwortlich?

Es geht mich nichts an, beschloss sie und setzte sich wieder auf den Stuhl, den Henderson ans Bett gerückt hatte. Wenigstens ruhte der Captain sich eine Weile aus. Er hatte noch immer Fieber, sprach aber nicht mehr vor sich hin und schien sich etwas wohler zu fühlen.

Sie betrachtete seine Gesichtszüge. Er war kein schöner Mann, wenn man die üblichen Maßstäbe zugrunde legte. Seine Züge wirkten rau, die Nase war gerade und herrisch. Sein Mund kam ihr nun weicher vor, nicht hart oder verbittert, wie er anfangs gewirkt hatte, als er erbost gewesen war. Dichte dunkle Wimpern umrahmten seine geschlossenen Augen. Sie wusste, dass sie grau waren – Augen, die kalt blicken oder vor Heiterkeit funkeln konnten. Er machte sie neugierig. Was für ein Mann nimmt einen Straßendieb mit zu sich nach Hause? Wer wird so von etwas Vergangenem gequält? Hat er etwas Schreckliches getan? Ist das der Grund, weshalb er im Fieber um Vergebung bat?

Sie gestand sich ein, dass sie es wahrscheinlich nie erfahren würde. Sie hatte ihn überreden wollen, ihr zu helfen, sodass sie zu ihrer Großtante gelangen konnte. Aber er würde das Bett voraussichtlich einige Wochen nicht verlassen. Sollte sie die ganze Zeit bleiben, wenn er es ihr erlaubte?

Sie war hin- und hergerissen, während sie ihn ansah. Einerseits war es klüger, fortzugehen und sich nicht weiter auf ihn einzulassen. Vielleicht würde einer seiner Bediensteten ihr genug Geld leihen, damit sie die Postkutsche nach Yorkshire nehmen konnte … Andererseits konnte sie den Verwundeten in diesem Zustand nicht im Stich lassen. Gegen ihren Willen fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Überdies brauchte Henderson Hilfe, bis sein Herr das Schlimmste überstanden hatte. Ich will ihm helfen, für ihn sorgen und sehen, wie er wieder zu Kräften kommt, gestand Georgie sich ein. Ich will ihn berühren und … Eilig verbannte sie die törichten Gedanken. Sie würde nicht davonlaufen, solange er sie brauchte, aber sie würde auch keine albernen Gedanken mehr zulassen!

Genau zwei Stunden später kam Henderson wieder zurück. Georgie zweifelte, ob er überhaupt geschlafen hatte. Als sie sich erkundigte, erklärte er bloß, er sei ausgeruht.

„Ich habe mich daran gewöhnt, nicht viel Schlaf zu bekommen, als wir in Spanien gekämpft haben“, erklärte er. „Mrs. Jensen sagt, Sie sollen herunterkommen, Georgie. Sie serviert Ihnen im Kleinen Salon Frühstück.“

„Oh … danke schön“, entgegnete Georgie, die Hunger verspürte. „Möchten Sie, dass ich Ihnen vorher noch helfe, ihm die Medizin zu verabreichen?“

„Das ist nicht nötig“, antwortete Henderson. „In seinem Zustand ist es einfach mit ihm. Sobald er wieder mehr er selbst ist, wird er ruhelos. Dann ist er kein angenehmer Patient.“

„Sie haben ihn schon einmal gesund gepflegt?“

„Ja, er wurde schon mehrmals schwer verwundet.“

„Er konnte sich glücklich schätzen, Sie an seiner Seite zu haben.“

„Ich bin der Glückliche“, räumte Henderson ein. „Als ich von Granatsplittern getroffen wurde, riss es mir mein Gesicht in Streifen, und ich hatte eine furchtbare Bauchverletzung. Alle dachten, mit mir ginge es zu Ende, nur er verließ mich nicht. Er hob mich auf sein Pferd und brachte mich zum Lager zurück. Er zwang den Wundarzt, mich wieder zusammenzuflicken, und dann hockte er bei mir, bis er wusste, dass ich durchkommen würde. Er bezahlte jemanden, der mich gesund pflegte. Viele hätten mich einfach sterbend zurückgelassen – und als sie mir sagten, ich wäre nicht mehr tauglich für die Armee, gab er mir eine Anstellung bei sich auf Lebenszeit.“

Georgie sah ihn unverwandt an. „Sie lieben ihn, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht, ob es brüderliche Liebe ist oder Dankbarkeit.“ Henderson zog eine Grimasse. „Allerdings weiß ich, dass ich für ihn sterben würde, wenn es darauf ankäme.“

„Das nenne ich Liebe.“ Georgie lächelte. „Ich komme später zurück. Wir werden uns gemeinsam um ihn kümmern.“

„Ja, Miss, wenn Sie das möchten.“

„Das will ich“, bestätigte sie. „Und Sie können mich Georgie nennen.“

Henderson warf ihr einen sonderbaren Blick zu, antwortete aber nicht.

Ihr wurde klar, dass er ein Mann war, der nur sprach, wenn er es für notwendig hielt. Umso mehr freute sie sich, dass er ihr seine Geschichte erzählt hatte. Es bedeutete, dass er sie mochte und ihr vertraute. Sie spürte, dass sie einen Freund gewonnen hatte, jemanden, der half, wenn sie in Not war.

Sie ging hinunter in den Kleinen Salon, wo Mrs. Jensen den Tisch für sie gedeckt hatte. Es gab Rührei mit Schinken und frisches Brot. Es roch appetitanregend, und Georgie aß beinahe alles auf. Als Jensen eintrat, war sie gerade dabei, die Teller aufeinanderzustapeln.

„Das müssen Sie nicht tun“, sprach er mit ernster Miene.

Georgie vermutete, dass er keine hohe Meinung von ihr hatte. Vielleicht glaubt er, ich verkleide mich als Junge, um ein Liebesverhältnis mit seinem Herrn zu vertuschen.

„Mrs. Jensen und ich kümmern uns um alles in diesem Haus.“

„Arbeiten Sie schon lange hier?“, erkundigte sich Georgie.

„Etwa vierzig Jahre. Ich diente dem alten Herrn, bis er starb. Eigentlich wollte ich mich zurückziehen, als es passierte, doch ich bin geblieben, um alles für den Captain in Ordnung zu halten.“

„Sicher ist er dafür dankbar“, sagte Georgie. Sie spürte, dass Jensen ihr nicht traute. „Aber Sie sollten es ihm mitteilen, wenn Sie in den Ruhestand treten wollen.“

„Unterstehen Sie sich, ihm ein Wort davon zu sagen!“

„Das werde ich bestimmt nicht tun. Sie sollten es ihm selbst erzählen, wenn Sie sich gern zur Ruhe setzen möchten.“

„Sobald er endlich sesshaft wird …“ Jensen schüttelte den Kopf. „Was wohl der Fall sein wird, wenn er sich von der gestrigen Attacke erholt … schrecklich, wenn man bedenkt, dass es ganz in der Nähe des Hauses geschehen ist.“

„Das war vermutlich sein Glück“, bemerkte Georgie. „Wenn er es nicht bis hierher geschafft hätte, wäre er wahrscheinlich auf der Straße verblutet.“

„So etwas ist nie passiert, als der alte Herr noch lebte. Ich kann mir nicht vorstellen, was für Dinge …“ Jensens Gesicht wirkte grau, und seine Hände zitterten, während er das Geschirr abräumte. Georgie hatte Mitleid mit ihm, weil er so verstört wirkte.

„Ich bin sicher, Captain Hernshaw wird sich wieder erholen“, erklärte sie. „Mr. Henderson hat gestern sehr schnell und klug gehandelt. Er hat dem Captain das Leben gerettet.“

„Sie haben ihm geholfen.“ Der alte Mann senkte traurig das Haupt. „Ich weiß nicht, weshalb er Sie hierhergebracht hat, aber es scheint sein Gutes zu haben.“ Er klang unsicher, als er diese Worte sprach.

„Captain Hernshaw war hilfsbereit, als ich in Schwierigkeiten steckte. Aber ich hätte es für jeden getan. Ich habe keine Angst vor ein bisschen Blut.“

„Es war eine Menge Blut“, verbesserte Jensen sie vorwurfsvoll. „Es gab nie junge Damen in diesem Haus … und ganz gewiss keine, die so wie Sie gekleidet waren.“

„Es tut mit leid, wenn Sie es missbilligen. Ich bin gezwungen, mich zu verstecken. Wenn mich ein bestimmter Mann entdeckt, wird er mich vermutlich … töten.“ Sie hatte beschlossen, sich an diesen Teil der Geschichte zu halten, denn sie konnte nicht sicher sein, wie die Reaktionen ausfielen, sobald sie die ganze Wahrheit preisgab.

„Was für eine Welt! Der alte Herr würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das wüsste …“, brummte Jensen, während er das Tablett nahm und den Raum verließ.

Georgie seufzte. Gern hätte sie ihm geholfen. Seine Frau würde es wahrscheinlich ebenfalls übel nehmen, wenn sie ihr anbot, sie in der Küche zu unterstützen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als etwas zum Lesen zu finden, auch wenn sie daran zweifelte, in diesem Raum ein interessantes Buch zu finden.

Sie schlenderte zu den Regalen und betrachtete die Buchrücken der Geschichts- und Wissenschaftsbände. Darüber schlafe ich in fünf Minuten ein, dachte sie. Sie wollte schon fast aufgeben, als sie einen Gedichtband entdeckte. Er war neu, in rotes Leder gebunden und fiel unter all den anderen Schriften aus dem Rahmen. Als sie das Buch aus dem Regal zog, fiel ein gefaltetes Blatt heraus. Georgie legte es wieder hinein, ohne es auseinanderzufalten. Sie machte es sich mit dem Gedichtband in einem Sessel am Fenster gemütlich und begann zu lesen. Nach einer Weile bemerkte sie, dass Passagen mit Tinte markiert und einzelne Wörter unterstrichen waren. Wie kann man nur so mit einem Buch von Lord Byron umgehen!

Sie runzelte die Stirn und versuchte, die Tintenstriche zu ignorieren, aber sie ärgerte sich darüber und konnte sich kaum auf die Verse konzentrieren. Ihr fiel die Regelmäßigkeit der Unterstreichungen auf, die ein Muster ergaben. Handelt es sich um eine Art Geheimcode? fragte sie sich. Sie durchblätterte das Buch und fand das zusammengefaltete Blatt. Sie zögerte, doch ihre Neugier wuchs.

Wenn es von Bedeutung ist, wäre es wohl kaum dort hingelangt, wo jeder es finden kann, beruhigte sie sich, als sie es entfaltete. Sie überflog die wenigen Erklärungen. Aufgeregt stellte sie fest, dass ihre Vermutung stimmte. Das Buch verbarg einen Geheimcode, und mit Hilfe der Anweisungen auf dem Papier konnte sie ihn problemlos knacken. Rasch schloss sie, dass die unterstrichenen Buchstaben neue Wörter und Sätze ergaben.

Es ist eine Botschaft! Die Nummern und Buchstaben, die sie zunächst für Gekritzel gehalten hatte, bezogen sich auf bestimmte Zeilen. Mit einem Mal wurde eine Nachricht erkennbar. Sie betraf einen Anschlag, der Regierungsmitgliedern und einem besonders wichtigen Mann galt. Wahrscheinlich der Prinzregent, vermutete Georgie. Einige Minuten blieb sie mit dem Buch auf dem Schoß sitzen und starrte es ungläubig an. Wenn sie es richtig übersetzt hatte, war der Mann, den sie am Vorabend hatte bestehlen wollen, in ein Mordkomplott verwickelt, das den englischen Thron erschüttern sollte!

Es kann nicht sein … Und doch gab es vielleicht einen Zusammenhang zwischen der Geheimbotschaft und dem schrecklichen Überfall auf Captain Hernshaw. Nein! Ich glaube nicht, dass er zu solcher Niedertracht fähig ist! Georgie erhob sich und stellte das Buch mitsamt dem Blatt wieder an seinen Platz im Bücherregal. Mir muss beim Entziffern ein Fehler unterlaufen sein … oder vielleicht will Captain Hernshaw diese Verschwörung verhindern …

So muss es sein, entschied sie, denn sie konnte und wollte nicht glauben, dass der Mann, der sie so gut behandelt hatte, ein Landesverräter war. Als sie die Standuhr schlagen hörte, eilte sie nach oben, um Henderson abzulösen.

Den Rest des Tages und die Nacht über wechselten sie einander bei der Pflege des Captains ab. Noch immer fantasierte er im Fieberwahn. Wieder vernahm sie den Namen Justin, auch wenn die Sätze des Kranken diesmal unklar blieben. Sie strich ihm das nasse Haar aus der Stirn, sprach besänftigend auf ihn ein, und nach einer Weile beruhigte er sich wieder. Wie viel jünger er aussieht, wenn er schläft, dachte sie lächelnd. Sie war versucht, ihm die Wangen zu streicheln, aber sie beherrschte sich, denn es war nicht richtig, seine Wehrlosigkeit auszunutzen. Sie setzte sich und betrachtete ihn aus der Distanz. Als Henderson wiederkam, schlief der Patient friedlich.

„Es scheint ihm besser zu gehen“, meinte der Diener. „Er hat die gefährlichste Phase überstanden. Ruhen Sie sich aus. Ich schaffe das jetzt.“

„Ich bleibe lieber, sodass Sie Ihr Frühstück einnehmen können“, versicherte Georgie. „Sie sagten, der Ärger beginnt, sobald er wieder bei Bewusstsein ist?“

„Ja, aber …“ Er schüttelte den Kopf. „Es ziemt sich nicht für eine junge Dame, sich im Schlafgemach eines Gentlemans aufzuhalten.“

„Wer weiß davon?“, fragte Georgie und grinste. „Ich werde es nicht weitererzählen, wenn Sie es nicht tun.“

Er salutierte und musterte sie. „Wer sind Sie, Miss? Ich könnte schwören, Sie sind eine Dame, wenn ich nicht wüsste, dass er Sie auf der Straße aufgelesen hat.“

„Mein Name ist Georgina. Mehr kann ich Ihnen nicht verraten. Ich bin fortgerannt, weil sonst etwas Schreckliches passiert wäre.“

Henderson blickte sie ungläubig an. „Ist das die ganze Wahrheit?“

„Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr verraten, aber das geht nicht.“

„Der Captain wird alles genau wissen wollen, sobald er wieder zu sich kommt.“

Georgie betrachtete ihren gemeinsamen Patienten. „Ich fürchte, er wird mir nicht glauben.“

„Wenn Sie ihm alles erzählen, hilft er Ihnen.“

„Sind Sie sicher?“

Henderson schaute sie fest an. „Irgendwann müssen Sie jemandem Vertrauen schenken – und er ist der Richtige, wenn Sie Hilfe brauchen.“

„Ich werde es versuchen. Würden Sie mich bitte Georgie nennen? Ich will nicht, dass man außerhalb des Hauses erfährt, dass ich ein Mädchen bin.“

„Da muss nur jemand Ihr Haar sehen“, entgegnete Henderson. „Sie müssen sehr vorsichtig sein.“

Georgie nickte, und er verließ den Raum, um zu frühstücken. Eine Weile blieb sie vor dem Bett des Patienten stehen. Sie beugte sich vor, um sein Haar aus der Stirn zu streichen, und lächelte, als er im Schlaf leise vor sich hinmurmelte. Dann näherte sie sich und gab ihm einen sanften Kuss auf eine Wange. Seine Augenlider flackerten, sodass sie sofort einen Schritt zurücksprang. Sie ging zum Fenster, wo sie ein abgenutztes Schachspiel auf einem Tischchen entdeckte. Gerade brachte sie die Figuren in ihre Ausgangspositionen, als Henderson wieder eintrat.

„Im Krieg haben wir uns damit oft die Zeit vertrieben“, berichtete er. „Es gab dort nicht viel Abwechslung, Miss.“

„Wagen wir eine Partie?“, schlug Georgie vor. „Ich habe häufig mit meinem Vater Schach gespielt, allerdings ist es schon Jahre her. Ich nehme die Schwarzen, und Sie nehmen die Weißen.“

„Ja, wie Sie wollen“, stimmte Henderson zu und bewegte eine Figur als Eröffnungszug.

Georgie schob einen Bauern vor, und die Schlacht konnte beginnen. Sie lachte, als der Diener ihre erste Figur aus dem Weg räumte. Er war ein würdiger Gegner, und sie musste keine Rücksichten nehmen.

Weder Georgie noch Henderson bemerkten, dass der Kranke die Augen öffnete.

Richard lag einige Sekunden still mit dem Kopf gegen die Kissen gelehnt, bis ihm bewusst wurde, dass er nicht allein war. Der pochende Schmerz in seinem Oberschenkel überlagerte jede andere Empfindung. Außerdem tat ihm seine linke Schulter weh, doch verglichen mit den Torturen, die von seinem Bein ausgingen, erschien ihm das beinahe harmlos. Er wusste nicht genau, wo er sich befand. Seine Schmerzen weckten zahllose Erinnerungen an Schlachtfelder und erlittene Verwundungen. Erst das Mädchenlachen durchdrang den Nebel, der ihn umgab, und brachte ihn dazu, sich auf die beiden Gestalten am Fenster zu konzentrieren.

Er erkannte Henderson, ihm gegenüber saß ein seltsamer Bengel in viel zu großer Kleidung. Richard richtete den Oberkörper auf. Es ist kein Straßenjunge, sondern das Mädchen, das ich mit nach Hause genommen habe, bevor man mich überfallen hat.

Richard schmunzelte beim Anblick der beiden Schachspieler. Das Mädchen besaß ein ansteckendes Lachen.

„Schach!“

„Das habe ich nicht vorausgesehen“, murmelte Henderson kläglich.

„Es tut mir leid, euer Spiel unterbrechen zu müssen, aber könnte ich etwas Wasser haben?“

Ihre Köpfe fuhren herum. Sofort erhob sich das Mädchen und eilte herbei, um ihm Wasser in ein Glas zu gießen.

„Jetzt sind Sie wieder bei uns, Sir!“, kommentierte Henderson gelassen. „Sie haben uns einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wie ist es überhaupt passiert?“

„Ich war unterwegs, und auf dem Rückweg …“ Richards Gesicht verfinsterte sich beim Gedanken an den mörderischen Angriff. Er hatte die Dokumentenmappe bei einem Mitarbeiter abgeliefert. Anschließend hatte er sich wieder auf den Heimweg begeben. Der Verfolger war ihm nicht aufgefallen, und die Attacke war leise und beinahe tödlich erfolgt. Hinterhältig hatte sein Angreifer zugestochen und ihn am Bein und an der Schulter erwischt. „Fast so wie bei Ihrem Schachspiel, Henderson. Ich habe es nicht kommen sehen.“

„Das passt gar nicht zu Ihnen, Sir. Sie haben doch nichts getrunken?“

„Nicht genug, um unachtsam zu sein. Wer auch immer es war, es muss ein professioneller Mörder gewesen sein.“

„Ja, der hat sein Handwerk verstanden“, bestätigte Henderson. „Wenn Sie nicht so nah beim Haus gewesen wären, hätte allein die Oberschenkelwunde sie getötet, Captain. Sie sind fast verblutet.“

„Wer hat mich wieder zusammengeflickt?“

„Mr. Henderson“, sagte Georgie und reichte ihm das Wasserglas. „Er hat alles genau wie ein Arzt gemacht, nur viel schneller. Wir konnten nicht warten, weil Sie zu viel Blut verloren.“

Richard schaute ihr erstaunt in die Augen. „Sie haben doch nicht etwa diesen Jungen dabei helfen lassen, mich zusammenzuflicken, Henderson?“

„Georgie hat das ausgezeichnet gemacht. Sie hat mir geholfen, sie zu versorgen. Das viele Blut hat sie nicht abgeschreckt. Ohne sie hätte ich es kaum geschafft.“

„Also wissen Sie bereits, dass Georgie ein Mädchen ist?“ Richard nippte an dem Wasser, das sie ihm reichte. Seine Hände umschlossen ihre, als sie das Glas an seine Lippen hielt.

„Danke, das reicht.“ Stöhnend lehnte er sich in die Kissen zurück und schloss die Augen vor Schmerz. Georgie wollte sich gerade vom Bett entfernen, als er die Hand ausstreckte und sie fest am Handgelenk packte. „Woher hast du diese lächerliche Kleidung?“

„Henderson hat sie mir gegeben. Ich glaube, sie gehört Ihnen.“

„Tatsächlich?“ Er schlug die Augen wieder auf und sah seinen Diener an, der bestätigend nickte. „Wir müssen ihr etwas Passendes kaufen. Vielleicht kann Mrs. Jensen das erledigen.“

„In Mädchenkleidung kann ich hier nicht bleiben“, erklärte Georgie. „Mir macht es nichts aus, Ihre Sachen zu tragen.“

„Wenn sie die Maskerade unbedingt fortsetzen will, besorge ihr ordentliche Jungenkleidung, Henderson“, sagte Richard.

„Ja, Sir, ich werde mich darum kümmern“, versprach der Diener.

„Mach das …“ Richard stöhnte. Auf das Problem mit der Kleinen könnte ich jetzt gut verzichten, obwohl sie sich so nützlich gemacht hat. Kraftlos schloss er die Augen. „Ich muss mich ausruhen …“

Er vernahm noch Geflüster, doch die furchtbare Schwäche überwältigte ihn, und er schlief ein.

Georgie verließ das Schlafgemach, weil Henderson ihr geraten hatte, etwas zu essen. Sie ging hinunter in den Salon. Schinken, eingelegte Gurken und frisches Brot standen auf dem Tisch. Der Kaffee war bereits kalt, aber sie trank davon, denn sie wollte Mrs. Jensen keine zusätzliche Arbeit machen.

Nach dem Imbiss trug sie das Geschirr zu Mrs. Jensen in die Küche.

„Das sollen Sie nicht tun, Miss.“

„Ich helfe gern“, entgegnete Georgie. „Ich will Ihnen nicht mehr Scherereien als nötig bereiten.“

„Sie fallen uns nicht zur Last, was auch immer mein Gatte sagt“, versicherte Mrs. Jensen freundlich. „Ich finde es sogar schön, eine junge Person im Haus zu haben. Das ist mal etwas anderes, das habe ich Jensen auch gesagt. Er wollte eigentlich schon vor Jahren in den Ruhestand gehen, aber ich bin jünger. Ich liebe meine Arbeit wie am ersten Tag, Miss.“

„Ich bin froh, dass Sie mich nicht als Belastung empfinden“, erwiderte Georgie. „Ich weiß, dass auf Mr. Jensen alles einen schockierenden Eindruck macht, und er hat ja auch recht – aber ich kann ohne Unterstützung nirgendwo hingehen. Sobald es Captain Hernshaw etwas besser geht, bitte ich ihn, mir einige Guineen zu leihen, und dann kann ich fort.“

„Es ist die Entscheidung des Captains, Miss, wen er nach Hause bringt. Das habe ich Jensen auch klargemacht. Wir sind hier, um uns um den Haushalt zu kümmern, und nicht, um uns als Richter aufzuspielen. Außerdem wird hier gar nichts entschieden, solange der Herr so schlecht dran ist.“

„Seit heute Morgen ist er wieder bei Bewusstsein“, erzählte Georgie. „Er ist ein starker Mann und wird sich bald erholen.“

„Ganz bestimmt.“ Die Haushälterin nickte eifrig mit dem Kopf. „Ein Glück, dass Sie hier waren, um zu helfen, Miss.“

Es lag Georgie auf der Zunge, Mrs. Jensen daran zu erinnern, dass sie weiterhin als Junge angesprochen werden wollte. Es kommt nicht darauf an. Solange ich im Haus bleibe und Besuchern aus dem Weg gehe, bin ich in Sicherheit. Ich weiß ja auch gar nicht, ob der Mann, den ich so verabscheue, nach mir sucht oder aus einem völlig anderen Grund in der Stadt ist. Sie hatte beschlossen, dass sie zu ihrer Großtante gelangen musste, die sie hoffentlich für eine Weile aufnehmen würde. Sobald sie über ihr Erbe verfügte, konnte sie einen eigenen Hausstand gründen und Personal einstellen.

Bis sie mit dem Verletzten darüber reden konnte, wollte Georgie sich ablenken. Daher ging sie in den Salon und nahm erneut den Gedichtband aus dem Regal. Sie begann darin zu lesen, ohne auf die Kritzeleien am Rand zu achten.

Nach einer Weile legte sie das Buch beiseite. Ganz offensichtlich war Captain Hernshaw in eine abscheuliche Geschichte verwickelt. Plötzlich zerbrach sie sich den Kopf darüber, was ihn in die armseligen Straßen geführt hatte, wo sie einander begegnet waren. Hatte er dort jemanden getroffen? Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass die Elendsviertel von Schurken, Dieben und Schlimmerem wimmelten – was wollte ein Mann wie er dort? Und was befand sich in der Mappe, die sie aus seinem Gehrock gezogen hatte?

So wie er hinter ihr hergejagt war, musste es sich um etwas sehr Wichtiges gehandelt haben. War es möglich, dass er mit den Leuten gemeinsame Sache machte, die gegen die Regierung und den Prinzregenten arbeiteten? Sie mochte ihn inzwischen sehr und versuchte, den Gedanken zu verscheuchen.

Sie wollte das Buch wieder zurückstellen, änderte jedoch ihre Meinung und nahm es mit nach oben. Vor Captain Hernshaws Schlafgemach blieb sie stehen, klopfte an und trat ein. Der Patient war wach und lehnte aufrecht gegen die Kissen. Henderson hatte ihn gerade frisch rasiert.

Als sie eintrat, blickte Richard sie befremdet an. „Was tust du hier? Ich danke dir, dass du Henderson geholfen hast, aber du solltest mich hier nicht länger aufsuchen – außer, du hast keinen Ruf mehr zu verlieren?“

Georgie errötete. „Ich kam nur, um zu sehen, ob ich etwas für Sie tun kann“, erklärte sie. „Ich könnte Ihnen zum Beispiel aus diesem Buch vorlesen …“ Sie zögerte und näherte sich seinem Bett. „Das habe ich unten gefunden.“

„Ach, tatsächlich?“ Er starrte sie unfreundlich an. „Und hast du darin gelesen?“

„Ja.“ Sie wich seinem harten Blick aus. „Es gibt am Rand viele Bemerkungen, und einige Wörter sind unterstrichen.“

„Und was schließt du daraus?“

Georgie holte tief Luft. „Es könnte eine Art Geheimcode sein …“

„Woher nimmst du diese Vermutung?“

„Weil ich versucht habe, einen Sinn hineinzubringen.“ Sie zögerte, dann gestand sie: „Es lag ein Blatt im Buch, auf dem Anweisungen stehen, wie der Code zu knacken sei.“

„Und, ist es dir gelungen?“

„Ja … zumindest war ich in der Lage, Wörter und Sätze zu bilden.“

„Und das hat dich rätseln lassen, ob ich ein Spion oder ein Attentäter bin?“

„Nein, natürlich nicht“, bestritt Georgie, derweil ihr die Röte in die Wangen schoss. „Ich habe nicht gedacht, dass Sie … aber Sie wurden überfallen, und ich überlegte, ob …“

„Ich hätte dich dort lassen sollen, wo ich dich gefunden habe“, sagte Richard. „Ich wusste von Anfang an, dass du Schwierigkeiten bereiten würdest.“

„Sie sind doch nicht wirklich an einem Mordkomplott gegen den Prinzregenten beteiligt?“ Ihre Augen weiteten sich.

„Wenn ich das wäre, hättest du gerade dein eigenes Todesurteil unterzeichnet“, versicherte Richard halb verärgert, halb belustigt. „Nein, ich bin daran nicht beteiligt – aber ich versuche, die Attentäter aufzuhalten.“

„Ja, das dachte ich mir schon.“ Georgie seufzte erleichtert auf. „Ich bin froh, dass Sie kein Verschwörer sind.“

„Bist du das?“ Fragend hob er die rechte Augenbraue. „Bist du auch in der Lage, das Geheimnis für dich zu behalten, Georgie?“

„Natürlich. Ich werde kein Sterbenswort verraten.“ Sie scheute vor dem zurück, was sie nun tun musste. „Könnten Sie mir etwas Geld leihen – genug, um mit der Postkutsche nach Yorkshire zu reisen?“

„Leihen oder schenken?“

„Oh, ich werde es Ihnen bald zurückzahlen“, beteuerte Georgie. „Und ich würde sofort verschwinden und Sie nie wieder belästigen.“

Richard sah sie aus schmalen Augen an. „Natürlich könnte ich es dir leihen. Sobald du mir die Wahrheit erzählst, werde ich es tun. Deine Geschichte mit dem belästigten Dienstmädchen erscheint mir nicht glaubwürdig. Ich bezweifle, dass du jemals in Diensten gestanden hast.“

Zögerlich schaute sie ihm in die Augen. „Als ich Ihnen das erzählt habe, kannte ich Sie nicht, und Sie hätten mir schaden können“, erklärte sie. Es hilft nichts. Ich muss ihm die Wahrheit sagen! „Mein Name ist Georgina Bridges. Mein Vater war Sir John Bridges, meine Mutter war die jüngste Tochter von Lord Nairn. Sie kamen beide vor zwei Jahren bei einem Unfall ums Leben. Sie hinterließen mir ein Erbe, das ich in ein paar Wochen antreten kann, sobald ich neunzehn geworden bin. Doch mein Onkel, Sir Henry Mowbray, will mich zwingen, zuvor seinen Gläubiger zu heiraten, der ihm im Gegenzug die Schulden erlassen will. Aber ich hasse diesen Mann, deshalb rannte ich davon. Er ist so abscheulich … allein die dreckige Art, wie er mich anstarrt, ist unerträglich.“ Ein verzweifeltes Schluchzen entfuhr ihr. „Ich lief davon, weil ich durch Zufall hörte, wie mein Onkel seine schrecklichen Pläne mit meiner Tante besprach. Lieber sterbe ich, als diesen Unmenschen zu heiraten.“

„Und wie heißt der Mann?“

„Er ist Franzose. Sein Name lautet Raoul Thierry. Er gibt vor, ein reicher Gentleman zu sein, aber er hat etwas Unheimliches an sich. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, nachdem ich das Gespräch zwischen meinem Onkel und meiner Tante mit angehört hatte. Also lief ich davon, aber dann … Ich habe Ihnen schon erzählt, was geschah. Ich nehme an, der Anwalt meines Vaters würde mir Geld geben, doch ich fürchte, er glaubt mir nicht, dass ich es bin.“

Richard musterte sie von oben bis unten. „In deiner derzeitigen Aufmachung lassen sie dich sicher nicht in seine Kanzlei. Das Geld ist nicht das Problem, Georgie. Ich bin mir einfach nicht sicher, ob du mir die Wahrheit erzählst.“

„Diesmal schon! Ich schwöre es.“

„So oder so bist du in Gefahr und offenkundig nicht in der Lage, auf dich Acht zu geben.“

„Ich möchte zu meiner Großtante reisen. Es war ein Fehler, nach London zu fliehen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß, dass Sie wütend sind. Ich habe versucht, Sie zu bestehlen, und jetzt sind Sie krank und können den Ärger mit mir nicht gebrauchen.“

Autor

Louise Allen

Louise Allen lebt mit ihrem Mann  – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.

Foto: ©  Johnson Photography

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Anne Herries

Anne Herries ist die Tochter einer Lehrerin und eines Damen Friseurs. Nachdem sie mit 15 von der High School abging, arbeitete sie bis zu ihrer Hochzeit bei ihrem Vater im Laden. Dann führte sie ihren eigenen Friseur Salon, welchen sie jedoch aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen und ihrem...

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