Historical Saison Band 122

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

HISTORICAL SAISON - Glanzvolle Feste, verbotene Leidenschaft, stürmische Eroberungen. Alle 6 Wochen neu.
  • Erscheinungstag 20.12.2025
  • Bandnummer 122
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532013
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Bronwyn Scott, Gail Ranstrom

HISTORICAL SAISON BAND 122

Bronwyn Scott

1. KAPITEL

Somerset House, London, Dezember 1819

Es gibt keine gefährlichere Kreatur als einen Mann, der von einer Frau in die Enge getrieben wurde, es sei denn, es handelt sich um eine Gruppe von Männern.

Sie alle wurden von einer Frau in Schach gehalten, die forderte, was ihr zustand, und keine Angst hatte, danach zu fragen. Artemisia Stansfield stand vor der Versammlung in der Königlichen Akademie der Künste und war absolut sicher, dass ihr die Anerkennung als Akademiemitglied zustand. Anscheinend war jedoch außer ihr niemand im Saal, der diese Überzeugung mit ihr teilte, was von Minute zu Minute offensichtlicher wurde.

Benjamin West sprach vom Präsidentensitz zu ihr. Sein Mund war eine unerbittliche gerade Linie unter der langen Nase. „Miss Stansfield, vermutlich fragen Sie sich, warum diese Versammlung Sie einbestellt hat.“

„Falls es nicht in der Absicht war, mir den Status als Akademiemitglied zu bewilligen, wundere ich mich tatsächlich.“ Artemisia hielt dem Blick des Mannes stand. Ihr eigener Blick war fest auf ihn gerichtet, doch die Sorge drückte ihr mittlerweile den Magen zusammen. Vielleicht hatte sie ja den Grund für diese Einladung zur Dezemberversammlung der Königlichen Akademie der Künste falsch verstanden.

Sie hatte nicht geglaubt, dass es so weit kommen würde.

Erst heute Morgen war sie voll Vorfreude aufgewacht, weil sie überzeugt war, dies sei der Tag, an dem sie ihren Traum verwirklichen konnte. Sie würde die Ehre verdienen, hinter die Signatur auf ihren Werken „RA“ für Royal Academy zu setzen, junge Künstler zu unterrichten und die Entwicklung der Kunst in England mitzubestimmen.

Sie widerstand der Versuchung, die Röcke ihres waldgrünen Kleides glatt zu streichen, denn sie wollte nicht, dass es aussah, als ob Wests Fragen sie an ihrem Recht zweifeln ließen, hier zu stehen. Sie zweifelte nicht. Niemals.

„Dann fürchte ich, wir werden Sie enttäuschen, meine liebe Miss Stansfield.“ War das etwa Mitleid in Präsident Wests Blick? Wohlwollende Herablassung in seinem Ton? Wie konnte er es wagen, leutselig zu ihr zu sein! Artemisias Temperament begann zu brodeln, als er die nächsten Worte sprach: „Die Akademie hat Ihre Ernennung abgelehnt.“

Sie ließ diese Worte auf sich wirken, um sie wirklich zu verstehen. Sie bedeuteten, dass ihr Name aufgestellt worden war, aber nicht eine einzige Person sich für sie ausgesprochen hatte. Nicht einer dieser Männer hatte ihren Antrag unterstützt. Männer, die vorgeblich ihre Kollegen waren, ihre jahrelangen Freunde. Männer, die sie angeblich respektierten. Sie streifte die Gesichter mit einem sengenden Blick, ließ keines aus. Einige hatten den Anstand, auf ihren Stühlen zu rutschen, andere wagten nicht, ihrem Blick zu begegnen. Verdammt sollen sie sein.

Einzig Darius Rutherford, Viscount St. Helier, der Kunstkritiker für die Oberschicht, starrte zurück. St. Helier selbst war kein Mitglied der Akademie, aber wo er hin tendierte, schlossen andere sich seiner Meinung an. Ein Wort von ihm, und ein Künstler konnte schnell von der Anonymität aufsteigen zum Ruhm – oder auch das Gegenteil. Ihr wäre es lieber, er würde ihre Niederlage nicht mit ansehen. Er allein konnte ihr mehr Schaden zufügen als alle anderen zusammen.

Verdammt soll er sein. Der Mann mit den dunklen Augen, dem noch dunkleren Haar, das in perfekter Unordnung über eine gewölbte Augenbraue fiel, und der langen starken Nase, die kurz über dem festen Mund endete. Seine Miene strahlte Überlegenheit aus. Wie oft hatte sie sich schon gewünscht, ihm die Überheblichkeit aus dem Gesicht zu wischen. Sie bezweifelte, dass seine langen eleganten Finger überhaupt jemals einen Malpinsel gehalten hatten. Nun war sein kritischer Blick auf sie gerichtet. Er beurteilte sie und wartete.

Worauf? Eine Reaktion? Eine Erwiderung? Dass sie bettelte oder unter dem Gewicht des Urteils der Akademie zusammenbrach? Würde ihm das gefallen? Wollte er sie auf den Knien liegen sehen? In den vergangenen Jahren hatte er nie ein Hehl aus seiner Abneigung für sie gemacht. Es war deutlich daran zu erkennen, dass er nie mehr als wenige Minuten in ihrer Gegenwart verbrachte. Ganz offensichtlich verkehrte er lieber mit traditionell eingestellten Menschen. Trotz seiner Abneigung für ihre Person hatte er ihre Kunst bisher nicht verurteilt, aber er lobte ihre Arbeit auch nicht … wie sollte er? Er verstand ihre Kunst nicht, weil er sie nicht verstand. Er verurteilte sie auch nicht – er ignorierte sie. Heute änderte sich das vielleicht, aber nicht zum Besseren.

Die enorme Tragweite einer Ablehnung durch die Akademie überwältigte sie nun. War dies der Anfang vom Ende ihrer künstlerischen Karriere? Was würden die Leute über sie sagen? Plötzlich erschien es ihr wichtig, eine Erwiderung auf Benjamin Wests Urteilsspruch zu geben, und nicht einfach nur still zu gehen. Wenn sie jetzt kampflos aufgab, würde sie vor mehr davonlaufen als nur vor einer abgelehnten Ernennung. Und es war wichtig, ihre Antwort in gleichmütigem Ton zu geben, damit man ihr die Enttäuschung nicht anmerkte.

Es erforderte eine enorme Anstrengung von ihr, die Worte kühl, objektiv und professionell zu formulieren. „Präsident West, ich möchte diese Versammlung an meine Qualifikationen erinnern. Ich bin außerordentliches Mitglied der Königlichen Akademie und stelle seit meinem sechzehnten Lebensjahr meine Arbeiten in der Sommer-Ausstellung aus. Ich habe schon mehrere Preise gewonnen.“ Sogar vor einigen dieser anderen Künstler im Raum. Im letzten Jahr hatte ihr Porträt von Lady Basingstoke mit ihrem berühmten Vollblüter Warbourne den ersten Preis in ihrer Kategorie erhalten. Das wollte sie jetzt allerdings nicht erwähnen, um den männlichen Stolz ihrer Zuhörer nicht zu verletzen. „Ich bin außerdem eine aktive Berufsmalerin unter fünfundsiebzig Jahren – was ein Erfordernis für die Berücksichtigung ist, wie ich weiß.“

Sie erinnerte damit an das gemeinsame berufliche Netz, das sie bis heute noch nie infrage gestellt hatte. Ihr Vater war ein anerkannter Künstler, der sich nicht gescheut hatte, seine beiden Töchter das Malen zu lehren. Sie war in einer Akademie groß geworden, die zu dieser Zeit zwei Frauen als Gründungsmitglieder hatte. Bei einer von ihnen, der Akademiemalerin Mary Moser, hatte sie studiert. Sie war immer davon ausgegangen, es werde einen Platz für sie geben, wenn ihre Zeit gekommen war. Nun war es so weit. Artemisia war achtundzwanzig und eine Könnerin auf ihrem Gebiet. Wo war ihr Platz, wenn nicht hier in diesem Raum bei ihren Kollegen?

„Ein erfolgreicher Kandidat für eine Mitgliedschaft auf diesem Level muss mehr mitbringen als einige Qualifikationen. Das verstehen Sie doch sicher.“ West schaute nach links, wo er wohl Unterstützung vom langjährigen Sekretär der Akademie, Henry Howard, suchte. In der plötzlichen Stille merkte Artemisia, dass ihr in dem Moment, der ihr den Triumph hätte bringen sollen, ihre Chance entglitt. Wie hatte es so weit kommen können?

Sie war sich ihrer Nominierung und der Aufnahme in die oberen Ränge der Akademie so sicher gewesen. War es immer noch. Warum sahen diese Männer es nicht ein? Erkannten sie nicht, dass der Zeitpunkt richtig war und sie in vielerlei Hinsicht die richtige Kandidatin für den frei gewordenen Posten von Mary Moser war? „Ich habe nicht nur die Qualifikationen, Sir“, gab Artemisia unerschrocken zurück. Wenn sie erwartet hatten, sie werde die Ablehnung widerspruchslos hinnehmen, hatten sie sich getäuscht. Sie würde nicht kampflos aufgeben. „Ich habe bei Mary Moser studiert, und ich bin die Tochter von Sir Lesley Stansfield, einem anerkannten Künstler. Wer wäre besser geeignet, die Fackel von Marys Vermächtnis weiterzutragen als ihre ehemalige Schülerin? Ich weiß, was es heißt, als Künstlerin in einer von Männern beherrschten Domäne zu arbeiten.“

Ihre Hartnäckigkeit brachte ihr bei West und den anderen Männern offensichtlich keine Pluspunkte ein. Einige husteten auffällig, vermutlich abgestoßen von ihrer mutigen Argumentation. St. Helier schaute sie mit seinen dunklen Augen irgendwie nachdenklich an, aber als er sprach, waren seine Worte an den ganzen Raum gerichtet. „Ich wusste nicht, dass wir jetzt ein Debattierclub geworden sind.“ Einige Männer sahen nervös aus, weil sie wohl nicht verstanden, was er damit sagen wollte. War es Kritik an ihr oder an ihnen?

Artemisia wollte sich nicht einschüchtern lassen, egal was St. Helier beabsichtigte. Er sah plötzlich nicht mehr so unnahbar aus. Hatte er ihr helfen wollen? Oder wollte er sie warnen, dass sie zu weit gegangen war? Oder war er wie so viele Männer der Meinung, dass Frauen unsichtbare Objekte ohne eigene Meinung zu sein hatten? Sie schaute wieder zu West. „Dann sagen Sie mir, welche Qualifikationen mir fehlen. Inwiefern war meine Mappe nicht ausreichend?“ Er konnte es nicht sagen, weil es keine Antwort gab. Sie besaß alle erforderlichen Voraussetzungen – bis auf eine ungeschriebene Tatsache: Sie war kein Mann. Irgendwann zwischen dem Gründungsjahr 1768 und heute war dies ein entscheidender Faktor geworden.

„Wir sind der Meinung, dass Ihre Kunst noch nicht ganz ausgereift ist“, sagte West und räusperte sich. „Wir würden gern mehr von Ihnen sehen. Etwas Einmaliges, das wir bisher noch nicht von Ihnen gesehen haben. Wir stellen ihren Antrag auf Mitgliedschaft zurück bis zum nächsten Treffen im März. Damit geben wir Ihnen eine Probezeit, um sich zu beweisen.“

„Probezeit? Waren die vergangenen zwölf Jahre denn etwas anderes? Ist das nicht die Funktion der vorläufigen Mitgliedschaft?“, unterbrach ihn Artemisia. „Damit es eine Anzahl von Künstlern gibt, aus denen man künftige Akademiemitglieder auswählen kann? Ich, meine Herren, habe meine Probezeit schon abgeleistet. Mein Vater …“

„Ihr Vater ist der einzige Grund, warum wir diese Unterhaltung überhaupt führen, Miss Stansfield“, wurde sie von West unterbrochen. Jeder Vorteil, den er ihr in Form von Mitleid oder Herablassung zugestanden hatte, war dahin. Sie hatte ihn zu weit getrieben, und er musste das Gesicht vor seinen Standeskollegen wahren. „Ihr Vater war es, der Ihren Namen in das Nominierungsbuch eintrug. Aus Respekt für ihn haben wir Sie heute überhaupt eingeladen.“ Es klang, als sei ihr damit eine große Gunst erwiesen worden. Vielleicht war es das ja sogar. Aufgrund ihres Geschlechts durften nicht einmal die beiden Gründungsmitglieder Angelica Kauffman und Mary Moser an solchen Versammlungen teilnehmen. Sie wurden lediglich durch zwei Porträts an der Wand repräsentiert. Bisher hatte Artemisia nicht gewusst, dass es ein Ausschlussfaktor war, eine Frau zu sein. Jetzt wusste sie es. „Sie müssen wissen, Miss Stansfield, dass Ihre heutige Einladung nicht das übliche Protokoll für abgelehnte Kandidaten ist.“

Nein, es war nicht wie üblich, aber sie verstand, wofür es ein Protokoll war. Ihr Temperament kochte über. Sie hatte kein Interesse mehr, sich still zu verhalten. Man wollte an ihr ein Exempel statuieren, damit keine andere Frau es je wieder wagen würde, sich auf so eine hohe Position zu bewerben. Ihre Ablehnung wurde öffentlich gemacht, während die männlichen Kandidaten privat benachrichtigt wurden, wenn ihr Antrag abgelehnt worden war. Einige konnten es sogar später erneut versuchen.

Mit wütend funkelnden Augen sah sie West an. „Was erwarten Sie denn von mir bis zum März, das ich Ihnen in zwölf Jahren nicht gezeigt habe?“ Die vage Aussicht einer Bewährung passte der Ratsversammlung in den Kram, aber ihr nicht. Warum wunderte sie sich nicht? Schon einmal hatte ein Mann ihr Vertrauen missbraucht. Warum sollten andere es nicht auch tun? Mit einem letzten herausfordernden Blick sah sie diese Männer an. „Ich hoffe, dass Sie nicht von mir erwarten, mir einen Penis wachsen zu lassen, denn das kann ich nicht. Auf Wiedersehen, Gentlemen.“

Was für eine unnatürliche Frau! Von seinem Platz nahe dem Thron des Präsidenten beobachtete Darius den Meinungsabtausch mit beinahe schockierter Verwunderung. Wie manch ein Schaulustiger bei einem schrecklichen Ereignis, konnte er seinen Blick nicht abwenden, als das Unheil seinen Lauf nahm. Sie erinnerte ihn an ihre Namensvetterin, die Renaissance-Malerin Artemisia Gentileschi, eine unkonventionelle und heißköpfige Aufwieglerin. In Miss Stansfields Körper gab es keinen demütigen, bußfertigen oder unterwürfigen Knochen, obwohl ihr heute solche Eigenschaften besser angestanden hätten. Dadurch machte sie West seine Aufgabe einfacher, sie zu entlassen.

An Artemisia Stansfield war nichts Unterwürfiges. Darius hatte in seinem ganzen Leben noch nie eine Frau in dieser Weise öffentlich reden gehört. Er hatte auch noch nie eine Frau gesehen, die so aussah wie sie – jedenfalls nicht, wenn sie keine Hure oder Schauspielerin war. Ihr Aussehen war in sich nicht zu beschreiben, und das lag nicht an ihrem Kleid. Es war untadelig mit einem hohen Spitzenkragen und engen, spitzenbesetzten Bündchen unter den Ärmeln der kurzen Jacke über ihrem grünen Kleid. Doch anders als die meisten Frauen in London war Artemisia Stansfield mehr als ihre Kleider. Es lag wohl an ihren dunklen Haaren, die in wilden Locken auf ihrem Kopf aufgetürmt waren, und an dem stechenden Blick ihrer grauen Augen. Sie zeigte keine Bescheidenheit, keine Nachgiebigkeit selbst in der Niederlage. Für kein Geld der Welt wäre Darius jetzt gern an Wests Stelle gewesen.

Sobald sich die Tür hinter ihr schloss, begann der Tumult. Er war nicht der Einzige, der von ihrem Benehmen schockiert war. „Das ist der Grund, warum wir keine Frauen in der Akademie wollen“, sagte Sir Aldred Gray neben ihm mit unerschütterlicher Autorität. Als hätte er nicht selbst eine Mätresse in Piccadilly. Andere Kommentare waren ähnlich… Die Akademie wurde dominiert von Männern, und seit die beiden einzigen weiblichen Mitglieder nicht mehr da waren, war nun der Zeitpunkt gekommen, die Tatsache zu festigen, dass die höheren Ränge der Akademie nur Männern vorbehalten waren. Ob Miss Stansfield das bereits erraten hatte? Gewiss konnte so eine Entscheidung sie nicht verwundern. Die Akademie war nicht die einzige Institution, die Vorbehalte gegen weibliche Mitglieder hatte. Er kannte eigentlich keine einzige, die nicht restriktiv war. Miss Stansfield war immerhin außerordentliches Mitglied, damit sollte sie sich begnügen und sich freuen, so weit gekommen zu sein.

Und doch fragte er sich, ob er selbst damit zufrieden wäre. Würde er sich damit abfinden, mitgeteilt zu bekommen, was er erreichen konnte oder nicht, egal wie viel Talent er besaß? Er hatte sich einmal mit so etwas abgefunden, aber es stets bereut. Es war das einzige Mal gewesen, dass er jemals eine Ablehnung hingenommen hatte, und so sollte es auch bleiben.

Für ihn als Mann war es aber etwas anderes. Und als Sohn eines hohen Adligen, brauchte er keine Beschränkungen durch andere hinzunehmen. Die Welt gehörte erklärtermaßen ihm – vor dem Gesetz und vor der Gesellschaft. So war es nun einmal. Er hatte noch nie daran gezweifelt.

Warum sollte ich auch? flüsterte sein Gewissen. Durch meine Geburt bin ich auf der Gewinnerseite des Lebens.

Wenn es nicht so wäre, würde er vielleicht auch so aufsässig blicken und die bestehenden Mächte auffordern, die Natur der Dinge umzukehren. Es war ein interessanter Gedanke, aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Worte „Ich denke, St. Helier sollte gehen“, rissen ihn aus seinen Überlegungen.

„Wohin gehen?“ Darius schaute umher. Was wollte Aldred Gray ihm sagen? Er traute dem Mann nicht über den Weg.

„Zu Miss Stansfield, um ihre Arbeiten nach den Weihnachtsferien zu überprüfen“, erklärte jemand in der Nähe.

„Wir müssen sehr vorsichtig in dieser Sache vorgehen.“ Aldred Gray, egoistische Spinne die er war, genoss die Aufmerksamkeit, als alle Augen sich auf ihn richteten. „Egal wie gut ihre Arbeit ist, werden wir uns darauf vorbereiten, sie im März als inakzeptabel zu erklären.“

Also war die Probezeit tatsächlich nur als Deckmantel gedacht, der ihr scheinbar eine Chance gab, um Sir Lesley Stansfield nicht zu beleidigen. Die Akademie wollte keinen Streit mit ihm, einem führenden Künstler und Professor in ihren Reihen. „Warum ich? Ich bin kein Mitglied, nur ein Kritiker.“ Er wurde als Gast zu diesen Versammlungen eingeladen, aber er besaß kein Stimmrecht.

„Genau aus diesem Grund.“ West griff den Gedanken auf. „Sie sind scheinbar objektiv.“ Darius stieß sich an dem Wort scheinbar. Es gefiel ihm nicht, zu lügen und andere in die Irre zu führen, und er ließ sich seine Meinung auch nicht abkaufen. Er war ein unparteiischer Kunstkritiker.

„Ich werde objektiv urteilen“, betonte Darius. Er musste auch an seinen eigenen Ruf als Kritiker denken.

„So schwer kann es nicht sein, zumindest etwas Belastendes gegen ihren Charakter zu finden“, sagte Gray mit einem wissenden Glanz in dem Augen. „Eine Frau wie sie und in ihrem Alter hat bestimmt Affären gehabt.“ Gray fuchtelte abwertend mit einer Hand. „Natürlich darf sie privat tun, was sie will, aber wir können solch unmoralisches Verhalten unter unseren Akademikern nicht dulden. Wir setzen andere Maßstäbe.“ Alle anwesenden Mitglieder nickten, als seien sie alle Chorknaben gewesen. Darius wusste aus erster Hand, dass es nicht so war.

„Wenn Sie kein unzulässiges Verhalten bei ihr feststellen, können Sie sie immer noch selbst verführen“, sagte jemand in Grays Nähe und kicherte. „Sie hat Penis gesagt. Früher oder später zeigt sie ihr wahres Gesicht.“

„Es wäre aber eine Falle“, erwiderte Darius trocken und starrte den Mann an, bis er wegsah. Er hatte kein Interesse daran, Miss Stansfield zu verfolgen. Er wusste, wer sie war, und welchen Platz sie als talentierte Tochter eines talentierten Künstlers in der Welt der Kunst hatte, aber er kannte sie nicht gut. Sie gehörte nicht zu den Frauen, mit denen er als Sohn eines Earls gesellschaftlich verkehrte. Sie war auch älter als die Debütantinnen, die auf seinen Tanzkarten standen, und als die Frauen, die seine Mutter sich von ihm erhoffte. Sie hatte keinen Titel, keine gute Abstammung, kein uraltes Vermögen. Sie malte Bilder für diejenigen, die all das besaßen.

Als Frau war sie für einen Mann wie ihn uninteressant. Doch sosehr sie gegen sein Frauenbild verstieß, wollte er den Winter nicht damit verbringen, ihr Aufpasser zu sein. Oder, noch schlimmer, sie zu täuschen. In ihrem Gesicht an diesem Nachmittag hatte er gelesen, dass sie genug hatte von Lügen und Täuschung. Egal, was sie von der Welt wusste oder erwartete – und in ihrem Alter war sie gewiss nicht mehr ganz naiv –, er hatte in ihrem Gesicht gesehen, dass sie von der heutigen Ablehnung ehrlich überrascht worden war. Sie hatte wirklich geglaubt, sie werde aufgenommen werden. Das ließ sein normalerweise konservatives Gewissen nicht ruhen. Hatte sie womöglich eine ungerechte Abfuhr bekommen?

Darius war stolz darauf, ehrlich und direkt zu sein. Täuschung jeder Art verstieß gegen sein Ehrgefühl. Er hätte fast gesagt, er sei nicht der richtige Mann für diese Sache, aber dieser Plan würde auch ohne sein Zutun verfolgt werden. Sie würden lediglich einen anderen an seiner Stelle schicken. Jemanden, der sich nicht um Objektivität bemühte und ihre Interessen nicht beachtete. So wie Sir Aldred Gray. Darius stellte fest, dass ihm der Gedanke nicht gefiel, absichtlich die stolze Miss Stansfield zu verführen, um es dann gegen sie zu verwenden.

„In Ordnung, ich werde es tun“, sagte er zustimmend. Wie schwer konnte es sein? Er hatte geplant, den Winter in London zu verbringen, um sich seinen politischen und geschäftlichen Interessen zu widmen. Es würde einfach sein, ein- bis zweimal zu ihr in ihr Atelier zu gehen und nachzuschauen, wie ihre Arbeit voranging. Wenn sein Bericht im März dem Rat zu objektiv erschien, war das nicht sein Problem. Bis dahin sah es jedoch so aus, als sei Miss Artemisia Stansfield ihm zugeteilt worden.

2. KAPITEL

Diese Unverschämtheit, ihr – einer professionellen, aktiven, preisgekrönten Malerin! – eine Probezeit anzubieten! Als würden vier Monate etwas ändern. Der Gedanke wurmte sie in mehrfacher Hinsicht. Immer noch wütete Artemisia innerlich über diese Beleidigung, als sie zu Hause ankam. Ihre Gefühle waren so stürmisch wie das Wetter. Sie wollte ihren Ärger nicht unterdrücken, aus Angst vor dem, was sich dahinter verbergen könnte – Tränen, Traurigkeit, Verzweiflung –, sondern sofort in ihr Zimmer gehen und für einige Zeit ihren Ärger vergessen. Doch Ärger konnte auch eine Stütze sein. Er hatte ihr geholfen, als ein anderer Mann sie betrogen hatte.

„Willkommen daheim, Miss“, begrüßte sie der Butler Anstruther mit der Erwartung guter Neuigkeiten in der Stimme und im Blick. Sie konnte sie nicht erfüllen.

„Ist mein Vater zu Hause?“ sagte sie unpersönlich, als sie ihm ihre Handschuhe gab und die Straßenkleidung ablegte.

„Nein, Miss. Er ist in einen seiner Clubs gegangen.“ Anstruther war zu gut ausgebildet, um ihre unausgesprochene Botschaft misszuverstehen. Heute Abend würde es keine Feier geben. Der Hoffnungsschimmer in seinem Blick wich sofort der üblichen beruflichen Distanziertheit. Im Stillen dankte sie ihm dafür. Sie hätte sein Mitleid nicht ertragen.

Sie war auch dankbar, dass ihr Vater ausgegangen war. Vielleicht wusste er ja bereits Bescheid und hatte aus strategischen Gründen das Lager verlassen. Er hatte seine Schuldigkeit getan und als ihr Nominator fungiert. Vorher bereits hatte er ihr klar gesagt, dass sie die Verantwortung selbst übernehmen und auf den eigenen Füßen stehen müsse. Seine Gründe dafür waren nicht ganz uneigennützig, denn Sir Lesley Stansfield besaß einen starken Selbsterhaltungstrieb. Doch weil sie ihre Lorbeeren selbst ernten wollte, hatte sie eingewilligt. Das war ihr Fehler gewesen.

„Da bist du ja endlich! Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr nach Hause.“ Die aufgeregte Stimme ihrer Schwester Adelaide ließ Artemisia nach oben schauen, als Addy voll überschwänglichem Vertrauen in den Erfolg ihrer Schwester die Treppe hinab segelte. „Wie ist es gelaufen? Ich bestelle am besten gleich Cham…“

Artemisia hasste es, sie zu enttäuschen. „Keinen Champagner, Addy.“ Mit einem Blick und Kopfschütteln hielt sie ihre Schwester auf. Hinter ihr zog sich Anstruther diskret ein Stück zurück.

Das Lächeln auf dem Gesicht ihrer Schwester verging. „Nein! Sag nicht, sie haben dich abgelehnt!“

„Doch, das haben sie.“ Artemisia stieg die Stufen hinauf und lächelte ihre Schwester müde an, bevor sie Anstruther zurückrief. „Ich brauche meinen großen Koffer vom Dachboden, bitte.“

„Wo willst du hin? Was ist passiert?“ Addy folgte ihr bis in ihr Zimmer, wo sie ihre übliche Stelle mitten auf Artemisias Bett einnahm und ihre Röcke um sich herum drapierte. „Erzähle mir alles.“ Diese Worte und Addys Gegenwart wirkten tröstlich. Hier, in ihrem Zimmer und bei Addy, konnte Artemisia ihre Rüstung ablegen und zeigen, wie verletzt sie war. Addy war schon immer ihre größte Unterstützerin gewesen, ihre loyale Fürsprecherin und Verteidigerin, in deren Augen sie nichts falsch machen konnte. Genau das brauchte sie nun.

„Es tut mir so leid, Arta.“ Addy drückte ihr die Hand, als sie fertig war. „Haben sie dir ihre Gründe genannt? Ich kann mir nicht vorstellen, welche es sein sollten. Deine Arbeit ist ganz vorzüglich.“

„Es war nicht meine Arbeit.“ Artemisia erhob sich vom Bett und ging auf und ab. Allmählich kehrten ihre Kraft und Überzeugung zurück. „Es liegt daran, dass ich nicht bin wie sie.“

Addy zog die roten Augenbrauen verwirrt zusammen. „Du bist eine ausgebildete Malerin und Künstlerin. Genau wie sie. In diesem Jahr hattest du mehr Aufträge als die meisten von ihnen.“ Offenbar verstand ihre Schwester es wirklich nicht.

„Das ist es nicht, Addy.“ Artemisias Stimme klang sanft. „Ich habe die eine Sache nicht, die sie alle gemeinsam haben. Ich habe keinen Penis.“

Addy legte schockiert die Hand auf den Mund. „Oh, Arta! Sei nicht vulgär.“

„Ehrlichkeit ist nie vulgär.“ Das war Artemisias feste Überzeugung. „Trotz einer vorgeblichen viermonatigen Probezeit wollen sie einfach nur keine Frauen in der Akademie. Das wurde mir heute sehr klar. Im März wird ihre Antwort nicht anders lauten.“

Addy blieb lange still und dachte offensichtlich über diese Erkenntnis nach. Glaubte sie ihr? So groß die Offenbarung auch für sie selbst gewesen war, würde sie für Addy noch viel größer sein, weil sie jünger war und weniger von der Welt gesehen hatte als sie. Die Wahrheit war womöglich zu abscheulich für Addy. Es bedeutete, dass ihre sogenannten Freunde unaufrichtig waren, und das würde für sie schwer zu akzeptieren sein. Schließlich sprach Addy wieder. „Dann musst du ihnen beweisen, dass sie sich irren.“

Es klopfte an die Türe, und Artemisias Schrankkoffer wurde hereingebracht. Er war sehr groß und musste von zwei Dienern getragen werden. „Stellen Sie ihn neben das Fenster“, befahl Artemisia und spürte Addys fragenden Blick auf sich.

„Ich fahre zu Tante Marthas Farm in Seasalter“, erklärte sie, als sie wieder allein waren. Ihre Großtante hatte ihnen dort ihr Haus vermacht. „Dort kann ich malen und mich erholen.“ Auf dem Rückweg von der Akademie war es Artemisia bewusst geworden, dass ihr bezüglich der Probezeit keine Wahl blieb. Wenn sie in vier Monaten ohne etwas Vorzeigbares zur Akademie kam, würden sie einfach sagen, sie habe endgültig die Zulassung zur Mitgliedschaft verwirkt, und die Beweislast für ihr Versagen würde voll auf ihre Schultern gelegt. Wenn sie also mit einem neuartigen Kunstwerk zurückkehrte, wäre die Beweislast bei ihnen, und wer konnte wissen, was sich in dieser Zeit änderte. Es stimmte wohl: Die Hoffnung starb wirklich zuletzt.

„Nun?“ Addy sah enttäuscht aus. „Was ist mit den Feiertagen? In zwei Wochen ist Weihnachten. Wir verpassen alle Partys.“

Ich verpasse die Partys“, stellte Artemisia richtig.

Addy schüttelte den Kopf. „Wir. Du glaubst doch wohl nicht, ich lasse dich monatelang allein in Kent herumlaufen. Wir sind Schwestern, und dies ist auch mein Kampf. Wenn die Akademie dich abweist, wird sie in einigen Jahren auch mich abweisen. Dies betrifft uns beide.“

„Du könntest nach den Feiertagen nachkommen“, bot Artemisia an, denn sie wusste, wie viel Freude Addy die Festtage machten. Ihre Schwester war viel geselliger als sie. „Bis dahin kann ich das Haus in Ordnung bringen, damit wir darin wohnen können. Wir waren seit Jahren nicht mehr dort.“ Sie war nicht einmal sicher, ob sie es wiederfinden würde. Aber sie musste irgendwo anders hingehen, und dort war der einzige Ort, der wirklich ihr gehörte, und wo sie in Ruhe malen konnte.

„Es wird ein richtiges Abenteuer.“ Addy lächelte mit funkelnden Augen.

Artemisia ging zu ihrer Schwester und nahm sie in die Arme. „Bist du sicher, dass du das tun willst? Mir sogar deine Festtage opfern willst? Ich weiß gar nicht, womit ich eine Schwester wie dich verdient habe.“

Obwohl Artemisia gern auf der Stelle nach Kent abgefahren wäre, ging es erst drei Tage später los. Sie brauchten Zeit zum Kofferpacken und Sammeln von Künstlerbedarf und Haushaltsgegenständen, weil das Haus wahrscheinlich so etwas nicht enthielt. Außerdem mussten sie einen Reiter vorausschicken, um ihre Ankunft anzukündigen. Wenn sie Glück hatten, war bei ihrem Eintreffen das Farmhaus nicht gänzlich unbewohnbar.

Es sah bei ihrer Ankunft nicht gut aus. Nach einem langen Tag in der Reisekutsche auf holperigen Straßen bei Regenwetter hätte sie jetzt gern ein ordentliches warmes Essen und ein warmes Bett, doch die dunkle Front des Farmhauses, das sich vom grauen Himmel abhob, sah wenig vielversprechend aus. Sie rüttelte Addy sanft wach. „Wir sind da.“

Die Kutsche blieb stehen, und Artemisia und ihre Schwester stiegen aus. Außer einer Frau aus dem Dorf, die sie als Köchin und Haushälterin einstellen wollten, waren sie von nun an auf sich gestellt. Die Bequemlichkeiten Londons lagen hinter ihnen, aber sie brauchten hier auch nicht so viel Personal wie in London. Sie zog die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf und schaute sich das Haus von außen an. Es war aus roten Ziegelsteinen erbaut und hatte zwei Stockwerke. Ein kleiner Anbau auf der linken Seite enthielt die Küche. Dünner Rauch kam aus dem Schornstein. Artemisia lächelte. Es gab Rauch – also auch Feuer, Wärme und vielleicht sogar Tee.

Die Vordertür ging auf, und eine rundliche Frau mit weißer Haube und Schürze winkte ihnen einen Willkommensgruß zu. „Ich hörte Pferde. Kommen Sie herein. Wenn Sie noch länger so stehen bleiben, sind Sie bald völlig durchnässt.“

In der vorderen Diele war es warm, und Artemisia und Addy nahmen die Umhänge ab. Addy warf ihr einen Blick zu, der sagte: Ich habe es dir doch gesagt, und lächelte. „Wie du siehst, ist alles bereit, Arta.“ Zu der Frau sagte Addy: „Meine Schwester erwartet immer das Schlimmste. Sie war sicher, im Farmhaus sei es feucht, es gebe heute kein Feuer, keine Betten und kein warmes Essen.“

„Diese Erwartung haben wir übertroffen. Machen Sie es sich im Wohnzimmer bequem, dann bringe ich Ihnen Tee und Ingwerplätzchen.“ Die Frau wechselte einen Verschwörerblick mit Addy und eilte hinaus, bevor Artemisia sie nach ihrem Namen fragen konnte.

„Du hast mal wieder eine Eroberung gemacht.“ Artemisia zog sich einen Stuhl vor das Feuer. Addy war charmant, und die meisten Menschen fühlten sich von ihrer offenen Art angezogen. Bei ihr selbst war es anders. Viele Menschen fanden sie abweisend. Möglicherweise lag es an ihrer Größe, denn sie war so groß wie viele Männer, aber wahrscheinlich schreckte sie mit ihrer direkten und oft zynischen Art die Menschen ab. Abgesehen von Addy, vertraute Artemisia niemandem, offenbarte sich niemandem. Vielleicht, weil sie schon sehr früh Herzeleid und Vertrauensbruch erlebt hatte.

Die Haushälterin kam wieder herein mit einem Teetablett, gefolgt von einem hübschen blonden Mädchen, dessen Häubchen ihre üppigen Locken kaum bändigen konnte, so wie ihre saubere und ordentliche Schürze ihre weiblichen Formen nicht ganz verbarg. Obwohl sie versuchte, sich dahinter zu verstecken, glaubte Artemisia. Aber es gelingt ihr nicht. Artemisia hatte spontan Mitgefühl für das hübsche Mädchen. Männer konnten solch unverdorbener Schönheit schreckliche Dinge antun.

Die Haushälterin stellte das Tablett auf ein niedriges Tischchen vor dem Feuer, und Artemisia übernahm die Vorstellung. „Ich bin Miss Stansfield, und dies ist meine Schwester Addy.“ Das Mädchen stand respektvoll hinter der älteren Frau und versuchte unscheinbar auszusehen, aber es gelang ihr nicht. Ein solches Mädchen würde den Dienst in einem großen Haus nicht unbeschadet überstehen.

„Ich bin Mrs. Harris“, sagte die Haushälterin. „Ich werde tagsüber hier sein und mich um das Haus kümmern. Ich serviere Ihnen Frühstück und Lunch und hinterlasse Ihnen für den Abend ein Essen auf dem Herd.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Ich habe Ihrer Großtante gedient, bevor sie verstarb. Es ist mir eine Freude, wieder jemanden im Haus zu wissen. Ich war ganz aufgeregt, als die Nachricht eintraf, dass Marthas Nichten kommen würden. Sie sprach oft und gern von Ihnen und den Sommertagen, die Sie hier verbrachten.“

Martha. Also waren ihre Großtante und Mrs. Harris Freundinnen gewesen. „Ich habe mir erlaubt, ein paar Mädchen aus dem Dorf vorübergehend hierherzuholen, um alles für Ihre Ankunft vorzubereiten. Sie würden gern weiter für Sie arbeiten, wenn sie sie einstellen möchten.“ Sie gab dem hübschen Mädchen ein Zeichen vorzutreten. „Dies ist Elianora, meine Nichte. Meinem Bruder gehört die Bäckerei im Ort, und sie backt hier für mich. Es ist gut, ein zweites Paar Hände zu haben und nicht allein zu sein, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Artemisia nickte kurz in Elianoras Richtung. „Vielen Dank für die Plätzchen, sie schmecken sehr gut.“ Auch ohne die Kekse verstand sie, worauf Mrs. Harris hinauswollte. In der einsamen Landschaft von Kent konnte in einem leeren oder nur von einer Haushälterin bewohnten Farmhaus viel passieren. Das sumpfige Küstengebiet war nicht nur berühmt für seine Austern, sondern auch berüchtigt für die vielen Schmuggler.

„Ich denke, Sie beide werden mehr als genug Personal für das Haus sein.“ Artemisia wollte den Gedanken an weitere Helfer nicht aufkommen lassen. Ein Haus voller Mägde und Diener war das Letzte, was sie wollte. „Wir wollen hier nur einfach und ungestört wohnen, solange wir da sind.“ Die Haushälterin sah geknickt aus.

„Nun, es war nur ein Vorschlag.“ Mrs. Harris war wieder geschäftsmäßig und strich ein Sofakissen glatt, wohl um ihre Enttäuschung zu verbergen.

Artemisia spürte eine leichte Berührung am Knie und hielt sich zurück, während ihre Schwester den unbeabsichtigten Schlag abmilderte. „Wir warten erst einmal ab, wie alles läuft und wie viel Hilfe wir tatsächlich benötigen, Mrs. Harris. Wir können noch einmal darauf zurückkommen, wenn wir uns hier eingerichtet haben.“

Damit war die Haushälterin anscheinend zufrieden. „Nun gut. Ich lasse Ihr Gepäck auf Ihre Zimmer bringen, und dann bin ich weg für die Nacht. In der Küche steht Eintopf und Brot für das Abendessen.“

„Die Zeiten sind hart, Arta“, sagte Addy sanft, nachdem Mrs. Harris gegangen war. „Die Dorfleute sind froh, wenn sie Arbeit haben, und die Feiertage stehen vor der Tür. Vielleicht sollten wir eine kleine Party veranstalten, sozusagen um uns der Nachbarschaft vorzustellen. Man kann nie genug Freunde haben.“

Sie lächelte Addy freundlich an. Ihre Schwester betrachtete Fremde als mögliche Freunde, während Artemisia in ihnen potenzielle Feinde sah. „Damit hast du wohl recht. Daran hatte ich nicht gedacht, sondern nur daran, dass ich ungestört sein möchte. Du bist zu gut, Addy.“ Sie nippte an dem heißen Tee und ließ ihn langsam die Kehle hinunter rinnen, damit sich die Wärme in ihr ausbreiten konnte. „Aber wenn wir jemanden einstellen, möchte ich keinerlei Gerede unter den Leuten und keine Spekulationen über das, was hier geschieht.“ Eine einzige lose Zunge genügte. Wenn nur ein ungünstiger Verdacht in London geäußert wurde, würde die Akademie sie als lockere Frauensperson darstellen. Es war zwar unwahrscheinlich, dass die Leute in Seasalter Verbindungen nach London hatten, aber man konnte nie vorsichtig genug sein.

Schweigend tranken sie ihren Tee und hörten zu, wie die Koffer nach oben geschafft wurden. Gelegentlich wurde das Keuchen der arbeitenden Männer durch eine Anweisung von Mrs. Harris durchbrochen. „Du hast noch Zeit, es dir zu überlegen“, bot Artemisia an, als die Geräusche leiser wurden. Die Wagenknechte ihres Vaters würden in Seasalter übernachten und erst am Morgen nach London zurückkehren. Addy könnte mit ihnen zurückfahren.

Addy schüttelte den Kopf und sprach mit dem Mund voller Kekse. „Machst du Spaß? Wenn ich hier solche Plätzchen haben kann? Ich fahre nicht zurück.“

Artemisia stellte die Teetasse ab. „Ich glaube, damit ist alles gesagt. Sollen wir uns anschauen, was uns erwartet?“

Im Erdgeschoss waren drei Räume plus der Anbau, in dem die Küche war. Es waren das Wohnzimmer, ein Esszimmer und hinten ein langer verglaster Bereich, der sich über die ganze Breite des Hauses erstreckte. Großtante Martha hatte diesen Raum als eine Art Gewächshaus für ihre Pflanzen benutzt. Nun war er leer, und Artemisia fand, er würde sich gut als Atelier eignen. Die Fenster würden das kostbare Winterlicht am späten Vormittag und Nachmittag einfangen. Oben warteten mehrere Schlafzimmer zu beiden Seiten des Flurs. Ihre Koffer waren in zwei der Zimmer geräumt worden, die an der Vorderseite des Hauses lagen und eine Aussicht auf den Meeresarm boten. Die Betten waren bereits aufgeschlagen.

Artemisia schaute aus dem Fenster und betrachtete die Winterlandschaft mit dem Auge der Künstlerin: Schwarz- und Grautöne, die violette Farbe des Heidekrauts, Weizengelb, Kupfer, Siena, Silber, Salz. Eine starke, maskuline Palette. Im Frühling und Sommer würde das Marschland voller Vögel sein: Schnepfen, Austernfischer, Regenpfeifer. Heute war das Mündungsgebiet verlassen bis auf eine Schar Ringelgänse.

Es wäre eine mutige Aussage … Frauen malten nur selten in solch gedeckten Farben. Obwohl das eisige Violett und Blau einer Berglandschaft nicht zu den Schlammfarben der winterlichen Sumpf- und Meerlandschaft passen würde …

„Du malst wohl bereits in Gedanken“, sagte Addy von der Tür aus.

„Ja, ich glaube schon.“ Artemisia wandte sich noch nicht vom Fenster ab, weil sie die Bilder und Ideen im Kopf nicht verlieren wollte, zu denen sie inspiriert worden war. Ihre Finger „sehnten“ sich nach Malpinsel und Skizzierstift. Heute Abend noch würde sie ihre Utensilien auspacken, damit sie morgen beginnen konnte. Sie war voller Vorfreude und Erwartung. Sie würde die Gänse skizzieren, die braunen Kräuter, den sienafarbenen Schlamm, die silbergrauen Gewässer der Marsch. All das würde sie mit einer begrenzten Palette malen. Es wäre eine Metapher für ihre Isolation von der Gemeinschaft, der sie am liebsten angehören wollte. Ja. Sie würde das Marschland malen. Für den unwissenden Betrachter würde es wie eine mutige Ansammlung von Natur aussehen, doch den Leuten, die es besser wussten, zeigte es ihren Protest.

3. KAPITEL

Januar 1820

Rückblickend dachte Darius, dass er lauter hätte widersprechen sollen, als sein Vater ihn zum Dinner in das Stadthaus einlud. Eigentlich hatte er sich ein ruhiges Abendessen für seinen letzten Abend in London erhofft. Das Dinner in Bourne House, dem eleganten abgelegenen Haus seiner Eltern, entsprach diesem Wunsch zwar, aber es hatte seinen Preis.

„Hast du schon ein paar nette Mädels kennengelernt? Ich habe gehört, dieses Jahr sind über die Feiertage besonders viele in der Stadt.“ Seine Mutter ließ ihn schon früh während des Dinners für das exquisite Essen ihres französischen Kochs bezahlen. Normalerweise wartete sie wenigstens ab, bis der Käse serviert wurde. Er war erst halb durch mit dem köstlichen Seebarsch in pikanter Zitronensauce. Auch das beste Essen war die mütterliche Inquisition nicht wert.

Darius atmete tief durch und legte die Gabel zur Seite. Je zurückhaltender er sich verhielt, umso besser. „Bisher nicht, nein. Aber ich erwarte, dass es in der Saison mehr interessante Möglichkeiten geben wird.“ Als Erbe von Bourne hatte er nur drei Pflichten im Leben: sich um die Grafschaft zu kümmern, zu heiraten und eine Reihe tauglicher Söhne zu produzieren. An seinem letzten Geburtstag hatte er seiner Mutter zugestimmt, dass es Zeit wurde, sich an die beiden letzten Aufgaben auf seiner Liste zu machen. In diesem Herbst wurde er fünfunddreißig. Es war an der Zeit und seine Pflicht. Darius tat immer seine Pflicht.

Doch seine Mutter auch. „Das Angebot soll wohl dieses Jahr außerordentlich gut sein. Kein Wunder, dass so viele schöne junge Mädchen schon vor den Feiertagen in die Stadt gekommen sind, um den anderen zuvorzukommen.“ Schon zum zweiten Mal erwähnte sie die Feiertage. Darius war misstrauisch. Sie hatte wohl etwas geplant …

„Der alte Worth hat über Weihnachten seine Familie bei sich. Sein Enkel Preston ist eindrucksvoll und bekommt wahrscheinlich bald einen Regierungsposten.“ Sie wedelte mit ihrer langen schmalen Hand in Richtung seines Vaters. „Bourne kennt die Einzelheiten.“ Es gab also mehr zu wissen. „Seine Enkelin May ist eine dunkelhaarige scharfsinnige Schönheit. Wahrscheinlich wird sie in der kommenden Saison ein Diamant sein.“ Nun war es heraus.

„Ich bin überzeugt, dass Miss Worth entzückend ist“, stimmte er in neutralem Ton zu. Bilder einer anderen dunkelhaarigen und scharfsinnigen Frau gingen ihm durch den Kopf. Er stellte in Gedanken die feurige Artemisia Stansfield der gewiss schönen May Worth mit vermutlich glatten Haaren und einem glatten Gesicht wie von Porzellan gegenüber. Als seine Mutter sagte, sie wolle sich im neuen Jahr ernsthaft umsehen, hatte er angenommen, sie meine die neue Saison im Frühling, nicht den Jahreswechsel. Das neue Jahr war erst zwei Wochen alt. „Leider werde ich außerhalb von London erwartet. Morgen früh fahre ich los.“ Er wollte damit weitere Erkundigungen seiner Mutter im Keim ersticken.

Sein Vater blickte interessiert auf. „Wohin? Ich habe nichts davon gehört.“

„Seasalter.“ Es war eine ungeplante Reise dank der unbequemen Miss Stansfield. Der Auftrag für die Akademie war schwieriger als vorhergesehen. Als er dem Vorschlag zustimmte, war es in der Annahme, Artemisia Stansfield werde in London malen, doch in diesem wichtigen Punkt hatte er sich geirrt. Als er am Stansfield Stadthaus vorsprach, informierte ihn der Butler, Miss Stansfield sei nach Kent aufgebrochen. Der Mann sah ihn so vorwurfsvoll an, als sei er persönlich der Grund für ihre Abreise.

„Seasalter? Im Januar?“ Das Gesicht seines Vaters drückte vornehme Abneigung aus, aber auch etwas Hinterhältiges. „Warum denn nur? Es ist ja nicht einmal Austernsaison.“

„Es ist für die Akademie“, antwortete Darius vage, um seinen Auftrag zu schützen, solange seine Mutter im vollen Kuppel-Modus war. Sein Vater blickte ihn eine Weile an, und Darius hatte den Verdacht, er werde nicht ungeschoren davonkommen. Sein Vater wusste, was in der Welt der Kunst vor sich ging.

Danach drehte sich die Unterhaltung nur noch um allgemeine Themen, aber die unterschwellige Spannung verging auch nicht während der freundlichen Unterhaltung. Dies war die Art der Rutherfords, wie Darius bereits als Kind gelernt hatte. Alles musste nach außen harmonisch und perfekt aussehen. Wenn man die Rutherfords kennenlernte, würde man nicht glauben, was für Enttäuschungen es auch bei ihnen gegeben hatte. Die mehrfachen Fehlgeburten, die vor Jahren einen Keil zwischen den Earl und die Countess getrieben hatten. Oder dass die Countess früher eine begabte Flötistin gewesen war und dieses Talent vor der Eheschließung aufgegeben hatte. Später hatte ein heftiger Streit zwischen dem Earl und seinem sechzehnjährigen Sohn die Familie beinahe auseinandergerissen. Damals hatte seine Mutter zum letzten Mal echtes Interesse gezeigt.

In der letzten Zeit war die gesamte Energie seiner Mutter unerschütterlich nur noch auf das eine Ziel gerichtet, ihn zu verheiraten, ihre letzte mütterliche Pflicht. Sie hatte versagt, weil sie dem Earl nicht die erwünschte Anzahl von Söhnen schenken konnte. Nun durfte sie nicht daran scheitern, den Erben heiraten zu sehen. In dieser Beziehung waren Darius’ Pflicht und ihre miteinander verwoben. Sie konnten ihre Pflichten nicht getrennt voneinander erfüllen. Aber er würde sie nicht enttäuschen – sie verdiente von ihrem einzigen überlebenden Sohn nur das Beste.

Seine Mutter war mit fünfundfünfzig Jahren immer noch eine attraktive und elegante Frau, die die Etikette beachtete, selbst wenn sie nur innerhalb der Familie dinierten. Sie erhob sich. „Ich lasse euch beide jetzt allein mit eurem Portwein.“

Die Karaffe wurde gebracht, die Gläser gefüllt, und Darius wartete darauf, dass sein Vater den Anfang machte. „Artemisia Stansfield ist in Seasalter“, sagte sein Vater nach einer Weile. „Hat deine Reise etwas mit ihr zu tun?“ Darius war nicht überrascht, dass sein Vater Bescheid wusste.

„Ja.“ Darius wusste aus Erfahrung, dass bei seinem Vater nur die Wahrheit weiterhalf. Früher oder später wusste der Earl über alles Bescheid. Am besten sprach man von Anfang an offen darüber. „Die Akademie möchte, dass ich ihre Fortschritte überprüfe, bevor sie im März zurückkommt. Ich habe erst gestern erfahren, dass sie London verlassen hat.“

Sein Vater zog eine Braue hoch. „Sie ist eine interessante Frau. Zu interessant, wenn du verstehst, was ich sagen will.“ Darius verstand. „Vielleicht kommst du noch irgendwie aus der Sache heraus?“, überlegte sein Vater. „Als die Akademie dir diesen Auftrag gab, dachte man wahrscheinlich, dass sie hier in der Stadt sein würde, umgeben von Menschen. Seasalter kann sehr einsam sein im Winter.“ Sie Vater schaute ihn vielsagend an. „Eine entehrte Frau und ein ehrenhafter Mann … das ist eine gefährliche Kombination.“

„Ich glaube nicht, dass Miss Stansfield einen Ehemann sucht,“ erwiderte Darius ruhig. Es würde nichts nützen, an der Unterstellung Anstoß zu nehmen. „Ich werde sie in meiner offiziellen Funktion aufsuchen, und ich zweifle daran, dass Miss Stansfield darüber erfreut sein wird.“ Sie würde sich ebenso wenig freuen, ihn zu sehen, wie er sich freuen würde, dort zu sein. Es war eine rundherum unerfreuliche Angelegenheit. Je eher er sich damit befasste, desto früher hatte er es hinter sich.

„Trotzdem. Sieh dich vor. Du bist mein Erbe und stehst deutlich über ihr.“ Sein Vater trank den Rest seines Drinks und beendete damit das Gespräch. Er erhob sich, und man sah ihm an, dass er seine Botschaft für übermittelt hielt. „Lass uns zu deiner Mutter gehen.“ Nicht nur, weil es so üblich war, sondern weil sie eine fortwährende Mahnerin war, seine Pflicht zu tun. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, für einige Tage aus London hinauszukommen und etwas frische Luft zu atmen.

Die Kutsche hielt im Innenhof des einzigen Gasthofs in Seasalter, The Crown. Darius war darauf gefasst, nach der ungemütlichen Reise nun die Unbequemlichkeiten eines abgelegenen Landgasthauses zu erleben. Mit etwas Glück würde er nicht allzu lange bleiben müssen. Er schaute auf seine Taschenuhr. Halb vier Uhr. Er konnte sich frisch machen und zur Teatime im Stansfield-Haus sein. Er machte sich jedoch keine Illusionen, dass Miss Stansfield über seinen Besuch erfreut sein würde.

Sein Diener öffnete den Wagenschlag, klappte die Stufen hinunter, und Darius trat hinaus in den schmutzigen Innenhof. Seine Stiefel quatschten durch die Pfützen, Nieselregen überzog den Schulterkragen seines schweren Wintermantels mit feinen Tröpfchen. Er atmete die salzige Luft tief ein, die frischer war als in London, aber das war ein schwacher Trost. „Bringt mein Gepäck nach drinnen“, befahl er. „Ich lasse den Wirt wissen, dass ich hier bin.“

Drinnen war es nicht besser als draußen, nur dunkler. Schmutzige Schuhe hatten Spuren auf dem Dielenboden hinterlassen, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie wegzuwischen. Einige Männer saßen beim Feuer und tranken Ale. Essensgeruch lag in der Luft. Ermutigend. Zumindest würde er nicht verhungern. Nicht dass er vorhatte, lange genug hier zu bleiben, um sich darüber Gedanken machen zu müssen.

Der Gastwirt gab ihm den Zimmerschlüssel und schaute ihn mit einem verschlagenen Blick an, als er sich nach dem Weg zu den Stansfields erkundigte. Anscheinend hatte Artemisia bereits einen gewissen Eindruck auf diese Leute gemacht.

Darius überlegte beim Hinaufgehen zu seinem Zimmer, ob sie wohl ihre Ansichten zur männlichen Anatomie auch der hiesigen Bevölkerung mitgeteilt hatte. Er schloss sein Zimmer auf und schaute sich um. Es war erstaunlich sauber und von anständiger Größe. Darin war ein Bett, ein Waschtisch, eine Feuerstelle und ein kleinerer Tisch zum Schreiben oder zum Essen, wenn es im Schankraum zu voll war. Er benutzte sofort den Waschtisch, ansonsten wusste er nicht recht, wie er sein Aussehen verbessern sollte. Der Ort war sehr einfach, nur ein kleines Dorf. Wenn er hier zu gut gekleidet war, würde er noch mehr Aufmerksamkeit erregen.

Das Farmhaus, in dem Miss Stansfield wohnte, war eine halbe Meile die Straße hinunter. Der Gastwirt ging davon aus, dass er zu Fuß gehen würde, wie es wohl die meisten Anwohner trotz des scheußlichen Wetters taten. Er blickte aus dem Fenster. Es regnete immer noch. Es hatte keinen Sinn, sich umzuziehen, nur um draußen wieder schmutzig zu werden. Die Kleider, die er trug, hatten heute nur die Innenseite der Kutsche gesehen. Er schüttelte die Tröpfchen von seinem schweren Mantel und zog ihn wieder über, als sein großer Koffer gebracht wurde.

„Ich komme zum Abendessen zurück.“ Sein Diener würde wissen, was gemeint war. Ein Bad und warmes Essen mussten bereitstehen, außerdem ein schwerer Rotwein, wenn es so etwas hier gab. Darius schlug den obersten Kragen hoch und begab sich hinaus in die trüben Elemente.

Das Farmhaus war nicht schwer zu finden – ein Stück weiter an der Faversham Road – und die Bewegung hatte seine Laune trotz des Regens verbessert. Rauch kringelte sich einladend aus dem Schornstein des Hauses, und eine Lampe leuchtete durch ein Fenster mit Spitzengardine. Es war die Bestätigung, dass jemand anwesend sein musste. Er war nicht vergebens gekommen.

Zum ersten Mal seit längerer Zeit hatte er das Gefühl, Glück gehabt zu haben. Er freute sich nicht auf die Begegnung mit Miss Stansfield, doch wenn er sie heute sah und ihre künstlerische Arbeit begutachtete, könnte er schon morgen auf dem Heimweg sein. Es war für beide von Vorteil, wenn er seinen Besuch nicht in die Länge zog. Je weniger er von Artemisia Stansfield sah, desto weniger Möglichkeiten gab es, etwas Schlechtes berichten zu müssen.

Darius klopfte, und eine rundliche Frau mit gestärkter Schürze öffnete ihm. „Ich möchte gern Miss Stansfield sehen“, erklärte Darius mit angebrachtem Respekt. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es sich stets auszahlte, wenn man höflich zu Dienstboten war.

Die Frau warf ihm einen schnellen Blick zu, um ihn einzuschätzen, und offenbar bestand er die Musterung. „Hier entlang, Miss Stansfield ist im Salon.“ Es war nicht weit. Das Farmhaus war nett und kompakt im Vergleich mit den hohen Stadthäusern in Mayfair.

„Miss Stansfield“, verkündete die Haushälterin mit angemessenem Ernst. Vielleicht war dies ein Zeichen, dass er Eindruck auf sie gemacht hatte. „Hier ist ein Gentleman für Sie.“ Sie trat zurück von der geöffneten Tür, damit er eintreten konnte. Auf dem grünen Sofa saß eine erfreulich anzusehende junge Frau mit rötlichen Haaren und blickte von ihrem Zeichenblock auf. Ihre freundlichen grünen Augen schauten ebenso verwirrt drein wie er. War er an der falschen Adresse? Hatte er die Wegbeschreibung des Gastwirts falsch verstanden?

„Ich danke Ihnen, Mrs. Harris. Würden Sie bitte Tee bringen? Es ist ein regnerischer Nachmittag.“ Sie legte den Block zur Seite und erhob sich, als die Haushälterin hinauseilte. „Ein Besucher ist hier stets willkommen, Sir, aber ich glaube, wir kennen uns noch nicht.“

Darius machte eine kleine Verbeugung, um seine eigene Überraschung nicht zu zeigen. „Nein, das glaube ich auch. Ich suche Miss Stansfield.“

Sie lachte fröhlich. „Sie haben sie gefunden. Ich bin Miss Stansfield. Nun, eine von beiden. Wahrscheinlich möchten Sie zu meiner Schwester Artemisia?“ Die Art, wie sie dies sagte, machte auf Darius den Eindruck, als sei sie es gewohnt, neben ihrer Schwester weniger beachtet zu werden. Doch sie hatte ihre eigene liebenswürdige Offenheit. Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin Miss Adelaide Stansfield.“

Darius schüttelte ihr die Hand. „Ich bin Mr. Rutherford und gerade aus London hier angekommen.“ Er hatte beschlossen, seinen Titel wegzulassen. Hier war er der Kunstkritiker, nicht der Viscount.

„Oh, sind Sie gekommen, um ein Gemälde zu erwerben? Artemisia wird enttäuscht sein, Sie verpasst zu haben.“

„Sie ist nicht hier?“, erkundigte sich Darius. War das Glück oder Pech für ihn? Dann fragte er sich, wo sie sein mochte in diesem Regenwetter.

Adelaide Stansfield schüttelte den Kopf. „Sie ist draußen und macht Zeichnungen von der Sumpflandschaft. Bitte, setzen Sie sich doch und trinken wenigstens einen Tee, wenn Sie schon hier sind. Leider weiß ich nicht genau, wann sie zurück sein wird. Sie meinte, wir sollten sie nicht vor dem Abendessen zurück erwarten.“ So lange zu warten, stand außer Frage, aber er musste zum Tee bleiben. Es wäre sonst sehr unhöflich von ihm.

Sie setzten sich an das Feuer, wo es angenehm warm war nach dem nasskalten Weg hierher. Sein Blick fiel auf das Bild über dem Kaminsims – eine einsame Gans auf dem Marschboden, in auffälligem Schwarz und Grau gehalten im Gegensatz zu den subtilen Brauntönen und dem trügerischem Dunkelgrün der Moorbinsen. In der Ecke standen die Initialen A.S. Er nickte mit dem Kopf zu dem Bild. „Ist das von Ihrer Schwester?“ Vielleicht war ihre Abwesenheit ja sogar ein glücklicher Zufall. Er konnte ihre Arbeit sehen, ohne ihre Abwehr überwinden zu müssen. Ihre Bilder waren unbewacht, außer von dieser sehr viel freundlicheren Miss Stansfield, die ihm Tee und köstliche kleine Zitronentörtchen anbot.

„Ja, gefällt es Ihnen? Ich weiß nicht, ob es zu verkaufen ist. Es ist das erste Bild einer neuen Reihe.“

„Gibt es noch weitere?“ Er schaute sich nach anderen Arbeiten um.

„Ja, im Atelier. Sie sind noch nicht aufgehängt worden.“ Adelaide Stansfield erhob sich. „Würden Sie sie gern sehen?“ Er fühlte sich ein wenig schuldig, sie zu täuschen, aber so würde es keinen Ärger geben.

Der verglaste Raum im hinteren Bereich des Hauses war in ein Paradies für Künstler verwandelt worden. Eine Abdeckplane voller Kleckse bedeckte den Boden, ungerahmte Leinwände standen an einer Wand, auf einer Staffelei war ein unvollendetes Werk. Morgens musste das Licht hier fantastisch sein. Er blieb stehen und besah sich die Skizzen auf dem Tisch. Artemisia war fleißig gewesen, seit sie London verlassen hatte. „Dürfte ich um etwas Zeit bitten, mir die Gemälde genauer zu betrachten?“, bat er.

„Natürlich, ich lasse Ihnen die Lampe da.“ Adelaide Stansfield entschuldigte sich und gab ihm Zeit für sich. Er hielt die Lampe an jedes Bild, von denen viele noch nicht vollendet waren. Ihr Arbeitsumfang war eindrucksvoll. Sie würde eine echte Sammlung vorzuzeigen haben, wenn sie im März zur Akademie zurückkam. Vieles würde den Herren dort jedoch nicht gefallen. Es war ihr sicher bewusst, und doch hatte sie es getan. Ihre Farbpalette war schroff und männlich. Frauen sollten nach Meinung der Akademie Blumen und Stillleben malen, außerdem in Pastellfarben, in hellem Blau oder Rosa, nicht in Grau und Taupe. Nein, dies würde der Akademie überhaupt nicht gefallen. Weder ihre Farben, noch ihr Stil, noch die dargestellten Objekte. Sie hatte eine Landschaft gemalt, die von der Natur verwüstet worden war. Es zog die Blicke an, ganz gewiss, aber es war nicht angenehm anzuschauen. Nicht wie Constables südenglische Landschaftsbilder mit ihren heiteren Farben und sanftem Licht.

Hinter sich hörte er leise Schritte. Adelaide Stansfield war zurück. „Was denken Sie, Mr. Rutherford?“, fragte sie. Er hörte heraus, dass sie erwartete, er werde begeistert sein. Er hasste es, sie zu enttäuschen.

„Ich muss darüber nachdenken. Es ist nicht das, was ich erwartet habe, und ich bin nicht sicher, ob die Bilder geeignet sind. Vielleicht gebe ich Ihnen vom Gasthof aus Bescheid, ob ich mich für eins entscheide.“

Ihre Freundlichkeit verging ein wenig. „Ich versichere Ihnen, dass es sich um ausgezeichnete Kunstwerke handelt. Sie müssen die künstlerische Verwendung von Licht und Perspektive beachten. Die Einfachheit der Arbeiten trügt, Sir“, argumentierte Adelaide leidenschaftlich.

„Miss Stansfield, Sie machen Ihrer Schwester alle Ehre. Aber bedenken Sie, dass Sie voreingenommen sind.“ Er verneigte sich. „Ich danke Ihnen für Ihre Zeit und für den Tee.“ Dann verließ er sie, bevor Miss Stansfield noch mehr sagen konnte.

Auf dem Rückweg zum Gasthof hatte er Zeit zum Nachdenken. Die Werke, die er heute gesehen hatte, hatten ihn sehr überrascht und schockiert. Was wollte Artemisia Stansfield damit beweisen? Sie hatte die Gelegenheit bekommen, sich selbst voranzubringen, indem sie malen durfte, was sie wollte. Etwas, das der Akademie ihr Talent bewies. Doch sie hatte sich entschieden, in jeder Beziehung den Konventionen zu trotzen. Hatte sie erraten, dass die Probezeit nur Augenwischerei war, und dass sich dadurch nichts an der Haltung der Akademie ändern würde? Warum sollte sie sie verärgern und wegwerfen, was sie als Chance ansah? Was wollte sie beweisen?

Oben in seinem Zimmer zog Darius den Mantel und die Stiefel aus und setzte sich an sein warmes Essen – Hasenpfeffer mit Gemüse, dazu ein mehr als adäquater Wein und frisches Brot. Als er die Flasche zur Hälfte geleert hatte, kam ihm die Antwort. Artemisia Stansfield plante eine Invasion, eine letzte glorreiche Attacke auf die Bastion männlicher Gemeinsamkeit. Glaubte sie an ihre Chance? Einen Erfolg ihrer Invasion? Denn der würde nicht kommen. Sie sollte ihre Kraft für einen Kampf bewahren, den sie gewinnen konnte.

Mehr lesen

Autor

Gail Ranstrom
<p>Geboren und aufgewachsen ist Gail Ranstrom im Nordwesten der USA, in den Weiten von Montana. Schon damals hörte sie gerne Geschichten über vergangene Epochen und weit entfernte Länder, und dabei durfte natürlich auch Abenteuer, Spannung und Romantik nicht zu kurz kommen! Bevor sie jedoch selbst mit dem Schreiben anfing, machte...
Mehr erfahren

Gefahren

  • Dieses Produkt enthält keine bekannten Gefahren.

Kontakt zum Herausgeber für weitere Informationen zur Barrierefreiheit

  • Weitere Informationen zur Barrierefreiheit unserer Produkte erhalten Sie unter info@cora.de.

Navigation

  • Dieses E-Book enthält ein Inhaltsverzeichnis mit Hyperlinks, um die Navigation zu allen Abschnitten und Kapiteln innerhalb dieses E-Books zu erleichtern.