Historical Saison Band 90

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MISS HENLEYS SINNLICHES ERWACHEN von JULIA JUSTISS
Auch nach der fünften Saison ist Miss Emma Henley nicht verheiratet! Was ihr sehr entgegenkommt, zumal sie finanziell unabhängig ist. Und doch verspürt sie den heimlichen Wunsch nach Leidenschaft. Soll sie Lord Theo Collington, dem man in der Liebe große Erfahrung nachsagt, einen wagemutigen Vorschlag machen: eine Affäre?

DIE SCHÖNE BÄCKERIN VON BATH von JENNI FLETCHER
Bath, 1806. Als Captain Delaney ihre exklusive Konditorei betritt, löst sein Lächeln in Annabelle Fortini ein ungeahnt erregendes Gefühl aus. Wie gern würde sie den Helden von Trafalgar erhören – aber behandelt ihn wegen seines Adelstitels kühl! Schließlich war es ein Aristokrat, der das Leben ihrer Mutter zerstörte …


  • Erscheinungstag 24.05.2022
  • Bandnummer 90
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511391
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julia Justiss, Jenni Fletcher

HISTORICAL SAISON BAND 90

1. KAPITEL

Wer, sagten Sie, besucht uns?“ Emma Henley sah zu ihrer Zofe auf, die sie bei der Lektüre eines hochinteressanten Reiseberichts störte. Dieses Buch hatte ihr erst vor Kurzem eine gute Freundin geliehen – Temperance Lattimar, neuerdings die Countess of Fensworth.

„Den Namen habe ich nicht verstanden, Miss. Jedenfalls muss es eine wichtige Person sein, weil Lady Henley mir befohlen hat, Sie zu holen.“

Nur sekundenlang überlegte Emma, ob sie ihrer Mutter den Gehorsam verweigern sollte. Dann legte sie das Buch bedauernd beiseite. Eine wichtige Person. Warum besteht Mama bei allen Besuchen auf meiner Anwesenheit?

Da sie bereits ihre fünfte Saison erlebte, hatten alle gesellschaftlich bedeutsamen Matronen reichlich Muße gefunden, sie zu besichtigen. Und welche wichtige Person würde so früh am Vormittag erscheinen? Wie auch immer, Emma gab sich geschlagen, weil sie keine Wahl hatte.

„Also gut, Marie, sagen Sie Mama, ich komme gleich.“

„In diesem neuen türkisfarbenen Kleid und mit den hochgesteckten Löckchen sehen Sie besonders hübsch aus, Miss“, betonte Marie, um auf das Ergebnis ihrer Dienste hinzuweisen. „Sie können gewiss wichtige Personen beeindrucken.“

„Ja, selbstverständlich – ich weiß Ihre Bemühungen zu schätzen“, beteuerte Emma lächelnd.

Voller Stolz knickste die Zofe und verließ das Zimmer. Emma schaute ihr seufzend nach. Trotz aller Fehlschläge sah die liebe, gute Marie die Heiratschancen ihrer Herrin so optimistisch wie eh und je.

Genauso beharrlich wie Mama, obwohl Emma nach fünf Jahren auf dem Heiratsmarkt immer noch ledig war … Nicht, dass es ihr an Gelegenheiten gemangelt hätte! Sie trat vor den Spiegel, ergriff eine verirrte Haarnadel und steckte sie in das Lockengebilde. Doch sie hatte die Ehe ihrer Eltern lange genug beobachtet, um diese Lebensform ziemlich skeptisch zu betrachten. Schon seit langer Zeit ging jeder seine eigenen Wege. Papa gab sich mit seinen Clubs und wechselnden Geliebten zufrieden, Mama mit ihren Bewunderern und einem großen Freundeskreis.

Zu allem Überfluss hatte nur Emmas ältere Schwester die gefeierte Schönheit der Mutter geerbt. Sie selbst war eher unscheinbar und etwas zu groß, allerdings unabhängig dank des Vermögens, das eine Tante ihr hinterlassen hatte. Deshalb musste sie nicht heiraten. Glücklicherweise konnte sie ebenso wählerisch sein wie ihre bildschönen Rivalinnen.

Kein einziges Mal war sie versucht gewesen, einen der diversen Heiratsanträge anzunehmen. Solche wenig verlockenden Angebote erhielt laut ihrer Mutter nur ein Mädchen, das „nicht hübsch genug ist, um einen Lebemann zu betören, und nicht reich genug, um einen Glücksritter zu begeistern“. Cecilia, die ältere Tochter, hatte einen Duke bezaubert. Aber wie Emma nur zu gut wusste, würde sie mit ihrer hochgewachsenen, schlanken Figur, dem schmalen, ovalen blassen Gesicht, der etwas zu prägnanten Nase und dem langweiligen braunen Haar in keinem Mann glutvolle Lust erregen. Dennoch würde sie sich niemals in das traditionelle Schicksal einer reizlosen Ehefrau fügen, die sich mit Haushalt und Kindern begnügte, während der Gemahl attraktiven Liebhaberinnen nachjagte.

Nein, dachte sie auf dem Weg zur Treppe und glättete den Spitzenbesatz an ihren Ärmeln. Sie wünschte sich ein interessanteres Leben. Nur einen Haushalt führen, Dienstboten und Kindermädchen beaufsichtigen, lärmenden Nachwuchs großziehen – einfach unerträglich! Oder sie müsste ihre Tage mit Besuchen und Einkaufsbummeln füllen, die Abende mit endlosen Dinnerpartys, musikalischen Soireen oder Bällen, dabei jahraus, jahrein dieselben Leute treffen, die immer das Gleiche taten. Auf keinen Fall!

In der letzten Saison hatte ihre Freundin Temperance sie mit Lady Lyndlington und deren Frauenkomitee bekannt gemacht. Diese Damen schrieben Briefe an Parlamentarier, um Lady Lyndlingtons Gemahl zu unterstützen, der zusammen mit seiner liberalen Gruppe bedeutsame Reformen durchzusetzen versuchte. Nun glaubte Emma, sie hätte endlich ihre Berufung gefunden. Frauen durften zwar noch nicht wählen oder im Parlament sitzen, aber als Mitglied des Frauenkomitees konnte sie etwas zur Verbesserung ihres Landes beitragen.

Darum würde sie die Bürden von Ehe und Mutterschaft nur akzeptieren, wenn ihr Mann ebenso wie Lord Lyndlington ehrenwerte Ziele anstrebte und die Mithilfe seiner gleichberechtigten Gattin förderte. Leider musste sie sich eingestehen, dass sie einen solchen Heiratskandidaten wohl kaum finden würde. Doch sie konnte Mama von der sinnlosen Jagd nach einem zweiten Schwiegersohn abbringen. Und das wollte Emma spätestens nach dieser Saison tun. Eine sechste Saison würde sie nicht hinnehmen, stattdessen in ein eigenes Heim ziehen und gemeinsam mit gleichgesinnten Freundinnen für die politischen Ziele kämpfen, an die sie so leidenschaftlich glaubten.

Im Erdgeschoss angekommen, steuerte sie den vorderen Salon an. Doch der Butler Haines versperrte ihr den Weg. „Nicht hier, Miss. Auf Lady Henleys Wunsch sollen Sie in den Grünen Salon gehen.“

„In den Grünen Salon?“, wiederholte sie. „Sind Sie sicher?“

„O ja, Miss, darauf hat Ihre Ladyschaft bestanden.“

Verwirrt schüttelte Emma den Kopf. Normalerweise empfing Mama „wichtige Personen“ im offiziellen vorderen Salon. Der kleinere Grüne Salon im Hintergrund des Hauses, mit Aussicht auf den Garten, war für Besuche von Verwandten und guten Freunden reserviert.

Emma stockte der Atem, als sie im Grünen Salon weder Mama noch eine Busenfreundin antraf, sondern Mr. Paxton Nullford, der nervös vor dem Kamin auf und ab lief.

Erbost und schockiert fuhr sie herum, wollte sofort flüchten, doch der Gentleman eilte zu ihr und hielt sie am Arm fest. „Bitte, darf ich mit Ihnen sprechen, Miss Henley?“

„Nicht nötig!“ Entrüstet riss sie sich los. „Ich nehme an, meine Mutter hat Ihnen gut zugeredet. Nun, vielleicht entsinnen Sie sich, wie oft ich Ihnen erklärt habe …“

„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach er sie. „Würden Sie mir trotzdem zuhören? Möglicherweise – schätzen Sie falsch ein, was ich zu sagen habe.“

Aus einem ersten Impuls heraus wollte sie ihn anherrschen, keine seiner Äußerungen würde sie auch nur annähernd interessieren. Dann erregte der ernsthafte, flehende Ausdruck seiner wasserblauen Augen ihr Mitleid. Mochte er auch ein unansehnlicher, untersetzter, nicht besonders intelligenter Langweiler sein – er hatte es bis zu diesem Moment niemals gewagt, sie ungebührlich zu behandeln, war stets höflich und wohlmeinend gewesen. Deshalb brachte sie es nicht übers Herz, ihn rüde wegzuschicken, und kapitulierte.

„Also gut, Sir.“ Emma mied das Sofa, auf dem er sich neben ihr hätte niederlassen können, und sank in einen der Ohrensessel vor dem Kamin. „Nehmen Sie Platz, und sagen Sie, was ich unbedingt hören muss.“

Sichtlich erleichtert, setzte er sich in den Sessel ihr gegenüber. „Besten Dank, Miss Henley. Ich weiß, während ich um Sie warb, waren Sie nicht bereit, mich auch nur ein kleines bisschen zu ermutigen.“

„Genauer ausgedrückt, ich habe Sie stets entmutigt.“

„Zweifellos“, gab er zu. „Nun hat Lady Henley mir Ihre außergewöhnliche – Abneigung gegen die Ehe erklärt. Ebenso wie ich glaubt sie allerdings, früher oder später würden Sie als wohlerzogene, gebildete junge Dame erkennen, dass Ihnen nur die Ehe eine komfortable Zukunft sichern kann. Oder beabsichtigen Sie etwa, einen – Beruf auszuüben? Möchten Sie eine Gouvernante oder Gesellschafterin werden?“

„Nein!“, fauchte Emma wütend. Wieso erörtert Mama so private Dinge mit einem Mann, dem ich keinerlei Hoffnungen gemacht habe? „Wie meine Mutter Ihnen offensichtlich verschwiegen hat, muss ich keinen Beruf ergreifen. Aufgrund eines Erbes bin ich imstande, meinen eigenen Haushalt zu finanzieren.“

„Da irren Sie sich, diese Pläne hat Ihre Mutter erwähnt. Die Konsequenzen eines solchen Entschlusses haben Sie wohl kaum ernsthaft erwogen, Miss Henley. Eine junge Lady, die allein in ihrem Haus wohnt, mit einer Gesellschafterin! Was würde man von Ihnen halten? Ich nehme an, Ihre Familie würde Sie weiterhin empfangen, doch ein Großteil der Londoner Hautevolee würde Sie schneiden. Was Lady Henley und ich befürchten … Wenn Sie älter werden und Ihre nächsten Verwandten das Zeitliche segnen, könnten Sie sich allmählich isoliert fühlen, ohne Freundeskreis.“

Obwohl Emma davon überzeugt war, ihr Leben auch allein erfüllend und befriedigend gestalten zu können, meldete sich ein leiser Zweifel und ließ sie zögern.

Diese Pause nutzte Mr. Nullford, um eifrig fortzufahren: „Ich weiß, meine Gesellschaft fasziniert Sie nicht besonders, Miss Henley. Gleichwohl finden Sie mich nicht direkt – abstoßend?“

„Natürlich nicht, Sir“, erwiderte sie lächelnd. „Wenn Sie mir keine Heiratsanträge mehr machen, würde ich Sie sogar mögen.“

„Immerhin ein Anfang … Ich glaube, wir beide würden ein sehr angenehmes Leben miteinander führen. Dass ich weder attraktiv noch intellektuell oder witzig bin, weiß ich genauso gut wie Sie. Aber im Gegensatz zu den meisten hübschen, ledigen Mädchen, die ich kenne, haben Sie mir nie Ihre Geringschätzung gezeigt. Und obgleich Sie viel klüger sind als ich, lehnen Sie nur eine Heirat ab – nicht den Bewerber“, ergänzte er bedeutsam.

Schuldbewusst suchte Emma nach Worten. Niemals hatte sie ihm zu verstehen gegeben, sie würde ihn verachten. Nur in Gedanken nannte sie ihn „Mr. Null“ – unscheinbar, ohne gewinnende Persönlichkeit, kein bisschen geistreich. Andererseits hatte sie sich von einer Gesellschaft losgesagt, die Schönheit wichtiger fand als Güte und Charakterstärke. Und plötzlich empfand sie unerwünschte Sympathie für den ernsthaften Mann, der ihr gegenübersaß. Verstört schwieg sie, und er sprach weiter.

„Der ton würde mich nicht für reich halten. Nichtsdestoweniger kann ich Ihnen eine stilvolle Existenz bieten – Saisons in London, Sommermonate auf meinem Landsitz, zudem meinen Respekt, unerschütterliche Treue, die Umwelt, in der Sie aufwuchsen, Ihren Familien- und Freundeskreis.“

Unvermittelt erhob er sich. Zu Emmas Entsetzen sank er vor ihr auf ein Knie und ergriff ihre Hand.

„Miss Henley, niemals werden wir beide irgendwen zu leidenschaftlicher Glut inspirieren. Weil wir vernünftig genug sind, verstehen wir das, und wir würden ein ruhiges, angenehmes gemeinsames Leben aufbauen.“

Abrupt verflog die Sympathie, und Emma wusste nicht, ob sie niedergeschlagen war – oder wütend. Eine „ruhige, angenehme Ehe“ mit jemandem, der bestenfalls Mitleid und lauwarmen Respekt in ihr weckte, erschien ihr genauso trist wie das Schicksal vernachlässigter Gemahlinnen begehrenswerter Männer. Und dass sie nicht hübsch genug war, um „leidenschaftliche Glut zu inspirieren“, wusste sie schon sehr lange. Darauf hätte Mr. Nullford sie nicht hinweisen müssen.

„Also schlagen Sie eine Ehe ohne Leidenschaft vor?“, fragte sie tonlos.

„Nun, nicht direkt. Natürlich wäre ich bereit …“ Unsicher verstummte er, sein Gesicht färbte sich feuerrot. „… eh – für Nachwuchs zu sorgen.“

Zumindest hatte er halbwegs akzeptabel umschrieben, worüber man mit unverheirateten jungen Damen nicht sprach. Aber da Emma einen Großteil ihres Lebens auf einem Landgut verbracht hatte, von zahlreichen Tieren umgeben, konnte sie sich ausmalen, was beim Vollzug einer Ehe passierte. Und solche Intimitäten mit einem Mann zu teilen, für den sie nichts empfand – unvorstellbar! Insbesondere, weil in ihrer Fantasie jedes Mal, wenn sie an Leidenschaft dachte, ein ganz bestimmtes Bild erschien.

Entschlossen verdrängte sie die Erinnerung an Lord Theo Collingtons hinreißendes Gesicht und bezähmte den albernen Impuls, Mr. Nullford die Augen auszukratzen.

Sie entzog ihm ihre Hand und stand auf, sodass er ihrem Beispiel folgen musste. „Wenn ich Ihren Antrag auch zu würdigen weiß, Sir“, begann sie, „ich kann ihn unmöglich annehmen. Meine Mutter hätte Sie über meine wahren Wünsche informieren sollen. Statt die normale weibliche Rolle zu übernehmen, die Führung eines Haushalts und die Mutterschaft, habe ich mich für politische Aktivitäten entschieden. Zum Beispiel kämpfe ich für die Abschaffung von Kinderarbeit und das Frauenwahlrecht. Um mich dafür einzusetzen, schreibe ich Briefe an Parlamentarier – mit einem Enthusiasmus, den ich niemals für eine Ehe aufbringen würde.“

„Politische Aktivitäten?“, japste Mr. Nullford entgeistert. „Briefe an Parlamentarier?“

„O ja! Eine solche Frau möchten Sie wohl kaum heiraten, Sir. Ebenso wenig wie jeder andere Gentleman. Und da ich schon zweiundzwanzig bin, wird mich meine Tätigkeit endgültig zur alten Jungfer stempeln. Mehr gibt es wohl nicht zu sagen. Nur eins noch …“, fügte sie hinzu, bevor sie auf die Tür wies. „Wenn Sie Ihre Heiratspläne mit der nötigen Ausdauer verfolgen, müssten Sie irgendwann eine andere reizlose Frau kennenlernen, die eine respektable, konventionelle Zukunft keineswegs so entschieden ablehnen wird wie ich. Leben Sie wohl, Mr. Nullford.“

Schockiert und verwirrt verneigte sich der verschmähte Bewerber und suchte das Weite.

Immer noch empört, rang sie nach Luft, als das Türschloss klickte. Oft genug hatte Mama sie mit unpassenden Verehrern verkuppeln wollen. Aber so peinlich wie diesmal war es noch nie gewesen. Ausgerechnet Mr. Null zu einem beleidigenden Heiratsantrag anzustacheln! Jetzt reichte es endgültig!

Emma wartete, bis sie die Haustür hinter dem unwillkommenen Besucher ins Schloss fallen hörte. Dann eilte sie in die Halle und die Treppe hinauf, zu erbost, um ihrer Mutter zu begegnen. In ihrem Zimmer angekommen, fühlte sie sich so rastlos, dass sie die Lektüre ihres Buchs nicht fortsetzen wollte. Erst einmal brauchte sie ein Ventil für ihre Wut – am besten Bewegung an der frischen Luft. Am frühen Vormittag würde sie noch keine Mitglieder des ton im Hyde Park antreffen. Sie ging zum Glockenstrang, wollte nach Marie läuten, die ihr helfen sollte, das Morgenkleid mit einem Reitkostüm zu vertauschen.

Marie … Auf halbem Weg hielt Emma inne. Hatte die Zofe sie nicht gedrängt, das neue Kleid anzuziehen, und sie besonders fashionabel frisiert? Und Haines! Der Butler hatte genau gewusst, wer sie im Grünen Salon erwarten würde. Nämlich nicht ihre Mutter!

Offenkundig hatte sich der ganze Haushalt verbündet, um sie diesem grässlichen Heiratsantrag auszuliefern. Neuer Zorn stieg in ihr auf. Hoffentlich würde der Reitknecht sein schnellstes Pferd satteln. Denn sie plante einen rasanten Galopp.

2. KAPITEL

Lord Theo Collington strich über seine Bartstoppeln und lenkte den Wallach zu einem der Wege nahe der Rotten Row. Erst am frühen Morgen heimgekehrt, war er zu aufgewühlt gewesen, um ins Bett zu sinken, und hatte sich zu einem Ritt durch den Hyde Park entschlossen. Um diese frühe Stunde würde er keine Bekannten treffen, musste vor niemandem die allmählich ermüdende Rolle des Bonvivants mimen und konnte ungestört nachdenken.

Nicht dass er realisierbare Alternativen zu Abenden mit Freunden in Spielsalons, in der Oper oder Theatern gesehen hätte – oder zu anderen, in seinen Kreisen üblichen Amüsements. Aber in letzter Zeit irritierte ihn ein vages Unbehagen. Diese Aktivitäten genügten ihm nicht mehr. Und allmählich ließ sich das Gefühl nicht mehr unterdrücken, es müsste etwas mehr in seinem Leben geben.

Allerdings nicht das, was seine Mama ihm ständig einreden wollte – er sollte heiraten und eine Familie gründen. Obwohl er gewisse weibliche Reize durchaus schätzte, war er noch keiner Frau begegnet, die ihn außerhalb des Bettes nicht langweilte.

Nun, einer würde das vielleicht gelingen. Lächelnd erinnerte er sich an seine anregenden Wortgefechte mit Miss Emma Henley, auf diversen Feten. Zum Glück war diese junge Lady genauso wenig wie er selbst an einer Heirat interessiert. Also musste er keine unliebsamen Konsequenzen fürchten, wenn er mit ihr plauderte.

Was Frauen betraf, stand immerhin ein Ergebnis seiner Überlegungen fest. Nach dem Zwischenfall am letzten Abend in der Oper war seine Liaison mit Lady Belinda Ballister beendet. Um diese naheliegende Entscheidung zu treffen, hatte er an diesem Morgen frische Luft und Bewegung gebraucht.

Gewiss, der Verzicht auf Belindas sensationelle, einfallsreiche Liebeskünste, die er monatelang genossen hatte, fiel ihm nicht leicht. Da er dennoch dazu entschlossen war, verdiente er eine Belohnung. Deshalb wollte er sich vor seiner Heimkehr einen aufmunternden Galopp gönnen. Er nahm die Zügel in beide Hände. Was der leichte Stiefeldruck in den Flanken bedeutete, verstand der Wallach sofort und sprengte dahin. Das Herz des Reiters jubelte, raste im selben Rhythmus wie das wilde Stakkato der Hufschläge. Nichts wird jemals an dieses spezielle Vergnügen heranreichen, dachte Theo, während das Rauschen des Windes die letzten Brandy-Nebel aus seinem Gehirn wehte. Solche Lustgefühle fand er fast genauso befriedigend wie ein Rendezvous mit der unermüdlichen Belinda. Vielleicht sollte er an Pferderennen teilnehmen …

Über diese alberne Idee grinste er, als er um eine Kurve bog, und beinahe mit einem Reiter zusammengestoßen wäre, der geradewegs auf ihn zugaloppierte.

Beide Pferde scheuten, glücklicherweise an gegenüberliegenden Wegrändern. Bis Theo seinen verwirrten Wallach unter Kontrolle gebracht und gezügelt hatte, dauerte es ein paar Sekunden. Dann musterte er den anderen Reiter.

Die Reiterin, wie ein flatternder Reitrock bekundete. Eine ausgezeichnete Reiterin, die ihr verschrecktes Pferd erstaunlich schnell beruhigt hatte. Sie rückte ihren verrutschten Tschako zurecht – anscheinend das einzige Ungemach, das sie erduldete – und spähte über den Pfad hinweg.

„Ah, Lord Theo …“ Ein sarkastischer Unterton verdarb die melodische Stimme. „Das hätte ich ahnen müssen. Wer sonst sollte mich im Hyde Park fast niederreiten?“

„Herzlichen Dank für Ihre fürsorgliche Frage, Miss Henley“, konterte er lächelnd, sofort in bester Laune. „Nein, weder meinem Pferd noch mir ist etwas geschehen – vom Schreck abgesehen, den sie uns mit dem knapp vermiedenen Zusammenprall zugemutet haben. Dass Sie die tollkühne Reiterin sind, hätte ich ahnen müssen. Welche andere Lady sollte wie ein wahnwitziger Jockey den Park unsicher machen?“

„Und Sie, Lord Theo?“ Die Brauen hochgezogen, inspizierte sie ihn. „Offensichtlich haben Sie gar nicht ins Bett gefunden. Schon wieder eine durchzechte Nacht?“

„Wie man’s vom berühmtesten Junggesellen des ton erwartet.“ Sein Lächeln vertiefte sich.

Eine einzigartige Frau, dachte er, wieder einmal von ihren intensiven goldbraunen Augen gefesselt. Jede andere Lady in seinem Bekanntenkreis hätte ihm lockende Blicke zugeworfen, kokett mit den Wimpern geklimpert. Aber Emma Henley schaute ihn einfach nur prüfend an.

„Wenn ich näher zu Ihnen reite – würde ich nicht nur das Pferd, sondern auch das Parfüm Ihrer neuesten Geliebten riechen?“, fragte sie gedehnt.

„Wie indiskret Sie sind!“ Grinsend drohte er ihr mit einem Zeigefinger. „Das wissen Sie doch. Über gewisse Dinge spricht ein Gentleman nicht.“

Den Kopf schief gelegt, musterte sie ihn wieder, und er spürte erneut ihre sinnliche Anziehungskraft. Beim ersten Mal war er verblüfft gewesen, weil diese unauffällige Frau, von der Elite „die hässliche Miss Henley“ genannt, solche Gefühle in ihm weckte. Aber wenn sie sich auch nicht mit ihrer Schwester messen konnte, der „bildschönen, unvergleichlichen Miss Henley“, strahlte sie irgendetwas aus, das ihn erregte – eine rastlose, leidenschaftliche Antriebskraft, die er unter ihrer ruhigen Fassade spürte. Mindestens so verführerisch wie äußerliche Schönheit …

Bedauerlicherweise war es ihm verwehrt, diese Reize zu erproben. Ein Gentleman durfte sich mit bereitwilligen verheirateten Ladys amüsieren, niemals mit einer Unschuld. Also musste er sich mit intellektuellen Kontakten begnügen. Darin war Miss Henley genauso talentiert wie seine einstige Geliebte in erotischer Kurzweil.

„Dann will ich Ihnen keine Einzelheiten entlocken, Sir“, erwiderte Miss Henley, „und schicke Sie ins Bett …“

Täuschte er sich, oder erschien ein rosiger Hauch in den blassen Wangen? Stellte sich die jungfräuliche junge Dame – ebenso wie er – bei dem Wort „Bett“ vor, was dort zwischen zwei erhitzten, nackten Körpern passieren mochte?

Da er schwieg, in berauschende Visionen versunken, fügte sie hinzu: „Nun werde ich meinen Galopp fortsetzen.“

Tatsächlich – ihr Gesicht rötete sich, in den ausdrucksvollen goldbraunen Augen glühte etwas Feurigeres als das übliche angriffslustige Temperament. Noch etwas war höchst ungewöhnlich. Miss Henley ritt ganz allein durch den Park. Im Allgemeinen befolgte sie die Regeln der Konvention, die es respektablen, ledigen jungen Damen verboten, sich ohne Begleitung irgendwohin zu begeben.

„Heute Morgen ist was vorgefallen, nicht wahr?“ fragte Theo.

Ihr Kinn spannte sich an und strafte das Kopfschütteln Lügen.

„Sagen Sie mir, was los ist!“, verlangte er. „Ihr Reitknecht lässt sich nicht blicken. Also müssen Sie ihm davongaloppiert sein. Und nicht einmal der stets so aufmerksame Mr. Null beschützt Ihren Leumund.“

Ihre Wangen färbten sich noch dunkler. „Natürlich war’s nicht nett von mir, ihn so zu nennen. Und Sie hätten mir den Spitznamen nicht entlocken dürfen!“

„Ah, der ist so originell, dass er von mir stammen könnte.“

„Sie sollten Mr. Nullford nicht verspotten, Sir!“, zischte sie. „Nur weil er nicht so attraktiv und klug ist wie Sie und nicht so unwiderstehlich auf Frauen wirkt! Gleichwohl ist er ein ehrbarer Gentleman.“

„Ich wollte ihn keineswegs verspotten“, wehrte er sich, verblüfft über ihren heftigen Tadel. „Ich dachte, er missfällt Ihnen. Wieso verteidigen Sie ihn plötzlich? Hat er doch noch Ihr Herz erobert?“

„Unsinn …“ Miss Henley warf den Kopf zurück, versetzte ihren Rappen in leichten Trab und folgte der Richtung, in die sie herangaloppiert war.

„So leicht werden Sie mich nicht los!“, rief Theo, wendete den Wallach und lenkte ihn an ihre Seite. „Wenn Sie kein sonderbares amouröses Faible für Mr. Nullford entwickelt haben – warum sorgen Sie sich um ihn? Hat Ihre Mama Sie endlich dazu überredet, seinen Heiratsantrag anzunehmen?“

„Selbstverständlich nicht!“, fauchte sie. „Falls Sie es unbedingt wissen müssen – heute Morgen bat er mich um meine Hand, und ich wies ihn ab.“

„Ah“, murmelte er, auf unerklärliche Weise erleichtert. „Deshalb der Morgenritt! Sie weichen einem Wutanfall Ihrer Mama aus, nach einer weiteren verschmähten Bewerbung? Wie viele Anträge haben Sie inzwischen abgelehnt?“

„Gewiss eine bescheidene Zahl, verglichen mit der riesigen Menge der Frauen, die Sie verführt haben.“

Theo lachte. „Mag sein. Wie ich jedoch betonen muss – alle betreffenden Ladys wollten verführt werden.“

„Großer Gott“, sagte sie und seufzte, „warum animieren Sie mich immer wieder zu Bemerkungen, die ich nicht aussprechen dürfte? Andererseits …“ Sie warf ihm einen boshaften Blick zu. „Meistens verdienen Sie meine freimütigen Äußerungen. Zum Beispiel, als Sie sich zum ersten Mal dazu herabließen, mit mir zu reden.“

Stöhnend verdrehte er die Augen. „Damals haben Sie mich ganz schön beschämt. Was sehr unfreundlich von Ihnen war!“

„Sie hätten nicht vorgeben sollen, Sie würden sich an mich erinnern – eine infame Lüge.“

„Niemals darf ein höflicher Gentleman einer Dame verraten, er würde sich nicht an sie erinnern.“

„Auf keinen Fall!“, höhnte Miss Henley. „Stattdessen mimten Sie den Mann von Welt, der eine blendende Schönheit beeindrucken und ihr weismachen will, er würde ihre hässliche Freundin kennen.“

„Nun ja – trotzdem war’s nicht nett von Ihnen, mich vor der blendend schönen Miss Lattimar zu blamieren.“

Wieder einmal lud ihn ihr warmes, sanftes Lachen ein, ihr Amüsement zu teilen, sogar auf seine eigenen Kosten. „Das geschah Ihnen ganz recht, Sir.“

„Vielleicht. Aber es war eine grausame Strafe, da ich doch nur galant sein wollte …“

„Wenn ich so ein ungeheures Ärgernis bin – warum suchen Sie ständig meine Gesellschaft und belästigen mich? Wieso ignorieren Sie mich nicht einfach?“

„Führen Sie mich nicht in Versuchung! Aber jedes Mal, wenn ich Ihnen die kalte Schulter zeigen will, was Sie verdienen würden, erinnere ich mich an Ihre außergewöhnliche Persönlichkeit. Sie sind die einzige junge Lady in den gehobenen Kreisen, die nie ein Blatt vor den Mund nimmt – ganz egal, ob sie gegen die Regeln der Oberschicht verstößt. Und die Einzige, die nicht mit mir flirtet, die anscheinend immun gegen meinen berühmten Charme ist. Und so suche ich immer wieder Ihre Nähe, um herauszufinden, ob Sie zur Besinnung kommen werden.“

„Damit Sie mich in den Harem Ihrer Bewunderinnen aufnehmen können?“ Verächtlich schüttelte sie den Kopf. „Niemals werde ich mich zum Anhängsel eines Mannes erniedrigen. Doch nun stellte sich die Frage, warum Sie nach einer Nacht voller Wonnen einen so wilden Galopp nötig hatten?“

Theo zögerte. Sicher wäre es besser zu schweigen. Dennoch empfand er das Bedürfnis, sich der einzigen Person anzuvertrauen, die nun schon seit Monaten unbegreiflicherweise den Eindruck erweckte, er könnte seine Fassade vergessen und ihr stets die Wahrheit sagen.

„Los, reden Sie!“, drängte sie. „Schamvolles Schweigen passt nicht zu Ihnen. Und nachdem Sie mir mein Geheimnis entlockt haben, ist es mein gutes Recht, Ihres zu erfahren. Also? Worum geht’s? Beginnen die Reize der schönen Belinda zu verblassen?“

Die Stirn gefurcht, rügte er: „Für eine unschuldige junge Dame wissen Sie viel zu viel über diskrete gesellschaftliche Kontakte.“

„Papperlapapp! Sogar Unschuldslämmer schwatzen schon in ihrer ersten Saison über Lord Theo Collingtons Eroberungen. Außerdem kann man Ihre aktuelle Liaison wohl kaum diskret nennen. Erst neulich erzählte die hinreißende Belinda auf Lady Ingrahams Ball, Sie seien so ein leistungsstarker und treu ergebener Liebhaber.“

„Tatsächlich?“, stieß er wütend hervor. Schon vor Wochen hätte er der verdammten Frau den Laufpass geben sollen. „Also haben Sie noch nicht gehört, was gestern Abend in der Oper geschehen ist.“

Miss Henleys hinterhältiges Lächeln erlosch. In echter Besorgnis musterte sie sein Gesicht. „Oh, das klingt unheilvoll. Hat sie den Bogen überspannt?“

Nach kurzem Zögern nickte er. „Wahrscheinlich hätte ich Lady Belinda viel früher an die Kandare nehmen sollen. Eine Zeitlang war ich amüsiert, wenn sie behauptete, sie habe mich eingefangen. Ich dachte, sie würde scherzen, wir beide würden die Liaison angenehm finden, ohne ernsthaftes Engagement. Aber gestern … Lord Ballister entschloss sich zu einem seiner seltenen Auftritte in der Öffentlichkeit und besuchte die Oper. In der Pause hatte Belinda nichts Besseres zu tun, als ihren Ehemann zu verlassen und in die Loge zu eilen, die ich mit Freunden teilte. Ostentativ umschlang sie meinen Hals und wollte mich sogar küssen – vor den Augen ihres Gemahls und eines neugierigen Publikums.“

„Ach, du meine Güte, wie peinlich …“, meinte Emma Henley mitfühlend.

„Verständlicherweise hat sie einen um dreißig Jahre älteren, kränklichen Mann ohne große Begeisterung geheiratet. Trotzdem würde man nur eine diskrete Affäre stillschweigend tolerieren. Und Lord Ballister, ein ehrenwerter Gentleman, hat es sicher gewiss nicht verdient, in aller Öffentlichkeit als Hahnrei bloßgestellt zu werden.“

„Allerdings nicht. Aber es überrascht mich, wie lange es gedauert hat, bis Ihnen Lady Belindas schamloses Verhalten auffiel. Schon seit Monaten verkündet sie prahlerisch, es sei ihr gelungen, Ihren Liebhaber total zu versklaven.“

„War ich wirklich so blind?“ Theo atmete tief durch. „In Zukunft muss ich besser aufpassen.“

Miss Henley lächelte süffisant. „Inzwischen habe ich oft genug bemerkt, dass der Scharfsinn eines Gentlemans umso schneller verfliegt, je schöner die begehrte Lady ist.“

„Und Frauen sind scharfsinniger?“

„Ja – und nein. Kein Gentleman hat jemals so viel zu verlieren wie eine Frau. Und sie hat weniger Möglichkeiten, ihre Zukunft zu sichern, abgesehen von der normalen Methode einer Ehe. Deshalb übersieht sie eventuell gewisse – Mängel eines Bewerbers. Dazu bin ich nicht bereit. Statt zu heiraten, werde ich Gutes tun.“

„Wollen Sie sich etwa diesen langweiligen Calvinisten anschließen, die alle Sünder vor Feuer, Schwefel und Vernichtung warnen?“

„O nein, statt Moral zu predigen, werde ich einer nützlichen Beschäftigung nachgehen. Im Gegensatz zu jemandem, der es für ein erfülltes Leben hält, alberne Frauen zu verführen, andere Männer unter den Tisch zu trinken und Kartenspiele zu gewinnen.“

„Wen Sie meinen, weiß ich“, entgegnete er grinsend. „Aber außerdem bin ich ein hervorragender Reiter. Und sie sollten mal sehen, wie ich einen Phaeton mit extrem hohem Sitz steuere.“

„Wunderbar! Dann können Sie eine Stellung beim Königlichen Postdienst annehmen, wenn Sie Ihr ganzes Geld verschleudert haben.“

Theo lachte schallend. „Und mein Charme? Ist der zu gar nichts nütze?“

„Vielleicht doch, wenn Sie unvorsichtige junge Damen umgarnen möchten. Was mich anbelangt – ich bin zu gewitzt, um drauf reinzufallen.“

Herausfordernde Blicke trafen sich, und erneut begann etwas unbestreitbar Sinnliches zwischen ihnen zu knistern.

„Das sind Sie nicht“, murmelte er und bedauerte ihren unschuldigen, ledigen Status mehr denn je.

Ihr blasses Gesicht rötete sich wieder, und sie schaute rasch weg. „Genug geplänkelt …“ Sie zügelte ihr Pferd, und er folgte ihrem Beispiel. „Danke, dass Sie mir geholfen haben, mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden, Sir. Jetzt werde ich heimreiten, die Vorwürfe meiner Mutter erdulden und ihr klarmachen, dass ich genug vom Gesellschaftsleben habe. Für mich ist diese Saison beendet. Meine allerletzte!“

Skeptisch schüttelte er den Kopf. „Welch ein nobler Entschluss! Mal sehen, wie lange es dauern wird, bis Ihre Mama Sie kleinkriegt.“

„Wie nett Sie mir Mut zusprechen … Guten Tag, Lord Theo.“

„Auch Ihnen wünsche ich einen guten Tag, Miss Henley.“

Sie wendete den Rappen, und er sah sie davonreiten, ihrem verspäteten Reitknecht entgegen. Lächelnd dachte er an die Ursache ihres rasanten Galopps und dankte dem Himmel, weil sie sich so entschieden weigerte, in die vorgesehene weibliche Rolle zu schlüpfen. Und weil die meisten Männer so dumm waren, sich von strahlenden Schönheiten des ton blenden ließen und dieses unauffällige Juwel übersahen. Also würde vermutlich kein Mann um Miss Henley werben, den sie akzeptieren würde.

Andererseits – wenn sie gezwungenermaßen mit jemandem wie Mr. Null verheiratet wäre, der sie langweilte … Theo erinnerte sich an jene lockenden Momente, die auf Emma Henleys geheime Leidenschaft hinzuweisen schienen. Würde er herausfinden müssen, ob tatsächlich ein süßes Feuer in ihr loderte? Oder würde er vernünftig sein und ihr aus dem Weg gehen?

3. KAPITEL

Vor dem Gespräch mit Mama musste Emma ihre schluchzende Zofe trösten, die ihr half, das Reitkostüm mit einem Tageskleid zu vertauschen. Wortreich bat Marie sie um Verzeihung, nachdem sie ihr Mr. Nullfords Anwesenheit im Grünen Salon verschwiegen hatte. Nur damit ihre liebe, gute Herrin einen netten Ehemann bekomme, versicherte sie. Einen, der für sie sorge und ihr ein glückliches Leben ermögliche. So wie Lady Henley stets betonte, genau das sei es, was ihre Tochter brauche.

Erst nachdem Emma beteuerte, sie würde der Zofe nicht zürnen und sie wegen solcher Bagatellen niemals entlassen, versiegte die Tränenflut. Erleichtert knickste das Mädchen und kehrte ins Dienstbotenquartier zurück.

Emma wandte sich zu der Uhr auf dem Kaminsims. So früh am Vormittag würde Mama noch im Bett liegen. Sollte sie ins Zimmer ihrer Mutter gehen und nach der Szene mit Marie einen weiteren Tränenausbruch verkraften? Gewiss, Mama würde sich für das Täuschungsmanöver mit Mr. Nullford entschuldigen. Aber danach? Wie üblich würde sie weinen und untröstlich jammern. Was mochte aus ihrer armen, unscheinbaren Tochter werden, die – bereits in der fünften Saison – jeden respektablen Verehrer abwies?

Sollte Emma sich das noch einmal anhören? Nein. Was sie wirklich anstrebte, verstanden weder ihre Mutter noch Marie. Und so beschloss sie, sich mit einem Lakaien aus dem Haus zu schleichen. Bevor Mama von meiner Heimkehr erfährt … In der Buchhandlug Hatchards würde sie Nachrichten schreiben und zwei Schulfreundinnen schicken, die sie zu einem Eisbecher im Gunter’s treffen wollte. Nachher würden sie Lady Lyndlington besuchen, obwohl dies nicht der Tag war, an dem normalerweise die wöchentliche Zusammenkunft stattfand.

Eine weitere gemeinsam abgefasste, schroff formulierte, an Parlamentarier gerichtete Beschwerde über das fortgesetzte Elend der Kinderarbeit … Ja, das müsste Emmas Problem in die richtige Perspektive rücken und ihr zu der Gelassenheit verhelfen, die sie für die Diskussion mit ihrer Mutter brauchte.

Etwa eine Stunde später erreichte sie das Gunter’s am Berkeley Square, setzte sich an einen Tisch und wartete auf ihre besten Freundinnen, Olivia Overton und Sara Standish.

Zuerst erschien Olivia in der Tür. Lächelnd winkte sie Emma zu, ein großes, gertenschlankes Mädchen mit länglichem, unscheinbarem Gesicht und hellbraunem Haar. In Mrs. Axminsters Academy for Young Ladies hatte sie scheue Außenseiterinnen unter ihre Fittiche genommen.

Emmas und Saras Interesse an Büchern war ihr angenehm aufgefallen, ebenso die Abneigung der beiden gegen das Geschwätz der meisten anderen Schülerinnen über ihre ersten Saisons und die Jagd nach Ehemännern. Deshalb schlug sie ihnen einen Dreierbund vor, der ihnen helfen würde, die Unbilden der Schule zu überstehen. Bald wurden sie unzertrennlich. Gemeinsam entdeckten sie Mary Wollstonecrafts feministische Schriften und Thomas Paines Forderungen nach Demokratie sowie Sozialreformen. Da hatten sie beschlossen, ihre Zukunft edlen, humanen Bestrebungen zu widmen. Keinesfalls wollten sie sich am Konkurrenzkampf auf dem Heiratsmarkt beteiligen oder ihren eigenen Wert an der Menge von Heiratsanträgen messen.

Als Emma und Olivia einander begrüßten und umarmten, kam Sara Standish ins Gunter’s. Strahlend lächelte sie über ihr ganzes pausbäckiges Gesicht. Klein, weizenblond und mollig, stellte sie das genaue Gegenteil ihrer beiden Freundinnen dar.

„So froh bin ich, dass ihr trotz der kurzfristigen Nachricht gekommen seid!“, sagte Emma, nachdem sie sich gesetzt und die Eisbecher bestellt hatten.

„Mein faszinierendes Buch kann ich auch später weiterlesen“, erklärte Olivia.

„Ich habe mit meiner Tante vereinbart, ich würde sie widerstandslos zu gesellschaftlichen Ereignissen begleiten, wenn ich nur zweimal pro Woche langweilige Besuche machen muss.“ Sara verdrehte die Augen. „Glücklicherweise ist heute nichts dergleichen geplant.“ Zu Emma gewandt, fragte sie: „Nun? Was ist los? Warum müssen wir uns so dringend treffen?“

In knappen Worten schilderte Emma den abgelehnten Heiratsantrag Mr. Nullfords und die Szene mit der tränenüberströmten Zofe. Beides habe sie bewogen, einer ähnlichen, noch drastischeren Konfrontation mit ihrer Mutter zu entrinnen.

Den Morgenritt im Park erwähnte sie nur nebenbei und verschwieg die Begegnung mit Lord Theo. Nicht dass die Freundinnen sie seinetwegen gehänselt oder Einzelheiten verlangt hätten. Aber sie grollte sich selbst, weil sie den Mann anziehend fand, obgleich er genau den Typ verkörperte, den sie verachtete – zu hübsch, zu charmant, zu leichtfertig, zu verantwortungslos. Verdammt, ich muss aufhören, an ihn zu denken …

Dabei half Olivia ihr, die sich erkundigte: „Also bist du geflüchtet, bevor deine Mama dich wegen des verschmähten Heiratsantrags ausschimpfen konnte?“

„Ja. Ich rannte ins Hatchards, wo ich Papier kaufte. Freundlicherweise lieh man mir eine Feder, und ich durfte auf dem Ladentisch die Nachrichten an euch schreiben.“

„Da der Bewerber Mr. Nullford war …“, begann Sara nachdenklich. „Glaubst du wirklich, deine Mama war ganz furchtbar enttäuscht?“

„Allerdings, weil sie ihn ermutigt hat. Mit der Hilfe meiner Zofe und des Butlers arrangierte sie, dass ich mit diesem Gentleman allein in einem Zimmer war. Und ich ertrug es nicht, zum millionsten Mal ihre Vorwürfe und ihr Gejammer zu hören. Wann werde ich denn begreifen, wie notwendig eine Heirat ist? Jede andere Frau weiß das. Was soll aus mir werden? Vor dieser Diskussion brauchte ich etwas Zeit, um mich zu beruhigen. Nun hoffe ich, nach dem peinlichen Zwischenfall mit Mr. Nullford wird Mama meine unkonventionellen Zukunftswünsche akzeptieren – nach einer langen, mühsamen Diskussion mit Wutanfällen und verzweifeltem Schluchzen.“

„Wenigstens weißt du, wie sehr sie sich um dich sorgt, wie viel du ihr bedeutest“, wandte Sara ein, „selbst wenn sie dich nicht versteht.“

Über den Tisch hinweg drückte Olivia die Hand der Freundin. Saras Mutter hatte sich nach der Geburt auf ihr Sofa zurückgezogen und behauptet, ihre angegriffene Gesundheit verbiete ihr jede weitere Teilnahme am Gesellschaftsleben. Seither weigerte sie sich, das Haus zu verlassen, und empfing nur Besuch von ausgewählten klatschsüchtigen Freundinnen sowie Ärzten und Apothekern, die diverse jeweilige Beschwerden behandelten. „Die gesamte Verantwortung für die Tochter hatte sie Lady Patterson übertragen, ihrer Schwester.“

„O ja, und ich weiß es zu schätzen“, erwiderte Emma. „Nur deshalb habe ich die fünfte Saison erduldet. Jetzt will ich endlich selbständig werden.“

„Was leider problematisch ist“, meinte Olivia seufzend. „Wir drei sind über einundzwanzig und berechtigt, unser Vermögen zu nutzen und einen eigenen Hausstand zu gründen. So einfach, wie wir’s uns in der Schule vorgestellt haben, ist es bedauerlicherweise nicht. Wann immer ich daheim verkünde, ich würde gern ein Haus mieten, fällt Mama in Ohnmacht.“

„Sogar wir müssen einsehen, was wir unseren Familien mit exzentrischen, feministischen Ideen zumuten“, ergänzte Sara. „Wegen solcher eigenwilligen Töchter müssen sie die Verachtung oder das Mitleid der Gesellschaft ertragen.“

Emma nickte. „Darauf weist Mama mich immer wieder hin. Dieser emotionalen Belastung können wir Frauen nicht entkommen, wenn unsere Interessen zu familiären Konflikten führen.“

„Jedenfalls werde ich nicht heiraten, um die Gefühle meiner Familie zu schonen“, fauchte Olivia. „Soll ich mich an einen Mann binden, der mir bestenfalls Respekt zollt? Der mich zugunsten einer viel schöneren Geliebten vernachlässigt? Der mich verspottet, weil ich meine Intelligenz nutze und für politische Ziele kämpfe? Niemals!“

„Nur um dem gesellschaftlichen Druck nachzugeben, will ich auch nicht heiraten“, versicherte Emma. „Ich befürchte nur, es wird noch eine Weile dauern, bis wir uns von gesellschaftlichen Konventionen lossagen, so leben und arbeiten können, wie wir es in Mrs. Axminsters Academy erträumt haben.“

„Wie lange noch?“, fragte Olivia stöhnend. „Bis alle Verwandten, die wir in Verlegenheit bringen könnten, gestorben sind?“

„Nicht so lange.“ Emma lächelte die Freundin besänftigend an. „Da ich Mr. Nullford einen Korb gab, wird Mama meiner letzten Chance nachtrauern und mir hoffentlich erlauben, den Heiratsmarkt zu verlassen.“ Mr. Nulls beleidigenden Kommentar über ihre mangelnde Attraktivität erwähnte sie nicht.

„Nullford!“ Geringschätzig schüttelte Olivia den Kopf. „So einen erbärmlichen Kerl würde nur eine Frau heiraten, die glaubt, jeder Ehemann ist besser als keiner.“

„Bedauerlicherweise ist meine Mutter genau dieser Ansicht“, gab Emma zu bedenken. „Und jetzt reden wir über den zweiten Grund, der mich bewogen hat, euch hierherzubitten. Ich möchte mich von der unangenehmen Szene mit Mr. Null ablenken.“ Auch von unwillkommenen Gedanken an Lord Theo, die das Gerede über Gesellschaft und Heirat ständig heraufbeschwört. „Und ich dachte, wir sollten Lady Lyndlington besuchen. Vielleicht können wir wieder ein paar Briefe an Parlamentarier schreiben.“

„O ja!“, rief Olivia enthusiastisch. „Nach unserer Unterhaltung würde ich meinen Zorn gegen selbstgerechte Männer nur zu gern in Worte fassen.“

Lächelnd nickte Sara. „Sehr gut! Stürzen wir uns wieder einmal in den Kampf gegen Kinderarbeit, für das Recht der Frau, eine größere Rolle in der Gesellschaft zu spielen!“

Die drei Freundinnen trafen Lady Maggie Lyndlington daheim an, bekamen jedoch keine Gelegenheit, Briefe mit politischen Forderungen zu schreiben. Wie der Butler ihnen mitteilte, sprach die Leiterin des Frauenkomitees gerade mit einem Gast – Mrs. Christopher Lattimar, der Gemahlin des Bruders von Emmas guter Freundin Temperance.

Vor ihrer Heirat war diese Dame – ehemals Ellie Parmenter – jahrelang die Geliebte eines älteren Aristokraten gewesen und deswegen trotz ihrer noblen Herkunft von der Gesellschaft nicht akzeptiert worden. Davon hatten Emma und ihre Schulfreundinnen gehört, kannten die Frau aber nicht.

„Wollen sich die Ladys hinzugesellen?“, erkundigte sich der Butler. „Oder bevorzugen Sie einen späteren Besuch?“

Wenn der ton diese Dame auch schnitt – in Christopher Lattimars engerem Kreis aus politisch Gleichgesinnten wurde sie akzeptiert. Lady Maggie, die Gattin seines Freundes Giles Hadley, Viscount Lyndlington, unterstützte Mrs. Lattimar und förderte deren Mädchenschule.

Emma wechselte einen kurzen Blick mit Olivia und Sara, die ihr zunickten. Dann bat sie den Butler, er möge sie alle drei bei seiner Herrin anmelden.

Als die drei Neuankömmlinge den offiziellen Salon betraten, stand Lady Maggie ebenso wie ihr Gast auf. „Freut mich, Sie wiederzusehen, Ladys! Darf ich Sie mit Mrs. Christopher Lattimar bekannt machen?“

„Nur wenn ich die jungen Damen nicht in Verlegenheit bringe, Maggie“, mahnte Mrs. Lattimar, bevor sie sich zu Emma und deren Freundinnen wandte. „Natürlich möchte ich Ihnen – oder Ihren Familien – keine Schwierigkeiten bereiten.“

Warum die schöne, schwarzhaarige Frau geächtet wurde, wusste Emma bereits. Für sie spielte das keine Rolle. Wäre es anders gewesen, hätte sie Lady Lyndlingtons Ansichten gewiss nicht geteilt. Lady Maggie war die fortschrittlich eingestellte Tochter eines Earls und die Gemahlin eines führenden Reformpolitikers. Wer ihren Respekt und ihre Zuneigung verdiente, musste intelligent, interessant und charakterlich einwandfrei sein. Auch Temperance Lattimar hielt sehr viel von ihrer Schwägerin.

„Ganz im Gegenteil“, sprach Olivia aus, was Emma dachte, „wir fühlen uns geehrt.“

„Großartig!“ Lady Lyndlington lächelte sichtlich erfreut. „Mrs. Lattimar, das sind Miss Emma Henley, Miss Sara Standish und Miss Olivia Overton. Alle drei arbeiten eifrig für mein Komitee und bestürmen das Parlament mit rebellischen Briefen. Ladys, das ist meine liebe Freundin, Ellie Lattimar.“

„Freut mich, Sie kennenlernen, Madam“, beteuerte Emma. „So viel hat Temperance mir von Ihnen erzählt, und sie bewundert Sie geradezu glühend.“

„So wie wir alle.“ Lady Lyndlington drückte Mrs. Lattimar die Hand.

„Hoffentlich stören wir nicht?“, fragte Sara, nachdem alle in Sesseln und auf einem Sofa Platz genommen hatten.

„Keineswegs“, versicherte Lady Lyndlington. „Da Sie ebenso wie Ihre Freundinnen sich für die Ziele unseres Komitees begeistern, habe ich soeben überlegt, ob Sie alle drei – neben den Briefen – auch an einem anderen Projekt mitarbeiten wollen. Wie Sie wissen, leitet Mrs. Lattimar eine Schule für bedürftige Mädchen.“

„O ja, Sie holen Mädchen von der Straße oder aus übel beleumundeten Häusern, nicht wahr, Mrs. Lattimar?“, fragte Olivia.

Lady Maggie hob die Brauen, und Emma fürchtete, Olivias übliche Unverblümtheit hätte Missfallen erregt.

Aber Mrs. Lattimar lächelte nur. „So ist es. Und da wir alle offen miteinander reden und Freundschaft schließen, vergessen wir die Formalitäten. Lady Maggie hat mir erzählt, das würde sie unter den Mitgliedern ihres Komitees vorziehen. Bitte, nennen Sie mich alle Ellie.“

„Sehr gern, Ellie“, erwiderte Emma. „Wo finden Sie diese Mädchen?“

„Einige finden mich, wenn sie auf den Straßen von meiner Schule hören. Mit mehreren gewissen Etablissements stehe ich in ständigem Kontakt, weil ich die Besitzerinnen infolge meiner früheren – Position kenne. Manche Töchter von Fabrikarbeiterinnen wünschen sich ein besseres Leben und landen auf der Straße. Oder Waisenmädchen wissen nicht, wohin sie sich sonst wenden sollen.“

„Für Mädchen aus armen Verhältnissen gibt es keine Aufstiegsmöglichkeiten“, meinte Olivia. „Die Ehrbaren gehen in die Fabriken oder werden Dienstmädchen. Wenn sie keine passenden Stellungen bekommen, ist es schwierig, der Prostitution zu entrinnen.“

„Sehr schwierig“, bestätigte Ellie.

„Was wird in Ihrer Schule unterrichtet?“, fragte Sara.

„Lesen, Schreiben, einfache Mathematik, zudem Dinge, die meine Schülerinnen für Arbeitsplätze in gehobenen Haushalten brauchen würden – Nähen, Kochen, Putzen.“

„Wie können wir Ihnen helfen, Ellie?“, erkundigte sich Emma.

„Geldspenden sind immer willkommen. Und falls Sie sich persönlich engagieren möchten – besuchen Sie meine Schule. Wenn eine vornehme Lady meinen Schülerinnen erklärt, was in aristokratischen Häusern vom Personal erwartet wird, können sie bei Bewerbungen die Haushälterinnen mit besonderem Wissen beeindrucken. Das wäre sehr hilfreich.“

Die drei Freundinnen nickten einander zu.

„Das übernehmen wir, Ellie“, versprach Emma. „Und vielleicht können wir uns auch auf andere Weise nützlich machen.“

„Was ich wirklich zu schätzen wüsste. Aber jetzt muss ich in meine Schule zurückkehren.“

„Und ich werde bald zu einer Verabredung aufbrechen.“ Lady Maggie und alle Damen erhoben sich. „Heute werden keine Briefe abgeschickt. Aber wie sehen uns wie gewohnt am Dienstagmorgen, meine Lieben?“

„Selbstverständlich, Madam“, antwortete Olivia, „darauf freuen wir uns.“

Die drei Freundinnen stiegen die Eingangsstufen hinab und warteten auf die Droschke, die ein Lakai holte.

„Unglaublich, welche Hindernisse Ellie Lattimar überwunden hat!“, sagte Olivia.

„Temperance hat mal erwähnt, Ellies Vater habe sie praktisch einem alten Lord verkauft, um seine Schulden zu bezahlen“, berichtete Emma. „Damals war sie sechzehn.“

„Also hatte sie es noch viel schwerer als ich“, meinte Sara seufzend. „Wenn ich mich auch missachtet fühle – Mama hat mich wenigstens einer fürsorglichen Tante anvertraut.“

Überschwänglich umfasste Emma die Hände ihrer Freundinnen. „Was immer passieren mag – wir haben einander, ganz egal, wie unkonventionell oder skandalös wir uns aufführen.“

Die Droschke hielt vor ihnen, und sie kletterten hinein. Während der Fahrt besprachen sie, bei welchen gesellschaftlichen Ereignissen sie sich sehen würden. Zuerst stieg Sara in der Upper Brook Street aus. Emma begleitete Olivia am Hanover Square bis zur Haustür.

Auf dem Rückweg zum Wagen dachte sie an die unerfreuliche Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, die ihr nun bevorstand. Bedrückt schaute sie zur Mittagssonne hinauf. Um diese Zeit stand Mama üblicherweise auf, trank ihre heiße Schokolade – und würde von der langen Abwesenheit ihrer nervenaufreibenden Tochter erfahren. Also hatte Emma noch etwa eine Stunde Zeit, bevor sie die unvermeidliche Strafpredigt über sich ergehen lassen musste.

Kurz entschlossen bezahlte sie den Droschkenkutscher und ging davon.

4. KAPITEL

Nach einem kraftspendenden Beefsteak und einem Krug Ale in seinem Club stieg Theo nachdenklich die Stufen zur St. James’s Street hinab. Das Frühlingswetter war mild und sonnig. Deshalb winkte er keiner Droschke und entschied, er würde vorerst zu Fuß gehen. Dabei wollte er überlegen, wie er die Liaison mit Belinda beenden sollte, ohne sich Tränenströmen, flehenden Bitten, Wutanfällen oder Vorwürfen auszuliefen.

Gewiss wäre ein persönlicher Abschied von der Lady etwas höflicher. Doch er wollte eine unangenehme Szene vermeiden.

Am letzten Abend hatte er die widerspenstige Belinda fast gewaltsam zur Opernloge ihres Gemahls zurückgeleitet. Angesichts seines unverhohlenen Zorns musste sie geahnt haben, er würde zumindest erwägen, ihre Beziehung zu beenden. Hoffentlich vertraute sie ihrer unwiderstehlichen Schönheit und Liebeskunst nicht so sehr, dass ihr ein Brief und ein hübsches Abschiedsgeschenk einen allzu schlimmen Schock versetzen würden.

Auf der Bond Street wandte er sich nordwärts und bog ein in die Oxford Street. Zu seiner Verwunderung sah er etwas weiter vorn eine elegant gekleidete Dame in die Richtung eilen, die auch er eingeschlagen hatte. Trotz der Entfernung hatte er Emma Henley sofort an ihrem energischen Gang erkannt.

Lächelnd dankte er dem glücklichen Zufall, der ihm eine zweite Begegnung am selben Tag ermöglichte, und beschleunigte seine Schritte, um Miss Henley einzuholen. Und dann hielt er kurz inne, denn anscheinend war sie auch diesmal allein. Zumindest entdeckte er niemanden, der zu ihr gehörte. War es ratsam, sich in ihrer Gesellschaft blicken zu lassen?

In sicherem Abstand folgte er ihr eine Zeitlang. Weder eine trödelnde Zofe noch ein nachlässiger Lakai tauchten auf. Theos Sorge um Emmas Sicherheit verdrängte schon bald den unangenehmen Gedanken, irgendein Klatschmaul des ton könnte ihn beobachten. Dann würde er gewiss später erklären müssen, warum er Miss Henley in Abwesenheit eines Chaperons begleitet hatte.

Das spielte keine Rolle mehr, als er seine Sorge berechtigt fand. Ein paar Schritte vor Emma stapfte ein dicklicher Kerl mit hochrotem Gesicht dahin, der sich immer wieder zu ihr umdrehte und sie ungeniert anstarrte. Sein Interesse schien ihr aufzufallen, denn sie wurde langsamer. Da ihr Augenmerk dem dreisten Fettwanst galt, gelangte Theo unbemerkt an ihre Seite.

„Sind Sie schon wieder ihren Fesseln entronnen, Miss Henley?“

Verwirrt fuhr sie zu ihm herum. „Lord Theo! Großer Gott, Sie haben mich furchtbar erschreckt!“

„So wie Sie mich. Ich folge Ihnen schon eine ganze Weile, und zu meiner Überraschung hielt ich vergeblich nach Ihrer Begleitung Ausschau. Ein Galopp durch den Hyde Park ohne Reitknecht mag noch angehen. Aber was machen Sie in diesem Stadtteil, ohne einen Lakaien? Nicht einmal Ihre Zofe lässt sich blicken.“

„Verkäuferinnen und Dienstmädchen laufen ständig ohne Begleitung durch London!“, verteidigte sie sich erbost.

„Nicht in eleganten Seidenkleidern und Pelissen mit Pelzbesatz. In manchen Stadtteilen könnten Sie wegen ihrer Garderobe überfallen werden – falls nichts Schlimmeres passiert.“

Erschrocken riss sie die Augen auf und spähte nach vorn zu ihrem korpulenten Bewunderer. Der linste wieder einmal über seine Schulter, fing einen unmissverständlich warnenden Blick von Theo auf und suchte hastig das Weite.

„Sicher nicht auf dieser Straße!“, widersprach Miss Henley.

„Nein, wahrscheinlich nicht“, gab Theo zu. „Dennoch wüsste ich gern, wohin Sie gehen. Ein paar Straßen weiter östlich würden Sie Ärger kriegen.“

„Da ich mich offenbar rechtfertigen muss – ich hatte nicht vor, den Weg allein zurückzulegen. Nach einem Besuch mit meinen Freundinnen bei Lady Lyndlington nahmen wir uns eine Droschke. Zuerst stieg Miss Standish aus. Am Hanover Square verabschiedete ich mich von Miss Overton. Da fiel mir plötzlich ein, ich – ich könnte vor meiner Heimkehr noch jemanden besuchen. Und wegen des schönen Wetters wollte ich zu Fuß gehen.“

„Also waren Sie bei Lady Lyndlington? Um die Konfrontation mit Ihrer Mutter noch länger hinauszuzögern? Oder haben Sie die schon hinter sich und scheuen die Konsequenzen dieses Gesprächs?“

Emma schnitt eine Grimasse. „Wenn Sie das alles so brennend interessiert – ich habe noch nicht mit Mama geredet. Auf diese Diskussion freue ich mich nicht. Gleichwohl wird sie stattfinden, weil ich nicht bereit sein werde, meine Unabhängigkeit aufzugeben. Und da ich ein eigenständiges Leben anstrebe, kann ich schon jetzt damit anfangen und allein zu Mrs. Lattimars Mädchenschule in der Dean Street gehen.“

„Ah, das ist also Ihr Ziel? Gehört es zu Ihren geplanten guten Taten, Mrs. Lattimar zu unterstützen?“

„Ja, weil sie sich für einen wahrhaft edlen Zweck einsetzt.“

„Ganz meine Meinung. Aber sogar eine unabhängige Lady sollte für ihre Sicherheit sorgen. Verkäuferinnen und Dienstmädchen sind meistens paarweise unterwegs. Nur sehr wenige Frauen bewegen sich allein durch London.“

Miss Henley holte tief Luft. „So ungern ich es auch zugebe, Sie haben vielleicht recht, Sir. Heute wage ich es zum ersten Mal, und ich habe gemerkt, wie unverfroren die Männer mich anstarren. Die können überall ohne Begleitung herumlaufen. Das ist so ungerecht!“

„Sogar Gentlemen sind zumeist vorsichtig, wenn sie allein irgendwohin gehen, und nehmen einen Spazierstock mit, um ihn notfalls als Waffe zu benutzen. So was haben Sie nicht.“

„Schon gut, ich sehe es ein“, sagte sie seufzend, „ich war etwas zu leichtsinnig. Aber ich möchte Sie nicht aufhalten, Sir Theo. Sicher gelange ich unbeschadet in die Dean Street. In der Schule werde ich nach einem Lakaien schicken und mich heimbringen lassen.“

„Etwas anderes würde Mrs. Lattimar keinesfalls dulden. Und damit sie sich nicht wundert, dass Sie ohne Beschützer in der Schule eintreffen, und ein schlechtes Gewissen bekommt, werde ich Sie dorthin begleiten. Was ich zu erledigen habe, kann ich verschieben.“

Zu seiner Überraschung protestierte sie nicht. Das unverblümte Interesse des fettleibigen Kerls hatte sie wohl doch alarmiert.

Aber da sie Emma Henley war, währte ihre Zurückhaltung nicht lange. „Was möchten Sie denn erledigen, Sir? So, wie es klang, ist es ziemlich unangenehm.“

„Wenn ich diese Pflicht erfülle, beende ich einen Zustand, der sich zu einem – Ärgernis entwickelt hat.“ Zu seinem Leidwesen ließ sich ein verdrießlicher Unterton in seiner Stimme nicht unterdrücken.

Kichernd hob Miss Henley die Brauen. „Steuern Sie deshalb den Juwelierladen Rundell and Bridge an? Suchen Sie ein passendes Abschiedsgeschenk für Lady Belinda?“

Teils beeindruckt, teils entnervt von ihrem Scharfsinn, erwiderte er leichthin: „Was nötig ist, sollte man möglichst bald in Angriff nehmen.“

„Nun stecken Sie in einem schwierigen Dilemma, Lord Theo. Welches Schmuckstück würde sich eignen? Kostbar genug, um die Lady nicht zu beleidigen, jedoch nicht zu opulent, sonst würde sie hoffen, die Geste wäre nicht endgültig …“

„Von solchen Dingen dürfte eine wohlerzogene junge Dame nichts wissen.“

„Unsinn! Nur weil ich niemals in so eine Situation geraten werde, bedeutet es keineswegs, ich könnte mir nichts dergleichen vorstellen.“

Heißt das, sie würde sich keinesfalls einen Liebhaber nehmen? Oder sich niemals so schlecht benehmen, dass sie ihn verlieren würde? Theo betrachtete ihren vollen, sinnlichen Mund, der immer wieder unerwartete Kommentare äußerte. Wäre sie als Geliebte ebenso unkonventionell und erstaunlich wie als Gesprächspartnerin? Bei diesem Gedanken spürte er, wie sich sein Blut erhitzte.

Sein forschender Blick entging ihr nicht, und sie errötete, leckte unsicher über ihre Lippen, was seine Glut noch verstärkte. Energisch riss er sich zusammen. Dieses Begehren würde zu nichts führen, und so zwang er sich, Amüsement zu heucheln. „Würden Sie Ihre überaktive Einbildungskraft nutzen und mir ein passendes Geschenk vorschlagen?“

„Mal sehen …“ Miss Henley legte sich einen Finger ans Kinn, um intensive Konzentration zu bekunden. „Vielleicht ein juwelenbesetzter Schlüsselgurt? Daran kann Lady Belinda die Schlüssel für alle Räume in den diversen Häusern ihres Ehemanns hängen und sich in Zukunft besser um ihre Aufgaben kümmern. Glauben Sie, diese symbolische Ermahnung würde ihren Zweck erfüllen?“

Theo brach in Gelächter aus. „Ganz bestimmt nicht. Der Hinweis auf Haushaltspflichten würde die Lady so maßlos empören, dass ich fast versucht bin, Ihren Vorschlag anzunehmen, Miss Henley. Allerdings wäre es ziemlich riskant, denn sie würde womöglich nachts in mein Schlafzimmer schleichen und mich erdrosseln.“

„Das wäre eine Art Heldentod, denn Sie hätten sich bemüht, eine unmoralische Frau auf den Pfad der Tugend zu geleiten. Leider sind Sie zu zaghaft für eine so edle Tat, und darum empfehle ich Ihnen einen Ring oder ein Halsband.“ Noch bevor ihm eine passende Antwort auf die Stichelei einfiel, bog sie um eine Straßenecke und hielt inne. „Da vorn sehen Sie die Schule, Sir. Dank Ihres Beistands bin ich unversehrt angekommen. Nun können Sie sich Ihrem heiklen Vorhaben widmen.“

„Ein Gentleman bringt eine Dame immer bis zum Eingang ihres Ziels“, entgegnete er, weil er ihre anregende Gesellschaft noch eine Weile genießen wollte. Viel zu oft in letzter Zeit … Langsam ging er weiter und zwang sie, ihm zu folgen. „Mrs. Lattimar wird von mehreren einflussreichen Sponsoren unterstützt, nicht wahr?“ Mit dieser Frage gewann er immerhin ein bisschen Zeit.

Emma nickte. „Außer Lady Lyndlington fördert auch ihr Vater, der Marquess of Witlow, den wohltätigen Zweck der Schule. Ebenso ihre Tante, die Dowager Countess of Sayleford, und Mrs. Lattimars Schwiegermutter.“

„Lady Vraux?“ Theo grinste spöttisch. „Oh, lauter ehrenwerte Mitglieder der Gesellschaft. Von letzterer Dame abgesehen.“

„Darf ich Sie daran erinnern, wer Lady Vraux ist? Nämlich die Mutter meiner lieben Freundin Temperance, jener strahlenden Schönheit, der Sie monatelang so eifrig zu imponieren suchten.“

„Und die Mutter ist genauso reizvoll wie die Tochter.“

„Zweifellos waren Sie eine Zeit lang auch hinter ihr her. So viel ich weiß, gehört die Jagd nach etwas reiferen erfahrenen Damen zum Ritual aller Jungspunde, die eben erst der Universität entkommen sind. Da Sie ständig auf Ihren ‚Charme‘ pochen, müssen Sie einen Spitzenplatz in diesem Rudel eingenommen haben.“

„Nicht in diesem Rudel. Niemals stelle ich Frauen nach, die furchtbar vorsichtig sind und sich keinesfalls erwischen lassen wollen. Lady Vraux war trotz ihres Leumunds unerreichbar. Und Sie sollten eine solche Bekanntschaft verheimlichen. Die würde dem Ruf einer unschuldigen jungen Dame empfindlich schaden.“

„Zum Glück hat das alles nicht auf Temperance abgefärbt.“ In Miss Henleys Augen erschien ein herausforderndes Glitzern. „Wie lächerlich wäre es, einer Tochter die Sünden der Mutter anzulasten! Oder anzudeuten, Temper würde nach ihrer Mama geraten, nur weil sie ihr ähnlich sieht! Ganz zu schweigen von den mildernden Umständen, die zu jenen Sünden führten! Wenn ein Mann sich so verhält, urteilt man nicht so streng.“

Abwehrend hob Theo eine Hand. „Über den Unterschied, der ungerechterweise zwischen Männern und Frauen gemacht wird, will ich im Moment nicht diskutieren.“

„Sehr klug von Ihnen! Jedenfalls habe ich diese idiotischen Regeln und Gesetze gründlich satt. Keine Ahnung, wie lange ich das noch aushalte!“

„Das hängt vom Resultat des bedeutsamen Gesprächs mit Ihrer Mama ab, nicht wahr? Wird es Ihnen gelingen, Sie umzustimmen?“

„Darüber möchte ich nicht diskutieren.“

Schweigend gingen sie weiter, bis sie vor der Schule stehen blieben. Um den Abschied erneut hinauszuzögern, platzte Theo hastig heraus: „Nicht nur um die Pflicht eines Gentlemans zu erfüllen, habe ich Sie hierhergebracht – von allem anderen abgesehen … Ich war neugierig und wollte dieses Haus sehen. Was genau geschieht hier?“

Miss Henley starrte ihn an, und er fürchtete, sie würde nach dem Sinn jener unbedachten beiläufigen Bemerkung fragen. Das tat sie nicht, und er atmete erleichtert auf, weil er die Wahrheit nicht gestehen musste. Sie zu belügen – dazu hätte er sich nicht durchringen können.

„In Mrs. Lattimars Schule lernen bedürftige Mädchen alles, was sie brauchen, um ehrbare Berufe auszuüben“, erklärte Miss Henley. „Oh, diese Glücklichen! Nach ihrer Ausbildung werden sie was Nützliches tun.“

„Seien Sie nicht neidisch! Diese Mädchen werden ein respektables, aber beschwerliches Leben führen.“

„Wenigstens gehören sie nur sich selbst.“

Theo zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Wenn sie heiraten, gehören Sie genauso ihren Männern wie die vornehmen Ladys.“

„Ohne Mitgift, die ihre Ehemänner verschleudern würden …“

„Da haben Sie recht, Miss Henley. Deshalb werden diese Männer ihre Gattinnen nicht allzu gut behandeln.“

„Bisher habe ich von keiner jungen Frau gehört, die wegen ihrer Mitgift besonders nett behandelt wurde. Zumindest nach der Hochzeit nicht mehr.“

„Schon gut, ich weiß – die Ehe hat manche Nachteile.“

„Vor allem für die Frauen.“

Leicht genervt von ihrer Hartnäckigkeit, schüttelte er den Kopf. „Viele glauben, eine Heirat würde ihnen Schutz und einen gewissen Status bieten.“

„Falls sie Glück haben und einen Gemahl kriegen, auf den sie stolz sein können.“

„Da gibt es einige Kandidaten in unseren Kreisen“, behauptete Theo, worauf sie ihn mutwillig von oben bis unten musterte.

„Leider ist mir noch keiner begegnet, Sir.“

Dramatisch presste er sich eine Hand auf die Brust. „Was? Werfen Sie mich etwa mit Mr. Null in einen Topf?“

„O nein! Sie würden jederzeit Arbeit als Kutscher finden. Würde Mr. Null sein ganzes Vermögen verlieren, müsste er froh sie, wenn er Ställe ausmisten dürfte. Und jetzt will ich Sie wirklich nicht länger aufhalten.“ Sie ging zur Tür der Schule und klopfte an, drehte sich um und knickste. „Besten Dank für die freundliche Begleitung, Lord Theo. Guten Tag.“

Formvollendet verbeugte er sich. Dann schenkte sie ihm ein letztes Lächeln, bevor sie durch die Tür verschwand, die der Pförtner geöffnet hatte.

5. KAPITEL

Bei Rundell and Bridge inspizierte Theo verschiedene Schmuckstücke, die auf dem Ladentisch lagen, und widerstand der Verlockung, den Verkäufer nach einem Schlüsselgurt zu fragen. Stattdessen wählte er hübsche Ohrringe aus Saphiren und Diamanten. Kostbar genug, um die Lady nicht zu beleidigen, jedoch nicht zu opulent, sonst würde sie hoffen, die Geste wäre nicht endgültig, wie es die unverbesserliche Miss Henley erklärt hatte.

Dann nahm er eine Droschke zu seinem Club und setzte sich in den Leseraum. Nachdem er den Butler um Briefpapier, Tinte und eine Feder gebeten hatte, suchte er eine Zeitlang nach den richtigen Worten, die das Geschenk begleiten sollten. Schließlich verstaute er das Schmucketui und den Brief in einem großen Umschlag, den ein Lakai im Haus Ballister ablieferte. Lebhaft genug konnte Theo sich die Reaktion vorstellen, den die Sendung bewirken würde. Deshalb beschloss er diesen Abend im Club zu verbringen, gesellschaftliche Ereignisse zu meiden, keine Begegnung mit Lady Belinda zu riskieren. So kurz nach ihrer bitteren Enttäuschung würde sie ihre explosiven Emotionen noch nicht gezügelt haben.

Bei dieser Vermutung dachte er an Miss Henleys Hänselei und lachte leise. „Zaghaft“, hatte sie ihn genannt.

Nicht zaghaft, sondern klug, entschied er und staunte wieder einmal über seine seltsame Toleranz. Ständig duldete er Emmas dreiste Aussprüche. Dafür hätte er jede andere Frau mit stahlharten Blicken und ätzendem Hohn bestraft.

Natürlich würde ihn keine andere dermaßen beleidigen. Ein steinreicher jüngerer Sohn eines Aristokraten, war er an Frauen gewöhnt, die ihn respektierten, aufmerksam und höflich behandelten oder ihm unverhohlen schmeichelten – junge und ältere, verheiratete und ledige. Nur Miss Henley überraschte und verwirrte ihn mit freimütigen Bemerkungen, manchmal sogar mit unverblümtem Tadel. Dabei fixierte sie ihn mit ihren goldbraunen Augen und reckte das Kinn empor, als wollte sie ihn zu einer schroffen Entgegnung herausfordern.

Von Anfang an war sie ihm auf diese offenherzige Art begegnet. Belustigt erinnerte er sich an jene denkwürdige erste – oder eher zweite Begegnung.

Bei einem Ritt durch den Park hatte er die „Unvergleichliche“ der letzten Saison erspäht, Miss Temperance Lattimar. Neben einer anderen Dame war sie vor ihm geritten. Wenn er auch keine ernsthaften Absichten in Bezug auf die allseits bewunderte Schönheit hegte – er schätzte ihre unterhaltsame Gesellschaft. Und da sich gerade kein anderer Gentleman näherte, lenkte er seinen Wallach an ihre Seite.

„Guten Tag, Lord Theo!“, grüßte sie, als er seinen Hut lüftete, und wandte sich zu ihrer Begleiterin, einem großen, schlanken, unscheinbaren Mädchen. „Das ist Miss Henley … Oh, ich glaube, du kennst diesen Gentleman schon, Emma?“

Miss Henley musterte ihn mit irritierenden, durchdringenden, klaren Augen. „Ja, wir kennen uns. Allerdings bezweifle ich, dass Lord Theo sich meiner entsinnt.“

Wo und wann sie sich getroffen hatten, wusste er beim besten Willen nicht. Doch es wäre äußerst ungalant gewesen, das zu gestehen – und unklug, weil sie anscheinend zu den engeren Freundinnen der göttlichen Miss Lattimar zählte.

„Da täuschen Sie sich, Miss Henley, ich erinnere mich sehr gut an Sie“, protestierte er aalglatt. „Wie könnte ich eine so charmante junge Dame vergessen?“

„Wir haben einen Walzer getanzt.“ Nach einer kurzen Pause runzelte sie die Stirn, als würde sie nachdenken. „Letzte Saison. Auf Lady Landsfields Ball.“

Im letzten Jahr hatte er so oft Walzer getanzt, dass er unmöglich immer noch wissen konnte, wann und wo und mit wem. Trotzdem nickte er. „Das war wundervoll, Miss Henley, Sie haben ausgezeichnet getanzt.“

Da verzogen sich ihre Lippen zu einem zuckersüßen, durchtriebenen Lächeln. „Genau genommen wurden wir einander auf Mrs. Dalworthys Soiree vorgestellt. Da waren Sie bei einem Kontertanz mein Partner.“

Offenbar schaute er so entsetzt drein, wie er sich fühlte, denn Miss Lattimar brach in perlendes Gelächter aus. „Schande über dich, Emma, du unartiges Mädchen! Lord Theo, wie ich Ihnen leider erklären muss – Miss Henley ist eine höchst ungewöhnliche junge Dame, die stets sagt, was sie denkt, und hohle Komplimente verachtet.“

In seinen Wangen brannte unangenehme Schamröte, die aber sofort von Zorn verdrängt wurde. Wie konnte diese freche Person es wagen, ihn derart ungeniert einer harmlosen Höflichkeitslüge zu überführen? Ein vernichtender Konter lag ihm auf der Zunge. Dann fiel ihm ihr herausfordernd erhobenes Kinn auf. Sie erwartete, dass er sie in scharfem Ton zurechtwies. Und es würde ihr überhaupt nichts ausmachen.

Deshalb entschied er sich für eine milde Reaktion, um sie ebenso zu verblüffen wie sie ihn. „Das habe ich soeben gemerkt“, sagte er und schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. „Mich so tückisch überlisten – das war sehr unfreundlich von Ihnen, Miss Henley.“

Seine Taktik ging auf, denn sie schien tatsächlich zu staunen, weil er sie nicht so schroff anherrschte, wie sie es verdient hätte. „Was ich sehr gern bestätige, Lord Theo. Ich würde es vorziehen, Sie hätten zugegeben, Sie würden sich nicht an unsere Bekanntschaft erinnern, statt mir eine höfliche Lüge anzubieten. Allerdings bin ich wirklich eine traumhafte Tänzerin.“ Dann lachte sie, und dieser erfreuliche, musikalische Klang vertrieb den letzten Rest seiner Irritation. „Diese Begegnung werden Sie wohl kaum vergessen, Sir. Und ich würde es verstehen, wenn Sie mich auf dem nächsten Ball nicht zum Tanz auffordern möchten.“

„Ganz im Gegenteil!“, widersprach er fasziniert. „Eine aufrichtige Frau, die Schmeicheleien verabscheut und ihre Gedanken ohne Zögern ausspricht, interessiert mich natürlich. Deshalb werde ich Sie zusammen mit Miss Lattimar auf die ziemlich kurze Liste der Damen setzen, mit denen ich gern tanze oder plaudere.“

„Im Allgemeinen bevorzugen Sie Frauen, die keine Damen sind“, meinte Miss Henley.

Unwillkürlich lachte er und nickte. „Jetzt wollen Sie mich schon wieder in Verlegenheit bringen und werfen mir meinen skandalösen Lebenswandel vor.“

„Keineswegs. Eines Tages will ich mich selbst skandalös verhalten. Temperance, ich glaube, nun sollten wir uns um die Schar deiner Verehrer kümmern. Leider müssen Sie den Platz an unserer Seite räumen, Lord Theo.“

„Bis zum nächsten Mal, Ladys!“, hatte er sich verabschiedet, an seinen Hut getippt und war davongeritten, während mehrere Gentlemen die vergötterte Miss Lattimar umringten.

Danach hatte Theo immer öfter die Gesellschaft der unkonventionellen Miss Henley gesucht, ihre Intelligenz, ihre treffenden Anmerkungen über den ton und ihren Humor schätzen gelernt. Sogar die Art und Weise, wie sie seinen Charakter beurteilte – die Merkmale eines „typischen Wüstlings“, fand er amüsant und erfrischend.

Und es dauerte nicht lange, bis er ihre unerwartete, aber unleugbare sinnliche Anziehungskraft wahrnahm. Unter der Fassade einer respektablen jungen Dame spürte er kaum kontrollierbare leidenschaftliche Energien, volle Lippen luden zur Sünde ein. Und im Gegensatz zu strahlenden Schönheiten wie Lady Belinda lockte Emma Henley ihn nicht nur mit körperlichen Reizen.

Welcher Mann würde diese Glut irgendwann genießen dürfen?

Seufzend malte Theo sich aus, welch gewaltigen Druck Lady Henley auf ihre Tochter ausüben würde, die Mr. Nulls Heiratsantrag kategorisch abgelehnt hatte. Zum Glück würde es der Mutter misslingen, die junge Frau in die lähmende Sterilität einer arrangierten Ehe zu treiben. Zu stark war Emmas Streben nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung.

Unbehaglich starrte er auf den Schreibtisch hinab, an dem er saß. Miss Henleys Wunsch, etwas Bedeutsames zu leisten, rührte schmerzhaft an einen beharrlichen Kummer in seinem Innern, den er mit Geschäftigkeit und gesellschaftlichen Pflichten zu übertünchen suchte.

So stark eingeschränkt von Regeln und Konventionen wie die Frauen in der Oberschicht waren jüngere Aristokratensöhne gewiss nicht. Dennoch fiel es auch ihnen schwer, etwas wirklich „Wichtiges“ zu tun.

Für die Verwaltung der Collington-Landgüter und das Wohl der Pächter würde Theo niemals verantwortlich sein. Obwohl er gern Bücher las, fühlte er sich nicht zur Wissenschaft hingezogen. Gelegentlich befasste er sich mit kleinen Investitionen. Aber ein Gentleman durfte seine Hände nicht mit Geld beschmutzen. Und die Politik interessierte ihn keineswegs so brennend wie Miss Henley.

Nur eine einzige Faszination teilte er mit ihr, seine Begeisterung für die Reitkunst, und darauf durfte ein Gentleman keine Karriere aufbauen.

Impulsiv öffnete er die Schreibtischschublade und nahm einen Bleistift heraus. Dann rückte er ein Blatt Papier zurecht und skizzierte die Konturen einer Reiterin. Tief über den Damensattel gebeugt, spornte sie ihr Pferd zum Galopp an. Im Rauschen des Windes neigte sich die Feder ihres Huts seitwärts, die Krempe überschattete ihr Gesicht.

Doch das musste Theo nicht zeichnen. Gut genug konnte er sich das schmale, ovale Gesicht mit dem prägnanten Kinn und dem unvermutet sinnlichen Mund vorstellen.

Und diese Augen! Wie sie leuchteten, wenn Emma Henley den Trivialitäten gesellschaftlicher Konversation entfloh, wie sie ihr ganzes Gesicht erhellten, sobald sie über ein Thema sprach, das sie wirklich interessierte … Dieses ausdrucksvolle Gesicht sollte er nicht mit einem Bleistift skizzieren. Denn es bedurfte einer Studie in Öl auf Leinwand, um die Augen einzufangen, diese fesselnde Schattierung von Goldbraun, in der manchmal grüne Lichtpunkte funkelten.

Mit ein paar Strichen vollendete er die Skizze von einer Reiterin. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Noch ein unnützes Talent. Von diesem weiß Emma noch nichts. Sonst würde sie mir empfehlen, nach dem Verlust meines Vermögens Porträtmaler zu werden …

Das Blatt in der Hand, stand er auf und steuerte die Tür des Leseraums an. Nun würde er ein ausgezeichnetes Dinner genießen, danach – ein erbärmlicher „Feigling“ – statt einer Soiree ein paar Kartenpartien und edlen Brandy.

Vor dem Kamin hielt er inne, studierte die Skizze noch einmal, dachte lächelnd an Emma Henleys mitreißende, vibrierende Energie. Dann wurde ihm bewusst, welche Fragen er beantworten müsste, wenn ihn ein Clubmitglied mit dem Abbild einer jungen Dame aus der Oberschicht ertappte. Bedauernd warf er das Papier ins Feuer.

Auf dem Weg durch den Spielsalon musterte er die Gentlemen, entdeckte einen Freund aus Oxford-Zeiten und ging zu ihm. „Hast du Lust auf ein Spiel, Kensworth?“

„Ah, Theo, ich hatte gehofft, dich zu sehen.“ Kensworth, der allein an einem Tisch saß, wirkte ungewohnt ernst. Einladend wies er auf einen Stuhl.

„Stimmt was nicht?“, fragte Theo besorgt und setzte sich. „Eine Krankheit in deiner Familie?“

„Nein, nein – es ist was ganz anderes …“ Unbehaglich zögerte Kensworth und nippte an einem Portwein.

„Raus mit der Sprache!“, befahl Theo belustigt und neugierig. „Hast du zu auffällig mit einer Dame geflirtet? Oder ein zu teures Pferd gekauft?“

„Nichts dergleichen – es geht um dich, Theo. Heute Morgen sah ich dich mit Miss Henley durch den Hyde Park reiten. Nur euch zwei. Weit und breit kein Reitknecht. Klar, sie ist eine hervorragende Reiterin. Aber was interessiert dich sonst an ihr? Sie ist reizlos wie ein Türpfosten, und ihre scharfe Zunge könnte den Lack von deinem Zweispänner kratzen.“

Irgendwie bezähmte Theo den Drang, Emma gegen dieses verächtliche Urteil zu verteidigen, und er übernahm seine übliche Rolle des lässigen Lebemanns. „Nun, sie ist relativ klug“, erläuterte er in gelangweiltem Ton. „Nie weiß man, was sie sagen wird, und sie amüsiert mich.“

„Pass bloß auf, dass dein Amüsement dich nicht schnurstracks zum Altar führt! Wenn du ganz allein mit ihr durch den Park reitest, gehst du ein gewaltiges Risiko ein.“

„Glücklicherweise will sie nicht heiraten. Außerdem hat sie ihren Reitknecht mitgebracht. Dem ist sie einfach nur davongaloppiert“, entgegnete Theo grinsend.

„Sei trotzdem vorsichtig. Miss Henley mag behaupten, sie plane keine Heirat. Umso mehr solltest du dich vor ihrer Mutter hüten. Seit fünf Jahren stupst sie das Mädchen vor jeden halbwegs akzeptablen Junggesellen.“

„Danke für deine Fürsorge, aber ich kenne die Gefahr, die mir droht.“

„Hoffentlich. Und nun wechseln wir das niederschmetternde Thema. Wie willst du dein neuestes kleines Problem mit Lady Belinda lösen? Natürlich, sie ist bildschön, und ich habe noch keinen üppigeren Busen gesehen. Allerdings, ihr Benehmen …“

Über diesen Skandal redete Theo viel lieber als über Emma Henley. „Diesmal ist sie zu weit gegangen. Und inzwischen …“ Er zog seine Taschenuhr hervor. „… müsste sie einen Blumenstrauß und hübsche Ohrringe aus Saphiren und Diamanten erhalten haben.“

„Was?“ Überrascht riss Kensworth die Augen auf. „Du gibst ihr den Laufpass? Also ist die Bahn frei.“

„Frei für dich.“

Kensworth hob abwehrend eine Hand. „Nein, ich ziehe die Halbwelt vor. Da wissen die Frauen, wie sie sich benehmen müssen, und sind nicht so kostspielig. Saphire und Diamanten!“, rief er stöhnend. „Schon immer hattest du einen exklusiven Geschmack. Wer wird die Nächste sein?“

In Theos Fantasie erschien Emma Henleys herausforderndes Bild, das er energisch verdrängte. „Erst einmal will ich mich von meinen unangenehmen Erfahrungen erholen, bevor ich eine neue Liaison eingehe.“

„Allzu lange kannst du nicht warten, ein Mann hat gewisse Bedürfnisse. Dafür empfehle ich dir professionelle Damen. Die wissen, auf welcher Seite ihr Brot mit Butter bestrichen ist. Niemals würden sie in der Öffentlichkeit auftauchen und dich vor den Augen des ton blamieren.“

„Vielen Dank für den Ratschlag, den ich nicht befolgen werde“, erwiderte Theo. „Vorerst werde ich mich mit Spielkarten und Brandy trösten. Und danach – gute Nacht …“ Schon wieder regte sich jenes Unbehagen. „Überlegst du jemals, ob es etwas mehr gibt?“, fragte er abrupt und ließ die gewohnte gleichmütige Maske fallen.

„Mehr?“ Kensworth blinzelte verstört.

Damit musste Theo rechnen, da er nicht gerade berühmt für ernsthafte Äußerungen war.

„Mehr als Spielkarten, Alkohol und – Frauen?“, fuhr der junge Mann verständnislos fort. „Mehr als genug Zeit und Moneten, um das alles zu genießen? Was sollte sich ein Mann sonst noch wünschen? Du schon gar nicht! Um deine Finanzen wirst du dich nie sorgen müssen, keine lästigen Pflichten lenken dich von deinen Vergnügungen ab. Und was am allerbesten ist – du bist ein jüngerer Sohn, deine Familie nervt dich nicht mit dem Befehl, eine Ehefrau zu finden.“

Aber ich möchte etwas Wichtiges tun, hätte Theo beinahe entgegnet. Darauf verzichtete er, denn diese Antwort hätte die Verwirrung seines Freundes noch gesteigert. Er kannte mehrere Gentlemen, die sich politisch engagierten oder ihre Landgüter reformierten. Doch die Mehrheit der jungen Männer, die Oxford verlassen und kein Erbe zu verantworten hatten, kannte nur jenen begehrenswerten Lebensinhalt, den Kensworth beschrieben hatte: Spielkarten, Alkohol und Frauen.

Theos Vater hatte den jüngeren Sohn zu diesem Lebenswandel ermutigt. Und der Marquess war sogar stolz auf den Ruhm, den „der charmanteste aller Londoner Wüstlinge“ genoss.

Nun bezwang Theo ein Seufzen und schlüpfte wieder in die Rolle, die von ihm erwartet wurde. „Ja, was wäre erfreulicher als mein Schicksal? Wie glücklich muss ich mich nennen – ein reicher, attraktiver, charmanter Junggeselle, ein unübertrefflicher Reiter, ein exzellenter Schütze, der Traum aller Mütter heiratsfähiger Töchter, von keuschen Mädchen sehnsüchtig angehimmelt, von älteren Damen mit kaum verhohlenem irdischem Verlangen …“

Autor

Julia Justiss
Julia Justiss wuchs in der Nähe der in der Kolonialzeit gegründeten Stadt Annapolis im US-Bundesstaat Maryland auf. Das geschichtliche Flair und die Nähe des Meeres waren verantwortlich für zwei ihrer lebenslangen Leidenschaften: Seeleute und Geschichte! Bereits im Alter von zwölf Jahren zeigte sie interessierten Touristen das historische Annapolis, das für...
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Jenni Fletcher
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