Historical Saison Band 92

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ZWEI HERZEN IN AUFRUHR von JULIA JUSTISS
Cameron Fitzallen versetzt Saras Sinne vom ersten Moment an in Aufruhr. Doch auch wenn sie in dem attraktiven Fabrikleiter einen Seelenverwandten im Kampf gegen die Ausbeutung von Kinderarbeitern findet, ist der Bürgerliche für sie als Aristokratin tabu! Heimlich verzehrt sie sich trotzdem immer mehr nach seinen Küssen …

EINE DEBÜTANTIN VON ZWEIFELHAFTEM RUF? von LIZ TYNER
Emilies einzige Liebe gilt der Malerei. Bis ihre Mutter droht, ihr die Farben wegzunehmen, wenn sie sich nicht schnellstens einen Ehemann sucht. In der Hoffnung, dass niemand sie heiraten will, wenn ihr Ruf ruiniert ist, bittet sie Lord Grayson, sie zu kompromittieren. Ein gewagter Plan mit ungeahnt leidenschaftlichen Folgen …


  • Erscheinungstag 16.08.2022
  • Bandnummer 92
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511414
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julia Justiss, Liz Tyner

HISTORICAL SAISON BAND 92

1. KAPITEL

London – Sommer 1834

Was, eine Gesellschafterin?“, wiederholte Saras Tante mit ihrer schrillsten Stimme. „Soll ich künftig am Krückstock gehen? Willst du deine arme kranke Mutter in den Tod treiben? Großer Gott, der ton wird glauben, die Familie Standish würde am Hungertuch nagen! Wie deine bedauernswerte Freundin Miss Overton!“

Sara wandte sich seufzend zu Lady Patterson, die neben ihr auf dem Sofa im kleinen Salon saß. In diesem Raum an der Rückfront von Standish House tranken sie ihren Nachmittagstee, während die Mutter wie üblich in ihrem Zimmer auf dem Sofa ruhte.

Sicher würde sich die Mühe nicht lohnen, ihre Tante an das wunderbare Schicksal ihrer Freundin zu erinnern, entschied Sara. Denn der plötzliche Verlust ihres Vermögens hatte Olivia zur Liebe ihres Lebens geführt – zu dem Mann, den sie geheiratet hatte.

„Wenn ich die Dowager Marchioness of Trent zu gesellschaftlichen Ereignissen und zu den Komiteesitzungen begleite, wird es wohl kaum auf die Verarmung meiner Familie hinweisen“, betonte Sara.

„Vielleicht nicht“, gab Lady Patterson zu. „Aber du kannst genauso gut das Spitzenhäubchen einer alten Jungfer aufsetzen und die allerletzten Hoffnungen auf eine Heirat begraben.“

„Zweifellos, da ich gerade im reifen Alter von dreiundzwanzig meine fünfte Saison beende …“

„Das wäre nicht nötig gewesen, hättest du dich ein bisschen eifriger um die Gentlemen bemüht, die an dir interessiert waren. Um Mr. Ersby oder Mr. Berwicke oder diesen charmanten Sohn eines Baronets, Mr. Harlande.“

„Leider redet Mr. Ersby nur über Jagdhunde und – pferde. Mr. Berwicke brauchte eine Frau, die sich widerstandslos das ganze Jahr lang in den düstersten Tiefen von Yorkshire versteckt. Einen Monat, nachdem ich ihn höflich abgewiesen hatte, war er mit Miss Woodward verheiratet. Und der charmante Sohn eines Baronets wohnt bei seiner Mutter, was er als Ehegatte nicht ändern dürfte.“ Sara lächelte ironisch und zeigte auf ihre rundliche Figur. „Wahrscheinlich fand er, ich würde seiner Mama gleichen.“

„Nicht jeder wünscht sich eine hochgewachsene, sylphidenhafte Schönheit“, meinte ihre Tante. „Manche Männer bevorzugen etwas molligere Frauen. Und in der richtigen Kleidung wirkst du sehr elegant, Sara. Dein hellblondes Haar ist ein bedeutsamer Pluspunkt. Und ich habe gehört, wie mehrere Gentlemen deine blauen Augen rühmten.“

„Mag sein. Jedenfalls würde ich einen Mann vorziehen, der nicht nur auf Äußerlichkeiten achtet, sondern etwas mehr Verstand im Hirn hat und sich für erstrebenswerte Ziele einsetzt!“

„Und warum verliebst du dich nicht in einen dieser Politiker, für die du dich so wahnsinnig begeisterst? Dauernd vergeudest du deine Zeit, arbeitest für Lady Lyndlingtons Frauenkomitee und schreibst Briefe an Parlamentsmitglieder, um Gesetzesentwürfe zu unterstützen – oder ähnliche vulgäre Dinge.“

Einen Politiker könnte ich bewundern …

Sara presste die Lippen zusammen, versuchte die Fassung zu bewahren, ihre verletzten Gefühle nicht zu verraten. Einige schwindelerregende Wochen lang hatte der attraktive, aufstrebende junge Parlamentarier Lucius Draycott mehrmals angeregt mit ihr diskutiert, sie sogar um Rat gefragt und schließlich um ein privates Gespräch gebeten. Freudig erregt, in atemlosem Glück, hatte sie mit einem Heiratsantrag gerechnet. Stattdessen war sie bitter enttäuscht und gedemütigt worden. Denn er hatte sich nach ihrer Meinung über zwei furchtbar konventionelle junge Erbinnen erkundigt und gefragt, welche er umwerben sollte.

Nie zuvor war ihr das Herz gebrochen worden. Das behielt sie für sich, weil die Konsequenz dieses Leids – ihr Entschluss, niemals zu heiraten – die Diskussion mit der Tante nur verlängern würde.

Leichthin konterte sie nach einer kurzen Pause: „Was Lady Lyndlington fördert, darf man wohl kaum vulgär nennen, Tante. Gewiss würde es dir besser gefallen, wenn ich meine Nachmittage mit Besuchen und Einkaufsbummeln verbringen würde, die Abende auf Soireen und Bällen – wo ich mit denselben Leuten über denselben Unsinn plaudern würde wie in den letzten fünf Jahren …“

„Ja, das fände ich tatsächlich ersprießlicher, da diese Leute so wie du der Elite Englands angehören, der führenden Gesellschaftsschicht!“

„Die meisten führen ein sinnloses Leben. Ich pflege lieber interessante Kontakte, mit dem kleinen Teil des ton, der sich für Veränderungen dieser Nationen einsetzt und das Leben aller Engländer verbessern möchte.“

„Jaja, aber – du willst dich tatsächlich als Gesellschafterin verkriechen? Nachdem ich so viel Zeit und Mühe geopfert habe, um dich re-re-respektabel unter die Haube bringen …“ Schnüffelnd ergriff Lady Patterson ihr Retikül, zog ein Taschentuch hervor und betupfte sich die Lider.

„Was du für mich getan hast, weiß ich.“ Beschwichtigend berührte Sara den Arm ihrer Tante. „Und ich bin dir sehr dankbar, dass du bereit warst, mich bei meinem Debüt zu begleiten. Nachdem Mama zu dem Schluss gelangt war, das würde ihrer – zarten Gesundheit schaden … Genauso weiß ich zu schätzen, wie oft du versucht hast, mich in bestem Licht erscheinen zu lassen. Zweifellos meinst du es gut mit mir. Es ist nur – was für mich richtig ist, da gehen unsere Meinungen weit auseinander.“

„Glaubst du wirklich, du wirst glücklich, wenn du als alte Jungfer für das Frauenkomitee irgendeiner Aristokratin arbeitest?“, fragte Lady Patterson, die Brauen hochgezogen. „Und wenn du einer invaliden Marchioness beistehst? Während deine einstigen Schulfreundinnen ihre Kinder großziehen? Und bedenk doch – wenn deine Mama und ich und die Marchioness sterben, hast du kein Kind, das dich tröstet. Denn ich kann mir nicht vorstellen, du willst bei deinem Bruder und diesem Spatzenhirn wohnen, das er geheiratet hat!“

Vielleicht mache ich Fortschritte, überlegte Sara hoffnungsvoll. Normalerweise dachte die Tante gar nicht an die Möglichkeit, ihre Nichte könnte niemals vor den Traualtar treten. Stattdessen riet sie ihr zur Heirat – zu irgendeiner Heirat.

Sah sie allmählich ein, dass es für Sara niemals infrage käme, einen typischen Gentleman des ton zu heiraten, mit dem sie nichts gemein hätte? So ein Mann würde ihre Ansichten missbilligen, ihr alle politischen Aktivitäten untersagen und seine nicht besonders attraktive Gemahlin vernachlässigen, um sich mit einer hübscheren Geliebten zu vergnügen.

So wie mein Vater, fast bis zu seinem Tod …

War es verwunderlich, dass sie sich nach einem unabhängigen Lebensstil sehnte?

„Ja, Tante, da wäre ich glücklich. Ich habe Freundinnen, deren Kinder würden mir eigene ersetzen. Und ich könnte mich für all die Dinge engagieren, die mir wichtig sind. Gewiss, ich enttäusche dich. Aber was die meisten feinen Ladys maßlos begeistert – dieses Getue um die ewig gleichen Bälle und Partys – langweilt mich ganz furchtbar.“

„Das erzählst du mir seit fünf Jahren!“, rief Lady Patterson erbost.

„Hörst du mir jetzt endlich zu?“ Sara lächelte hoffnungsvoll. „Und übrigens – du hast mir ebenso wie Mama erlaubt, nach dieser Saison zusammen mit Emma und Olivia in das Haus an der Judd Street zu ziehen, wo wir unsere politischen Interessen verfolgen wollten …“

„Nun, Miss Henley und Miss Overton waren vernünftig genug zu heiraten“, fiel die Tante ihr ins Wort, ein triumphierendes Funkeln im Blick. „Obwohl sie früher gelobt hatten, um der guten Sache willen ledig zu bleiben. So wie du’s jetzt vorhast.“

„Sollte ich die Gefühle eines Gentlemans erwidern, der mich mit seinem Herzen, seinem Geist und seiner Zielsetzung beeindruckt, hätte ich nichts gegen eine Heirat. Leider hatte ich nicht so viel Glück wie Emma mit Lord Theo und Olivia mit Colonel Glendenning. Im Lauf der Jahre bin ich niemandem begegnet, der ein solches Wunder bewirkt hätte.“

„Das wirst du nur erleben, wenn du weiterhin regelmäßig in gehobenen Kreisen verkehrst – selbstverständlich nicht, wenn du die Position einer Gesellschafterin annimmst.“

„Vielleicht sollten wir ein Abkommen schließen, Tante. Wenn ich das Spitzenhäubchen einer alten Jungfer vorerst beiseitelege und mich weiterhin auf dem Heiratsmarkt herumtreibe – erlaubst du mir dann, die Marchioness of Trent zu betreuen? Wie du dich vielleicht entsinnst, erlitt sie vor zwei Jahren einen schlimmen Reitunfall, und sie hat immer noch starke Schmerzen. Natürlich wäre ich keine bezahlte Gesellschafterin – eher eine Freundin und Assistentin. Ich würde mich um ihre Korrespondenz kümmern, ihr beistehen, wenn sie Gäste empfängt oder Veranstaltungen besuchen möchte. Solange sie in London bleibt, würde ich bei Mama und dir wohnen. Und ich müsste mich keineswegs verkriechen! Trotz ihrer Behinderung bewegt sich die Marchioness in den allerersten Kreisen des ton. Wenn ich sie begleite, hätte ich sogar bessere Chancen als bisher, den traumhaften jungen Mann zu treffen, der mir ein Jawort entlocken könnte.“

„Wahrscheinlich wirst du mich letzten Endes herumkriegen“, sagte Lady Patterson und seufzte. „Du meine Güte, wie beredt du bist, wenn du etwas erreichen willst! Und auf den zahllosen Soireen hast du kaum den Mund aufgemacht …“

„Also darf ich Lady Trent besuchen und ihr sagen, dass ich ihre Gesellschafterin werde?“

Um ihr Missfallen zu bekunden, verdrehte Lady Patterson die Augen, dann murmelte sie: „Meinetwegen.“

„Vielen Dank, beste aller Tanten!“, jubelte Sara und sprang auf, beugte sich hinab und umarmte die ältere Frau.

„Vorsicht, meine Haube!“, murrte Lady Patterson.

„Ich muss die Marchioness sofort besuchen“, erklärte Sara auf dem Weg zur Tür, wo sie innehielt und sich zu ihrer Tante umdrehte. „Weil sie ein parlamentarisches Komitee nach Brayton Hullford eingeladen hat. Das ist ihr Landsitz in Derbyshire, zu dem sie bald fahren wird. Dort werden diese Parlamentarier die soeben ernannten Fabrikinspektoren treffen. Die Gentlemen wollen alle Betriebe in der Region inspizieren und feststellen, ob das Fabrikgesetz eingehalten wird, das im Vorjahr erlassen wurde. Inzwischen müssten sich die furchtbaren Arbeitsbedingungen der armen Kinder gebessert haben. Bei der letzten Sitzung von Lady Lyndlingtons Komitee hatten wir alle befürchtet, Lady Trent würde ihre begrenzten Kräfte überanstrengen, wenn sie ganz allein eine so große Hausparty gibt.“

„Du heimtückisches kleines Biest!“, schimpfte Lady Patterson und drohte ihr mit dem Finger. „Nun hast du mir doch tatsächlich die Erlaubnis zu dieser peinlichen Position abgerungen, ohne zu erwähnen, dass die dich noch vor dem Ende der Saison dazu zwingt, die Stadt zu verlassen!“

„Bald ist Saison sowieso vorbei. Und nach dem Juli bleibst du nie in London. Also werden wir uns wahrscheinlich auf dem Landgut wiedersehen.“

„Erst wenn wir nach Kent gezogen sind?“, jammerte Lady Patterson und schüttelte den Kopf. „Ach, verschwinde endlich, bevor ich mich anders besinne!“

Lächelnd warf Sara ihr eine Kusshand zu und verließ den Salon.

Nun hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie würde ein unabhängiges Leben führen – als Einzige der drei Schulfreundinnen den Zukunftstraum verwirklichen, den sie sich in Mrs. Axminsters Academy for Young Ladies ausgemalt hatten.

Natürlich gönnte sie Emma und Olivia das Eheglück. Aber sie vermisste die beiden. So weit waren sie entfernt – Emma unternahm mit Lord Theo eine ausgedehnte Europareise, Olivia lebte in Somerset, auf dem Landgut ihres Mannes. Die invalide, wesentlich ältere Lady Trent würde die Freundinnen nicht ersetzen, das wusste Sara. Trotzdem hoffte sie, die Marchioness bliebe die interessante, kluge Gesprächspartnerin, als die sie ihr bei den Komiteesitzungen so angenehm aufgefallen war.

Und in Derbyshire würde sie intensiver am politischen Geschehen teilnehmen, als es in der Judd Street möglich gewesen wäre. Denn zusammen mit Lady Trent würde sie das Parlamentarierkomitee und die Inspektoren bei der Überprüfung mehrerer Fabriken begleiten. Statt einen Bericht zu lesen, würde sie mit eigenen Augen sehen, unter welchen Bedingungen die armen Kinder arbeiteten, deren Schicksal ihr seit Jahren am Herzen lag.

In aller Eile stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, um eine Pelisse zu holen. Nun würde sie die Marchioness aufsuchen und ihr mitteilen, ihre Familie habe ihr gestattet, sie als Gesellschafterin nach Derbyshire zu begleiten.

Kichernd stellte sie sich die Tagträume der Tante vor, die vermutlich bereits hoffte, ein Parlamentarier oder Inspektor aus Landadelskreisen würde ihrer Nichte einen Heiratsantrag machen.

Sara schüttelte den Kopf. Ganz sicher hegten die Gentlemen andere Vorlieben und Interessen.

Zwei Wochen später stand Cameron Fitzallen neben seinem Schreibtisch im Verwaltungsbüro der Cotton Hughes Works nahe dem Dorf Knively und bemühte sich, keine Grimasse zu schneiden. Soeben hatte ihn Mr. Hughes, der Fabrikbesitzer, über das Parlamentarierkomitee informiert, das den Betrieb an diesem Nachmittag besuchen würde.

„Deshalb müssen wir uns nicht sorgen, Cam, mein Junge. Unsere Arbeitsbedingungen haben die im Fabrikgesetz vorgeschriebenen Standards bereits übertrumpft.“

„Gewiss, doch ich führe höchst widerwillig eine weitere Gruppe ahnungsloser Außenstehender durch unsere Werkshallen, nur damit sie ihren Londoner Freunden amüsante Geschichten erzählen können. Damit verschwende ich meine Zeit. Nur wer an Ort und Stelle tätig ist, besitzt die nötige Erfahrung, um die Dinge nachhaltig zu verbessern.“

„Aye, Cam, ich weiß, du hast etwas gegen diese Besichtigungskomitees. Aber manchmal sind sie nicht völlig unnütz. Ich glaube, Mr. Pennington, der Derby-Abgeordnete, hat sich mit der Gruppe zuerst hier angekündigt, damit seine Kollegen sehen, wie eine Fabrik geleitet werden soll – bevor sie andere Betriebe anschauen, die eventuell Reformen nötig hätten.“

„Auf die Baumwollfabrik, die Sie aufgebaut haben, können wir wirklich stolz sein, Sir.“ Bewundernd und respektvoll nickte Cameron seinem Lehrer und Wohltäter zu. „Nur zu gern werden alle Angestellten, von den Aufsehern bis zu den Fadenandreherinnen, ihre Arbeitssituation demonstrieren.“

„Und jetzt will ich keinen Protest mehr von dir hören! Selbstverständlich wirst du die Besucher überall herumführen und danach mit ihnen sprechen. Nicht umsonst habe ich dir beigebracht, wie ein feiner Londoner Pinkel zu reden. Dir werden sie viel aufmerksamer zuhören als mir mit meinem starken, unfeinen Nordengland-Akzent.“

Ihnen sollten sie zuhören, weil Sie alles viel präziser erklären würden.“

„Nun, wie so oft im Leben kommt es auf den äußeren Schein an. Wenn sie dich für ihresgleichen halten, könnten sie dich eventuellen Investoren empfehlen, die du für deine Expansionspläne brauchst.“

Cameron grinste. „Die Investitionen überlasse ich Ihnen, Sir. Ich konzentriere mich lieber auf die Maschinerie. Obwohl ich vielleicht wie ein Gentleman aussehe und rede, bin ich keiner.“ Ärgerlich verdrängte er Erinnerungen an grässliche Londoner Zeiten. „Nicht dass ich mich um die Meinung dieser Kerle scheren würde! Jedenfalls werden geborene Gentlemen immer auf mich herabschauen.“

„Aye, so geht’s nun mal zu auf dieser Welt“, bestätigte Mr. Hughes. „Mögen wir den Tag noch erleben, an dem ein Mann wegen seiner Leistung anerkannt wird, nicht wegen seiner Herkunft … Klar, ich habe die Fabrik gegründet und lasse das Kapital fließen. Aber den ungewöhnlichen Profit, den wir erzielen, verdanken wir deinen technischen Studien und den Verbesserungen der Maschinen.“

„Vielen Dank für die Anerkennung, Sir.“

Mr. Hughes schlug Cameron lachend auf die Schulter. „Natürlich setze ich mein volles Vertrauen in den Mann, dem ich die Fabrik übergeben werde. Die erste von mehreren, die du betreiben willst, mein ehrgeiziger Junge? Aye, ich erwarte, du wirst einige von diesen neuen Techniken ausprobieren, über die du etwas gelesen hast. Nun, sieh zu, dass wir weiterhin so fabelhafte Gewinne einheimsen! Dann halte ich die Investoren bei Laune, wenn sie sich über die Veränderungen beschweren, die dir vorschweben.“

„Auch ich nehme den Profit wichtig, Sir …“, begann Cameron.

In diesem Moment klopfte es an der Tür, und eines der Kinder kam herein, die in der Kardierhalle arbeiteten, im Vorspinnraum.

„Was gibt’s, Jenny?“, fragte er.

„Verzeihen Sie die Störung …“ Schüchtern knickste das Mädchen vor den beiden Männern. „Lennox hat mich hergeschickt. Weil er eine Spinnmaschine nicht ölen kann, soll ich Sie holen, Mr. Fitzallen.“

„Da das Komitee jede Minute eintreffen wird, solltest du sowieso in die Werkshallen gehen, Cam“, meinte Mr. Hughes.

„Bin schon unterwegs.“ Cameron folgte dem Kind aus dem Büro und lächelte, sobald der Maschinenlärm alle anderen Geräusche übertönte. Dieses Klirren und Rattern und Knirschen klang in seinen Ohren wie Musik.

Als er die Fabrik zum ersten Mal betreten hatte, ein nervöser Sechsjähriger, war sie ihm unheimlich erschienen. Doch die Vielfalt all der Geräte hatte ihn wenig später fasziniert, das wundervolle Zusammenspiel all der Hebel und Rollen, Räder und Drähte, Walzen, Trommeln und Spulen.

Wie alle Kinderarbeiter hatte er zunächst die Maschinen gereinigt, Insekten und Flusen unter bewegten Rädern entfernt, eine gefährliche Tätigkeit. Schon damals hatte er überlegt, wie man die Sicherheit erhöhen könnte und dann auch für entsprechende Veränderungen gesorgt. Daraufhin begann er, die Abläufe zu studieren, die er ebenfalls anschließend effizienter gestaltete. Das fiel zuerst den Aufsehern auf und schließlich Mr. Hughes, der das Talent des Jungen erkannte, ihn regelmäßig zur Schule und später zum Studium nach Cambridge schickte. Innerhalb von zwanzig Jahren war Cameron vom Spinnmaschinenfeger zum Fabrikleiter aufgestiegen.

Und demnächst würde Mr. Hughes ihm den Betrieb übereignen. Freude und Stolz ließen Camerons Herz höherschlagen. Beim Gedanken an die Expansionspläne, die er eigenständig verantworten würde, vertiefte sich sein Lächeln.

Im Vorspinnraum winkte er Jenny zum Abschied und ging weiter, zur größeren Halle, wo die Spinnmaschinen ratterten. Wie ein Schlag ins Gesicht stürmte die feuchte Hitze auf ihn ein. Lennox, einer der Aufseher, gab ihm ein Zeichen zu kommen und zeigte auf die Maschine, die ihm Schwierigkeiten bereitete und die er ausgeschaltet hatte. Offenbar hingen die Schwierigkeiten mit einer schwer zugänglichen Vorgarnspule zusammen.

Cameron zog sein Jackett und die Weste aus, entfernte die Krawatte, warf alle Sachen dem Aufseher zu und krempelte die Hemdsärmel hoch. Längst war das knochendürre Waisenkind aus dem Armen- und Arbeitshaus zu einem großen, breitschultrigen, kräftig gebauten Mann herangewachsen. Jetzt konnte er nicht mehr, so wie damals, unter den Wagen kriechen und die Spule erreichen. Irgendwie musste er hindurchgreifen, ohne den gerade produzierten Faden zu ruinieren, oder er tastete sich an eines der Webstuhlschiffchen heran.

Solche technischen Probleme zu lösen, liebte er. Er kniete nieder, inspizierte den widerspenstigen Teil von unten, stand auf und studierte ihn aus allen Blickwinkeln. Schließlich bedeutete er Lennox, die Ölkanne zu holen, sank wieder auf die Knie und machte sich konzentriert ans knifflige Werk.

Erst nachdem er es vollbracht hatte und wieder aufgestanden war, bemerkte er die fremden Leute, die Mr. Hughes in die Halle gefolgt waren. Zweifellos das Parlamentarierkomitee, dachte Cameron und gab dem Aufseher die Ölkanne zurück. Erstaunt entdeckte er zwei Frauen unter den etwa zehn Personen.

In eine elegante Pelisse gehüllt, stützte die ältere Lady eine Hand auf den Arm ihrer Begleiterin. Diese Dame wandte sich, vermutlich zufällig, in Camerons Richtung – und sofort durchzuckte ihn eine machtvolle Strömung, wie ein flammender Blitz.

Nicht nur wesentlich jünger, sondern auch noch bildschön, glich diese Dame all den Bildern von Engeln, die er gesehen hatte. Goldblonde Locken umrahmten ein fein gezeichnetes ovales Gesicht, veilchenblaue Augen musterten ihn fragend. Und unter der dunkelblauen Pelisse zeigten sich die Konturen üppiger Kurven, die wohl kaum zu einem ätherischen himmlischen Wesen passten …

Prompt begann sein Körper zu reagieren. Und während die Dame sichtlich schockiert die Augen aufriss, wurde ihm erst bewusst, dass er sie unhöflich anstarrte und ohne Jackett, Weste und Krawatte dastand. Das Hemd, teilweise geöffnet, entblößte die Hälfte seiner Brust. Nach den Maßstäben der Londoner Elite war er praktisch nackt.

Die Wangen erhitzt, griff er hastig nach seiner Kleidung, die Lennox ihm reichte, und zog sie an. Hektisch und nicht ganz korrekt band er den Krawattenknoten. Schließlich sah er wieder halbwegs präsentabel aus.

Was machte eine attraktive junge Dame aus der Londoner Oberschicht in den Hughes Works? Hier wirkte sie genauso deplatziert, wie er sich bei einem Empfang im St. James’s Palace gefühlt hätte.

„Cam, da sind die Herrschaften, die unseren Betrieb besichtigen möchten“, erklärte der Fabrikant. „Wir sehen uns später im Büro“, fügte er an die Gruppe gewandt hinzu, und entfernte sich.

Cameron zwang sich zu einem höflichen Lächeln, bezwang seine intensive sinnliche Reaktion auf den Anblick der Lady und ging zu den Besuchern. Hoffentlich würde sie ihn nach der Führung nicht mehr ablenken. Sonst würde er sich womöglich nicht an den Wortlaut des Vortrags erinnern, den er vorbereitet hatte und später in seinem Büro halten wollte.

2. KAPITEL

Zuerst geleitete er die Gruppe in den Raum, wo das Rohmaterial mit Schlagstöcken von Baumwollsamen und anderen Verunreinigungen befreit wurde, dann in die Kardierhalle. Hier teilten es die Maschinen in lange Stränge, im nächsten Raum drehte es die Spinnmaschinerie zu Fäden. Schließlich wurde es zu den Webstuhlschiffchen befördert.

Wegen des Lärms in den Werkshallen waren Erklärungen unmöglich, und so deutete Cameron mit Gesten den Zweck der einzelnen Prozeduren an. Dabei spähte er unwillkürlich immer wieder in die Richtung der Frauen und glaubte ihrem Mienenspiel echtes Interesse zu entnehmen. Sicher nur simple Neugier, vermutete er.

Am Ende der Besichtigungstour wurden sie vor der Bürotür von Mr. Hughes erwartet. „Bitte, treten Sie ein, meine Herrschaften. Darf ich Ihnen meinen Geschäftsführer vorstellen, der Ihnen den Betrieb gezeigt hat – Mr. Cameron Fitzallen? Cam, das ist Lady Trent, die das Komitee freundlicherweise in Brayton Hullford beherbergt, während die Gentlemen die Fabriken in dieser Gegend inspizieren. Sie wird von Miss Standish begleitet, ihrer Gesellschafterin. Und die Mitglieder des Komitees – Sir Henry Wright, der Vorsitzende, Lord Cleve, Mr. Pennington, der Abgeordnete aus Derby, Mr. Marsden.“

Die Gentlemen erwiderten Camerons Verbeugung, die Ladys knicksten.

„Nehmen Sie doch Platz.“ Der Fabrikant wies auf die Sessel, die er ins Büro hatte bringen lassen. „Jetzt können Sie den Tee servieren, Hannah“, bat er eine Frau, die ein Häubchen und eine lange weiße Schürze über ihrem schwarzen Kleid trug. Nachdem sie jeden Gast mit einer Tasse versorgt hatte, fragte er: „Nun, was halten Sie von den Cotton Hughes Works?“

„Sehr imposant“, meinte Lord Cleve. „Wie Sie wissen, hat Sir Henry schon einige Betriebe besichtigt und uns berichtet, die Cotton Hughes Works würden zu den ersten zählen, die Spinnereien und Webereien vereinen. Sehr effizient!“

„Vor allem basiert unser Erfolg auf einer zufriedenen, gut ausgebildeten Arbeiterschaft“, betonte Cameron. „Wir sorgen für die Wohnstätten der Leute. Und alle Kinder unter vierzehn besuchen eine werkseigene Schule.“

Lässig hob Lord Cleve die Brauen. „Ist das wirklich nötig?“

Der arrogante Tonfall des Aristokraten erzürnte Cameron. Offenbar fand Cleve, es wäre reine Zeit- und Geldverschwendung, Kindern aus der untersten Gesellschaftsschicht eine schulische Erziehung zu bieten. Der Sorte von Kindern, der ich früher angehörte …

Ehe er eine scharfe – und wahrscheinlich unkluge Erwiderung hervorstoßen konnte, entgegnete Lady Trent: „Als Gentleman und Christ, Lord Cleve, wünschen Sie gewiss, dass alle Engländer und Engländerinnen imstande sind, selbst die Bibel zu lesen, einen Haushalt zu führen, Verträge und Dokumente zu unterschreiben.“

Wie Cameron sich entsann, war sie eine Marchioness. Also lief sie dem Sohn eines Earls mit ehrenhalber verliehenem Titel den Rang ab.

Obwohl sichtlich verärgert, nickte Lord Cleve. „Natürlich haben Sie recht, Lady Trent.“

„Werden die Kinder an allen Wochentagen unterrichtet, Mr. Fitzallen? Wie viele Stunden?“

Zu Camerons Verblüffung hatte die blonde Schönheit, die er nicht beachten wollte, diese Fragen gestellt. Nun gönnte er sich ihren Anblick. „Interessieren Sie sich für solche Dinge, Miss Standish? Eigentlich dachte ich, die Ladys wären nur die Gastgeberinnen des Komitees.“

Sir Henry lachte leise. „Nicht nur! Lady Trent und Miss Standish sind Mitglieder eines Frauenkomitees, das Lady Lyndlington leitet, die Gemahlin eines führenden Reformpolitikers. Unter anderem setzen sich diese Damen für den besseren Schutz der Kinder ein, die in Fabriken arbeiten.“

Mit diesen Worten weckte er schmerzliche Kindheitserinnerungen an die zumeist von Aristokratinnen geleiteten Inspektionskomitees im Armen- und Arbeitshaus. Bei jedem dieser Besuche hatte Cameron gehofft, die elenden Zustände würden sich bessern, und war stets enttäuscht worden.

Solche Ressentiments müssten genügen, um ihm das unpassende Interesse an Miss Standish auszutreiben. Denn seit jener Zeit verachtete er die vornehmen Ladys, die sich mit ihren „guten Taten“ brüsteten.

Er hielt seinen zusammenfassenden Vortrag, beantwortete noch einige Fragen der Besucher nach den Produktionsabläufen in den Cotton Hughes Works, den Arbeitszeiten, den Vorteilen der neuen maschinellen Webstühle gegenüber den manuellen.

Dann dankte ihm Sir Henry, alle standen auf, und Mr. Hughes begleitete die Gruppe aus dem Büro.

Nur Miss Standish blieb zurück. „Warum haben Sie meine Fragen ignoriert, Mr. Fitzallen?“

Weil ich meine Zeit nicht verschwenden wollte, nur um Ihre momentane, belanglose Neugier zu befriedigen.

Trotz seines Ärgers stieg ihm ein unwillkommener zarter Veilchenduft in die Nase. Und er konnte weder die schimmernden goldblonden Locken unter dem modischen Hut ignorieren noch die sanft gerundeten Wangen, den Rosenknospenmund, der Küsse herausforderte, den üppigen Busen unter der Pelisse.

Dass er seine Reaktion auf ihre Reize nicht niederringen konnte, schürte seinen Zorn und bewog ihn zu einer maßlos übertriebenen Verbeugung. „Oh, das tut mir wahnsinnig leid, Miss. Falls ich Ihnen respektlos erschien – das lag keineswegs in meiner Absicht.“

Offensichtlich verstand sie den Sarkasmus. Dunkle Röte stieg ihr ins Gesicht, und sie ging zur Tür – blieb jedoch auf der Schwelle stehen und wandte sich um. „Warum verspotten Sie mich und weigern sich, meine Fragen zu beantworten? Weil ich eine Frau bin und Ihre Erläuterungen niemals begreifen würde?“

„Was die weibliche Verstandeskraft betrifft, werde ich mich nicht äußern, Miss. Ich dachte, diese Informationen wären für Sie doch eigentlich nicht von Bedeutung. Nächsten Monat werden Sie sich mit Ihrem Frauenkomitee anderen Wohlfahrtsinteressen widmen und die Kinder in den Cotton Hughes Works schon wieder vergessen haben.“

„Ach, ich bin also überflüssig und wankelmütig? Wie können Sie es wagen, Sir! Sie kennen mich doch gar nicht!“

„Das stimmt, ich kenne Sie kein bisschen – Mylady!“, fauchte er – was er sofort bereute. Diesen überspitzten Konter, eine unpassende Anspielung, verdankte er nur seinen unerwünschten sinnlichen Regungen.

Erriet Miss Standish, was in ihm vorging? Möglicherweise, denn sie errötete erneut. Aber mochte sie sich auch unbehaglich fühlen – sie hielt ihre Stellung. „Ich bin nicht Mylady! Sondern eine Bürgerin, die sich große Sorgen um die Ausbildung und das Wohl der Kinderarbeiter macht. Viel zu viele werden in die Fabriken geschickt. In einigen müssen sie sich trotz des neuen Gesetzes immer noch furchtbar abrackern. Schon seit Jahren befasse ich mich mit diesen Problemen. Das werde ich auch in Zukunft tun!“

Wie er zugeben musste, engagierte sie sich für edle Ziele. „Vielleicht wird Ihr Enthusiasmus noch eine Weile andauern, Miss Standish. Wenn das der Fall sein sollte, können wir das Thema später noch einmal erörtern.“

„Seien Sie versichert, mein Enthusiasmus wird wesentlich länger währen als Ihr Versuch, mir höflich zu begegnen, Mr. Fitzallen“, erwiderte sie frostig und nickte ihm zu. Den Kopf hocherhoben, verließ sie das Büro.

Angesichts ihrer würdevollen Haltung schämte er sich, weil er sie provoziert hatte.

Verdammt! Oft genug hatten vornehme weibliche Wohlfahrtskomitees jenes spartanische Armenhaus besucht, den Kerker seiner Kindheit, und die Insassen mit leeren Versprechungen abgespeist. Brannte die ohnmächtige, wilde Wut, damals erwacht, immer noch in seiner Seele? Wie auch immer, er hätte seine Gefühle bändigen müssen, Miss Standish nicht so unfair behandeln dürfen.

Nun musste er ihr recht geben, denn er kannte sie nicht, konnte nicht beurteilen, ob sie sich ernsthaft für die Situation der Kinderarbeiter interessierte. Musste er sich bei ihr entschuldigen? Und wie sollte er sein rüdes Benehmen erklären, ohne zu erwähnen, was er von ihrer Gesellschaftsklasse und aristokratischen Wohltäterinnen hielt? Zweifellos würde er sie erneut beleidigen.

Aber zum Glück würde er es nicht versuchen müssen. Das Parlamentarierkomitee plante keine zweite Inspektion der Cotton Hughes Works. Also würden sich Cameron Fitzallen, der Geschäftsführer einer Fabrik, und Miss Standish, die Gesellschafterin einer verwitweten Marchioness, sicher nie wieder begegnen.

Heiße Zornesröte in den Wangen, eilte Sara der Besuchergruppe nach. Was für ein widerwärtiger, arroganter Mann! Verhöhnte er ihr soziales Engagement, nur weil sie eine Frau war?

Um sich zu beruhigen, holte sie tief Luft. An diese Art von Herablassung hätte sie eigentlich gewöhnt sein müssen. Mr. Fitzallen war nur der letzte einer langen Reihe von Gentlemen, die Saras Interesse an parlamentarischen Reformen bestenfalls naiv und niedlich fanden, schlimmstenfalls unnatürlich und unweiblich.

Die gehobene Position des verantwortungsvollen Geschäftsführers einer Fabrik hatte Mr. Fitzallen seinem Talent und außerordentlichen Leistungen zu verdanken. Eigentlich hätte er dazu in der Lage sein sollen, zu erkennen, dass Frauen sehr wohl großes Potential hatten und eine bedeutendere Rolle in der Gestaltung der Welt einnehmen sollten. Insbesondere, weil viele, sicher sehr tüchtige Frauen in den Cotton Hughes Works arbeiteten.

Mehrere Experten nannten den Betrieb „mustergültig“. War Fitzallen so ungehalten gewesen, weil Sara – und das Komitee – ihn von seinen eigentlichen Pflichten abgehalten hatten? Wollte er die Besucher loswerden, bevor sie die Angestellten genauer beobachten oder befragen konnten? Sorgte er tatsächlich für das Wohl der Kinderarbeiter, das ihr besonders am Herzen lag? Oder war für ihn nur der Profit wichtig, den er ihnen verdankte?

Eins stand jedenfalls fest – er schätzte es nicht besonders, wenn sich eine Außenstehende für sein Unternehmen interessierte.

Er hatte ihre Fragen ignoriert und ihr politisches Engagement lächerlich gemacht. Warum war sie dennoch im Büro geblieben, um mit ihm zu reden? Trotz ihrer angeborenen Scheu? Obwohl sie normalerweise jedem Konflikt mit ihr fremden Menschen auswich?

Wegen eines intensiven, unerwarteten Gefühls von …? Wie sollte Sara es nennen? Von Seelenverwandtschaft, geteilter Leidenschaft für Reformen? Von einer – seltsamen Anziehungskraft?

Mr. Fitzallen strahlte das starke Selbstvertrauen eines Mannes aus, der es gewöhnt war, das Kommando zu haben. Schätzungsweise Ende zwanzig, war er ziemlich attraktiv. Hochgewachsen, breitschultrig, mit markanten Gesichtszügen, ausdrucksvollen dunklen Augen, dichten, über der Stirn gelockten braunen Haaren … Gewiss gefiel er vielen Frauen.

Obschon er sich wie ein Gentleman kleidete und auch so sprach, war er zweifellos keiner. Niemals hätte sich ein echter Gentleman die Hände an einer Maschine schmutzig gemacht, geschweige denn sein Jackett abgelegt, wenn er mit der Anwesenheit von Frauen rechnen musste.

Die sonderbare Hitze, die sein erster Anblick in ihr entfacht hatte – das Hemd über der breiten, gebräunten Brust halb geöffnet, die Ärmel hochgekrempelt – war eine fremdartige sinnliche Emotion gewesen. So kraftvoll sah er aus – und vielleicht gefährlich …

Während der Besichtigungstour hatte Sara mehrmals seinen Blick gespürt – einen bewundernden Blick? Jedenfalls war sie immer nervöser geworden, und hatte schließlich den Eindruck gewonnen, er fände sie genauso attraktiv wie sie ihn. Und dass er sie zu mögen schien …

Das hatte sie bewogen, im Büro zurückzubleiben und mit ihm zu reden. Und deshalb war sie so schockiert über seine unfreundliche Abfuhr gewesen.

Offenkundig mochte er sie nicht. Nun, umso besser … Tante Patterson würde einen gellenden Schreckensschrei ausstoßen, sollte sie jemals erfahren, dass ihre Nichte allein mit einem Geschäftsführer gesprochen hatte. Bei diesem Gedanken musste Sara kichern,

Und doch … Mr. Fitzallen erregte ihre Neugier, ein vitaler, ehrgeiziger junger Mann, der das uneingeschränkte Vertrauen seines Arbeitgebers genoss. Sonst hätte Mr. Hughes ihn wohl kaum beauftragt, das Parlamentarierkomitee herumzuführen und den Vortrag zu halten.

Woher kam Cameron Fitzallen? Wie war es ihm gelungen, eine derartige Karriere zu machen? Das hätte sie zu gern gewusst …

Die Spinnmaschinen schienen ihn zu begeistern, aber er konnte nicht nur mit geschickten Fingern komplizierte Geräte reparieren. Da er nicht mit demselben starken Nordengland-Akzent sprach wie Mr. Hughes musste er woanders ausgebildet worden sein.

Jedenfalls fand Sara ihn ganz anders und viel interessanter als die langweiligen konventionellen Gentlemen des ton, mit denen sie es normalerweise zu tun hatte.

Wie hatten seine letzten Worte gelautet? Vielleicht wird Ihr Enthusiasmus noch eine Weile andauern, Miss Standish. Wenn das der Fall ist, können wir das Thema später noch einmal erörtern.

Wäre es möglich, auf seinen Vorschlag einzugehen? Ihre Neugier und der verblüffende sinnliche Reiz, den er auf sie ausübte, rangen mit Skepsis und Vorsicht …

Überflüssige Gedanken, entschied sie schließlich. Da die Parlamentarier nur einen einzigen Besuch in jeder Fabrik planten, die auf der Inspektionsliste stand, würde Sara in ihrer Erinnerung nur diese eine ärgerliche, faszinierende, beunruhigende Szene mit Cameron Fitzallen bewahren.

Energisch verbannte sie ein unvernünftiges Bedauern, erreichte das Komitee und bot der Marchioness ihren Arm.

3. KAPITEL

Eine Woche später betrat sie den Speiseraum in Brayton Hullford House und zeigte einem Dienstmädchen, wo die Blumenvasen stehen sollten. Diese Buketts hatte Sara soeben für das Dinner arrangiert, das an diesem Abend stattfand. Daran nahmen außer den Parlamentariern auch einige Mitglieder des benachbarten Landadels und die Besitzer der Fabriken teil, die das Komitee in den letzten Tagen inspiziert hatte.

Zufrieden schaute Sara sich um. Im Kerzenlicht der Kandelaber auf der langen Dinnertafel glänzten Silber und Kristall. Die Anrichte war bereit für die verschiedenen Gänge des Menüs, das sie zusammengestellt hatte, und soeben führte der Butler Thurston die ersten Gäste in den Salon.

Obwohl Lady Trent die offizielle Gastgeberin war, hatte Sara mit deren Zustimmung den Abend geplant und die Vorbereitungen beaufsichtigt. Daheim hatte Tante Patterson diese Pflichten erfüllt und der Nichte beigebracht, wie man so große Einladungen organisierte.

Nun ruhte die Verantwortung für ein bedeutsames gesellschaftliches Ereignis zum ersten Mal auf Saras Schultern. Voller Genugtuung stellte sie fest, wie gut ihr die Bewährungsprobe gelungen war. Mit der Hilfe einer Gesellschafterin konnte die Dowager Marchioness, eine intelligente gebildete Frau, trotz der Behinderung ihr politisches Engagement fortsetzen. Da sie wegen ihres Beinleidens und des schmerzenden Rückens immer wieder auf einem Sofa ruhen musste, wäre es ihr unmöglich gewesen, eine solche Soiree in die Tat umzusetzen.

Was Sara geleistet hatte, bestärkte sie in der Überzeugung, dass es richtig gewesen war, Lady Trent nach Derbyshire zu begleiten. Statt in London auf den letzten Bällen der Saison vergeblich einen Ehemann zu suchen, stand sie nun sehr erfolgreich einem vornehmen Haushalt vor. Und sie genoss die Dankbarkeit einer Lady, die ihr schon nach kurzer Zeit ans Herz gewachsen war.

Sie musste keineswegs darauf verzichten, ihren politischen Interessen nachzugehen. An diesem Abend würde sie in ihrer Rolle als zweite Gastgeberin mit Anwälten, Industriekapitänen und Landadeligen an der Dinnertafel sitzen. Lebhaft würden alle über die Auswirkungen des Fabrikgesetzes von 1833 diskutieren. Zudem würde man erörtern, wie sich die Arbeitsbedingungen – und die Produktion – noch verbessern ließen.

Dann dachte Sara an die kleine Wolke, die ihre Freude auf den Abend überschattete, und seufzte leise. So albern es auch sein mochte – sie bedauerte, dass sie Cameron Fitzallen nicht wiedersehen, seine Meinungen zu den aktuellen Themen nicht hören würde.

Von ihrer Meinung hielt er sicher noch immer nichts … Wie hatte er sich ausgedrückt? Nächsten Monat werden Sie sich mit Ihrem Frauenkomitee anderen Wohlfahrtsinteressen widmen und die Kinder in den Cotton Hughes Works schon wieder vergessen haben.

Das ärgerte sie immer noch. Andererseits musste sie dem Geschäftsführer der Cotton Hughes Works hervorragende Fachkenntnisse zugestehen. Die hatte er bei dem Vortrag in seinem Büro bewiesen – nicht nur, was die Funktion der Maschinen betraf, die er effektiv zu nutzen wusste, sondern auch den bestmöglichen Schutz seiner Arbeitskräfte. Darüber hätte sie gern mehr von ihm gehört.

Und obwohl sie sich zur Vernunft ermahnte, wollte ein winziger, unlogischer, typisch femininer Teil in ihr herausfinden, ob sie bei einem Wiedersehen erneut dieses unerklärliche sinnliche Prickeln verspüren würde. Wäre Mr. Fitzallen auch nur annähernd ein akzeptabler Heiratskandidat gewesen, hätte Sara nach mehreren bitteren Erfahrungen gewarnt sein müssen. Wann immer sie einen Gentleman auch nur einigermaßen anziehend gefunden hatte, war sie schmerzlich enttäuscht worden.

Wie auch immer, ihre Neugier würde unbefriedigt bleiben. Zu Lady Trents Soiree waren nur Fabrikbesitzer eingeladen. Allein schon das wird den Landadel schockieren, dachte Sara belustigt. Unglaublich – die aristokratische Gastgeberin würde zusammen mit Mitgliedern der Bourgeoisie speisen. Ganz egal, wie begütert oder einflussreich sie sein mochten …

Die Kaminuhr begann zu schlagen und riss sie aus ihren Gedanken.

Nun musste Sara die Hausherrin abholen und ihr helfen, die Treppe hinabzusteigen.

Eine halbe Stunde später stand sie neben dem Sessel, in dem Lady Trent saß, um die Gäste zu empfangen. Die Hausgäste, die Parlamentarier, hatten sich schon vor einiger Zeit in einer Ecke des Salons versammelt und plauderten.

Zuerst begrüßten die Marchioness und ihre Gesellschafterin den Squire, dann Sir Reginald, einen Nachbarn, und dessen Gast, einen Mr. Lawrence, anschließend Mr. Ward und Mr. Johnson, die Besitzer von Fabriken, die das Komitee neulich besichtigt hatte.

Kurz vor dem Dinner meldete der Butler Thurston die Ankunft des letzten Gastes. „Mr. Albert Hughes. Und Mr. Cameron Fitzallen.“

Nur mühsam bezwang Sara den Impuls, nach Luft zu schnappen, nickte dem Fabrikeigentümer mechanisch zu und musterte Mr. Fitzallen.

Sollte sie erschrecken – oder das köstliche, warme Kribbeln in ihrem Bauch genießen? Wie traumhaft und imposant er im Abendanzug aussah … Und mit zugeknöpftem Hemd und korrekt verknoteter Krawatte viel – zivilisierter. Doch das verringerte seine machtvolle – sogar gefährliche Aura keineswegs.

Hingerissen betrachtete sie sein energisches Kinn, die ausgeprägten Wangenknochen, die gerade Nase, eine braune Locke, die ihm in die Stirn fiel. Aufmerksam ließ er den Blick über die Anwesenden gleiten. Zu Saras Überraschung wirkte er gelassen. Falls er nervös war, weil er mit Aristokraten, Parlamentsabgeordneten und einigen der reichsten Industriellen von Derbyshire den Abend verbringen würde, wusste er das gut zu verhehlen.

Jetzt hatte er Sara entdeckt. Einem schwachen Lächeln folgte sekundenlang eine Miene, die Unmut auszudrücken schien. Oder Verlegenheit? Dann nickte er ihr zu. In ihrem Bauch entstand das bereits vertraute warme Kribbeln, schon bevor er sich ihr mit Mr. Hughes näherte.

Die beiden Männer verneigten sich vor der Marchioness und dankten ihr für die Einladung, bevor sie Sara begrüßten. Irgendwie gelang es ihr zu knicksen, eine passende Erwiderung zu murmeln.

Danach erhob sich Lady Trent mit der Hilfe ihrer Gesellschafterin und mischte sich unter die Gäste.

Wenig später kündigte Thurston das Dinner an. Sara hatte die letzten Minuten genutzt, um ihre Verwirrung zu bewältigen und zu überlegen, warum Mr. Fitzallen in Brayton Hullford House erschienen war. Sein Name stand nicht auf der Gästeliste, die sie Lady Trent mit der Bitte um Zustimmung geschickt hatte.

Als Ranghöchster der anwesenden Gentlemen führte Lord Cleve die Marchioness in den Speiseraum. Sir Henry Wright bot Sara den Arm.

Während sie mit ihm den Salon verließ, beobachtete sie Lord Cleve, der sich zu Lady Trent neigte, und lauschte seinen Worten. „Wie mir zu Ohren kam, sind Sie ziemlich tolerant, Madam. Andererseits – ist diese Geste nicht ein bisschen extrem? Dass Sie aufgrund unserer Mission etliche Industrielle zum Dinner einladen, verstehe ich – aber den Geschäftsführer einer Fabrik?“

Obwohl der Sohn eines Earls aussprach, was auch Sara seltsam fand, ärgerte sie sich über seinen arroganten Tonfall. Sie warf einen raschen Blick über die Schulter und sah Mr. Fitzallen der Prozession zum Speiseraum folgen. Natürlich an letzter Stelle, da er der rangniedrigste Gast war. Ob er Cleves Bemerkung gehört hatte, verriet seine Miene nicht.

„Warten Sie den weiteren Verlauf des Abends ab, Lord Cleve“, entgegnete Lady Trent mit sanfter Stimme.

Da dieses Dinner als Arbeitsessen geplant war, nahmen außer der Hausherrin und Sara keine Damen daran teil. Die Marchioness wollte Saras Position als weitere Gastgeberin hervorheben, und deshalb hatte sie entschieden, sie würden einander an den Enden der langen Tafel gegenübersitzen. An den Seiten ließen sich die Gentlemen nieder.

Der Ehrenplatz rechts von Lady Trent gebührte Lord Cleve, Sara saß zwischen Sir Henry und Mr. Hughes, an dessen anderer Seite Mr. Fitzallen. Da es ansonsten keine Sitzordnung gab, wählten die übrigen Gentlemen ihre Plätze nach Belieben.

Von Cameron Fitzallens Nähe ein wenig durcheinander, gelobte sich Sara, ihn nur anzuschauen, wenn es die Konversation erforderte, und plauderte mit Sir Henry.

Einige Lakaien füllten die Weingläser. Während der erste Gang des Menüs serviert wurde, bat Lady Trent um die Aufmerksamkeit ihrer Gäste. „Ich glaube, Mr. Hughes hat Ihnen etwas mitzuteilen.“

Grinsend stand der Fabrikbesitzer auf, sein Glas in der Hand. „Den ersten Toast möchte ich auf unsere bezaubernden Gastgeberinnen ausbringen, Lady Trent und Miss Standish – den zweiten auf Mr. Cameron, den neuen Eigentümer der Cotton Hughes Works. Heute hat er den Betrieb gekauft, den er auch weiterhin verwalten wird. Jetzt nimmt er mir die Verantwortung ab. Auf Ihr Glück und Ihre Gesundheit, Ladys – und auf deine erfolgreiche Zukunft, Cameron!“

Prompt vergaß Sara ihren Vorsatz, wandte sich erstaunt und erfreut zu Mr. Fitzallen. Mit einem schwachen Lächeln, das sie erwiderte, prostete er ihr zu.

„Darf ich Ihnen gratulieren, Sir?“ Auch sie erhob ihr Glas. „Die Übernahme der Cotton Hughes Works muss eine Konsequenz Ihrer Leistungen sein. Aber ich nehme an, sie bedeuten auch eine Herausforderung?“

„Allerdings, Miss Standish“, bestätigte er.

„Gut gemacht, Fitzallen!“ Mr. Ward, einer der anderen Fabrikbesitzer, nickte ihm anerkennend zu. „Offenbar haben Sie aus Ihren Patenten mehr gemacht, als ich dachte.“

Mr. Hughes, der sich wieder gesetzt hatte, lachte laut auf. „Für diese Erfindungen haben Sie genug bezahlt, Sir.“

„Geht es bei den Patenten um die wunderbare Verbesserung der Maschinerie, Mr. Fitzallen?“, fragte Sir Henry.

„Ein Großteil des Verdienstes gebührt Mr. Hughes“, entgegnete Fitzallen bescheiden. „Von Anfang an hat er mich unterstützt und ermutigt.“

„Mein Verdienst besteht nur darin, dass ich Camerons ungewöhnliches technisches Talent schon bald erkannt habe. Etwa zwölf Jahre alt, kam er mit einer Zeichnung zu mir, anhand derer er aufgezeigt hat, wie man die Walzen verändern müsste, damit sie die Baumwolle nicht so oft zerfetzen. Das erläuterte er auch dem Maschinisten. Nach zwei weiteren profitablen Änderungen schickte ich Cameron auf eine höhere Schule. Danach studierte er in Cambridge.“

„Planen Sie weitere Modernisierungen, Mr. Hughes?“, erkundigte sich Sara.

Die Brauen hochgezogen, starrte er sie an. „Interessieren Sie sich für Technik und Mechanik, Miss Standish?“

„Alles, was mit der Kinderarbeit in den Fabriken zusammenhängt, interessiert mich.“

Zu Saras Verblüffung nickte er, statt ihre Erklärung zu ignorieren. „Da müsste noch einiges verbessert werden. 1830 hat Mr. Richard Roberts’ neue Spinnmaschine aus robustem Eisen die traditionelle aus Holz ersetzt. Und gerade hat er ein neues Kardiergerät patentieren lassen – eine Maschine, die Baumwolle kämmt und zu langen Strängen umwandelt. Nicht aus Leder, sondern aus indischem Gummi, also flexibler. Das erleichtert die Arbeit in der heißen Halle. Aber für die Sicherheit der Kinder muss noch viel getan werden. Gerade experimentieren wir mit einigen Möglichkeiten.“

Mr. Ward seufzte. „Wenn Sie mir Sicherheitssysteme verkaufen wollen, werden Sie keinen Penny verdienen. Mir kommt’s nur auf die Ergiebigkeit der Maschinen an.“

„Da haben Sie nichts zu befürchten, Sir“, beteuerte Mr. Fitzallen. „Sichere Maschinen steigern die Produktivität des Betriebs, weil wir sie seltener ausschalten und reparieren müssen. Und die Arbeitskräfte verletzen sich seltener.“

„Außerdem möchte Cameron die tägliche Arbeitszeit der Kinder noch mehr reduzieren, als es das Fabrikgesetz von 1833 erfordert“, ergänzte Mr. Hughes.

„Auf zehn Stunden?“, erkundigte sich Sara.

„Sie haben sich ziemlich genau über die Gesetzgebung bezüglich der Kinderarbeit informiert, Miss Standish“, meinte Fitzallen und musterte sie überrascht – und anerkennend, hoffte sie. „Eigentlich strebe ich für die Kinder einen Acht-Stunden-Tag an.“

„Acht Stunden!“ wiederholte Mr. Johnson erschrocken. „Wie wollen Sie da die derzeitige Produktivität beibehalten?“

„Haben die Gentlemen vom Komitee Mr. Robert Owens Baumwollspinnerei in New Lanark besucht? An der sollten sich alle Werke ein Beispiel nehmen. Die Kinderarbeiter werden untergebracht und verköstigt, alle besuchen eine Schule. Obwohl die meisten älteren Arbeitskräfte aus den Slums von Edinburgh stammen, kommt es nur selten zu Zwischenfällen mit Trunkenheit oder Kriminalität. Eine ausgeruhte, gut ausgebildete und wohlgenährte Belegschaft ist die beste Garantie für hohen Profit.“

„An diesem Vorbild orientiert Cameron sich, nicht nur, was seine Schule anbetrifft“, fügte Mr. Hughes hinzu. „Dafür ließ ich ihm völlig freie Hand, solange der Betrieb profitabel blieb.“

„Glauben Sie, Sie werden den Erfolg der Fabrik halten können, Sir?“, fragte Lady Trent. „Trotz der verringerten Kinderarbeitszeit?“

„O ja, Madam“, antwortete Mr. Fitzallen an der Stelle seines Förderers. „Gleichzeitig möchten wir den Kinderarbeitern die beste Schulbildung von ganz Derbyshire bieten.“

„Welch ein lobenswertes Ziel!“, meinte die Marchioness.

Der zweite Gang wurde serviert, und das Gespräch verstummte. Danach drehte sich die Unterhaltung um andere Themen. Sara beobachtete Mr. Fitzallen durch gesenkte Wimpern. Schweigend hörte er zu. Nur wenn man ihm Fragen stellte, sprach er – offenkundig selbstsicher, von der distinguierten Gesellschaft kein bisschen eingeschüchtert.

Schließlich diskutierte man wieder über das Fabrikgesetz, das im Vorjahr erlassen worden war. Die meisten Industriellen fanden die bis dahin geltenden Regeln ausreichend. Aber Sir Henry und Mr. Darlington, das Komiteemitglied aus Liverpool, setzten sich für noch kürzere Arbeitszeiten der Kinder ein und argumentierten, sie müssten besser geschützt werden.

Sara hörte fasziniert zu. Oh, wie sie einen so lebhaften Meinungsaustausch über Ideen oder Überzeugungen liebte … Diese bedeutsame Debatte würde Englands wirtschaftliche und soziale Zukunft beeinflussen.

Wieder einmal beglückwünschte sie sich dazu, nach Derbyshire gekommen zu sein, statt in London dem hohlen Geschwätz über aktuelle Verlobungen zu lauschen, dem Schnitt von Brautkleidern oder der Frage, ob man Hüte mit Federn oder Bändern schmücken sollte …

Nach dem letzten Gang des Menüs stand Lady Trent auf. „Nun überlassen Miss Standish und ich die Gentlemen ihren Zigarren und ein paar Gläschen Brandy. Bitte lassen Sie sich nicht allzu viel Zeit, denn wir warten ungeduldig auf die Fortsetzung der interessanten Gespräche beim Tee.“

Schon nach einer halben Stunde folgten die Gentlemen den Ladys in den Salon. Die beiden füllten Teetassen, und die Marchioness murmelte: „Sie scheinen sich großartig zu amüsieren, Miss Standish.“

„O ja, Madam. So ein Dinner möchte ich jeden Abend genießen. Nur eins wäre noch besser – wenn ich im Parlament sitzen und die nötigen Reformen verlangen könnte.“

„Eines Tages, meine Liebe …“ Lady Trent lachte leise. „Vorerst müssen wir uns damit begnügen, mit den Männern zu sprechen, die solche Veränderungen durchsetzen könnten. Meine Teilnahme an diesem großartigen Dinner verdanke ich Ihnen. Hätte ich alles vorbereiten müssen, wäre ich so erschöpft gewesen, dass ich längst im Bett gelegen hätte. Der Erfolg des Abends ist Ihr Werk. Hoffentlich werden wir das erfreuliche Ereignis noch oft wiederholen.“

„Wann immer Sie es wünschen, Madam“, versicherte Sara lächelnd.

Sie trennten sich, plauderten mit verschiedenen Gästen.

Nach einer Weile kehrte Lady Trent zu Sara zurück. Auch Lord Cleve gesellte sich hinzu. „Wie ich höre, waren Sie für das Arrangement des Dinners verantwortlich, Miss Standish? Eine beachtliche Leistung.“

„O ja“, bekräftigte die Dowager Marchioness, „Miss Standish versteht es ganz ausgezeichnet, einen Haushalt zu führen.“

„Nun, ich hatte eine erfahrene Beraterin“, sagte Sara und nickte Lady Trent zu.

„Jeder Parlamentarier wäre glücklich über eine so wundervolle, noch dazu politisch versierte Gastgeberin“, meinte Seine Lordschaft und musterte sie eingehend.

Ziemlich verwirrt, wusste Sara zunächst nicht, was sie dazu sagen sollte. Machte er ihr ein Kompliment oder bekundete er ein gewisses Interesse an ihr? Sie warf einen kurzen Blick auf Lady Trent, die eine Braue hob – offenbar ebenfalls unsicher, was davon zu halten war.

Schließlich erwiderte Sara leichthin: „Nach allem, was man so hört, finden die meisten Politiker das Talent einer Gastgeberin nicht so wichtig wie eine beträchtliche Mitgift, die ihre Karriere fördern würde.“

Lord Cleve lachte. „Natürlich ist eine üppige Mitgift nie zu verachten. Aber die Gemahlin eines Politikers braucht noch andere Vorzüge. Zum Beispiel muss sie sogar eine Dinnerparty meistern, an der Personen teilnehmen, die eigentlich unter ihrer Würde sind.“ Die Nase gerümpft, wies er mit dem Kinn auf Cameron Fitzallen, der in der Nähe neben Mr. Hughes stand, inmitten anderer Fabrikbesitzer.

„Nach meiner Ansicht haben heute Abend alle Gäste wertvolle Beiträge zu den Tischgesprächen geleistet“, gab Sara empört zurück. „Und so bewundernswerte Experten! Da gibt es einen, der nicht nur in geschäftlicher Hinsicht brilliert, er lässt auch geniale technische Erfindungen patentieren. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen – ich muss sehen, ob jemand noch Erfrischungen wünscht.“

Als sie sich zu den Fabrikanten umdrehte, gewann sie den Eindruck, Mr. Fitzallen hatte ihr Gespräch mit der Marchioness und Lord Cleve mitangehört. Seine eisige Miene verriet, dass er den beleidigenden Kommentar gehört hatte.

Ehe Sara beschwichtigend eingreifen konnte, fragte er mit einem kühlen Lächeln: „Haben Sie etwas über mich zu sagen, Lord Cleve?“ Seine Stimme klang höflich, im krassen Gegensatz zur aggressiven Energie seines Blicks.

Das Gesicht feuerrot, öffnete der Sohn eines Earls den Mund und schloss ihn wieder. Dann schluckte er krampfhaft und stotterte. „N-n-nein, Mr. Fitzallen, ich – ich habe nichts zu sagen …“

„Das dachte ich mir.“ An Sara gewandt, fügte Cameron Fitzallen hinzu: „Wollten Sie uns noch etwas Tee anbieten, Miss Standish?“

„Ja, Sir …“, murmelte sie. „Bitte – kommen Sie …“ Fast hätte sie selbst gestottert – im Bann des Ereignisses, das sie soeben miterlebt hatte. Noch nie war in ihrer Gegenwart ein hochnäsiger Aristokrat von einem Bürgerlichen dermaßen eingeschüchtert worden.

Mr. Fitzallen folgte ihr zum Teetisch. Zu ihrer Erleichterung verwickelte Lady Trent den anmaßenden Lord in ein Gespräch und schlenderte mit ihm davon. Seine Komplimente verursachten Sara ein unwohles Gefühl. Wenn sie auch wusste, in welch helle Begeisterung sein Interesse ihre Tante Patterson versetzt hätte – trotz seines guten Aussehens missfiel ihr irgendetwas an ihm, abgesehen von seiner Arroganz.

Umso stärker fühlte sie sich zu dem Mann hingezogen, dem sie gerade Tee einschenkte.

„Vielen Dank.“ Cameron Fitzallen nahm die Tasse entgegen. „Auch für das fabelhafte Dinner. Lady Trent hat mir erzählt, Sie hätten das Menü geplant und die Vorbereitungen überwacht.“

Obschon er ihr praktisch das gleiche Lob zollte wie der überhebliche Lord, gefiel ihr dieses viel besser. Denn es wurde ohne bedeutungsvollen Unterton ausgesprochen, war einfach nur ein Kompliment.

„Freut mich, dass Sie zu unserer Dinnerparty kommen konnten, Sir. Ich fand Ihre Erklärungen über die Führung der Fabrik bemerkenswert und einleuchtend. Noch einmal, mein Glückwunsch zu Ihrer neuen Position, die gewiss eine – fast beängstigende Verantwortung mit sich bringt.“

„In der Tat. Die meisten Investoren erwarten eine ständig steigende Produktivität. Doch ich schulde auch meiner Belegschaft gute Löhne und sichere Arbeitsbedingungen. Nur wenn mir beides gelingt, halte ich mich für erfolgreich. Und – darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Miss Standish?“

„Mich?“ Verstört spürte sie, wie ihr heißes Blut ins Gesicht stieg. Als hätte er sie um einen Kuss gebeten … Wie albern! Unglaublich, welche Macht dieser Mann auf sie ausübte. „Was kann ich denn für Sie tun?“

„Vorhin hat Lady Trent einige Abhandlungen über Fabrikreformen erwähnt. Die verwahrt sie in ihrer Bibliothek. Und – sie sagte, Sie würden mich hinführen, Miss Standish. Damit ich vielleicht finde, was ich suche. Hoffentlich macht es Ihnen nicht allzu viel aus?“

Hat sie gemerkt, wie sehr er mir imponiert? Will sie mir eine Gelegenheit verschaffen, mit ihm allein zu sein …?

Unsinn, dachte Sara, so wichtig darf ich mich nicht nehmen. Sie schaute zu der Marchioness hinüber, die ihr aufmunternd zunickte, und antwortete: „Natürlich nicht, Sir. Der Weg in die Bibliothek würde Lady Trent zu sehr ermüden, und ich entlaste sie, wann immer es möglich ist.“ Selbst wenn ich mich der gefährlichen Anziehungskraft dieses Mannes ausliefere „Bitte, folgen Sie mir.“

4. KAPITEL

Der Weg in die Bibliothek an Mr. Fitzallens Seite führte zwar durch einen langen Korridor, war jedoch nicht lang genug, um ihre Nervosität zu verringern.

Aber Sara sagte sich streng, dass ihre Bedenken lächerlich waren. Er wollte einfach nur politische Traktate lesen. Und im Gegensatz zu jenem Tag in der Bibliothek hatte er ihr beim Dinner keine verstohlenen Blicke zugeworfen, die ein privates Interesse an ihr bekundet hätten.

In der Bibliothek entzündete sie mehrere Kandelaber und zeigte ihm eines der Regale. „Ich glaube, hier in der Ecke finden Sie die politischen Schriften.“

„Danke“, murmelte er, ging zu dem Regal und begann die Buchrücken zu studieren.

Energisch sagte sie sich, nun sollte sie beiseitetreten oder in einem der Ledersessel vor dem Kamin Platz nehmen. Doch die Versuchung, Mr. Fitzallen zu mustern, war unwiderstehlich. Sogar in dieser Situation, ohne Anstandsdame … Andererseits – das hatte Lady Trent stillschweigend akzeptiert, also durfte sie ihn anschauen, ohne unhöflich oder aufdringlich zu wirken.

Oh, welch ein fesselndes Studienobjekt … An seinen großen, starken Händen entdeckte sie einige Narben. Stammten sie von Verletzungen, die er sich beim Hantieren mit den Maschinen zugezogen hatte?

Selbst wenn er fast reglos dastand, schien er kaum gebändigte innere Kraft auszustrahlen. Und wie hinreißend er aussah mit seinem klassischen maskulinen Profil, den dichten braunen Locken, der hochgewachsenen Gestalt …

„Ah, da ist es!“, riss er sie aus ihren träumerischen Gedanken, die sie hastig verdrängte.

„Das, was Sie gesucht haben, Sir?“

„Ja, Schriften von Robert Owen“, antwortete er und hielt mehrere schmale Bände hoch. „Da ich einige seiner Systeme in den Cotton Hughes Works anwende, wollte ich gern mal wieder etwas von ihm lesen.“

„Ist das der Gentleman, den Sie beim Dinner erwähnt haben? Der eine Baumwollspinnerei in Lanark betreibt?“

Mr. Fitzallen nickte. „Da er die Tochter des früheren Besitzers geheiratet hat, übernahm er später die Leitung der Fabrik. 1812 schickte er einen Bericht über deren Zustände ans Parlament. Und ein Jahr später verfasste er Essays über die Bildung des menschlichen Charakters. Nach seiner Überzeugung muss den Bürgern Moral und die richtige soziale Einstellung schon in der frühen Kindheit beigebracht werden. Deshalb eröffnete er 1817 die erste Grundschule in Lanark und ermöglichte seinen Kinderarbeitern den kostenlosen Besuch. Ebenso den Kindern aller Arbeitskräfte.“

„Planen Sie Ähnliches auch für die Hughes Works?“

„O ja. Über Nacht wird es natürlich nicht geschehen. Ich möchte die Arbeitsstunden der Kinder schrittweise reduzieren, damit sie Zeit und genug Kraft für den Unterricht in der Schule haben. Und jetzt – muss ich Ihnen endlich etwas gestehen, Miss Standish. Ich habe Lady Trent nicht nur nach ihrer Bibliothek gefragt, weil ich in Owens Schriften blättern wollte.“

Verwundert runzelte Sara die Stirn. „Weshalb denn noch?“

„Nun – ich hoffte, sie würde ihre Gesellschafterin mit mir hierherschicken.“ Klang Mr. Fitzallen tatsächlich zerknirscht? „Denn ich brauchte eine Chance, Sie um Verzeihung zu erbitten. In der Fabrik haben Sie mich neulich zu Recht getadelt. Ich verhielt mich rüpelhaft und herablassend, weil ich nichts von Ihrem ernsthaften sozialen Engagement ahnte. Soeben erzählte mir Lady Trent von Ihrer Arbeit bei Lady Lyndlingtons Frauenkomitee. Außerdem kümmern Sie sich in London um bedürftige Mädchen. Ich gebe zu, ich hege gewisse Vorurteile gegenüber gewissen Ladys, und ich hätte Sie nicht so unhöflich behandeln dürfen. Jetzt hoffe ich, Sie vergeben mir.“

Überrascht und erfreut nickte Sara. „Sehr gern, Sir, falls Sie gewissen Verfechtern von Reformen ein ernsthaftes Interesse an dem Thema zubilligen. Und die Fähigkeit, sich auf nützliche Weise dafür einzusetzen.“

„Dazu bin ich – vielleicht bereit.“

„Ah, Sie halten noch immer nichts von Parlamentarierkomitees, und Sie möchten Ihre Ablehnung nur etwas höflicher ausdrücken.“

Zum ersten Mal schenkte er ihr kein schwaches, sondern ein richtiges Lächeln – mit liebenswerten Grübchen in den Wangen. „Versuchen Sie mich umzustimmen!“

„Also gut, ich tue mein Bestes. Reden wir zuerst über die Schule, die Sie für die Kinderarbeiter gegründet haben, und sagen Sie mir, was genau Sie verbessern werden.“

„Lesen Sie Owens Schriften, wenn ich sie zurückgegeben habe.“

Ich würde lieber Ihre Erklärungen hören, Sir … Diese Antwort verkniff sie sich. „Das werde ich tun, wenn es meine Zeit erlaubt.“

Während er sie anschaute, erlosch sein Lächeln. In seinen Augen erschien ein eigenartiger Glanz. Obwohl er schwieg und sich nicht rührte, spürte Sara die intensive Aura, die von ihm ausging. Zwischen ihnen entstand ein erregendes Knistern – ein Mann und eine Frau, die sich zueinander hingezogen fühlten …

Ehe sie sich fassen konnte, wandte er den Blick ab und betrachtete die Bücher in seiner Hand. „Jetzt sollten wir zur Party zurückkehren, ehe man unsere Abwesenheit ohne Anstandsdame bemerkt. Geben wir Lord Cleve keine neue Gelegenheit, das Benehmen von Gästen unter Ihrer Würde zu tadeln.“

„Lord Cleve ist sich seiner Überlegenheit etwas zu sicher.“ Verächtlich schnitt sie eine Grimasse, und Mr. Fitzallen sah sie wieder an.

„So freundlich haben Sie mich verteidigt, Miss Standish. Dafür muss ich Ihnen danken.“

Oh – er hatte auch ihre Antwort gehört.

„Ich habe nur die Wahrheit gesagt.“ Sara lachte leise. „Aber Sie hatten meine Hilfe gar nicht nötig, denn Sie wiesen Seine Lordschaft erfolgreich in die Schranken.“

„Also wollen Sie nicht Lady Cleve werden?“

„Die Gemahlin dieses unerträglichen Mannes? Ganz sicher nicht!“

Nun lächelte er wieder. „Mit Aristokraten von seiner Sorte umzugehen – das gehört zu den unangenehmen Pflichten, die ich in meiner Position erfüllen muss. Das tue ich nur, wenn es nötig ist. Jedenfalls freut es mich, dass Sie keinen Wert auf Lord Cleves Anerkennung legen. Sie sind offensichtlich viel zu intelligent und unabhängig, um eine unterwürfige Ehefrau zu spielen.“

Erfreut lächelte sie, wollte sich für das Kompliment bedanken, doch sie kam nicht zu Wort.

„Soll ich die Kerzen ausblasen?“, fragte er.

„Nicht die drei auf dem Kaminsims. Nach der Party kommt Lady Trent vielleicht hierher, um noch ein wenig zu lesen. Und sie hasst es, finstere Räume zu betreten.“

Mr. Fitzallen löschte die anderen, und Sara blies die letzte auf dem Wandtischchen neben der Tür aus.

Bewundernd schaute er sich um, bevor er die Tür öffnete. „Eines Tages werde ich auch eine so imposante Bibliothek besitzen.“

„Das war auch mein Wunsch“, sagte sie seufzend auf dem Weg durch den Korridor. „Leider wird er sich nicht erfüllen.“

„Warum nicht?“

„Ich hatte zusammen mit zwei lieben Schulfreundinnen geplant, in London ein Haus zu mieten. Dort wollte wir unabhängig von unseren Familien und gesellschaftlichen Regeln wohnen und uns politischen Themen widmen. Natürlich hätten wir eine fantastische Bibliothek eingerichtet. Aber völlig unerwartet beschlossen meine Freundinnen zu heiraten. Und mir fehlen die nötigen finanziellen Mittel für einen eigenen Hausstand. Meine Familie würde es ohnehin kaum erlauben. Also – keine Bibliothek nur für mich.“ Sie warf Fitzallen einen kurzen Blick zu, bevor sie fortfuhr: „In unserer Welt sind Sir mir gegenüber im Vorteil. Mit Talent, harter Arbeit und Zielstrebigkeit können Sie ungeachtet Ihrer Herkunft großen Erfolg haben. Das wird mir nie gelingen, obwohl ich aus einer guten Familie komme.“

„Auch einem klugen, ehrgeizigen Gentleman ebnet eine vornehme Geburt den Weg nach oben.“

„Wäre ich ein Mann, würde ich Ihre Situation den Privilegien Lord Cleves vorziehen. Sie sind brillant, haben Visionen, er hat nur das Glück seiner Abstammung, für das er nichts geleistet hat.“

Cameron Fitzallen verlangsamte seine Schritte, und Sara folgte seinem Beispiel.

Nach kurzem Zögern fragte er tonlos: „Wenn ich Ihnen erzähle, dass ich als verwaistes Findelkind in einem Armenhaus aufgewachsen bin – würden Sie meine Situation immer noch beneidenswert finden?“

Abrupt blieb Sara stehen, starrte ihn an, zwang ihn, ebenfalls innezuhalten. Sie hatte geglaubt, er wäre der Sohn eines Landwirts oder Handwerkers, eines Müllers oder Fischers, niemals hätte sie gedacht, dass er kein Zuhause, keine Familie, keinen Namen hatte …

„Nein, gewiss nicht.“ Nach einer langen Pause fügte sie hinzu: „Umso mehr bewundere ich Sie, weil Sie sich gleichsam aus dem Nichts emporgekämpft haben. Die Position, die Sie jetzt innehaben, verdanken Sie vor allem Ihren Leistungen – erst in zweiter Linie Mr. Hughes’ Hilfe.“

„Danke“, murmelte er, und sie beobachtete, wie sich seine verschlossene Miene änderte, wachsendes Staunen zeigte.

„Darf ich eine indiskrete Frage stellen, Sir? Ihr Name, Cameron Fitzallen, deutet auf eine schottische Herkunft hin. Freilich entdecke ich in Ihrer Sprechweise keinen schottischen Akzent.“

„Ich wurde im Norden geboren, doch das hat nichts zu sagen. In dem Findelhaus, in das ich als Baby gebracht wurde, nannte man die kleinen Weisen nach den Begründern oder Förderern der Anstalt. Ein Lord Cameron hat sie gegründet, einer der großzügigsten Gönner war Sir Ralph Fitzallen.“

„Ah, ich verstehe. Diese erlauchten Namen passen zu Ihnen, Sir.“

Nun lachte er leise. „Sicher wären die edlen Gentlemen anderer Meinung. Inzwischen hat man mit dieser Tradition gebrochen, weil mehrere verwaiste Rüpel vor den Türen ihrer aristokratischen Namensvettern auftauchten und behaupteten, entfernte Verwandte zu sein.“

„In Ihrem Fall hätten die Herrschaften nichts zu befürchten, Sir. Auch ohne die Hilfe adliger Förderer werden Sie eine glänzende Karriere machen …“ Plötzlich verstummte sie, denn sie fürchtete, ihr Enthusiasmus könnte verraten, wie stark sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Und so nickte sie ihm zu, ging weiter, und er folgte ihr schweigend.

Vielleicht könnten wir – uns anfreunden, dachte Sara, trotz der verschiedenen gesellschaftlichen Positionen. Immerhin hörte er zu, wenn sie ihre Meinung äußerte. Eventuell würde sie ihn sogar von ihren Standpunkten überzeugen. Andererseits wäre eine Freundschaft mit einem Mann, der ihre Sinne bezauberte, sehr gefährlich.

Um Gottes willen, sei nicht so melodramatisch! Wie sollte sie Freundschaft mit ihm schließen? Sie würden sich wohl kaum wiedersehen. Selbst wenn Lady Trent noch eine Dinnerparty für Fabrikeigner gab, würde sie einen dieser Männer sicher nicht ermutigen, ihre Gesellschafterin zu besuchen.

Aber wenn ich mir die Schule der Hughes Works anschaue, würde ich Mr. Fitzallen möglicherweise treffen …

Bevor sie den Salon betraten, dankte sie dem Himmel dafür, dass ihre Tante sich in Mayfair aufhielt, in sicherer Entfernung.

Sie ging mit ihrem Begleiter zu Lady Trent, die vor dem Kamin auf einem Sofa saß, zwischen Sir Henry und Mr. Pennington.

„Konnten Sie finden, was Sie gesucht hatten, Mr. Fitzallen?“, fragte die Marchioness.

„Ja, Madam. Wenn ich darf, möchte ich mir diese Bände ausleihen“, entgegnete er und hielt Owens Werke hoch. „Was für eine reichhaltige Bibliothek Sie haben! Ohne Miss Standishs wertvolle Hilfe hätte ich Stunden gebraucht, um die Schriften aufzustöbern. Allerdings würde ich die Zeit, die ich in einer Bibliothek verbringe, niemals bedauern.“

Anerkennend nickte die Hausherrin. „Wissen ist der Schlüssel zum Erfolg – und zur Macht. Was Sie wahrscheinlich schon festgestellt haben, Mr. Fitzallen.“

„Und Wissen ist auch ein Weg zur Freude, Madam. Nur selten finde ich Zeit für ausführliche Lektüre. Aber wann immer ich ein oder zwei Stunden erübrigen kann, genieße ich Burns und Shakespeare, Wordsworth und Keats.“

„Wirklich?“, rief Sara. „Niemals hätte ich vermutet, solche Bücher würden einen praktisch veranlagten Geschäftsmann interessieren – eher mathematische Traktate.“

„Wie keine andere literarische Form reduziert die Dichtkunst ein Thema auf seine reinste Form.“ Seine bezwingenden dunklen Augen schienen ihre zu durchdringen. „So wie eine erfolgreiche Erfindung alle überflüssigen Details entfernt und nur die wesentlichen nutzt.“

„Diese Übereinstimmung war mir nie bewusst“, erwiderte Sara verwundert. Da dieser attraktive, intelligente, ambitionierte Mann die Poesie schätzte, fand sie ihn noch begehrenswerter … Keine hilfreiche Erkenntnis, wenn sie doch den Wunsch nach einem Wiedersehen, abgesehen von einem Gespräch über die Fabrikschule, bezähmen wollte.

„Also ein Mann, der sich ungewöhnlichen Beschäftigungen widmet …“, bemerkte Lady Trent.

Fitzallen lächelte ironisch. „Zum Beispiel muss ich morgen vor Tagesanbruch in der Fabrik eintreffen. Deshalb werde ich mich jetzt verabschieden, so sehr ich es auch bedaure. Besten Dank für das delikate Dinner und einen hochinteressanten Abend. Lady Trent, Miss Standish – gute Nacht.“

Nach einer formvollendeten Verbeugung fing er Mr. Hughes’ Blick auf, nickte ihm zu und ging davon.

Nun sollte ich erleichtert aufatmen, weil ich von einer bedrohlichen Versuchung befreit wurde, dachte Sara. Stattdessen erlosch ihre Freude an einem anregenden, beglückenden, unvergleichlichen Abend.

5. KAPITEL

Wenig später verabschiedeten sich auch die anderen Gäste. Während die Haushälterin und ihr Personal im Erdgeschoss aufräumten, half Sara der Marchioness, die Treppe hinaufzusteigen.

„Bleiben Sie noch eine Weile bei mir, meine Liebe?“, bat Lady Trent in ihrem Salon, der an das Schlafgemach grenzte.

„Sehr gern, Madam.“

Sichtlich ermattet, sank Lady Trent in ihren Lieblingssessel vor dem Kamin. „Ah, das tut gut …“, sagte sie seufzend und lehnte sich zufrieden zurück. „Welch ein Segen, dass Mr. Fitzallen den Aufbruch der Gäste veranlasst hat! Viel länger hätte ich nicht mehr auf diesem unbequemen Sofa sitzen können.“

„Tut mir so leid!“, beteuerte Sara voller Sorge. „Kann ich Ihnen irgendetwas bringen? Vielleicht ein Kännchen Weidenrindentee?“

„Nein, nein, bitte nur ein Glas Kräutersaft.“

Sara erfüllte den Wunsch, und die Marchioness nahm einen großen Schluck von ihrer herzstärkenden Medizin, bevor sie ihre Gesellschafterim erwartungsvoll musterte.

„Nun, was halten Sie von unserem unternehmungslustigen Mr. Fitzallen?“

Obwohl Sara ihr vertraute, wurde sie von einer inneren Stimme zur Vorsicht ermahnt. „Ein intelligenter, hochbegabter junger Mann. Sehr ehrgeizig, voller interessanter, fortschrittlicher Ideen.“

„Vermute ich zu Recht, Sie finden den Mann genauso bewundernswert wie seine Ideen?“

Sara lächelte. „Welche Frau würde ihn nicht attraktiv finden?“

„In der Tat! Er sieht fabelhaft aus, ist charmant, und er hat tadellose Manieren. Trotzdem möchte ich Ihnen eines bewusst machen: Wenn er sich auch wie ein Gentleman benimmt – er ist keiner.“

Mit diesen Worten bekräftigt Lady Trent nur, was ich mir oft genug gesagt habe …

Dennoch fühlte Sara sich gedrängt, Cameron Fitzallen zu verteidigen. „Er wurde nicht als Gentleman geboren. Das weiß ich, Madam. Dennoch sollte man einen Mann schätzen, der nur dank seiner Leistungen und seines Talents eine gehobene Position erreicht hat, und ihn nicht wegen seiner Herkunft herabwürdigen.“

„Oh, das wollte ich keineswegs! In meinen Augen ist er bewundernswert – und ungemein attraktiv. Und er wird es noch weit bringen, falls die Menschenkenntnis, die ich in so vielen Jahren erworben habe, mich nicht im Stich lässt. Da er sich aus einer eher niedrigen Gesellschaftschicht so hoch hinaufgearbeitet hat, muss er sehr diszipliniert und zielstrebig sein – vielleicht gnadenlos. In der rauen Umgebung, in der er früher überleben musste, konnte er nicht die Höflichkeit und Rücksichtnahme der Gentlemen entwickeln, an die Sie gewöhnt sind, Sara. Das sollten Sie bedenken … Sie wollen die Fabrikschule besuchen, nicht wahr, meine Liebe?“

Sara nickte. „Aus welchem – ärmlichen Milieu er stammt, hat er mir freimütig gestanden. Aber statt sich dafür zu schämen, verachtet er einen Mann wie Lord Cleve, der alle Privilegien genießt, ohne einen Finger zu rühren.“

„Nur zu gut verstehe ich Mr. Fitzallens Ansichten. Doch die Welt, in der wir leben, wird die beiden Männer anders beurteilen.“

„Leider. Und so verschieden wir auch aufgewachsen sein mögen – jetzt teile ich einige Werte mit Mr. Fitzallen. Seine Sorge um die Kinderarbeiter und ihre Schulbildung, um das Wohl aller Arbeitskräfte in den Fabriken. Um solche Dinge kümmern sich nur sehr wenige Mitglieder unserer Gesellschaftsschicht, Madam.“

„Da haben Sie bedauerlicherweise recht. Aber trotz seiner Anschauungen und Erfolge – seien Sie vorsichtig. Ich weiß, Sie wollen die Unterschiede übersehen, die sie von Mr. Fitzallen trennen. Die bleiben dennoch bestehen. Bitte, vergessen Sie das nicht, lassen Sie sich nicht von einem hübschen Gesicht und einer noblen Attitüde hinreißen.“

Genau das fürchtete Sara ja selbst, was sie natürlich nicht zugab. Stattdessen wählte sie eine andere Strategie. „Müsste man nicht eine äußerst rege Fantasie aufbringen, um zu glauben, ich könnte Mr. Fitzallen interessieren? Sicher hat ein so gut aussehender, dynamischer junger Mann viele Bewunderinnen, die um seine Aufmerksamkeit kämpfen.“

„Zweifellos. Mr. Fitzallen ist nicht nur attraktiv und charmant, er hat auch eine besondere, machtvolle Ausstrahlung, die eine starke Wirkung auf Frauen ausübt. Meine Liebe, vor dieser Aura warne ich Sie nur, damit Sie nicht den Kopf verlieren. Tun Sie nichts, was Sie später womöglich bereuen würden. Ich weiß, Sie wollten den strengen Regeln entrinnen, die jungen Damen aus der Oberschicht aufgezwungen werden. Und Sie hoffen, ich würde Sie nicht allzu streng beaufsichtigen. Ja, gewiss ist es lächerlich, dass diese Ladys niemals ohne Begleitung ausgehen dürfen, während sich Frauen aus anderen Gesellschaftsklassen frei bewegen dürfen. Zweifellos sind Sie vernünftig und intelligent genug, um keine Anstandsdame zu benötigen, die sich ständig an Ihre Fersen hängt. Das weiß ich, und deshalb erhob ich keine Einwände, als Sie heute Abend mit Mr. Fitzallen die Bibliothek aufsuchten. Indes …“

Lady Trent unterbrach sich und schaute Sara ernst und eindringlich an.

„Wenn Sie auf eine Anstandsperson verzichten – oder wenn sich herumspricht, Sie pflegen Umgang mit einem Mann wie Mr. Fitzallen, verringern Sie Ihre Chancen auf eine Heirat mit einem Gentleman aus Ihrer eigenen Gesellschaftsschicht. Ich nehme an, das beunruhigt Sie nicht?“

„Kein bisschen, Madam. Wenn ich einen solchen Mann heiraten wollte, wäre ich bei meiner Tante in London geblieben.“

Die Marchioness nickte. Dann seufzte sie. „Schon nach kurzer Zeit habe ich Sie liebgewonnen, Sara. Und ich möchte nicht mit ansehen, wie Sie in den Bann eines betörenden Mannes geraten, der Ihnen das Herz brechen und Ihren Ruf ruinieren könnte. Schlimmer noch – wie Sie seinetwegen von Ihrer Familie verstoßen werden, von Ihresgleichen geächtet …“

Plötzlich rann Sara ein kalter Schauer über den Rücken. Sie besaß genug eigenes Geld, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber wenn Cameron Fitzallens erotische Anziehungskraft sie dazu verleiten würde, ein Risiko einzugehen, das zum Verlust ihrer ganzen bisherigen Welt führen könnte …

Nein, sie kannte sich gut genug. So kühn war sie nicht. Eher scheu und reserviert.

„Ich gebe zu, er gefällt mir“, antwortete sie schließlich. „Doch mir ist der gesellschaftliche Graben, der uns trennt, sehr wohl bewusst. Und wenn ich ihn in der Schule der Hughes Works treffe, hoffe ich von den Erfahrungen zu profitieren, die er mit der Ausbildung der Kinderarbeiter gesammelt hat. Vor allem anderen werde ich mich in Acht nehmen.“

„Genau das wollte ich hören.“ Lady Trent nickte zufrieden. „Und ich vertraue Ihrem Taktgefühl. Trotz der nötigen Distanz, die es zu wahren gilt, werden Sie Mr. Fitzallen ganz bestimmt nicht herablassend behandeln. Das würde er keinesfalls verdienen. Jetzt habe ich Sie lange genug aufgehalten, sicher sehnen Sie sich nach Ihrem Bett, so wie ich mich nach meinem … Ah, da kommt meine Zofe, sie wird mir helfen. Gute Nacht, Sara.“

„Gute Nacht, Madam. Noch einmal vielen Dank dafür, dass ich an diesem wunderbaren Abend teilnehmen durfte.“

„Und ich danke Ihnen für die großartige Organisation, meine Liebe.“

Lächelnd nickte Sara ihrer Gönnerin zu und verließ das Zimmer.

Sobald sie den Korridor betrat, erlosch ihr Lächeln. Und redete sich ein, ihr Interesse an Cameron Fitzallens spektakulärem beruflichem Erfolg würde die unpassenden sinnlichen Emotionen bald verdrängen. Und da kehrten unweigerlich die bitteren Erinnerungen an Mr. Draycott zurück. In ihrer Naivität hatte sie geglaubt, er würde ihre Gefühle erwidern. Und seine vermeintliche Liebesglut war nur platonische, kameradschaftliche Freundschaft gewesen.

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer spürte sie heiße Röte im Gesicht, als sie an ihre überwältigende Sehnsucht nach den Küssen des jungen Parlamentariers dachte. Und Cameron Fitzallen faszinierte sie noch viel stärker. Konnte sie in seiner Gegenwart sich selbst trauen? Oder würde sie völlig den Bann seiner mysteriösen, fesselnden Persönlichkeit geraten und die Selbstkontrolle verlieren, wenn sie zu lange mit ihm allein war?

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