Historical Saison Band 94

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ZÄRTLICH WIE EIN KUSS IN DER NACHT von LIZ TYNER
Nach einer schweren Krankheit will Miss Vivian Darius das Leben in vollen Zügen genießen – am besten ohne die Zwänge einer Ehe. Doch seit der attraktive Lord Everleigh ihr in der Kutsche einen Kuss gestohlen hat, kann sie nicht aufhören, an ihn zu denken …

DIE ARCHÄOLOGIN UND DER EINSAME EARL von VIRGINIA HEATH
Was tut die fremde Frau auf seinem Grundstück? Max Aldersley, Earl of Rivenhall, kann nicht fassen, dass die begeisterte Archäologin Effi auf seinem Land nach Schätzen gräbt! Widerwillig gestattet er ihr zu bleiben – ohne zu ahnen, was das für sein zurückgezogenes Leben bedeutet …


  • Erscheinungstag 08.11.2022
  • Bandnummer 94
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511438
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liz Tyner, Virginia Heath

HISTORICAL SAISON BAND 94

PROLOG

Es schmerzte, am Leben zu bleiben.

Vivian setzte einen Fuß vor den anderen und stützte sich dankbar auf ihre Begleiterin. Es hatte früh am Morgen geregnet, und noch gab es überall Pfützen. Vivian wusste, dass sie Flecken auf ihre Halbstiefeletten bekommen würde, aber sie hatte das Haus seit drei Monaten nicht mehr verlassen und würde mit Mavis diesen Spaziergang machen, komme, was wolle.

Am liebsten hätte sie ihre neuen Tanzschuhe getragen, aber die hatte sie aus einem Impuls heraus gekauft – ein weiteres Paar Schuhe, das sie nur tragen konnte, wenn sie allein war, und das sie dann verstecken musste, damit niemand erkannte, wie sehr sie sich wünschte, wieder auf eine Abendgesellschaft zu gehen.

Ihre ehemalige Gouvernante warf ihr einen Seitenblick zu, und Vivian lächelte. Sie würden es schon schaffen. Langsam gingen sie die Park Lane hinunter und kehrten dann um und schlenderten an den Stadthäusern vorbei, bis sie ihr Zuhause erreicht hatten.

Vivians Herz klopfte heftig. Vielleicht stimmte es, was die Ärzte ihrer Mutter gesagt hatten. Vielleicht sollte sie sich damit abfinden, dass sie ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben würde.

Sie bemerkte eine Stadtkutsche nicht, die jetzt die Geschwindigkeit verlangsamte. Zwei Männer in Livree brachten die Pferde zum Halten. Einer der Kutscher stieg gerade vom Bock, als Vivian und Mavis an der Kutsche vorbeikamen.

Mavis wich unwillkürlich aus, als eins der Pferde schnaubend den Kopf schüttelte, und kam damit der Kutsche sehr nahe. Im selben Moment wurde die Tür aufgestoßen und traf Mavis hart am Kopf.

Mavis’ Hut fiel herunter und enthüllte ihr silbergraues Haar. Und sie selbst brach bewusstlos zusammen. Entsetzt rief Vivian ihren Namen. Zu ihrer unendlichen Erleichterung bewegte Mavis sich ein wenig.

„Verzeihen Sie.“ Der Mann, der die Kutsche geöffnet hatte, stieß die Worte hastig hervor, packte Vivian bei den Armen und hob sie mühelos beiseite, als wäre sie leichter als eine Feder. Dann kniete er sich neben Mavis und untersuchte sie. Mavis stöhnte leise.

Eisige Furcht ließ Vivian erstarren.

„Jasper. Hol den Arzt!“, rief der Mann seinem Kutscher zu. Dann hob er die ältere Dame mit einer geschmeidigen, beherrschten Bewegung hoch. Der Stoff über seinen breiten Schultern spannte sich, aber seinem Gesicht war keine Anstrengung anzumerken.

Der Diener schnalzte mit der Peitsche, und die Pferde galoppierten gehorsam los. Währenddessen trug der Fremde Mavis mit langen Schritten zu einem der Stadthäuser.

Vivian stand noch immer regungslos da und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Verzweifelt sah sie dem Mann nach, der, ihre liebste Freundin in den Armen, davongestürzt war. Sie straffte die Schultern und nahm all ihren Mut zusammen. Entschlossen eilte sie, so schnell sie konnte, zur offenen Tür des Stadthauses, ohne zu wissen, wessen Haus sie eigentlich betrat. Nichts war jetzt wichtiger, als dass sie Mavis zur Seite stand.

Sobald Vivian die Eingangshalle erreicht hatte, fiel ihr auf, dass alles blitzte vor Sauberkeit, und aus irgendeinem Grund beruhigte das ihre Angst.

Ein Butler starrte sie an, den Mund geöffnet vor Verblüffung, als sie vor ihm innehielt. Er schien sich unsicher zu sein, ob er seinem Herrn folgen oder sich um sie kümmern sollte.

„Wo ist Mavis?“, fragte sie.

Er wies auf die Treppe. „Die Tür zu Ihrer Rechten.“

Vivian packte ihre Röcke mit beiden Händen und vergaß, was Mavis ihr über das richtige Benehmen einer Dame beigebracht hatte. Sie lief die Treppe hinauf und atmete schwer von der Anstrengung, während ihr Retikül ihr gegen die Beine schlug.

Oben angekommen, sah sie die besagte Tür und stürzte ins Zimmer, den Butler dicht auf den Fersen.

Mavis lag auf einem Sofa, und der hochgewachsene Herr kniete daneben, über sie gebeugt, sodass seine Schultern den Blick auf Mavis verhinderten. Vivian trat nach links und stellte erleichtert fest, dass ihre Freundin bei Bewusstsein war.

„Nur eine Beule.“ Mavis hob eine Hand, richtete sich ein wenig auf und berührte dabei ihre Nase. Als sie dann aber das Blut auf ihrer Hand sah, sank sie schwach in die Polster zurück.

Der Mann im schwarzen Frackrock drehte sich schnell zum Butler um. „Waincott, holen Sie Mrs. Rush.“

Der Diener zog sich augenblicklich zurück, um den Befehl auszuführen.

Erst jetzt schien der Mann Vivian zu bemerken. Er kam zu ihr und berührte beruhigend ihren Arm. „Meine Haushälterin wird ihr helfen. Sie wird wissen, was zu tun ist, bis der Arzt kommt.“

Er wandte sich wieder Mavis zu.

Kurz darauf rauschte eine ältere Frau an Vivian vorbei. „Ich kümmere mich um sie.“ Sie trug eine Schüssel mit Wasser in den Händen. „Machen Sie Platz, Mylord.“

Sie stellte die Schüssel auf den Tisch und beugte sich über Mavis, die etwas davon murmelte, dass sie Schmerzen habe.

„Welchen Tag haben wir heute?“ Die Haushälterin tauchte ein Tuch in die Schüssel.

„Den Tag, an dem ich einen Schlag auf den Kopf bekam.“

„Ja.“ Mrs. Rush umfasste behutsam Mavis’ Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich, um sie zu untersuchen. „Ihre Nase hat aufgehört zu bluten. Sie werden das prächtigste blaue Auge bekommen, das ich je gesehen habe. Lassen Sie mich das Blut wegwischen, damit ich die Verletzung besser einschätzen kann. Dann lassen wir uns eine schöne Geschichte einfallen, die Sie den Leuten erzählen können – dass eine eifersüchtige Debütantin Ihnen eine Ohrfeige verpasst hat.“

Mavis lachte.

Die Haushälterin wandte sich an Vivian. „Überlassen Sie sie ruhig mir. Sie hat einen Blutfleck auf ihrer Kleidung. Ich wasche ihn besser aus, bevor er sich festsetzt.“

„Wird sie wieder gesund?“, fragte Vivian ängstlich.

„Aber natürlich“, antwortete Mavis mit schon etwas kräftigerer Stimme. „Ich brauche nur einen Moment, um zu Atem zu kommen, Vivian, dann können wir gehen.“

Der Mann im schwarzen Frackrock heftete den Blick seiner eisblauen Augen auf so intensive Weise auf Vivian, dass sie glaubte, wäre er ein Künstler, hätte er gewiss aus der Erinnerung ein Porträt von ihr zeichnen können.

Dann sagte er zu Mavis: „Sie werden sich nicht von der Stelle rühren, bevor die Kutsche wieder zurück ist, der Arzt Sie untersucht hat und mein Kutscher Sie heimbegleiten kann. Und auch das nur, wenn der Arzt davon überzeugt ist, dass es Ihnen nicht schaden wird.“

Die Haushälterin wusch das Tuch in der Schüssel aus. „Ich werde entscheiden, ob Sie transportfähig sind oder nicht. Wir Frauen müssen doch zusammenhalten.“

Mavis kicherte.

Als Vivian sah, dass ihre Freundin lachen konnte, spürte sie, wie ihre eigene Kraft sie verließ. Sie kam sich vor wie eine Marionette, deren Fäden durchgeschnitten wurden. „Ich muss mich setzen, Sir.“

Sie spürte seine Finger hart auf ihren Armen, als wollte er ihr seine Kraft geben. „Sind Sie ebenfalls verletzt worden?“

„Nein“, flüsterte sie. „Jedenfalls nicht, bevor Sie meine Arme packten.“

Sie geriet fast ins Wanken, so schnell wie er sie losließ. Auf einmal war sie ganz atemlos. Der Mann vor ihr strahlte eine Kraft aus, wie sie es noch bei niemandem erlebt hatte, und ihr wurden die Knie weich. Dann sah sie aber die Warmherzigkeit in seinem Blick und fühlte sich seltsam getröstet.

Er legte ihr einen Arm um die Taille, und plötzlich waren seine breiten Schultern nicht mehr imposant und beängstigend, sondern eine Stütze. Der Mann führte sie in eine Bibliothek, in der es leicht nach Tabak roch. Dort ließ er sie auf einem so großen, bequemen Sessel Platz nehmen, dass sie sich augenblicklich darauf hätte zusammenrollen und einschlafen können. Nur langsam ließ er sie dann los, als fürchtete er, sie könnte vom Sessel gleiten. Seine Berührung löste Gefühle in Vivian aus, wie sie sie noch bei keinem Menschen vor ihm empfunden hatte.

„Der Anblick Ihrer verletzten Begleiterin hat Sie erschüttert“, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich …“ Sie lächelte schwach und zuckte mit den Schultern. „Ich liege im Sterben. Ich sah den Brief, den meine Mutter an meine Tante geschrieben hat, bevor sie ihn versiegeln konnte. Aber es ist noch ein Geheimnis. Keiner darf es erfahren.“ Sie hielt sich einen Zeigefinger an die Lippen, als wollte sie ihn bitten, Stillschweigen zu bewahren. „Es gibt keine Hoffnung.“

Ihr war sehr schwach zumute, aber in ihm sah sie alles verkörpert, was stark war. Er strahlte so viel Kraft aus, dass es sie mit Ehrfurcht erfüllte. Aber in diesem Moment sagte sein Blick ihr, dass er alles tun würde, damit sie sich wohlfühlte, und sie erschauerte unwillkürlich.

„Ich habe mich ein wenig überanstrengt.“ Sie setzte sich gerader auf. „Wir wären nur allzu froh, wenn Sie uns nachher mit der Kutsche heimfahren lassen könnten. Wir wüssten es wirklich sehr zu schätzen.“ Und dann betonte sie. „Ich wüsste es sehr zu schätzen.“

„Möchten Sie Wasser oder … oder Brandy?“

Sie winkte ab. „Ich mache mir Sorgen um meine Freundin.“

„Sie ist bei Mrs. Rush in guten Händen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Mir tut der Unfall sehr leid.“

„Wenn Mavis sich nur wieder erholt, werde ich Ihnen verzeihen.“ Sie begegnete seinem Blick. Er wusste, dass sie ihm bereits verziehen hatte.

„Dann müssen wir dafür sorgen, dass sie sich erholt.“ Er trat an eine Anrichte, auf der eine Karaffe und Gläser standen, und drehte sich noch einmal zu Vivian um. „Sind Sie sicher?“

Sie nickte. „Ich muss mich nur ausruhen. Meine Krankheit macht so müde.“

„Was ist das für eine Krankheit?“

Sie zögerte nur kurz. „Ich hatte einen Reitunfall, bei dem ich mir die Seite verletzte, und ich habe mich nicht davon erholt. Ich nehme mehr und mehr Medikamente und werde schwächer und schwächer. Der Arzt sagt, meine Galle sei gereizt und meine Körpersäfte seien völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Er rechnet nicht damit, dass ich mich erhole.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Das hat meine Mutter jedenfalls an meine Tante geschrieben. Der Arzt sagt mir gegenüber nur, dass diese Dinge Zeit bräuchten und er mich schon bald wieder tanzen sehen werde.“

„Ich kann meinen Arzt bitten, mit Ihnen zu sprechen, nachdem er Ihre Freundin untersucht hat.“

Der Gedanke war verlockend. Vielleicht noch eine letzte Chance? „Wer ist Ihr Arzt?“

„Gavin Hamilton.“

Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Er hat mich bereits untersucht. Nicht lange nachdem Mutters Arzt anfing, sich Sorgen zu machen. Hamilton konnte nichts Ernsthaftes entdecken. Er meinte, ich würde schon bald wieder gesund sein. Der Arzt meiner Mutter war sehr böse, als er erfuhr, dass wir einen weiteren Arzt konsultiert hatten. Und er sagte, der Mann müsse blind sein, wenn er nicht einmal das Offensichtliche sehen könne. Und dann erhöhte er die Dosis meiner Medikamente und verordnete noch mehr Wärmepflaster. Wir haben so viele Fläschchen von der Fowler’schen Lösung im Haus, dass wir eine Apotheke eröffnen könnten.“

„Sie müssen sich noch einmal mit Hamilton unterhalten. Er ist der beste Arzt in ganz London. Schaden kann es ja nicht. Versüßen Sie dem Mann seine Arbeit, indem Sie ihm erlauben, sich um eine so charmante Patientin wie Sie zu kümmern.“

Sie lachte und schüttelte den Kopf. „Mutters Arzt hat die ganze Familie schon betreut, bevor sie geboren wurde. Sie vertraut ihm.“

Im nächsten Moment war er neben ihr. „Sie werden Hamilton erlauben, sich selbst ein Bild zu machen“, sagte er mit sanfter Stimme, aber seine Worte waren dennoch ein Befehl.

„Er kann mir nicht helfen.“

Plötzlich strich er ihr eine Locke aus der Stirn, und seine Berührung beruhigte sie seltsamerweise.

„Dieser Sessel ist so bequem.“ Sie legte die Hände auf das weiche Leder. „Er duftet nach einem neuen Paar Reitstiefel. Ich könnte auf der Stelle einschlafen.“

„Ich weiß nicht, wonach der Sessel duftet.“ Wieder strich er ihr über die Stirn. „Aber die Dame in ihm duftet nach Rosen – so wunderbar, als wäre sie ein ganzer Rosengarten.“

Sie lächelte über sein Kompliment. Dann seufzte sie. „Wissen Sie, es macht mir nicht so viel aus, krank zu sein. Ich wünschte nur, ich hätte mehr Zeit zum Leben gehabt. Man gestattet mir nicht mehr, an Gesellschaften teilzunehmen, weil meine Mutter fürchtet, die Anstrengung könnte meinen Zustand verschlimmern. Und so schickt sie alle Einladungen zurück.“

Er zog einen Schemel zum Sessel heran und setzte sich darauf. Dann ergriff er ihre Hand, und selbst durch das Rehleder des Handschuhs hindurch gelang es ihm, ihr etwas von seiner Stärke zu übertragen.

„Sie sollten tanzen. Sie sollten jeden Augenblick genießen“, sagte er wie ein Vater, der mit seinem Lieblingskind spricht.

„Seit meinem Unfall verhätschelt und bewacht meine Mutter mich mehr als ein Neugeborenes. Sie weint, wenn sie mich tanzen sieht, weil sie Angst hat, ich überfordere mich. Jetzt hält sie gerade ein Nickerchen, sonst hätte sie mir verboten, das Haus zu verlassen.“

„Sie liebt Sie eben. Ich erinnere mich nicht, je so verhätschelt worden zu sein.“

„Oh, es würde Ihnen nicht gefallen.“ Sie schauderte. „Es ist so leicht, in die Falle der Bequemlichkeit zu fallen. Ich bekam eine Limonade, bevor ich wusste, dass ich durstig war, und ein Schultertuch, bevor es kühl wurde. Nach dem Unfall engagierte meine Mutter gleich zwei Zofen für mich.“ Vivian lachte. „Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn Sie sich einfach nur ausruhen wollen, aber von Ihren Dienern ständig beobachtet und gefragt werden, ob Sie etwas bräuchten? Einmal schickte ich das eine Mädchen los, mir neue Handschuhe zu kaufen, und das andere, Konfekt zu besorgen.“ Sie stieß einen zufriedenen Seufzer aus. „Ich hatte einen ganzen Nachmittag lang meine Freiheit.“

„Ihre Mutter will nur das Beste für Sie“, meinte er mit seiner tiefen Stimme, die Vivian als so wohltuend empfand, dass sie wünschte, sie könnte stundenlang hier sitzen und ihm zuhören.

Er hielt noch immer ihre Hand, und Vivian wurde bewusst, dass sie sich ihm enger verbunden fühlte als irgendjemandem sonst – nicht einmal Mavis. Es war das erste Mal, dass ihre Krankheit ihr einen Vorteil eingebracht hatte.

Sie beschloss, dass ihr Unfall und alles, was sie durchgemacht hatte, ihr das Recht gaben, sich ein wenig über die Regeln der Schicklichkeit hinwegzusetzen. Er saß wahrscheinlich viel zu dicht neben ihr für einen Mann, dem sie gerade eben erst begegnet war. Und er sah recht interessant aus, wenn man ihn wohl auch nicht ausgesprochen gut aussehend nennen konnte. Dafür war sein Kinn ein wenig zu kräftig, sein Haar nicht lockig, wie es die Mode verlangte. Aber es stand ihm. Vivian gefiel sehr, was sie sah, und das eigentlich schon seit sie ihn mit Mavis in den Armen hatte davongehen sehen.

Andererseits gehörte es sich sicher nicht für eine junge Dame, darüber nachzudenken, wie muskulös und stark seine Schenkel waren, wie breit seine Schultern.

„Ich wünschte einfach nur, ich könnte sein wie alle anderen jungen Mädchen, die Abendgesellschaften besuchen und mit freundlichen jungen Gentlemen flirten und Walzer tanzen.“ Ihre Stimme klang wehmütig.

„Was halten Sie davon, mit einem nicht ganz so freundlichen Gentleman zu flirten?“, flüsterte er und lehnte sich so dicht zu ihr herüber, dass sie sein Eau de Cologne wahrnahm. So nah war sie noch keinem Mann außer ihrem Vater gewesen.

„Wenn es alles ist, was ich bekommen kann, nehme ich es gern.“ Sie genoss seine Gegenwart. „Kennen Sie denn solche Gentlemen?“

„Im Moment nur einen“, sagte er leise, stand auf, ergriff dabei auch ihre andere Hand und zog Vivian auf die Füße. „Schenken Sie mir diesen Walzer?“

Er hob ihre rechte Hand hoch und legte ihr seine andere Hand auf die Taille.

„Ich fürchte, ich bin zu müde zum Tanzen“, entschuldigte sie sich und wollte sich von ihm lösen, aber er gab sie nicht frei.

„Sie brechen mir das Herz.“ Sein aufrichtiger Ton ließ seine Worte wahr klingen, ob er sie nun ernst meinte oder nicht.

Vivian wollte ihn zunächst sanft von sich schieben, doch dann ließ sie die Hand auf seiner Schulter liegen. „Mir tut es auch leid. Einen solchen Partner zu haben und doch keinen Walzer tanzen zu können. Aber ich …“ Sein Mitgefühl rührte sie. „Ich habe jetzt gar nicht das Gefühl, dass mir etwas entgeht. Schon dass Sie mich gebeten haben, ist ebenso gut wie der Tanz selbst.“

Er hielt sie wieder, als wollte er gleich die ersten Schritte mit ihr wagen. „Es ist mir eine Freude, Ihnen zu helfen.“

Im Raum war es vollkommen still. Vivian konnte nur die Straßenhändler vor dem Haus rufen hören.

„Mir fällt gerade ein, dass wir uns gar nicht vorgestellt worden sind.“

„Vielleicht ist es besser so.“ Sie berührte seinen Rockaufschlag. „Dann können wir vorgeben, dies wäre nie passiert.“

Er legte ihr beide Hände auf die Taille. Vivian trug kein Korsett, da sie so dünn geworden war, dass es nichts gab, das hätte gebändigt werden müssen. Und so ging seine Berührung ihr durch und durch und erfüllte ihren ganzen Körper mit plötzlicher Kraft.

„Ich werde nicht vorgeben, dass es nie geschehen ist, wenn ich auch keinen Grund sehe, es vor jemandem zu erwähnen.“ Er zog sie dichter an sich. „Eine Erinnerung wie diese sollte ausgekostet werden.“

„Ich werde auch sehr gern daran zurückdenken.“ Sie strich über seine Brust, erstaunt darüber, wie fest und hart er sich anfühlte.

„Ich vermute, Sie haben beschlossen, dass ich Sie zu Ihrer Begleiterin zurückbringen soll. Sehr weise von Ihnen.“

Ja, es war weise von ihr. Aber sie wollte nicht weise sein. Sie wollte ihr Leben genießen wie andere Frauen. Ihr fehlten die Gesellschaften und die Musik, und ihr fehlte alles, was über ihre vier Wände hinausging.

Und jetzt wurde ihr eine Gelegenheit geboten. Als hätte sie einen Regenbogen entdeckt. Wenn die Regenwolken sich verzogen und der Himmel in den wundervollsten Farben erstrahlte, konnte sie sich nicht an ihnen sattsehen. Später waren sie jedoch nicht mehr als eine Erinnerung, kurz bevor sie einschlief.

Ein Wunder, das für Vivian vielleicht nie wiederkehren würde.

Genau wie der Mann vor ihr.

Es war, als hätte dasselbe Glück, das den Regenbogen erschaffen hatte, jetzt alles darangesetzt, ihr die letzte Gelegenheit zu schenken, etwas zu erleben, was sie bisher versäumt hatte. Sie war in der Erwartung aufgewachsen, eines Tages einen Verehrer zu haben, mit dem sie die Abende verbringen würde, mit dem sie Händchen halten und vielleicht sogar einen Kuss tauschen würde. Und dass er derjenige sein würde, auf den sie immer gewartet hatte.

Doch die Zeit des Wartens war abgelaufen. Jetzt zählte Vivian nur noch Minuten, keine Tage.

Er sah sie mit einem so freundlichen Mitgefühl an, dass Vivian allen Mut zusammennahm. Obwohl sie keinen Mut brauchte, denn sein Ausdruck sagte ihr, dass sie alles zu ihm sagen konnte, was sie wollte. Er würde sie weder kritisieren noch missbilligen.

„Wissen Sie, ich bin noch nie geküsst worden.“ Sie sah ihn erwartungsvoll an. Es war ihre letzte Gelegenheit, das wusste sie. Mit einem jungen Freund, den sie einmal gehabt hatte, war sie nie so kühn gewesen, und sie hatte es zutiefst bereut, nachdem er fortgegangen war.

Ganz besonders, als ihr klar geworden war, dass es ihre letzte Chance gewesen sein könnte.

„Nie?“ Er hob die Augenbrauen.

„Nun, auf die Handschuhe. Aber das war nicht sehr aufregend. Einmal habe ich eins der Küchenmädchen sich mit dem Stallburschen davonschleichen sehen. Er hat sie geküsst, und sie schien überhaupt nichts dagegen gehabt zu haben. Sie machten beide einen ganz überraschten Eindruck.“

Er trat zurück und hielt auf die Tür zu, ohne Vivians Hand loszulassen. Dort angekommen, schloss er die Tür und zog Vivian energisch an sich. Er stand eine Armeslänge von ihr entfernt, die Hand leicht auf ihrer Taille, den Blick eindringlich auf ihrem Gesicht.

„Sie müssen eines wissen“, sagte er mit ernster Stimme. „Darüber nachzudenken, wie ein Kuss sich anfühlen mag, ist eine Sache. Aber wenn Sie einen bekommen haben und es Ihnen gefällt, Sie aber keinen zweiten haben können, werden Sie vielleicht nicht mehr so glücklich sein wie zuvor.“

„Da haben Sie vielleicht recht.“ Sie seufzte. „Wahrscheinlich sollte ich mich schicklich benehmen. Ich habe immer getan, was sich schickt, und sollte wohl besser dabei bleiben.“

„Immer?“

Sie neigte den Kopf. „Bis jetzt. Weil ich mir ein wenig leidtat, nehme ich an, und mir aufging, dass ich vielleicht nicht mehr viele Gelegenheiten haben würde, mich unschicklich zu benehmen.“

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihn noch einmal um einen Kuss bitten sollte. Doch dann bewegte er sich kaum merklich und nahm sie in die Arme. Sein Körper schmiegte sich an ihren, und Vivian spürte seine starken Hände. Nie gekannte Gefühle durchströmten sie so schnell, dass es ihr nicht gelang, sie für sich zu benennen. Es war, als wäre sie in einem Traum gelandet, in einer Zauberwelt.

„Ich werde vielleicht ein schlechtes Gewissen bekommen“, sagte er und musterte sie eindringlich. „Aber damit werde ich fertig. Wie ist es aber mit Ihnen?“

„Das würde ich gern herausfinden.“

Sein Mund berührte ihren – kaum merklich und so kurz, dass es war, als hätte er sie mit einer Feder gestreichelt.

Vivian wurde heiß. Neue Kraft erwachte in ihr.

Als er sie freigab, war sie wieder in ihrer vertrauten Welt. Er beobachtete sie aufmerksam.

Jetzt, da sie wusste, was ein Kuss war, konnte sie zufrieden sein, zurücktreten und sich über diese neue Erfahrung freuen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie wollte aber nicht zurücktreten. Sie wollte noch einen Kuss.

Es war eine tiefe Enttäuschung. Nur ein Kuss. Es war im Grunde wie jener erste Schimmer eines Regenbogens, wenn er verblasste, bevor seine Farben vollkommen erstrahlen konnten. Die Tatsache, dass ihr die Worte fehlten, um es zu beschreiben, schnürte ihr die Kehle zu.

Sie konnte ihm nicht sagen, wie wundervoll der Kuss gewesen war, wie viel er ihr bedeutete und dass sie ihn für den Rest ihres Lebens in ihrem Herzen behalten würde. Vivian konnte diese Wahrheit nicht in Sätze fassen. Dieser aufregende Mann hatte ihre Frage beantwortet, aber falls sie ihm sagte, was sie empfand, wäre es, als wollte sie um mehr bitten, was wirklich ausgesprochen unschicklich gewesen wäre. Sie musste wenigstens den letzten Rest von Würde retten, der ihr noch geblieben war. „Es war zufriedenstellend.“

„Zufriedenstellend?“, wiederholte er und ließ die Augenbrauen in die Höhe schnellen.

Sie sah ihn unsicher an. Wie sollte sie ihm sagen, dass er recht gehabt hatte – dass ein Kuss ihr wirklich nicht reichte?

„Danke. Das war sehr freundlich von Ihnen.“ Sie tätschelte ihm den Arm und lächelte ihn an.

Er schien kurz nachzudenken. Dann nahm er ihr Gesicht zwischen beide Hände und küsste sie wieder, und dieses Mal erweckte er den Regenbogen vollkommen zum Leben.

Vivian spürte, wie er die Fingerspitzen über ihren Rücken gleiten ließ, bis er ihre Taille erreichte und sie umfasste. Die Intensität seines Kusses gab ihr das Gefühl, dass sie eins wären. Alles in ihr blühte auf.

Seine Lippen erforschten ihren Mund mit einer Zärtlichkeit, die allmählich immer fordernder wurde. Hätte er sie nicht in seinen Armen gehalten, wäre sie zu Boden gesunken. Vor Aufregung erzitterte sie.

Jetzt wich er zurück, ließ sie aber nicht los. „Und Ihr erster wirklicher Kuss? Zufriedenstellend?“

Mühsam fand sie die Sprache wieder. „Über alle Maßen. Sie schmecken, wie Schießpulver schmecken würde, wenn eine Frau es erfunden hätte – rauchig und zugleich schillernd und … und noch so vieles mehr.“

Er lächelte und küsste sie auf die Nasenspitze. Dann beugte er den Kopf, legte seine Lippen auf ihre und versetzte sie erneut an jenen Zauberort, nur dieses Mal noch tiefer, noch aufregender. Ihre Körper schienen zu einem zu verschmelzen.

Mit seinem Mund, seiner Zungenspitze und seinem ganzen Körper ließ er ihr ganzes Sein in Flammen aufgehen.

Schließlich löste er sich von ihr. Atemlos hob sie den Kopf und sah, dass seine blauen Augen dunkel geworden waren. Nach einigen Momenten sagte er: „Ich glaube, wir sollten nachsehen, wie es Ihrer Freundin geht.“

Vivian atmete tief durch. „Ja, das sollten wir.“

Er lehnte die Stirn an ihre und flüsterte sanft: „Meine Kleine, Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich nichts mehr genießen würde, als Sie alles zu lehren, was Sie über das Küssen erfahren möchten, über den Körper eines Mannes, über seine Begierden und Ihre eigenen Gefühle. Es wäre ein Traum.“

Seine Lippen berührten fast Vivians. „Aber es steht mir nicht zu, Ihnen diese Dinge beizubringen, und ich möchte mir nicht vorstellen, wie Sie nachts allein wachliegen und unsere Zeit zusammen bereuen, oder bereuen, dass wir nicht mehr zusammen sein können.“

Er trat endgültig zurück. „Ich könnte nicht glücklich sein, nur ein wenig von Ihnen zu besitzen und Sie gehen lassen zu müssen. Und ich fürchte sehr, dass Sie eine Frau sind, nach der ich mich nachts sehnen könnte. Sie sollten wirklich zu Ihrer Freundin zurückgehen. Wenn schon aus keinem anderen Grund, als um meinen ruhigen Schlaf zu retten.“

„Ich glaube, ich habe mir den richtigen Mann für meinen ersten Kuss ausgewählt.“ Sie strich ihm kurz übers Kinn und hörte ihn leise lachen.

Sie wollte nicht gehen, aber sie wusste, dass ihr keine Wahl blieb. Als sie nach der Türklinke griff, war seine Hand schneller. Er öffnete die Tür und wich sofort zur Seite, um Vivian in den Flur hinaustreten zu lassen. „Die Kutsche steht zu Ihrer Verfügung, solange Sie sie brauchen.“

Statt ihr zu folgen, schlug er die andere Richtung ein und verschwand im Inneren des Hauses. Vivian war zutiefst enttäuscht, aber sie wusste, dass er das einzig Richtige tat.

Vivian unterbrach das Gespräch zwischen Mrs. Rush und Mavis nicht. Mavis hatte sich auf dem Sofa aufgesetzt, die Arme vor der Brust verschränkt und einen grimmigen Zug um den Mund. „Ich brauche keinen Arzt.“

„Ich schicke jemanden zu ihm, um ihm zu sagen, dass er nicht zu kommen braucht“, entgegnete die Haushälterin.

Mavis stimmte ihr zufrieden zu.

„Sie haben eine Beule am Hinterkopf und einige schöne blaue Flecken. Und einen Kratzer auf der Nase“, fuhr Mrs. Rush fort, während sie Mavis weiter untersuchte. „Keiner muss Sie abtasten oder abhorchen, meine Liebe.“

„Ich fühle mich auch schon viel besser.“

„Eine Dame kümmert sich am besten selbst um sich, wenn ihr etwas fehlt.“ Mrs. Rush ließ das Tuch in die Wasserschüssel fallen. „Als ich jung war, liefen wir nicht ständig zu einem Arzt, sobald einmal die Nase blutete. Wir lernten schnell, selbst mit allen Wehwehchen fertigzuwerden.“

„Ich habe mein ganzes Leben lang keinen Arzt nötig gehabt.“ Mavis straffte die Schultern. „Und deswegen bin ich auch so gesund.“

„Bist du also bereit, nach Hause zu gehen?“, warf Vivian ein und trat vor. Allmählich begann sie sich Sorgen zu machen, ihre Abwesenheit könnte zu Hause bemerkt werden.

Mavis schüttelte den Kopf. „Bald, meine Liebe. Ich bin noch ziemlich erschöpft.“ Sie wandte sich wieder an die Haushälterin. „Der Tee, um den Sie das Dienstmädchen gebeten haben, sagten Sie, es sei Zitronenmelisse mit Kamille?“

Mrs. Rush nickte. „Eine geheime Mischung, die mir meine Tante gezeigt hat.“

Vivian entdeckte einen weiteren Sessel wie den in der Bibliothek – der Hausherr mochte es offensichtlich bequem –, setzte sich und entspannte sich.

„Und ich kenne auch das beste Rezept für jugendliche Haut“, flüsterte Mrs. Rush.

„Oh.“ Mavis beugte sich vor. „Das müssen Sie mir unbedingt verraten.“

„Nun, so leicht gebe ich es sonst nicht preis, aber bei Ihnen mache ich eine Ausnahme.“

Vivian spürte, wie sie müde wurde, und lehnte sich in die Polster zurück. Sie begann zu dösen und von Schmetterlingen mit attraktiven, breiten Schultern zu träumen. Sie hatten lange Wimpern und wunderschön geschwungene Lippen, die fest und doch zärtlich waren. Und sie betrachteten sie mit Augen, die so klar und so blau und so tief waren, dass es ihr vorkam, als würde sie in leicht getöntes Glas blicken, als könnte sie sich hineinfallen lassen und von dieser wundervollen Farbe umgeben sein – von dieser himmelblauen Welt mit ihrem strahlenden Sonnenschein.

Sie tauchte langsam aus ihrem Traum auf, noch immer ganz erstaunt, dass Schmetterlinge so attraktiv sein konnten. Dann spannte sie sich an, als ihr bewusst wurde, dass man sie anstarrte.

Beide Frauen – eine leicht zerzauste Mavis und die Haushälterin – waren über sie gebeugt und blickten sie prüfend an.

„Sie glauben, es könnte helfen?“, fragte Mavis die Haushälterin.

„Wir haben nichts zu verlieren“, antwortete Mrs. Rush, ohne den Blick von Vivian zu lösen.

„Was denn?“, fragte Vivian unruhig.

„Meine Liebe, habe ich dich je enttäuscht?“, meinte Mavis mit einschmeichelndem Lächeln, das nicht von dem Veilchen in ihrem Gesicht ablenken konnte.

1. KAPITEL

Fünf Tage später saß Vivian in einer Mietdroschke und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Wenn Mama das herausfindet, wird sie mich in meinem Zimmer einsperren.“

Mavis ließ sich auf den Sitz ihr gegenüber fallen. Das Häubchen rutschte ihr bis zum Ohr. „Ich versichere dir, für mich ist es auch kein Vergnügen. Wenn wir deine Mama nicht davon überzeugt hätten, dass es dir ein wenig besser geht, hätte sie niemals deinen Papa zu einem Besuch bei ihrer Schwester begleitet.“

Durch das Fenster konnte Vivian Dorn- und Stechginsterbüsche sehen. „Wir entfernen uns aus London. Auf einem zerfurchten Landweg. Und der Himmel überzieht sich mit Wolken – mit dunklen Wolken. Wenn es regnen sollte, kommen wir womöglich tagelang nicht mehr von dort fort.“

„Wenn das passiert, werden deine Eltern von unserem Ausflug erfahren und mich auf die Straße setzen.“ Mavis beugte sich leicht vor und berührte Vivians Knie. „Aber es blieb uns keine Wahl. Du zitterst jetzt noch mehr und bist schwächer, das ist mir nicht entgangen. Vielleicht kann diese Frau helfen. Mrs. Rush schwört jedenfalls auf sie. Sie soll viel reisen und die Heilmittel studieren, die andere anwenden.“

„Das bedeutet nicht, dass diese Mittel auch wirken.“

„Aber auch nicht, dass sie nicht wirken. Wir mussten fahren, während deine Mutter deine Tante besucht, weil sie dir sonst verboten hätte, auszufahren. Wenn du nicht so krank wärst, würde ich diese Landstreicherin niemals an dich heranlassen. Sie behauptet, helfen zu können, aber natürlich kann sie auch eine Schwindlerin sein, die sich bereichern will. Andererseits sagt Mrs. Rush, sie vertraue niemandem so sehr wie ihr. Diese Frau behandelt die Ärmsten unter den Armen ohne Entgelt und sagt, sie verlange dafür das Doppelte von den Reichen. Mrs. Rush sagt, diese Frau – Ella Etta heißt sie – habe ihren Sohn gerettet.“ Mavis senkte den Kopf und flüsterte eindringlich: „Vivian, wir müssen es versuchen. Der Arzt hat dir nicht geholfen, dabei versucht er es schon seit Jahren. Er hatte seine Chance. Mehr als eine.“

„Mein ganzes Nadelgeld haben wir für diese Mietdroschke verbraucht.“

Mavis tätschelte ihr wieder das Knie. „Und die silberne Vase aus deinem Zimmer. Ich bin nicht sicher, wie ich das deiner Mutter erklären werde.“

„Oh, Lady Darius“, sagte Vivian mit übertrieben süßer Stimme, „die Vase, fragen Sie? Wir benutzen sie doch kaum, und ich brauchte etwas Bargeld, um Ihre Tochter tief in den Wald zu entführen und sie einer zwielichtigen Person vorzuwerfen, die dort lebt. Ihre Tochter? Vivian? Nein, ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen. Was für ein zimperliches kleines Ding. Sie hat mir die Ohren vollgequakt mit ihren Beschwerden darüber, dass die Kutsche über ein Loch in der Straße gefahren sei. Als ob ich persönlich es dort gegraben hätte.“

Mavis öffnete ihr Retikül, holte ein Taschentuch hervor und betupfte sich damit die Stirn. „Du schlägst dich zum Glück wacker. Denke nur immer daran, dass alles gut wird. Stell dir nicht vor, dass wir im Wald verschwinden werden, für immer verschollen. Bis man eines Tages nur noch unsere verwitterten Knochen vorfindet“, murmelte sie vor sich hin. „Meine Knochen sind jetzt schon fast in diesem Zustand.“

Die Kutsche holperte weiter. Bis Mavis feststellte: „Wir werden langsamer. Ich hoffe, wir sind endlich an unserem Ziel. Ansonsten …“

Vivian sah aus dem Fenster. Sie entdeckte zwei Wagen, einen Eselskarren und eine Hütte, die aussah, als wäre sie aus Schmutz und Abfällen zusammengeschustert worden.

„Mrs. Rush sagte, sie würden hier sein“, meinte Mavis. Die Tür wurde geöffnet und die Stufen heruntergelassen. Mavis gab Vivian einen Klaps aufs Bein. „Hinaus mit dir. Benimm dich wie eine vornehme junge Dame allererster Güte. Das hier sind einfache Leute. Sie erwarten das von dir.“

Behutsam stieg Vivian aus und war froh, dass ihre Beine sie trugen.

Der Kutscher schien geneigt zu sein, sie ohne weitere Worte zu verlassen. Vivian konnte nur hoffen, dass er sich daran erinnerte, was sie ihm gesagt hatte. Sie hatte betont, wie aufgebracht ihr Vater sein würde, falls seiner einzigen kostbaren Tochter etwas zustoßen sollte. Allerdings hatte sie wohlweislich nicht hinzugefügt, dass ihr Vater auch so betrunken sein könnte, dass er gar nicht mehr wusste, ob er eine Tochter hatte oder nicht.

In diesem Moment tauchte ein Mann mit grau meliertem Haar neben dem Wagen auf, der unter einem Ahorn stand, und nickte ihnen knapp zu. Sie hörte einen Ruf. Offenbar rief er nach jemandem, aber Vivian verstand den Namen nicht.

Der Mann kam nicht näher, aber er setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, die Beine hochgezogen und die Arme auf den Knien, und beobachtete die beiden Frauen.

Mavis senkte die Stimme und bewegte kaum die Lippen. „Er tut so, als fürchtete er, wir könnten etwas stehlen.“

Dann erschien Ella Etta. Sie trug etwas, das wie eine Männerjacke aussah, und Stiefel. Ein zerrissener gelber Rock reichte ihr bis zu den Knöcheln. Um ihren Hals hatte sie einen roten Schal geschlungen, der im Wind flatterte.

Vivian richtete sich gerader auf und machte einige Schritte vorwärts. Es machte sie etwas nervös, sich zwischen den dunklen Bäumen zu bewegen. Das beunruhigende Gefühl überkam sie, dass der Wald sich um sie schließen wollte und dass dem Wachposten, der den Boden vor sich zu mustern schien, keiner ihrer Schritte entging.

Die Landstreicherin hatte sich mit so vielen Kleidungsstücken umwickelt, dass Vivian dachte, sie müsste darin ersticken. Ihre Finger erinnerten an mit Ringen behängte Hühnerknochen.

„Ich hörte …“ Vivian erzitterte innerlich, aber sie sah der alten Frau direkt ins Gesicht und ignorierte ihren neugierigen Blick. „Ich hörte Geschichten über Ihre Fähigkeiten.“

Ella Etta lächelte selbstzufrieden und zeigte starke, gesunde Zähne.

Verzagt hätte Vivian fast dem Wunsch nachgegeben, zu behaupten, sie hätte sich verirrt, und zu fragen, wo sich das nächste Dorf befinde, um dann zu fliehen. Das zerfurchte Gesicht der alten Frau – jeder Tag ihres Lebens hatte sich darauf eingegraben – drückte eine Selbstsicherheit aus, vor der Vivian zurückwich. Aber sie konnte sich nicht in Sicherheit bringen. Der Unfall hatte das unmöglich gemacht.

Ella Etta berührte die Creole, die von ihrem Ohr hing und halb von einem Tuch versteckt wurde. „Man sagt sich, die Sterne bitten mich um meine Einwilligung, bevor sie ihren Ort wechseln. Natürlich nur dummes Geschwätz.“ Sie schnaubte. „Die Leute sollten von den größeren Dingen reden, die ich vollbringe. Gestern Morgen wollte ich aufstehen, bevor die Sonne aufging, aber auch noch etwas länger schlafen. Also verschob ich den Sonnenaufgang, so lange es mir passte. Davon wird nichts erwähnt.“

Vivian schnalzte leise mit der Zunge und legte den Kopf leicht auf die Seite. „Das waren Sie? Nun, ich kann mich nicht beklagen, da ich ebenfalls ein wenig länger im Bett bleiben wollte. Vielen Dank.“

Ella Etta nickte ernst. „Mein erstes Geschenk an Sie. Das zweite wird mehr kosten. Und wer sind Sie also?“

„Vivian Darius.“

Die alte Frau hob die Augenbrauen und musterte Vivian eindringlicher. „Die Tochter eines Barons. Lord Darius.“

Vivian nickte. „Ich bin beeindruckt.“

„Ich lese vielleicht nicht die Times, aber ich lese die Hand. Das ist dasselbe.“ Ella Etta runzelte die Stirn.

„Ich brauche Ihr Heilmittel“, sagte Vivian.

Die alte Frau zuckte mit den Schultern. „Sie wurden verletzt in …“ Sie machte eine weit ausholende Geste mit einem Arm, und die Leute, die zugesehen hatten, verloren das Interesse und gingen ihrer Arbeit nach. „Von einem Pferd.“

„Ja. Ich wurde von einem Pferd abgeworfen. Vor Jahren. Und ich habe mich nicht davon erholt, wie viele Medikamente ich auch einnehme. Man hat mir so viele Mittel gegeben, dass ich schon tausendmal hätte gesund werden müssen, aber kein einziges davon hat gewirkt.“

Ella Etta nickte, gab Vivian und Mavis ein Zeichen, ihr zu folgen, und trat auf eine Feuerstelle zu. „Mittel“, wiederholte sie. „Kleine Fläschchen?“

„Fläschchen in allen Größen.“

Sie führte Vivian und Mavis zu mehreren Baumstümpfen, die man als Sitze verwendete. Drei Stangen, die miteinander vereint waren, dienten dazu, einen schweren, brodelnden Topf an einer Kette über heißen Kohlen hängen zu lassen. Vivian stieg der Duft von Fleisch in die Nase, der mindestens so verführerisch war wie alles, was aus den Töpfen ihrer Köchin zu Hause kam.

Sie zupfte ihren Rock zurecht, um sich setzen zu können, ohne ihn zu zerknittern.

„Nein“, brachte Ella Etta krächzend hervor und deutete auf einen Sitz in ihrer Nähe. Vivian begab sich zu dem Baumstumpf, der ihr gewiesen wurde, und war der Frau jetzt so nahe, dass ihre Rocksäume sich berührten.

„Es ist etwas zu warm, neben den Kohlen zu sitzen.“ Ella Etta benutzte das Ende ihres Tuchs, um sich Luft zuzufächeln. „Aber die Brise ist kühl, und das Kaninchenfleisch riecht angenehm.“

Vivian hörte Mavis dicht hinter sich Platz nehmen.

„Man hat mir gesagt, Sie hätten Medizin, die mich heilen kann“, sagte Vivian und versuchte, nicht allzu hoffnungsvoll zu klingen.

Ella Etta streckte eine Hand aus. „Zeigen Sie mir Ihre Handfläche.“

Vivian zog ihren Handschuh aus und ließ ihn in ihren Schoß fallen. Sie zwang sich, nicht zusammenzuzucken, als sie die raue Haut der Frau auf ihrer Hand spürte.

Ella Etta sah prüfend auf ihre Handfläche. Dann untersuchte sie Vivians Fingernägel und drückte auf die Haut unter ihren Wangen, sodass Vivian unwillkürlich die Zähne zusammenbiss.

„Sie sollen meine Hand untersuchen“, sagte sie verwirrt. „Ich dachte, Sie sind teils Wahrsagerin, teils Kupplerin und teils Kräuterfrau.“

„Ich schaffe Probleme aus der Welt.“ Sie sah Vivian mit einem seltsamen Leuchten in den Augen an, und dann kniff sie sie ins Kinn.

Vivian wich zurück. „Ich bin kein Pferd.“

Ungerührt fuhr die Frau fort, Vivians Haut zu prüfen. „Pferde behandle ich auch. Die beschweren sich nie.“

Dann beugte sie sich vor. Sie roch genau wie die Köchin zu Hause, nur würziger.

„Der Preis ist hoch.“ Sie lachte vor sich hin, als wären Vivian und Mavis gar nicht da. „Aber ich kann Sie vielleicht retten, und wenn ich es nicht schaffe, werden Sie nicht kommen, um Ihr Geld zurückzuverlangen.“

Vivian sah sie befremdet an. „Sie sind ein böser Mensch.“

„Nein, ich bin Ella Etta. Die böse Etta war meine Mutter.“

„Das ist alles Unsinn, und ich bin müde.“ Vivian erhob sich.

Die alte Frau schüttelte den Kopf, woraufhin Vivian sich wieder setzte. „Ich kann Sie nicht ohne meine Medizin gehen lassen.“ Sie winkte jemandem zu, und ein Mann kam hinter den Bäumen hervor. In den Händen trug er etwas, das wie ein Bündel Dornen aussah, und übergab es Ella Etta.

Sie hielt das Dornennest mit beiden Händen so, dass Vivian es sich ansehen konnte. Am oberen Ende befand sich ein Stöpsel. Die Dornen umgaben eine Flasche. „Folgen Sie meinen Worten genau, wenn Sie leben wollen.“

„Zuerst muss ich hören, was Sie zu sagen haben, dann werde ich mich entschließen“, erwiderte Vivian mit fester Stimme.

Die alte Frau lachte glucksend, doch dann wurde sie wieder ernst. „Sie versuchen zu feilschen, aber ich ändere den Preis nicht.“

Vivian reckte stolz das Kinn. „Sagen Sie schon. Ich möchte Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten.“

Ella Etta nickte. „Ihr Preis ist, den Sohn des Earls zu heiraten, der in dem großen Haus wohnt, an dem Sie auf Ihrer Reise hierher vorbeigefahren sind.“

Verwundert versuchte Vivian, sich zu erinnern. Sie hatte kein Herrenhaus gesehen. Und den Sohn des Hauses heiraten? Unsinn!

„Vielen Dank. Nein.“ Sie stand auf, und ihr Handschuh fiel auf die Erde. Hastig bückte Vivian sich, um ihn aufzuheben. „Ich heirate keinen Man, den ich nicht kenne, oder behaupte auch nur, es zu tun, nur damit Sie mir einen Haufen Dornen geben.“

„Du kennst ihn.“ Mavis’ Stimme unterbrach ihre Gedanken.

Vivian drehte sich zu ihrer Freundin um. „Das ist unmöglich. Ich bin noch nie vorher hier gewesen und komme selbst in London nicht viel herum, das weißt du.“

„Lord Everleigh. Seine Haushälterin hat uns hergeschickt“, flüsterte Mavis.

Vivian erstarrte. Sein Gesicht erschien vor ihrem inneren Auge, und sie erinnerte sich, wie seine Lippen sich angefühlt hatten. „Er?“, brachte sie kaum hörbar hervor.

Ella Etta lachte gackernd. „Der bleibt wohl jeder Frau im Gedächtnis. Selbst eine alte Witwe wie ich bemerkt ihn. Beine wie ein edles Ross, Schultern wie ein Zugpferd.“ Sie grinste breit. „Und ich bin sicher, auch ansonsten ist er so stark wie ein Hengst.“

Betroffen ließ Vivian sich etwas unsanft auf den Baumstumpf zurückfallen. „Weiß er, dass Sie so über ihn reden?“

„Nein. Ich habe ihn aufwachsen sehen, seit er gelernt hat, seiner Gouvernante wegzulaufen.“ Sie seufzte. „Er kam an dem Tag her, als seine Mutter starb, und sagte, sein Vater und Großvater würden sich darüber streiten, welches Kleid sie ihr anziehen sollten. Ich sagte ihm, dass es ihr gleichgültig sei, also auch ihnen nicht wichtig sein sollte.“

Sie tätschelte Vivian den Arm. „Er schien nur aus Knien und Ellbogen zu bestehen damals.“ Sie senkte die Stimme. „Aber er ist zu einem stattlichen Mann herangewachsen.“

„Nehmen wir an, ich stimme zu.“ Vivian senkte ebenfalls die Stimme. „Wenn ich auch nicht glaube, dass ich das tun sollte. Falls ich also zustimme“, fuhr sie fort, „was wird er dazu zu sagen haben?“

Ella Etta stöhnte. „Soll ich denn alles selbst erledigen? Ich rette Ihnen das Leben. Sie müssen sich schon selbst darum kümmern, einen Heiratsantrag zu bekommen.“

Vivian lachte. „Ich bin sicher, er wünscht nicht, mich zu heiraten.“

Höhnisch lächelnd schüttelte Ella Etta den Kopf. „Nein, das tut er nicht. Er will sich an keine Frau binden, sonst hätte er schon längst geheiratet.“ Sie machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. „Noch sind Sie nicht fähig, ein starkes Kind zur Welt zu bringen, aber mit meiner Medizin wird sich das ändern. Beklagen Sie sich nicht, dass ich Sie zu einem Mann ohne Liebe schicke.“ Sie sprach das Wort aus, als würde es ihre Lippen vergiften. „Sein Herz wurde schon vor sehr langer Zeit zerstört. Aber eine gute Hülle ist zurückgeblieben.“

Aber Vivian würde nicht sagen, dass Everleigh kein Herz hatte. Er hatte Mavis voller Rücksicht behandelt, und auch ihr selbst gegenüber hatte er sich einwandfrei benommen. Ella Etta war eine dumme Frau. Dennoch …

„Wie soll ich ihn von einer Heirat überzeugen?“, fragte sie.

Die alte Frau starrte sie an. „Das ist nicht meine Sorge, sondern Ihr Preis. Ich gebe Ihnen das Heilmittel und sage Ihnen, wie Sie es anwenden müssen. Wenn Sie einverstanden sind, dann gut. Wenn Sie nicht einverstanden sind, trennen sich unsere Wege.“ Sie beugte sich vor und lachte. „Unsere Wege trennen sich in jedem Fall.“

Vivian musste ebenfalls lachen, so sorglos wie schon seit Langem nicht mehr. Sicher, sie konnte sich verloben, wenn es das war, was die Frau wollte. Vivian konnte ihr von einer geheimen, imaginären Verlobung erzählen, um sie zufriedenzustellen. Everleigh brauchte gar nichts davon zu erfahren. Und wenn sie nicht gesund wurde, konnte sie ihre letzten Tage mit einem Lächeln auf den Lippen verbringen, während sie an ein imaginäres Band mit Everleigh dachte und so tat, als wäre es echt.

„Nun gut, ich bin einverstanden.“

Mavis’ plötzlicher Hustenanfall ließ beide zu ihr hinübersehen.

„Rauch in den Augen“, murmelte die Landstreicherin. „Passiert vielen meiner Besucher.“

„Ich werde ihn heiraten.“ Vivian streckte die Hände nach den Dornen aus. „Aber es wird eine kleine Hochzeit sein. Nur wenige Gäste. Sie können in den Handflächen Ihrer Kundinnen darin lesen.“

„Nicht so hastig.“ Ella Etta kam Vivian so nahe, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. Vivian atmete erschrocken ein, als die alte Frau befahl: „Es gibt Regeln, an die Sie sich unbedingt halten müssen. Sie müssen jegliche andere Medizin absetzen. Wenn Sie meine Mixtur mit Ihren üblichen Mittelchen einnehmen, werden Sie sterben, bevor Sie Zeit haben, sie auszuspucken. Und es würde kein sanfter, süßer Tod sein. Nein, die Klauen eines Dämonen würden Ihnen die Eingeweide zerstückeln.“ Sie grinste spöttisch. „Ich habe es einmal mit angesehen. Violette Lippen. Geifernder Mund. Er hat sich die eigene Zunge herausgerissen. Gab sie mir zum Andenken. Hässliche Zunge, aber ließ sich gut kochen.“

„Wir gehen.“ Mavis sprang auf und packte Vivian beim Arm.

Die Landstreicherin presste sich eine Hand aufs Herz und wimmerte: „Ich sage nur die Wahrheit, weil ich nicht will, dass die Kleine leidet.“

„Warte.“ Vivian blieb stehen. „Es ist meine einzige Chance.“

„Was haben Sie zu verlieren?“, fragte Ella Etta. „Nehmen Sie täglich eine geringe Menge von meinem Mittel. Nicht mehr, als Sie in einen Fingerhut füllen können. Vergessen Sie nur nicht, dass Sie auch den Sohn des Earls dazu überreden müssen, Sie zu heiraten. Er ist jetzt im Haus seines Vaters.“

„Ich muss doch meine Medizin nehmen.“ Vivian ließ die Hände sinken und trat zurück. „Ich muss.“

„Nein“, stieß die alte Frau heftig hervor. „Meine Augen zeigen mir deutlich, wenn ein Mittel nicht wirkt. Sie sehen doch selbst, mein Kind, dass Ihnen Ihre Medizin nicht hilft. Und Sie nehmen sie schon seit Jahren.“

Vivian nickte und streckte die Hände wieder aus. „Ich nehme Ihre Dornen.“ Sie hätte fast gelacht. „Wenn schon nichts anderes, so werden sie eines Tages eine schöne Geschichte abgeben für meine und Everleighs Kinder.“

„Sie werden gesund werden. Aber Sie dürfen unsere Abmachung nicht vergessen.“

„Wenn ich nun aber gesund werde und Everleigh nicht wünscht, mich zu heiraten?“

„Sie müssen ihn eben dazu bringen, es zu wünschen.“ Ella Etta zuckte mit den Schultern. „Aber was weiß ich schon? Ich bin nur eine alte Reisende, die manche Tage in einer Hütte lebt und manche nirgendwo. Aber die Menschen reisen von weither an, damit ich ihnen helfe. Und ich helfe ihnen.“ Sie runzelte finster die Stirn. „Und jetzt gehen Sie.“

Ein Dorn stach Vivian, als sie das Bündel entgegennahm. Sie hielt sich den schmerzenden Finger an die Lippen und musste an Everleighs Kuss denken.

2. KAPITEL

Die Kutsche verließ das Lager, und Vivian spürte die Dornen, als die Räder über die Erde holperten. „Musst du mir nicht zu meiner bevorstehenden Verlobung gratulieren, Mavis?“

„Wahrscheinlich“, meinte Mavis halbherzig. „Ich kann einfach nicht glauben, dass Mrs. Rush mich hierhergeschickt hat. Ich kann nicht glauben, dass diese schmutzige Schwindlerin so mit uns gesprochen hat. Und dann zu behaupten, der Everleigh-Junge habe kein Herz. Obwohl ich nicht weiß, ob das so wichtig wäre. Wenn ihm schon etwas fehlen muss, dann kann es genauso gut etwas sein, das ein Mann sowieso nicht benutzt.“ Sie zählte an den Fingern ab. „Es kann ihm also ruhig das Herz und der Verstand fehlen, und ich würde es ihm nicht verübeln.“

„Mavis“, tadelte Vivian und legte das Heilmittel auf das Polster ihr gegenüber. „Ich bin sicher, dass er ein freundlicher Mensch ist. Er war so fürsorglich zu dir, als du dir den Kopf verletzt hast.“ Sie blickte aus dem Fenster und hielt nach dem Gut des Earl of Rothwilde Ausschau.

Mavis steckte ihr Taschentuch weg. „Das sollte er auch. Seinetwegen hatte ich das Gefühl, ich würde meine Nase von jetzt an auf dem Hinterkopf tragen müssen.“ Behutsam betastete sie die gelbliche Haut um ihre Nase herum: „Es tut noch immer ein wenig weh.“

„Ich werde dem Fahrer sagen, dass wir eine Ruhepause nötig haben. Am besten verspreche ich ihm eine zusätzliche Summe, damit er uns erst morgen nach Hause fährt, falls uns angeboten wird, über Nacht zu bleiben.“

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, fragte Mavis stirnrunzelnd.

Vivian holte eine Münze aus ihrer Tasche. „Wir werden feststellen, ob das Herrenhaus armen Reisenden helfen kann, ganz besonders einer kranken Dame.“

Mavis schüttelte den Kopf. „Nein. Ich verbiete es dir, Vivian.“

Doch Vivian wich zur Seite, damit Mavis nicht nach dem Geld greifen konnte. „Ich muss es tun, Mavis. Mir bleibt keine andere Wahl.“

„Na schön.“ Mavis streckte eine Hand nach der Münze aus. „Wie du wünschst. Lass mich mit dem Kutscher sprechen. Ich werde ihn dazu überreden, bis morgen zu bleiben, falls nötig. Aber du wirst in großen Schwierigkeiten sein, wenn deine Eltern einige Tage früher von ihrem Besuch zurückkehren sollten. Genau wie ich auch. Dann werden wir uns wohl beide nach einer neuen Anstellung umsehen müssen.“

Mavis lehnte sich in die Polster zurück und wies auf das Fenster. Die Bäume an dieser Stelle standen so dicht am Weg, dass ein Ast die Seite der Kutsche streifte. Mavis zuckte zurück, als könnte der Ast nach ihr greifen. „Dieses Herrenhaus sieht so aus, als könnte ein Leichenräuber darin leben. Er bräuchte hier nur abzuwarten, bis seine Opfer entlangkommen.“

Vivian lächelte gezwungen. „Wie dem auch sei. Wenigstens kann ich seine Familie kennenlernen und die Werbung damit beginnen, dass ich mich bei seinen Verwandten einschmeichle.“

Wie albern, dachte sie, dass ich hoffe, wieder gesund zu werden, indem ich mich auf die Worte einer Landstreicherin im Wald verlasse, die Narrheiten und wirre Fantasien feilbietet. Ich muss den Verstand verloren haben. Sie schämte sich, dass sie so weit gesunken war, ihre ganze Hoffnung auf einen solchen Mumpitz zu setzen.

Es drängte sie danach, den Dornenkranz zu zerreißen, aber sie würde sich nur dabei verletzen. Kurz entschlossen, weil sie plötzlich nicht mehr länger warten konnte, nahm sie den Stöpsel heraus, ließ einen Tropfen des Inhalts auf ihre Fingerspitze fallen und probierte. „Mavis, es schmeckt viel süßer als die Mittel des Arztes. Es schmeckt nach Honig.“

„Lass dich nicht vom Geschmack beirren. Lieber Himmel, wir öffnen hier die Büchse der Pandora.“ Sie hielt sich eine Hand an die Stirn. „Alles ist meine Schuld.“

„Ich habe genug davon, krank zu sein, Mavis. Ich erinnere mich ja kaum noch, wie es ist, gesund zu sein. Wenn ich schon sterben muss, dann möchte ich die Momente, die mir bleiben, wirklich leben.“

Im nächsten Moment hielt die Kutsche vor dem Herrenhaus. Beide Frauen stiegen aus, und während Mavis den Kutscher zahlte und ihm Anweisungen gab, ging Vivian auf das Haus zu. Sie betrachtete es, während Mavis ihr folgte.

Als der Butler ihnen öffnete und sie hereinließ, stützte Vivian sich auf Mavis’ Arm. Die Fahrt, die Krankheit, die Kälte – das alles hatte sie sehr viel Kraft gekostet. Sie glaubte nicht, dass sie bis London durchgehalten hätte.

Dann spürte sie einen sanften Stoß von Mavis. Sie deutete auf die gewölbte Decke über ihnen, und obwohl die Treppe nach oben führte, schien sie enger zu werden und es war, als wollten die mit dunklem Holz verkleideten Wände sich um Vivian schließen. Eine Eingangshalle, die eher einschüchtern sollte als beeindrucken.

Der Butler bemerkte ihr Zögern, und seine Lippen verzogen sich zu einem kaum merklichen Lächeln. „Bitte folgen Sie mir“, sagte er.

Er führte sie zu einem Salon, dessen Wände mit den gleichen dunklen Holzpaneelen versehen waren wie die Eingangshalle. Selbst das Muster im dicken Teppich wies verblühte Rosen auf, die von braunen Blättern umgeben waren. Vivian konnte nicht sagen, ob es sich um einen Aubusson handelte, aber in jedem Fall war es ein Teppich von hohem Wert.

Ein älterer Herr, einen Gehstock in der Hand, trat etwas später ein. Der altmodische steife Kragen seines Hemdes schien seinen Kopf aufrecht zu halten. Als er näher kam, fiel Vivian auf, dass er zwar sehr elegante Kleidung trug, deren einst schwarze Farbe allerdings verblasst war. Seine Haltung deutete auf seine vornehme Stellung hin, doch sein Aufzug machte deutlich, dass er sich nicht an einen Schneider wenden würde, solange es nicht unbedingt nötig war.

„Mein Butler meinte, Sie suchen Zuflucht, da Sie fürchten, die Straßen könnten nicht mehr befahrbar sein, sobald es anfängt zu regnen. Der Himmel sieht wirklich recht unheilvoll aus.“ Er hob den Gehstock an und zeigte damit auf ein Fenster. „Sie können gern hier übernachten. Ich muss nach den Pächtern sehen, und währenddessen können Sie hier Unterschlupf finden.“

Vivian nickte und spürte ihr Retikül an ihrem Bein. Das von den Dornen umgebene Heilmittel war zu groß, als dass sie ihre Tasche hätte schließen können. Und sie musste sich nicht verstellen, um ihre Schwäche deutlich zu machen. „Die Reise heute hat mich erschöpft. Ich leide seit einem Unfall an einer zehrenden Krankheit.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Ich war hier in der Nähe, um eine alte Frau zu treffen, die ein Mittel haben soll, das mir helfen kann. Wir kommen gerade von ihr, aber das Wetter wird schlimmer, und ich fürchte mich davor, in der Nacht weiterzureisen.“

Der alte Mann winkte ab. „Meine liebe Dame, diese alte Bettlerin fällt oft unangenehm auf, und ich versichere Ihnen, sie wird Sie lediglich um Ihr Geld erleichtern und Ihnen dafür nichts als falsche Hoffnungen geben. Ich habe ihr in einem Anfall närrischer Großzügigkeit erlaubt, auf meinem Land zu wohnen. Und da sie mittellos ist und nicht wusste, wohin sie gehen sollte, habe ich mich nicht beschwert, wann immer sie zurückkam.“

„Es war sehr freundlich von Ihnen, sie bleiben zu lassen.“

„Ihre Familie wohnt seit Jahrhunderten in dieser Gegend, wenn man den Geschichten, die man sich erzählt, glauben darf. Jetzt verdient sie sich einige Pennys mit ihren Mixturen und ihrer albernen Wahrsagerei. Sie ist der einzige Mensch, dem die Dienerschaft vertraut, wenn es einem von ihnen nicht gut geht, also habe ich sie nicht weggeschickt. Außerdem bleibt sie nicht lange. Sie geht zum Bartholomew-Jahrmarkt, liest den Leuten aus der Hand und verdient ein bisschen. Meine Frau glaubte an ihr Gerede und die Mittel, die sie zusammenmischte, aber am Ende konnte die Countess doch nicht gerettet werden. Ihr Zustand verschlechterte sich so schnell. Glauben Sie mir, Ella Etta ist wie eine Spinne, die ein Lügennetz spinnt und die Menschen darin fängt. Hüten Sie sich vor ihr. Sonst vergiftet sie Sie noch. Und lässt Sie auch noch dafür zahlen.“

Vivian atmete tief ein. Ella Etta war ihre letzte Chance.

Ihre Beine hielten sie plötzlich nicht mehr, und sie sank gegen Mavis. Die ältere Frau geriet ins Wanken, und einen Moment lang glaubte Vivian, dass sie beide zu Boden fallen würden. Doch dann zügelte sie ihre Angst und hielt sich mit der Kraft ihres Willens aufrecht.

Der Mann kam zu ihnen und packte Vivian am Arm. Sein Griff war so hart, dass er ihr wehtat.

„Burton, Burton!“, rief er. „Helfen Sie uns!“

„Ich halte sie schon“, sagte Mavis. Sie schob seine Hand fort und hielt Vivian fest. „Es geht ihr jetzt besser. Wir brauchen keine Hilfe. Nur einen Platz, wo sie sich kurz ausruhen kann.“

Mavis musste ihr beim Hinaufsteigen der Treppe beistehen.

„Führen Sie die Damen zum hellen Zimmer, Burton!“, rief der alte Mann ihnen nach.

Als sie das Zimmer erreichten, nahm Mavis ihr Umhang und Retikül ab und half ihr dabei, es sich in einem Sessel bequem zu machen. Dann kniff sie sie.

Vivian zuckte zusammen. „Wenn du das noch einmal machst, Mavis, werde ich die Bänder all deiner Häubchen abtrennen.“

„Na, wunderbar, Miss Vivian. Du hast es geschafft, uns im letzten Haus Unterkunft zu sichern, das ich mir gewünscht hätte. Wenn dein Vater das herausfindet, wird er mich im hohen Bogen auf die Straße werfen, und niemand wird ihn davon abhalten können. Wir sollten niemals über Nacht fortbleiben.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Am besten holst du tief Luft und sammelst all deine Kräfte. Denn wir müssen gehen.“

„Ich darf also nicht einmal entscheiden, wo ich sterben möchte?“

„Nur, wenn du dich für dein Zuhause entscheidest.“ Mavis tätschelte ihr den Arm. „Und rede keinen Unsinn übers Sterben, meine Liebe. Ich will nichts davon hören. Du hast den Earl doch gehört – denn das muss der Earl gewesen sein. Er sagte, die Diener vertrauen der Heilkunst der alten Hexe. Allerdings tat es seine Frau auch, und jetzt ist sie nicht mehr unter uns.“

Vivian holte tief Luft. „Du weißt doch, dass ich nicht hier wäre, wenn ich nicht krank wäre. Außerdem sollte es dir doch leichtfallen, unsere Diener zum Schweigen zu überreden. Gib ihnen eine Flasche von Vaters Wein. Er wird bestimmt nichts merken, weil er denken wird, er hat sie selbst ausgetrunken.“

„Er versucht, sich zu mäßigen. Deswegen war er ja bereit, deine Mutter zu begleiten. Um neu anzufangen. Er weiß, dass er dem Wein zu sehr zuspricht.“

Vivians Blick fiel auf ihr Retikül. Ihr Vater hatte erst nach ihrem Unfall begonnen zu trinken. Und seither schien er nicht mehr aufhören zu können.

Ihre Krankheit zerstörte nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familie.

Sie begann fieberhaft, an den Bändern ihres Retiküls zu zerren, bis es ihr schließlich gelang, das Dornennest herauszuholen. Sie spürte nicht einmal die Dornen an ihren Fingern.

„Vivian …“ Mavis klang verzagt, und plötzlich sprang sie vor und versuchte, Vivian die Dornen zu entreißen. „Wenn ich daran denke, wie zerlumpt diese Frau ausgesehen hat. Wir können ihr nicht vertrauen, Vivian.“

Doch Vivian wich vor ihr zurück. „Meine Schwäche hat ihr jedenfalls leidgetan, und sie hat versucht, mich an ein schönes Märchen glauben zu lassen – von dem gut aussehenden Mann, der mich heiraten würde. Es ist eine sehr schöne Geste, einem Menschen Hoffnung zu geben. Besser als ein Fluch.“

„Was du in den Händen hältst, könnte Gift sein.“

„Dann werde ich umso schneller sterben, und die Frage, ob ich mich jemals erholen werde oder nicht, ist damit endlich beantwortet.“

„Papperlapapp.“ Mavis streckte wieder die Hände nach den Dornen aus, aber Vivian hielt sie außer Reichweite.

„Es ist meine letzte Hoffnung, und ich will sie nutzen.“

Mavis nickte. „Ich bin froh, dass du wieder leben willst. Nach dem Unfall fürchtete ich, du wolltest gar nicht mehr gesund werden.“

Vivians Stimme klang wehmütig. „Doch. Ich möchte auf einem Ball tanzen und ein Seidenkleid tragen. Ich möchte leben. Ich bin es müde, darauf zu warten, dass ich gesund werde oder einfach nur dem Tod entgegengehe. Ich bin es unendlich müde zu warten.“

Mavis schniefte leise. „Du darfst nicht vom Sterben sprechen, Vivian. Du bist alles für deine Eltern. Es wird uns alle töten, wenn dir etwas zustößt.“

Jemand klopfte an die Tür, die sich kurz darauf öffnete.

Eine Dienerin mit gestärktem Häubchen auf dem silbergrauen Haar trat ein. Eine Schürze bedeckte ihr dunkles Kleid, und leichter Küchengeruch ging von ihr aus. „Ich bin die Haushälterin des Earls. Möchten Sie heute Abend ein Tablett aufs Zimmer geschickt bekommen, oder wollen Sie im Speisezimmer essen?“

„Meine Begleitung und ich ziehen selbstverständlich das Speisezimmer vor“, antwortete Vivian mit stolz erhobenem Kinn.

Die Haushälterin ging nicht weiter darauf ein. „Ich habe den Earl reden hören, als Sie eintrafen. Seien Sie froh, dass er Sie vor dieser räuberischen Landstreicherin und ihrer Familie gewarnt hat, die sich wie Geier über das Land gelegt haben – nur dass sie sogar eine noch größere Plage sind als die. Rothwilde zeigt die Freundlichkeit eines Heiligen, dass er ihnen überhaupt erlaubt, auf seinem Land zu wohnen.“

„Ich denke nicht, dass sie wirklich eine Gefahr darstellen“, meinte Vivian. „Sie würden sonst festgenommen und gehängt werden.“

„Wer sagt denn, dass nicht einige von ihnen ab und zu am Galgen gelandet sind? Bleiben Sie einfach nur fern von denen, wenn Sie wissen, was gut für Sie ist.“ Die Haushälterin ließ sich von ihrer Geschichte hinreißen. „Es heißt, Ella Etta holt sich Mixturen vom Apotheker und mischt sie zu was anderem zusammen. Ich glaube, sie hat vor, uns alle zu vergiften. Die Diener vertrauen ihr, aber ich nicht. Wann immer ihre Brut in der Gegend ist, verschwindet die Hälfte des Obsts aus unseren Gärten.“

„Warum zieht der Earl sie nicht zur Verantwortung?“, fragte Vivian.

Die Haushälterin schnaubte. „Wenn der Earl das tut, werden sie wahrscheinlich das Haus niederbrennen, während wir schlafen, oder uns alle verfluchen. Sie sind wie ein Wespennest, das man besser in Ruhe lässt.“

„Da sehnt man sich ja direkt nach London und seinen freundlichen Taschendieben“, meinte Vivian trocken.

„Die Stadt ist viel sicherer, nehme ich an.“ Die Haushälterin trat an den Spiegel, holte ein Tuch aus ihrer Schürze und wischte über seine Oberfläche, als könnte sie das Bild von jemandem wegwischen, den sie nicht sehen wollte. Dann ging sie zur Tür zurück, noch immer das Wischtuch in der Hand, und betrachtete die beiden Damen mit unverhohlener Neugier. „Dann sind es also drei zum Dinner. Der Earl wird sich in sein Arbeitszimmer zurückziehen und sich nicht zu Ihnen gesellen.“

„Drei?“

„Der älteste Sohn ist da. Ich nehme an, er ist nach Hause gekommen, weil es für einen Mann, der sein Junggesellendasein genießt, recht ermüdend sein muss, ständig von heiratswütigen Frauen verfolgt zu werden.“ Sie musterte Vivian vielsagend.

„Du meine Güte.“ Vivian sah sie mit unschuldig aufgerissenen Augen an. „Was für ein unglaubliches Glück für mich, den unverheirateten Sohn eines Earls kennenzulernen. Ich bin außer mir vor Entzücken.“

Die Haushälterin bedachte sie mit einem kühlen Blick und schüttelte ihr Tuch aus, bevor sie es in ihre Schürze stopfte. „Ich schicke jemanden nach Ihnen, wenn das Dinner so weit ist.“

Sie verließ den Raum, und Mavis flüsterte Vivian zu: „Sie denkt, du bist auf einen Ehemann aus, nicht darauf, deine Gesundheit wiederzuerlangen. Ich mag sie nicht. Sie benimmt sich, als wäre sie die Herrin des Hauses.“

„Ja, sie ist recht dreist, und nicht auf nette Weise wie du.“

„Ich mag ja vielleicht ein wenig kreativ gewesen sein, was die Wahrheit angeht, um die Anstellung als deine Gouvernante zu bekommen. Aber ich habe mein Bestes gegeben, um deine Mutter zufriedenzustellen und immer für dich da zu sein.“

Mavis strich geistesabwesend über die Tischdecke. „Es rührte mich zutiefst, als deine Mutter mich bat, als deine Gesellschafterin zu bleiben, obwohl du schon eine junge Frau geworden warst und keine Gouvernante mehr brauchtest. Euer Haus ist das beste, in dem ich je gearbeitet hatte. Ich erzähle dir lieber nicht, was ich alles gesehen habe, bevor ich zu deiner Familie kam. Besser, du bleibst so unschuldig wie jetzt. Das Leben ist hart genug. Meine Referenzen … Deine Mama hätte sich gründlicher damit befassen sollen.“

Vivian sah sie fasziniert an.

„Jene alte Bettlerin. Nur dank einer geschickten Urkundenfälschung bin ich nicht an ihrer Stelle.“

„Du könntest entlassen werden, Mavis.“

„Dein Vater wird mich entlassen, wenn er davon erfährt. Ich hätte nicht auf Mrs. Rush hören dürfen.“ Sie sah Vivians Ausdruck, und ihre Stimme wurde weicher. „Aber sie sagte, die alte Landstreicherin sei genauso gut wie ein Arzt. Und sie meinte doch auch, sie würde nur so viel von uns verlangen, wie wir uns leisten könnten.“

„Ella Etta hat kein Geld verlangt.“

„Nein. Nur dass du den Sohn eines Earls heiratest.“ Mavis rang ratlos die Hände. „Ella Etta hat mehr List als Verstand in ihrem wirren Kopf, aber das bedeutet nicht, dass ihr Heilmittel nichts wert ist.“

Vivian betrachtete die Flasche im Dornennest. „Dieses Mittel ist meine letzte Chance.“

Aber wenn Everleigh sie nur noch einige Male küsste, dann würde es sie nicht mehr so sehr kümmern, sollte das Mittel sich als wertlos erweisen.

3. KAPITEL

Als Vivian das Speisezimmer betrat, fiel ihr Blick als Allererstes auf Everleigh. Er erhob sich, als sie und Mavis hereinkamen.

Mehrere Kerzen beleuchteten einen Tisch, an dem zehn Menschen hätten Platz nehmen können.

Der Duft nach gebratenem Lamm erfüllte die Luft, aber erweckte keine Behaglichkeit, denn die schweren Vorhänge betonten die Dunkelheit, die im Raum herrschte, und die einzige Dekoration bestand aus einigen unbenutzten Wandleuchtern.

Everleigh hielt einen Moment inne, dann neigte er leicht den Kopf. „Ich glaube, wir sind uns bereits begegnet, meine Damen. Mir war nicht bewusst, dass es sich bei den Reisenden um liebe Freunde handelt.“ Er verbeugte sich und begrüßte beide Frauen mit einem Handkuss.

Mavis lachte. „Bleiben Sie mir fern, Lord Everleigh. Ich habe mich gerade erst von unserem ersten Treffen erholt.“

„Bitte nennen Sie mich Everleigh“, sagte er. „Unsere erste Begegnung war zu ereignisreich, als dass wir noch förmlich zueinander sein müssten.“

Er nahm Vivian beim Ellbogen und führte sie zu einem Stuhl gleich rechts am Kopf der Tafel. „Mein Vater hat mich gebeten, den Gastgeber zu spielen. Er musste sich heute mit seinen Pächtern treffen.“

Als er ihr half, Platz zu nehmen, spürte Vivian kurz seine Hände im Rücken. Selbst wenn das Heilmittel ihr nicht helfen sollte, fühlte sie sich schon kräftiger, einfach weil sie in Everleighs Nähe war.

Dann rückte er auch Mavis den Stuhl zurecht und winkte einen Diener herbei. Statt sich an den Kopf der Tafel zu setzen, nahm er neben Mavis Platz. Vivian musterte ihn, und er las die Frage in ihren Augen. „In diesem Haus sitze ich niemals auf seinem Platz“, sagte er leise. „Er ist Rothwilde, und das ist sein Platz.“

Sie nickte nur, und ein kleines Lächeln erschien um seine Mundwinkel. „Welchem glücklichen Umstand verdanke ich Ihre Gegenwart?“

„Ihre Haushälterin erzählte uns von den Heilkräutern jener Frau, die hier in der Nähe lebt.“ Vivian hielt inne, als ein Diener eine große Servierplatte auf den Tisch stellte. „Ich hatte gehofft, sie könnte mir mit meiner Krankheit helfen. Vertrauen Sie ihr?“

Er hob sein Glas und nahm einen Schluck, bevor er antwortete. „Als Kind erwartete ich ihre Ankunft auf dem Gut immer voller Aufregung. Ich habe nichts gegen sie. Die Pächter vertrauen ihren Mixturen und haben sich schon immer gut mit ihr gestellt. Für mich war sie so etwas wie eine Tante, aber keine Tante, die meine Familie jemals in ihrem Haushalt aufnehmen würde. Sie sagt zu offen ihre Meinung.“

„Könnte sie jemanden mit einem Fluch belegen?“

Ein flüchtiges Lächeln erschien um seine Lippen. „Sie würde es wenigstens behaupten.“ Er zuckte mit den Schultern. „Sie folgt ganz eigenen Regeln, wie wohl die meisten Menschen. Die Dienerschaft hat jedenfalls meistens keine Probleme mit ihrer Anwesenheit. Sie versorgt sie mit kostenlosen Kräutern, Tee und Ratschlägen und liest ihnen aus der Hand, wenn sie ihrerseits dafür ein Auge zudrücken, sollten ihre Leute gelegentlich ein paar Kaninchen oder Vögel schießen. Mein Vater toleriert die Sippe. Sie stehlen nur etwas zum Essen, und wenn einmal zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht werden, sind die Männer und Frauen im Lager gern bereit anzupacken.“

Dann wandte er sich an Mavis. „Falls Sie sich gefragt haben, mein Fahrer achtet jetzt darauf, nicht neben einem Passanten am Straßenrand zu halten.“

Mavis lachte, und sie begannen über die verwirrende Situation gleich nach dem Unfall zu sprechen. Währenddessen musste Vivian allerdings an den Kuss denken. Everleigh schien heute kaum derselbe Mann zu sein, und doch zog er sie noch immer wie magisch an. Sie hatte ihn geküsst und konnte jetzt kaum an etwas anderes denken. Schon die Erinnerung an den Kuss ließ ihr die Hitze durch die Adern rauschen. Vivian senkte den Blick auf ihren Teller, damit Everleigh ihr nicht ansehen konnte, was sie empfand.

Sie hatte nicht geahnt, wie sehr der Kuss sie offenbar berührt hatte. Aber Everleigh selbst schien völlig gelassen zu sein und ahnte wohl auch nicht, was er in ihr ausgelöst hatte. Wofür sie selbstverständlich hätte dankbar sein sollen – und trotzdem war sie es nicht.

Er stand auf, als das Mahl vorbei war, und bot Vivian den Arm. „Ich sollte Ihnen die Bibliothek zeigen. Vielleicht können Sie ein Buch finden, das Ihnen gefällt.“

Als sie die Bibliothek erreichten, fiel Vivian auf, dass sie nicht den tröstlichen Duft nach alten Büchern verströmte, sondern eher den nach Tabak. Auf einem Tisch stand eine offene Kiste, in der mehrere Zigarren lagen.

Ein großes Porträt von der hinreißendsten Schönheit, die Vivian jemals gesehen hatte, hing über dem Kamin. Sie hatte die gleichen blauen Augen wie Everleigh, wenn sie auch irgendwie nicht zu ihrem Gesicht zu passen schienen. Irgendetwas an ihnen verwirrte Vivian. Seine Mutter hatte den gleichen Blick wie Everleigh, aber bei ihm passte er zu seiner Persönlichkeit und verstärkte seine Anziehungskraft. Bei ihr schien er ihre Schönheit zu ersticken.

„Meine Mutter“, sagte er fast nachdenklich.

„Sie ist entzückend.“ Tatsächlich war sie vollkommen, makellos.

„Ich glaube, sie war erst ungefähr siebzehn Jahre alt, als dieses Porträt gemalt wurde. Es wurde eine Woche vor ihrer Hochzeit fertiggestellt.“

„Sie sieht aus wie ein Engel.“

„Viele, die sie gekannt haben, sagen, sie hätten seit ihrem Tod keine solche Schönheit erblickt. Mein Großvater vergötterte sie. Seine geliebte Tochter. In seinen Augen war sie fehlerlos, und als sie starb, war er am Boden zerstört. Sie wurde von einem Husten befallen, und nach nur wenigen Stunden war sie tot. Wir hatten nicht einmal die Zeit, einen Arzt oder den Apotheker kommen zu lassen, so schnell geschah alles.“

Everleigh zuckte mit den Schultern. „Aber für ihr Kind ist eine Mutter natürlich immer eine Göttin. Sie starb, als sie noch sehr jung war, und mir bleibt nur dieses Gemälde, das an sie erinnert. Jetzt bin ich zehn Jahre älter als sie, als sie dafür Modell saß.“

„Es ist eine Tragödie.“ Vivian musterte das schöne Gesicht. „Man glaubt fast, sie zu kennen, wenn man dieses Bild betrachtet.“

Everleigh wechselte das Thema und fragte Vivian nach dem Zustand der Wege auf ihrer Reise. Er befürchtete, ihre Eltern könnten sich Sorgen um sie machen, und so bot er ihr an, einen Mann loszuschicken, um ihnen Nachricht von ihrer Tochter zu bringen.

Und so war Vivian gezwungen, ihm zu verraten, dass weder ihre Mutter noch ihr Vater zu Hause waren und sie den Dienstmädchen für diesen Abend freigegeben hatten. Da sie damit gerechnet hatte, erst spät zurückzukehren, hatte sie ihre Zofen angewiesen, weder sie noch Mavis am Morgen zu stören, bevor sie gerufen wurde.

„Die Zeit fliegt“, sagte Everleigh schließlich. „Bitte lassen Sie mich jemanden zu den Ställen schicken, um Ihrem Kutscher zu sagen, dass Sie über Nacht hierbleiben werden. Dann brauchen Sie nicht in der Dunkelheit zu fahren, wo man die Wege kaum sehen kann. Und auch die Pferde können sich ein wenig ausruhen.“

„Das klingt wunderbar“, sagte Vivian dankbar.

Mavis sah sie gespielt erstaunt an. „Ein so überraschender Vorschlag. Wir möchten uns Ihnen aber nur ungern aufzwingen.“

„Ganz und gar nicht.“

„Vivian ist noch immer erschöpft von der Reise“, fuhr Mavis fort.

„Unsinn. Ich fühle mich ganz erfrischt und würde sehr gern den interessantesten Tag fortsetzen, den ich seit Langem erlebt habe.“

„Ihnen ist in der letzten Zeit kein Tag bemerkenswert vorgekommen?“, hakte Everleigh nach, und Vivian entging nicht das vergnügte Augenzwinkern, als er sie herausfordernd ansah.

Mavis warf streng ein: „Ich würde sagen, der Tag, als ich zu Boden geschlagen wurde, kann sehr wohl bemerkenswert genannt werden. Und du hast auch oft daran denken müssen.“

„Genau den Tag habe ich auch gemeint“, meinte Everleigh amüsiert und hob scheinbar unschuldig die Augenbrauen.

Vivian wusste, dass er sich nicht auf den Unfall bezog, und sagte hastig: „Ich bin so dankbar, dass nichts Schlimmeres geschah.“

Woraufhin Everleigh sich eine Hand auf die Brust presste und so tat, als wäre er von einem Pfeil durchbohrt worden. „Mrs. Mavis, Miss Darius.“ Er sah Vivian neckend an. „Ich freue mich für Sie beide, dass an dem Tag nichts … Schlimmeres geschehen ist.“

„Ich vermute, ich sollte eigentlich als deine Anstandsdame bleiben, aber der heutige Tag war sehr anstrengend.“ Mavis strich eine Strähne zurück, die sich aus ihrem strengen Knoten befreit hatte. „Ich bin zu alt, um noch viel länger wach zu bleiben, aber ihr beide könnt noch zusammensitzen und lesen.“

„Mavis“, beschwerte Vivian sich unwillkürlich.

Everleigh konnte sie gut verstehen. Wenn sie der Schicklichkeit Genüge tun wollten, durften sie nicht ohne Anstandsdame bleiben.

Mavis bedachte den Sohn des Earls mit einem durchdringenden Blick. „Lassen Sie aber die Tür offen, Everleigh.“

Empört sah Vivian ihre Freundin an. „Wenn du dir solche Sorgen machst, brauchst du ja nur zu bleiben. Schließlich bist du meine Gesellschafterin.“

Mavis winkte ab. „Sei nicht albern. Wäre ich eine vernünftige Gesellschafterin, hätte ich dir nicht erlaubt, überhaupt hier zu halten.“ Sie sah Everleigh wieder finster an. „Sie werden sich Vivian gegenüber gefälligst anständig benehmen, Everleigh, sonst werde ich Sie mit einem meiner Flüche belegen.“ Sie drohte ihm mit einem Finger. „Und das sollte Ihnen wirklich Angst machen.“

„Sie haben mein Wort, dass ich mich wie ein Gentleman verhalten werde“, versicherte er ihr.

„Und Sie haben mein Wort, dass ich einen leichten Schlaf habe und lauschen werde“, sagte Mavis noch, bevor sie endgültig ging.

Everleigh hatte Vivian zwar geküsst, als sie allein gewesen waren, aber sie hatte ihn darum gebeten, und jetzt würde er darauf achten, nichts zu tun, was Hoffnung in ihr wecken könnte. Außerdem würde ein Abend mit Vivian nicht so einsam für ihn sein, und morgen früh reiste sie ja bereits ab.

Er wäre jetzt nicht auf dem Gut seines Vaters gewesen, wenn er nicht mit Alexandria gebrochen hätte, die es nicht besonders gut aufgenommen hatte. Sie hatte sich wohl schon als zukünftige Countess gesehen. Es war Everleigh nicht gelungen, sie davon zu überzeugen, dass das niemals geschehen würde. Er hatte sich monatelang von ihr ferngehalten, aber sie wollte ihn einfach nicht gehen lassen.

Immer wieder hatte sie ihn aufgesucht, bis er höflich, aber bestimmt betont hatte, dass sie nur noch Freunde waren.

Ihr Vater hatte ihr die fixe Idee nicht ausreden können, und Everleigh wusste, dass er sich ebenso gewünscht hatte, seine Tochter als Countess zu sehen, wie es sein Großvater getan hatte. Das Problem war allerdings, dass Everleigh nichts für sie empfand.

Der Kuss, den er mit Vivian geteilt hatte, hatte seiner Beziehung mit Alexandria endgültig ein Ende gesetzt. Was als etwas Oberflächliches begonnen hatte, als der Wunsch einer kranken jungen Frau, den er erfüllt hatte, war zu etwas sehr viel Bedeutungsvollerem geworden.

Er hatte erkannt, wie oberflächlich seine Beziehung zu Alexandria war. Aus Pflichtbewusstsein hatte er ihr den Hof gemacht, ohne dass es eine richtige Verbindung zwischen ihnen gegeben hatte.

Dennoch hatte er an eine Ehe gedacht, aber etwas in ihm begehrte gegen diese Vorstellung auf, und so hatte er sich nicht dazu durchringen können, um sie anzuhalten. Sobald ihm das bewusst geworden war, hatte er sich trotz ihres Flehens von Alexandria getrennt.

Jetzt verstand er seine Abneigung besser.

Vivian war ganz anders als Alexandria. Vivian hatte er gern in seiner Nähe. Und jetzt nahm sie ihm sogar das Gefühl, er müsste ersticken, das ihn oft packte, wenn er auf dem Gut war. Die einzigen angenehmen Erinnerungen mit diesem Haus verband er mit seinem Bruder Daniel und mit seinem Großvater. Falls keiner von beiden anwesend war, hatte er früher Ella Etta aufgesucht, wenn sie sich gerade auf dem Gut aufhielt.

Alles war gut gewesen, bis zu dem Punkt, als er die Universität abgeschlossen hatte. Sein Großvater war an einem Gehirnschlag gestorben. Und obwohl die Anspannung zwischen Everleigh und seinem Vater kurz nachgelassen hatte, war ihm doch klar gewesen, dass sein Vater innerlich frohlocken musste. Nach jenem Tag war Everleigh selten gekommen und nie lange geblieben.

Everleigh berührte Vivian sanft am Arm. „Ich werde ein Dienstmädchen rufen, wenn Sie möchten“, sagte er. „Aber ich verspreche Ihnen, ich werde mich benehmen, als wäre Ihre Gesellschafterin noch im Zimmer.“

Vivian verbarg ihre Enttäuschung, so gut sie konnte.

„Soll ich Ihnen etwas vorlesen?“, fragte er und zündete die Kerzen eines Leuchters an.

Sie hob die Augenbrauen. „Sie haben nur zehn Bücher in Ihrer Bibliothek. Offenbar liegt Ihnen nicht viel am Lesen.“

Autor

Liz Tyner
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Virginia Heath
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