Ich sehne mich nach deinen Küssen

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Erst versperrt sie ihm den Weg - dann beschimpft sie ihn als Nichtsnutz von Vater! Eigentlich für Sheriff Gabe Grund genug, Laura Barret unverschämt zu finden. Doch ausgerechnet die Anwältin schafft mit ihrer Warmherzigkeit, was bis jetzt keiner anderen Frau gelang…


  • Erscheinungstag 11.10.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753511
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Sie gab ihm noch fünf Minuten. Falls er bis dahin nicht erschienen war – würde sie ihm noch weitere fünf Minuten einräumen.

Laura Barret seufzte bei diesem Eingeständnis, rückte vom Kotflügel ihres zwanzig Jahre alten Toyotas ab, und strich sich den schmalen beigefarbenen Rock ihres besten Kostüms glatt, das sie sich nur hatte leisten können, weil der Preis im Ausverkauf heruntergesetzt gewesen war. Leider befand sie sich nicht in der Position, Sheriff Gabe Gallagher eine Abfuhr zu erteilen. Doch ihr blieb immer noch das Recht, sich über ihn zu ärgern.

Sie hatte bereits letzte Woche darum gebeten, diesen Nachmittag freizubekommen. Sie hatte sogar zwei Abende geopfert, um die Stunden vorzuarbeiten. Aber statt diesen Nachmittag wie geplant an der Universität zu verbringen, um sich noch für ein Zusatzfach einzuschreiben, musste sie eineinhalb Stunden Autofahrt entfernt von Portland unter Apfelbäumen ihre Ungeduld zügeln. Russ Winslow, ihr Chef und einziger Anwalt der Kanzlei Russell J. Winslow hatte sie, seine einzige Assistentin, gebeten, sich mit diesem Kunden zu treffen.

„Ich habe vergessen, dass du diesen Nachmittag freihaben wolltest, aber dieser Mann ist ein alter Schulfreund von mir und braucht unbedingt Hilfe“, hatte Russ bemerkt und dann hinzugefügt: „Wir können es doch nicht zulassen, dass er eine andere Kanzlei aufsucht, oder?“

Sie und Russ hatten eine ausgezeichnete Beziehung zueinander. Noch vor wenigen Wochen hatte er ihr sie stets früher nach Hause gehen lassen, wenn sie zu ihren Abendkursen musste. Das hatte sich allerdings schlagartig geändert, als eine charmante schwarzhaarige Klientin den überzeugten Junggesellen eingefangen hatte, seitdem arbeitete Laura doppelt so viel, da sie oft seine Fälle noch mit übernehmen musste.

Aber sie mochte Russ.

Sie hielt nur nicht sehr viel von seinem Freund.

Sie hatte den Auftrag diesen Freund, den Sheriff, mit Glacéhandschuhen anzufassen. Und Russ hatte sie darum gebeten, diesen Gabe hier um sechzehn Uhr zu treffen, um mit ihm über die Erbschaft zu sprechen.

Jetzt war es bereits nach siebzehn Uhr, und er war immer noch nicht aufgetaucht.

Laura versuchte sich damit zu trösten, dass das Immatrikulationsbüro der Universität jetzt sowieso geschlossen war und sie nichts mehr machen könnte. Als auch dieser Gedanke nicht half, ihre Stimmung zu bessern, nahm sie sich vor, einen kleinen Spaziergang zu machen. Auf diese Weise könnte sie wenigstens etwas von ihrer Wut abreagieren, die sich langsam in ihr gestaut hatte. Außerdem gaben ihr Arbeit und Studium kaum Gelegenheit einmal aufs Land zu kommen. In solch idyllischer Umgebung spazieren zu gehen, war sinnvoller, als sich über etwas zu ärgern, das sie ja doch nicht ändern konnte.

Sie schlang den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter, atmete tief den Duft sonnenbeschienener Erde ein und ging auf den Weg zu, der um Joseph Gallaghers Haus herumführte. Es war ein freundliches Farmhaus, das solide und einladend in einem Garten lag, an dem sich endlose Reihen von Obstbäumen anschlossen. Es glänzte weiß in der Nachmittagssonne, so weiß wie die Spitzengardinen vor seinen Fenstern. Die grünen Fensterläden und das grüne Geländer der Veranda, die ganz ums Haus führte, setzten hübsche Akzente.

Es lag etwas Zeitloses über diesem Anwesen, ein Hauch von Nostalgie, der sie noch mehr berührt hätte, als er es bereits tat, wenn sie bessere Laune gehabt hätte. Die riesige Obstplantage, die gleich hinter dem Garten begann, gab einem ein Gefühl von Weite, von Freiheit. Und dann diese Aussicht. In der Ferne sah man Mount Hood, dessen Schneekappe sich blendend weiß vom blauen Septemberhimmel abhob. Stolz erhob er sich über die Wiesen und endlos erscheinenden Apfel- und Pfirsichbaumreihen hinunter.

Dieser Anblick war atemberaubend schön und hätte jeder Postkarte Ehre gemacht. Es ist wirklich eine Schande, dass niemand mehr hier lebt, um sich um dieses schöne Fleckchen Erde zu kümmern, dachte Laura, als sie hinter dem Haus an Beeten vorbeiging, auf denen die Blumen gegen das Gras und das wuchernde Unkraut ankämpften.

Als sie jedoch weiterging, bemerkte sie, dass das Gras unter den Obstbäumen gemäht worden und die Äpfel gepflückt worden waren. Aber als sie sich umschaute und dem Wind zuhörte, der sanft durch die Blätter fuhr, konnte sie keinen Menschen entdecken, der die Ruhe dieses sonnendurchtränkten Spätnachmittags stören konnte. Sie war ganz allein hier draußen. Zumindest glaubte sie das, bis sie ein neonblaues Fahrrad entdeckte, das an einen Baum gelehnt war und zwei dünne braun gebrannte Beine aus dem Blätterwerk am Baum gegenüber herausbaumeln sah. Pinkfarbene Schuhbänder zierten die weißen Turnschuhe.

„Ich werde nicht gehen“, hörte sie eine junge Stimme schluchzen. „Er kann mich nicht dazu zwingen. Vorher laufe ich weg.“ Blätter raschelten und Spatzen flogen aufgeschreckt in den Himmel. „Es ist mir egal, ob er mich nicht um sich haben will. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Und ich werde auch nicht mit Ihnen gehen.“

„Ich will doch gar nicht, dass du irgendwohin gehst.“

Das Mädchen erstarrte. „Wer sind Sie?“, fragte sie schließlich misstrauisch.

„Das könnte ich dich genauso fragen. Normalerweise werde ich nicht von Leuten angeschrien, die ich noch nicht einmal kenne.“

„Gehen Sie weg.“

„Das würde ich gern, aber das kann ich nicht.“ Laura trat einen Schritt vor und versuchte in das dichte Laubwerk des Baumes hineinzusehen. Es schien so, als wäre sie nicht die Einzige, die einen schlechten Tag hatte. „Ich muss auf jemanden warten.“

Der Gedanke, dass noch jemand sie an ihrem Zufluchtsort stören konnte, schreckte das Mädchen offensichtlich auf. Sie sprang vom Baum herunter und Laura stand einem schlaksigen Mädchen mit einem blonden Pferdeschwanz gegenüber, das Jeansshorts und ein pinkfarbenes T-Shirt mit einem Spice-Girl-Logo trug und jetzt trotzig die Arme vor der Brust verschränkte.

Die Augen der höchstens Elfjährigen waren grau und die hübsche sommersprossige Nase so pink wie ihre Schuhbänder. Tränen liefen über die geröteten Wangen.

Es war offensichtlich, dass sie Laura für jemanden gehalten hatte, der geschickt worden war, um sie zu suchen und war nun verwirrt, einer Fremden gegenüberzustehen. Misstrauisch betrachtete sie Laura, deren dunkles Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengeschlungen war, ihre kleinen Goldohrringe und ihr elegantes Kostüm.

„Ich bin Laura“, stellte die junge Frau sich vor und betrachtete das Kind. Außer ein paar Schrammen am Knie, schien sie nicht verletzt zu sein. „Du bist …?“

Das Kind antwortete nicht.

„Dieser er, der dich nicht um sich haben will“, begann Laura einen neuen Versuch, „ist er dein Vater?“

Laura brauchte keine Bestätigung. Die tränengefüllten Augen des Mädchens blitzten vor Wut auf. „Seit Mom sich von uns getrennt hat, will er mich nicht mehr in seiner Nähe haben. Er setzt mich bei meinen Freunden ab oder lässt mich dumme Tanz- oder Gymnastikkurse besuchen, damit er mich nicht im Haus hat, oder er arbeitet ständig, ist bei Sitzungen oder mit seiner Freundin zusammen.“ Sie strich sich mit der Hand die Tränen aus dem Gesicht und kümmerte sich nicht darum, dass sie so schnell sprach, dass ihre Worte sich fast überschlugen. Der Verrat des Vaters hatte sie zutiefst verletzt.

„Und jetzt will er mich ganz loswerden“, fuhr sie fort und nahm ihr Fahrrad in die Hand. „Er will mich zu irgendeiner alten Tante schicken, die in Montana allein mit ihren Katzen lebt.“ Sie wandte sich abrupt um. „Aber was kümmert Sie das schon?“

Laura war bestürzt über die Heftigkeit des jungen Mädchens. Sie hatte ihr widersprechen wollen, aber ein Satz der Kleinen machte sie für einen Moment sprachlos.

Seit Mom sich von uns getrennt hat, hatte sie gesagt.

Es lag so viel Schmerz unter all der Wut. Laura spürte ihn, als ob es ihr eigener wäre. Es war der gleiche Schmerz, den sie einst durchlitten hatte, das gleiche furchtbare Gefühl der Zurückweisung, gegen das sie als Kind angekämpft und schließlich tief in sich vergraben hatte.

Aufgebracht bestieg das Mädchen ihr Fahrrad und radelte wütend durch das unebene Gras. Es sah so aus, als ob sie jeden Moment gegen einen der Bäume fahren würde.

Das Mädchen würde sich noch das Genick brechen.

Laura hatte bereits begonnen, hinter ihr herzulaufen, doch schon bald war die Kleine aus ihrem Blickfeld verschwunden, und die junge Frau blieb mit schnell klopfendem Herzen stehen und strich sich eine seidige Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass das Mädchen sicher nach Hause kam und jemanden fand, der ihr helfen würde.

Vor einigen Minuten war Laura frustriert und ein wenig verärgert gewesen. Jetzt, da sie dorthin zurücklief, wo sie eben ihre Handtasche fallen gelassen hatte, fühlte sie sich auch noch hilflos.

Sie nahm ihre Handtasche und kämpfte gegen dieses unangenehme Gefühl an. Gallagher war jetzt eineinhalb Stunden zu spät, und das überschritt nun wirklich das Maß des tolerantesten Menschen. Sie würde jetzt ihre Visitenkarte an die Haustür stecken, damit er wusste, dass sie den Termin eingehalten hatte und wieder zurück nach Portland fahren. Sie würde nicht noch länger mitten in der tiefsten Provinz auf jemanden warten, der noch nicht einmal den Anstand besaß, jemanden vorbeizuschicken, um ihr mitzuteilen, dass er den Termin nicht einhalten konnte.

Gabe Gallagher war wütend. Und er war besorgt. Shelby, seine einst so süße, bezaubernde Tochter, hatte sich in eine ihm unbekannte Lebensform verwandelt, mit der er nicht zurechtkam.

„Ich fahre jetzt zum Haus meines Vaters.“ Seine Stimme war ausdruckslos, sein Tonfall schroff, als er in den Funk seines Polizeiwagens sprach. „Falls Anrufe kommen, geben Sie sie bitte Brady oder Tom weiter. Ich bin ab jetzt außer Dienst.“

„Ist alles in Ordnung, Sheriff?“, hörte er Tilly Beauchamps Stimme über das leichte Rauschen des Funks.

„Klar“, log er. „Ich muss nur noch etwas vor der morgigen Stadtratsitzung erledigen.“

„Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Gabe. Ich hoffe, dass wir Sie nicht vor morgen früh brauchen werden.“

„Das hoffe ich auch, Tilly. Bis dann.“

Seit nun zehn Jahren, in denen er im Mountain River Sheriff’s Department arbeitete, erst als Angestellter und dann als Chef, hatten er und Tilly seinen Dienst fast immer mit den gleichen Worten beendet. Das vertraute Ritual gab ihm eine gewisse Sicherheit und er wusste das Familiäre dieser Geste selbst jetzt zu schätzen, als er die Tür seines Wagens zuschlug und mit gerunzelter Stirn den weißen Toyota anschaute, der in der Einfahrt des Hauses seines Vaters stand. Seine Arbeit lieferte ihm genug Überraschungen und Herausforderungen. Deswegen fand er es ganz normal, dass er in seinem Privatleben das Beständige liebte. Leanne Carter, die Schulpsychologin seiner Tochter, sah das allerdings als Nachteil und meinte, dass er deswegen nicht auf die Veränderungen eingehen konnte, die seine Tochter mitmachte.

Er liebte Shelby mehr als alles andere auf der Welt. Ihm gefiel es nur nicht, wie sie sich zurzeit benahm. Jeder Versuch mit ihr zu reden, endete auf ihrer Seite entweder mit trotzigem Schweigen oder mit Tränen. Und einiges von dem, was sie in letzter Zeit anstellte, war richtiggehend peinlich. Er war der Sheriff. Er war dafür verantwortlich, dass in seinem County, in dem mehr als fünfzehntausend Leute lebten, Ordnung und Gesetz eingehalten wurden. Also sollte gerade er in der Lage sein, seine eigene Tochter unter Kontrolle zu halten.

Frustriert setzte er seinen braunen Hut auf und lief ums Haus. Seine Haushälterin hatte ihn vor einer Stunde angerufen und ihm mitgeteilt, dass Shelby nach der Schule nicht nach Hause gekommen war. Und dass sie auch nicht bei ihren Freundinnen wäre. Was ihn nicht überraschte, da die Mütter dieser Freundinnen den Einfluss nicht schätzten, den Shelby auf die jungen Mädchen ausübte. Doch bevor er seine Leute auf die Suche schickte und der ganzen Welt verkündete, dass er unfähig war, auf sein eigenes Kind aufzupassen, würde er zuerst selbst nach ihr schauen. Vielleicht war sie ja draußen im Garten.

Seit sein Vater gestorben war, hatte Shelby die Gewohnheit angenommen, auf Bäume hinter dem Haus zu klettern – und das, obwohl er es ihr verboten hatte. Kriminalität war selten in Mountain River, doch in der Erntezeit kamen viele Gelegenheitsarbeiter in diese Gegend, und er wollte nicht, dass seine Tochter sich hier allein aufhielt. Trotzdem hatte Ernie Ortega, der Vorarbeiter von Dads Obstplantage, sie oft hier gesehen. Gallagher hatte Ernie damit beauftragt, noch einmal die Ernte einzubringen, bevor das gesamte Anwesen verkauft wurde.

Gabes Schritte beschleunigten sich vor Wut, als er an Shelbys Verhalten dachte, aber es war eine Wut, die mit Unsicherheit gemischt war. Eine Unsicherheit, die an Hilflosigkeit grenzte, wie immer, wenn es in der letzten Zeit um Shelby ging. Aber er konzentrierte sich auf seine Wut. Das war ein Gefühl, mit dem er umgehen konnte.

Und genau diese Wut war auf seinem Gesicht geschrieben, als er an den einst so makellos gepflegten Rhododendren vorbei zur hinteren Veranda lief.

Laura hielt ihre Visitenkarte in der Hand und schloss gerade wieder ihre Handtasche, als sie sich auf den Weg zum Vorgarten machte. Sie spielte mit der Idee, ob sie Gallagher eine Nachricht auf der Rückseite der Visitenkarte hinterlassen sollte, als sie einen großen Mann in einer braun-beigefarbenen Uniform genau auf sich zukommen sah.

Sie blieb stehen und hatte noch nicht einmal Zeit sich zu wappnen, als er mit solcher Wucht gegen sie prallte, dass ihr die Luft wegblieb, ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde und sie nach hinten kippte. Unwillkürlich warf sie die Arme nach vorne und wurde von zwei kräftigen Händen gepackt und gegen eine Brust gezogen, die so solide und breit wie eine Mauer war. Dann spürte sie die schützende Wärme zweier Arme.

Ihr Kopf lag an der Brust dieses wildfremden Mannes und sie hörte das Schlagen seines Herzens. Gegen jede Logik wurde sie auf einmal von Gefühlen überwältigt, die sie nie zuvor gekannt hatte. Für einen winzigen Moment konnte sie sich vorstellen, wie es sein müsste, von jemandem beschützt und geliebt zu werden.

Ihr eigenes Herz schlug viel zu schnell, als die Hand des Mannes, die eben noch ihren Hinterkopf gehalten hatte, sich auf ihre Schulter legte und der Mann ein wenig von ihr abrückte. Das Erste, was sie sah, war ein glänzender Sheriffstern an einem dunklen Uniformhemd, ein sorgfältig geknoteter beigefarbener Schlips und eine breite Schulter.

„Ist alles in Ordnung?“

Die tiefe Stimme durchfuhr sie wie verhaltener Donner, oder wie die Wärme, die ein guter alter Brandy hervorrief.

„Mir … mir geht es gut.“ Sie nahm noch den schwachen Duft seines Aftershaves und den Minzgeruch seines Atems wahr und legte dann den Kopf zurück. Sie schaute in ein markantes Gesicht mit einem energischen Kinn, einem gut geschnittenen Mund, einer geraden griechischen Nase und unglaublich grauen Augen.

Der Blick dieser Augen, in denen Autorität und Ärger, vor allem aber Besorgnis lag, schien sich in sie einzubrennen.

Er strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich hätte Sie beinahe umgelaufen“, brummte er. „Ich habe Sie doch nicht verletzt, oder?“

Laura schüttelte den Kopf. Wenigstens glaubte sie es nicht. Die Zärtlichkeit seiner Berührung hatte sie viel zu sehr in Anspruch genommen, als noch an irgendetwas anderes denken zu können.

Auch Gabe war noch etwas benommen. Die Frau war plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, wie auch die Wärme, die ihn durchströmt hatte, als ihr Körper plötzlich an seinem lag. Sein Wunsch sie unverletzt zu wissen, war so instinktiv und spontan gewesen, dass es ihn überraschte. Er hatte schon lange nicht mehr das Bedürfnis gehabt, jemanden zu beschützen.

Oder jemanden zu berühren.

Als ihm bewusst wurde, wie stark sein Körper auf diese Frau reagierte, ließ er die Hände zur Seite fallen, als hätte er heiße Kohlen angefasst.

Verwirrt trat sie einen Schritt zurück, als er mit dem Blick über ihr makelloses Gesicht mit der Porzellanhaut und den langen dichten Wimpern zu ihrem dunklen Haar glitt. Ihr voller begehrenswerter Mund trug nur den Hauch eines pinkfarbenen Lippenstiftes. Und ihre aufregenden Kurven, mit denen er gerade so enge Bekanntschaft gemacht hatte, wurden von einem Kostüm kaschiert, das konservativ genug für einen Gerichtssaal gewesen wäre.

Der letzte Gedanke brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Er stöhnte innerlich auf und erinnerte sich an die Verabredung mit der Assistentin seines Anwaltes.

„Sie sind von Russ Winslows Kanzlei“, murmelte er und spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. Sie war ganz und gar nicht so, wie er sie sich vorgestellt hatte. Russ hatte sie ihm ganz anders beschrieben.

„Miss Burkett.“

„Barret“, verbesserte sie ihn. „Laura Barret. Ich habe das Gefühl, ich spreche mit Gabe Gallagher?“

„Sie hören sich so an, als ob Sie hoffen, dass Ihre Vermutung falsch ist.“

Ihre Antwort auf seinen Versuch, etwas Humor in die Situation zu bringen, misslang. Ihr Lächeln wirkte viel zu gequält.

„Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?“, fragte er nun etwas zerstreut, während er prüfend zu den Bäumen hinüberschaute.

„Ganz sicher.“ Laura bückte sich, um ihre Handtasche aufzuheben.

„Es tut mir leid, dass ich Sie so lange habe warten lassen“, sagte er, als sie sich wieder aufgerichtet hatte. „Aber mir ist etwas dazwischen gekommen, um das ich mich dringend kümmern muss. Wir werden später über alles reden müssen.“

„Später?“

„Genau.“ Er würde nichts in Angriff nehmen, bevor er nicht Shelby gefunden und er ihr nicht seine Meinung gesagt hätte. Das Maß war voll. Shelby hatte bereits genug angerichtet und jetzt hatte er ihretwegen auch noch diesen wichtigen Termin verpasst. „Haben Sie hier irgendwo ein Mädchen gesehen?“

Laura Barret konnte offensichtlich nichts so schnell durcheinanderbringen. Sie hatte ihre Fassung bereits wieder gewonnen, obwohl ein leichtes Glitzern in ihren hübschen goldbraunen Augen verriet, dass sie eineinhalb Stunden Wartezeit nicht so schnell vergab.

„Ein Mädchen mit blondem Haar in einem pinkfarbenen Spice-Girl-T-Shirt?“

„Ich weiß nicht, was darauf war. Man hat mir nur gesagt, dass es Pink war.“ Shelby war noch nicht angezogen gewesen, als er am Morgen zum Dienst ging. Er hatte seine Haushälterin fragen müssen, was seine Tochter heute trug.

Der Ärger in Lauras Augen schlug in Besorgnis um. „Ich wünschte, Sie wären zwei Minuten früher gekommen. Sie war hier“, sagte Laura, während sie auf die endlosen Reihen von Obstbäumen zeigte. „Aber sie ist in die Richtung dieses Hügels dort drüben gefahren. Dort liegt doch das Städtchen, nicht wahr?“

„Ich werde ihr nachfahren.“

„Ich weiß nicht, ob ich hoffen soll, ob sie nach Hause gefahren ist.“

Er zog bei dieser Bemerkung überrascht die Augenbrauen zusammen. „Warum nicht?“

„Weil man sie offensichtlich dort nicht sehr willkommen heißt“, erwiderte sie trocken. „Ihr Nichtsnutz von einem Vater sollte geteert und gefedert werden, so selbstsüchtig zu sein.“

Ihr Kinn war erhoben, Feuer glühte in ihren eben noch so sanften braunen Augen. Unter anderen Umständen wäre Gabe von ihrer Leidenschaft beeindruckt gewesen. Aber im Moment war ihm nur die Anklage in ihren Worten wichtig.

„Wovon zum Teufel reden Sie?“

„Ich rede davon, warum dieses Mädchen sich hier ganz allein die Augen ausweinen muss, um nur eines zu nennen.“ Sie runzelte die Stirn. „Ich bin überrascht, dass er sie überhaupt als vermisst gemeldet hat, da er sie ja wohl auf jeden Fall loswerden will.“

„Wer?“

„Ihr Vater“, betonte sie. „Ich bin sicher, dass Sie oft Meldungen von entlaufenen Kindern bekommen. Aber dieses Mädchen kann höchstens zehn Jahre …“

„Sie ist elf.“

„Das ist immer noch zu jung, um sich so zu benehmen. Ein Kind wird erst so, wenn …“

„Was meinen Sie mit benehmen?“

„Sie wissen schon“, erwiderte sie, sicher, dass ein Mann mit seinem Beruf sie verstehen sollte. „Sie tut so, als ob es ihr egal wäre, was die Leute von ihr denken. Sie lässt keinen Erwachsenen an sich ran, weil sie vollkommen das Vertrauen verloren hat. Ich weiß nicht, was Sie über ihre familiäre Situation erfahren haben, aber diesem kleinen Mädchen muss es zu Hause so schlecht ergehen, dass sie vielleicht doch besser bei ihrer alten Tante aufgehoben wäre.“

Gabe zwickte leicht seinen Nasenrücken. Er hatte einen langen anstrengenden Tag hinter sich, der offensichtlich noch lange nicht vorbei sein würde, und seine Geduld war fast erschöpft.“

„Ich kann es nicht fassen, dass sie Ihnen das erzählt hat.“

„Pardon?“

„Um hier etwas richtig zu stellen“, begann er scharf. „Ich bin der Vater dieses Mädchens. Und ich versuche überhaupt nicht, sie loszuwerden. Shelby muss gestern Abend gelauscht haben, als ich mit der Schulpsychologin telefoniert habe. Sie hat gestern die Schule geschwänzt“, erklärte er und sah nicht ohne Zufriedenheit, wie langsam jeder Blutstropfen aus dem Gesicht der Frau wich. „Sie hat offensichtlich gehört, wie ich einige Möglichkeiten aufgezählt habe. Eine davon war, dass sie die Weihnachtsferien bei ihrer Tante verbringen sollte. Eine andere war, sie einzuschließen, bis sie achtzehn Jahre alt ist. Einundzwanzig wäre mir noch lieber gewesen, aber ich glaube, so lange könnte ich meine geistige Gesundheit nicht erhalten.“

Er gab einer Fremden Erklärungen ab. Wütend darüber stemmte er die Hände gegen die Hüften und schaute sie finster an. „Wissen Sie, Miss Barret, jemand mit Ihrem Job müsste eigentlich wissen, dass man erst Beweise sammeln sollte, bevor man jemanden für schuldig erklärt. Soviel ich weiß, ist ein Mann so lange unschuldig, bis man ihm nicht das Gegenteil beweisen kann.“

Laura öffnete den Mund und schloss ihn auch gleich wieder. Wenn sie auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte, dass er der Vater des Mädchens war, hätte sie ihn von Anfang an gehalten. Oder zumindest ihre Meinung nicht so unumwunden hinausposaunt. Aber woher hätte sie das auch wissen sollen? Die grauen Augen waren das Einzige, was er mit seiner Tochter gemeinsam hatte. Und ihre waren verweint und mit Schmerz erfüllt gewesen, während seine sie jetzt so scharf ansahen, dass sein Blick sicherlich Diamanten schneiden könnte.

Nun, herausreden half jetzt auch nicht mehr. Tatsache war, dass dieser beunruhigend gut aussehende Mann – ihr Klient – jetzt auf sie genauso wütend war wie auf seine Tochter.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, versuchte sie den Schaden, den sie angerichtet hatte, einzudämmen, „außer dass … dass mir das Ganze schrecklich peinlich ist und mich selten ein Mann so beeindruckt wie Sie, kam ihr in den Sinn, entschied sich dann aber für eine andere Version. „Es tut mir sehr leid. Ich dachte, Sie würden in Ihrem Amt als Sheriff nach ihr suchen.“

„Offensichtlich.“

In ihren Inneren war ein Chaos ausgebrochen, äußerlich war sie allerdings die Ruhe selbst. „Ich sagte ja, dass es mir wirklich leidtut.“

Ihr Auftrag lautete, diesen Mann mit Glacéhandschuhen anzufassen. Und was hatte sie bis jetzt getan? Ihn einen Nichtsnutz genannt und ihm vorgeworfen, er würde sich nicht um seine Tochter kümmern. Dass ihr Körper immer noch auf seine Nähe reagierte, half auch nicht weiter, endlich ihre Haltung wiederzugewinnen.

„Sie haben im Moment andere Dinge im Kopf, als über den Verkauf des Erbes zu sprechen“, gab sie zu und vergab ihm damit, wenn auch widerwillig, seine Verspätung. Sie konnte ihm schließlich nicht vorhalten, dass er seine Tochter an erste Stelle setzte. „Wir können einen neuen Termin ausmachen. Oder ich werde warten, bis Sie sie gefunden haben.“

Sie suchte immer nach einem Kompromiss, wenn sie konnte. Es war einer ihrer Charakterzüge, der sich oft gleichermaßen als Tugend wie als Fehler bewiesen hatte.

Aber ihr Zugeständnis schien ihn nicht zu beruhigen.

„Wie lange wird das Ganze dauern?“

„Wenn Sie nicht zu viele Fragen haben, denke ich, dass wir in einer halben Stunde damit fertig sein könnten.“ Mehr Zeit brauchte sie nicht, um seine Unterschriften unter die Dokumente zu bekommen und ihm zu erklären, was getan werden musste, um das gesamte Anwesen seines Vaters zu verkaufen. Danach brauchte sie ihn nie mehr zu sehen, vorausgesetzt natürlich, das Schicksal meinte es gut mit ihr und es würden keine weiteren Schwierigkeiten auftauchen. Den Rest konnte man übers Fax und das Telefon regeln.

Und was seine Tochter betraf, nun, wenigstens wusste sie jetzt, dass man das Kind nicht ganz so vernachlässigte, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Trotzdem, Shelbys Schmerz hatte sie zutiefst getroffen.

„Wissen Sie, wo die Schule ist?“

„Wollen Sie mich dort treffen?“, fragte sie und schüttelte erneut ein seltsames Gefühl der Hilflosigkeit ab.

Ungeduld klang aus seiner Stimme. „Ich wollte nur wissen, ob Sie eine Ahnung haben, wo sie sich befindet. Dort müssen Sie abbiegen, um zu meinem Haus zu gelangen.“

„Ich finde sie schon. Geben Sie mir nur die Adresse.“

„Zweiundachtzig Spring Hill Road. Es ist das dritte Haus links. Geben Sie mir eine Stunde.“

„Falls Sie länger brauchen, rufen Sie mich unter dieser Nummer an“, bot sie ihm an, nahm rasch eine Karte aus der Handtasche und kritzelte eine Nummer auf die Rückseite. „Das ist die Nummer meines Handys.“

Autor

Christine Flynn

Der preisgekrönten Autorin Christine Flynn erzählte einst ein Professor für kreatives Schreiben, dass sie sich viel Kummer ersparen könnte, wenn sie ihre Liebe zu Büchern darauf beschränken würde sie zu lesen, anstatt den Versuch zu unternehmen welche zu schreiben. Sie nahm sich seine Worte sehr zu Herzen und verließ seine...

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