Im schimmernden Schein der Kerzen

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In ihrem silbernen Abendkleid glänzt Christy wie eine Schneeflocke - Alessandro kann kaum die Augen von seiner Frau lassen. Warum hat sie ihn bloß verlassen? Alessandro weiß: Er muss die Weihnachtstage nutzen, sonst hat er sie ganz verloren ...


  • Erscheinungstag 03.12.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738952
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Mum, wo feiern wir Weihnachten?“

Christy blickte von ihrem Brief auf. „Wahrscheinlich hier, zusammen mit Onkel Pete und euren Cousinen. Warum fragst du? Das ist noch eine Ewigkeit hin.“ Sie wollte nicht daran denken. Weihnachten war ein Familienfest, aber ihre Familie brach gerade auseinander.

Und wer war schuld? Sie. Sie hatte eine Dummheit gemacht, und nun bezahlten alle dafür.

„Stimmt nicht, nur ein Monat.“ Katy lehnte sich über den Tisch und entriss ihrem kleinen Bruder die Müslipackung. „Ich hab keine Lust, hier zu feiern. Onkel Pete ist nett, aber London ist schrecklich! Ich will Weihnachten bei Dad sein. Ich will wieder nach Hause.“

Christy spürte einen dumpfen Druck im Magen. „Also …“ Sie räusperte sich. „Wenn ihr wirklich wollt …“ Wie sollte sie das nur durchstehen – Weihnachten ohne die Kinder? „Ich schreibe eurem Vater, dass ihr kommt. Aber es kann sein, dass ihr eine Weile bei Großmutter bleiben müsst, weil Daddy im Krankenhaus arbeitet. Außerdem hat der Bergrettungsdienst in dieser Jahreszeit besonders viel zu tun …“

„Nicht nur wir beide.“ Katy holte sich den Zuckertopf. „Wir alle.“

„Wie – wir alle? Und zwei Löffel Zucker sind genug, Katy. Du machst dir die Zähne kaputt.“ Hinter ihren Schläfen begann es zu pochen.

„Ja, Zucker macht ganz dicke Löcher.“ Bens Griff nach dem Milchkrug endete damit, dass Milch auf den Tisch schwappte, anstatt in seiner Schale zu landen. „Das haben wir letzte Woche in der Schule gelernt. Dann kommt der Zahnarzt mit einem großen Bohrer und macht sie größer und füllt sie mit Zement!“

„Du bist so blöd! Was weißt du denn schon?“ Katy bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick und häufte die doppelte Menge Zucker auf ihr Müsli. „Baby.“

„Ich bin kein Baby mehr, ich bin sieben!“ Ben schoss von seinem Stuhl hoch, packte seine Schwester, und gleich darauf war eine wilde Rangelei im Gange.

„Hört auf, ihr zwei, sofort!“, befahl Christy streng, während sie einen Lappen holte, um die Milch aufzuwischen.

Katy ließ von ihrem Bruder ab, funkelte ihn böse an und begann, ihr Müsli in sich hineinzuschaufeln. „Ben und ich wollen Weihnachten nicht allein nach Hause fahren“, sagte sie mit vollem Mund. „Du sollst mitkommen.“

Die Kopfschmerzen wurden stärker, und sie stand auf, um sich eine Tablette zu holen. „Das hier ist unser Zuhause, mein Schatz. Wir wohnen jetzt in London.“

Sie blickte aus dem Fenster ihrer winzigen Wohnung auf die Straße hinunter. Regen trommelte gegen die Scheiben, und unten kroch eine endlose Autoschlange die trostlose nasse Straße entlang. Heruntergekommene hohe Backsteinhäuser verstellten ihr den Blick und ließen das fahle Winterlicht kaum herein. Niedergeschlagen schloss sie die Augen.

Und sah ihr Zuhause im Lake District vor sich: Gegen einen azurblauen Himmel zeichneten sich in der frostigen klaren Winterluft die Berge ab. Sie dachte an das Bergrettungsteam, die spannungsgeladene und doch herzliche, vertrauensvolle Atmosphäre, wenn sie sich auf einen Einsatz vorbereiteten. Freundschaft.

Mein Gott, ich will nicht hier sein, dachte sie bedrückt.

Ben ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen. „Hier ist nicht unser Zuhause. Es ist so blöde, und ich hasse es. Ich hasse London, ich hasse die Schule, und am meisten hasse ich dich!“ Er fing an zu heulen, sprang auf und rannte aus der Küche.

Christy schaute ihm nach und unterdrückte das Bedürfnis, ihm hinterherzulaufen. Aus Erfahrung wusste sie, dass es besser war, ihn eine Weile allein zu lassen. Seufzend setzte sie sich wieder an den Tisch und griff zur Kaffeekanne. Es war halb acht, und sie musste zwei Kinder zu einer Schule bringen, die sie hassten, und sie musste weiterfahren zu einem Job, den sie hasste.

Was habe ich getan?

Unglücklich füllte sie sich Kaffee nach und bemühte sich, die Situation zu retten. „Weihnachten in London kann echt cool sein.“

Katy verdrehte die Augen. „Mum, versuch nicht, wie ich zu reden. Das wirkt lächerlich bei Erwachsenen. Sag lieber interessant oder aufregend, und überlass solche Ausdrücke wie cool und krass denen, die sie richtig anwenden können.“ Mit der unerschütterlichen Überheblichkeit ihrer elf Jahre schob sie die leere Müslischale von sich und nahm sich eine Scheibe Toastbrot. „Und außerdem wäre es bestimmt nicht cool. Shoppen ist in London okay, aber irgendwann bringt‘s das auch nicht mehr.“

Das sind ja ganz neue Töne, dachte Christy verwundert, wollte die angespannte Stimmung am Tisch aber nicht noch anheizen. „Ich kann Weihnachten nicht mit zum Lake District kommen“, erklärte sie schließlich, als Katy das Toastbrot zum Mund hob.

„Warum nicht? Weil Dad und du euch gefetzt habt?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist doch nichts Neues.“

Christy biss sich auf die Lippe. Sie musste sich erst noch daran gewöhnen, dass ihre Tochter älter wurde und kein Blatt vor den Mund nahm. „Katy, wir haben uns nicht …“

„Doch, habt ihr. Ist ja auch kein Wunder. Daddy ist Spanier, und du bist halbe Irin und hast rote Haare. Onkel Pete sagt, was Explosiveres gibt‘s nicht. Vielleicht wäre alles anders, wenn du eine Blondine wärst.“ Sie kaute nachdenklich auf der Unterlippe. „Wirklich erstaunlich, dass ihr euch lange genug vertragen habt, um uns zu machen.“

Christy verschluckte sich an ihrem Kaffee und nahm sich vor, ein ernsthaftes Wort mit ihrem Bruder zu reden. „Katy, das reicht.“

„Ich wollte sagen, dass wir doch nicht in London leben müssen, nur weil ihr euch immer wieder streitet.“

„Ich habe hier einen Job.“ In der Praxis ihres Bruders. Und das ist völlig in Ordnung, versuchte sie sich einzureden.

„Du bist Krankenschwester, Mum. Du kriegst überall einen Job.“

„Katy …“

„Nur für die Weihnachtsfeiertage. Bitte! Fehlt Dad dir denn gar nicht?“

Der Druck in ihrem Magen nahm wieder zu. Christy schloss die Augen und sah ihn vor sich. Das attraktive männliche Gesicht, das spöttische Lächeln, den Mund, der sie um den Verstand bringen konnte. Oh ja, er fehlte ihr, und wie! „Ich werde nicht mit dir über meine Beziehung zu deinem Vater sprechen.“

„Ich bin elf Jahre alt“, betonte Katy. „Mit Beziehungen kenne ich mich aus, und ich weiß, dass ihr beide dickköpfig seid.“

Er hatte sich nicht gemeldet. Stolz mischte sich mit Schmerz, und sie presste die Lippen zusammen, um nicht aufzuschluchzen. Er hätte den ersten Schritt tun müssen, sie zurückholen sollen. Er hätte um das kämpfen müssen, was sie gehabt hatten. Aber bis auf ein kurzes Gespräch, bei dem es um die Kinder gegangen war, hatte Funkstille geherrscht. Es war ihm egal, dass sie ihn verlassen hatte.

Plötzlich empfand sie doch den verrückten Wunsch, sich bei ihrer Tochter auszuweinen. Aber das durfte sie nicht, egal, wie reif Katy für ihr Alter schien. „Ich kann Weihnachten nicht mit eurem Vater verbringen.“

Sie hatte ihn verlassen, sicher. Aber doch nur, damit er sie wieder nach Hause holte. Damit er ihr einmal zuhörte.

„Wenn ich mich mit meinen Freundinnen streite, sagst du immer, dass ich mich mit ihnen hinsetzen und vernünftig darüber reden soll. Und was machst du? Du ziehst gleich aus. Da gehst du doch kaum mit gutem Beispiel voran, oder?“

Jetzt war Disziplin angesagt. „Mir gefällt dein Ton nicht, Katy.“

„Und mir nicht, aus einer gescheiterten Ehe zu kommen.“ Katy aß das letzte Stück Brot und trank einen Schluck Milch. „Weißt du, wie sich das auf mich auswirkt? Die Zeitungen sind jeden Tag voll davon. Höchstwahrscheinlich gerate ich deshalb auf die schiefe Bahn, werde schwanger, breche die Schule ab und …“

Heftig stellte Christy ihren Becher ab. „Was weißt du von Schwangerschaft?“

Wieder bekam sie einen mitleidigen Blick. „Wo lebst du denn, Mum? Ich weiß jede Menge darüber.“

„Wirklich?“ Christy fühlte sich überfordert. Sie brauchte Alessandro. Sie brauchte …

Oh, Hilfe …

„Und nicht dass du ihm schreibst. Ruf ihn an.“ Katy warf einen Blick auf die Uhr und stand auf. „Wir müssen los, sonst kommen wir zu spät. In dieser schrecklichen Stadt steckt man ständig im Stau, und ich hab die Nase voll. Und wenn du zu feige bist, rufe ich ihn an.“

„Ich bin nicht feige.“ Oder vielleicht doch. Er hatte es nicht für nötig gehalten, sie anzurufen. Alessandro, sexy, gut aussehend, engagiert und erfolgreich als Rettungsarzt, war ein Mann, von dem Frauen träumten. Früher hatte sie mit ihm Schritt gehalten, ob nun bei der Arbeit im Krankenhaus oder bei Einsätzen in den Bergen. Doch dann waren die Kinder gekommen, und sie blieb irgendwie zurück …

Und schließlich hatte er sie gar nicht mehr wahrgenommen. Hatte keine Zeit mehr für ihre Beziehung. Für sie.

„Ben hockt oben und heult. Ich stopfe hier Unmengen Zucker in mich hinein, und du führst dir eine schädliche Dosis Koffein nach der anderen zu“, verkündete Katy mit bühnenreifer Theatralik auf dem Weg zur Tür. „Unsere Familie steckt in einer tiefen Krise. Wir brauchen unseren Vater; wer weiß, was uns sonst blüht.“

Christy wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Du hast deine Milch nicht ausgetrunken“, erwiderte sie matt. „Also gut, ich rede mit ihm. Mal sehen, was er sagt.“

Aber nur wegen Weihnachten. Den Kindern zuliebe.

„Wirklich?“

„Wirklich.“

„Super!“ Katy stieß begeistert die Faust in die Luft. „Wir fahren Weihnachten zum Lake District! Schnee. Regen. Tosender Wind. Ich sehe meine Freundinnen wieder. Mum, du bist die Beste. Danke!“

Als sie aus dem Raum tanzte, bestimmt direkt auf dem Weg zu ihrem kleinen Bruder, um die frohe Botschaft zu verkünden, sank Christy das Herz in die Zehenspitzen. Nun musste sie nur den Mut aufbringen, Alessandro anzurufen und ihm zu sagen, dass sie für Weihnachten nach Hause zurückkehrten.

Schon bei der Vorstellung bekam sie eine Gänsehaut.

1. KAPITEL

„Ein Notfall, Dr. Garcia.“ Die hübsche junge Schwester steckte den Kopf zur Tür herein. „Sie werden in der Reanimation gebraucht.“

Alessandro ließ den Bericht fallen, in dem er gerade gelesen hatte. Zurzeit hatte er das Gefühl, buchstäblich in der Reanimation zu leben. Besonders jetzt, da fast die Hälfte des Personals durch Grippe ausfiel.

Im Wiederbelebungsraum herrschte Chaos.

„Oh, Dr. Garcia, Gott sei Dank. Dr. Nicholson ist bereits mit diesem Skiunfall beschäftigt und …“, sprudelte Billy, einer der jungen Ärzte, sichtlich erleichtert los, als Alessandro neben die Rollliege trat.

„Was ist passiert?“, unterbrach Alessandro ihn.

„Ihr Ehemann war mit dem Wagen auf dem Weg hierher, weil sie die ganze Nacht über Bauchschmerzen geklagt hatte. Er fuhr anscheinend zu schnell und landete in einem Graben. Sie ist mit dem Kopf irgendwo dagegengeprallt und blutet. Aber wir wissen noch nicht genau, wo.“

Alessandro griff nach den sterilen Handschuhen, die ihm die Schwester reichte. Dabei nahm er sich vor, mit Billy darüber zu reden, wie Patienten vorgestellt werden.

„Hat sie auch einen Namen?“

Billy wurde rot. „Megan. Megan Yates.“

Rasch zog sich Alessandro die Handschuhe über und wandte sich der Frau auf der Liege zu. Sie war blass, ihre Wangen blutverschmiert, und sah ihn verängstigt an. „Megan, das war bestimmt kein schönes Erlebnis, aber nun sind Sie bei uns in guten Händen.“ Er blickte Billy an. „Holen Sie bitte das gynäkologische Team her“, befahl er ruhig und warf einen Blick auf den Monitor. „Wir müssen Puls und Blutdruck im Auge behalten.“

Der Puls war hoch, der Blutdruck sank kontinuierlich, und die Patientin zeigte alle Anzeichen einer inneren Blutung. Aber er behielt seine Besorgnis für sich.

„Das Gyn-Team?“, fragte Billy sichtlich verwundert. „Ich dachte, nach einem Autounfall müsste sie …“

„Die Patientin ist im gebärfähigen Alter, und bevor ihr Mann den Wagen in den Graben setzte, hatte sie starke Bauchschmerzen“, erinnerte Alessandro ihn. „Ich möchte, dass sofort zwei i. v.-Zugänge gelegt werden.“

Er blickte die Patientin an. „Megan, besteht die Möglichkeit, dass Sie schwanger sind?“

„Nein … also, ich meine …“ Die Frau schloss kurz die Augen. „Es ist eigentlich unwahrscheinlich … kaum möglich.“

„Das Gegenteil erleben wir hier praktisch jeden Tag“, meinte Alessandro mit einem trockenen Lächeln. „Wann hatten Sie Ihre letzte Periode?“

„Das ist schon Monate her“, flüsterte sie. „Ich leide an Endometriose.“

Ihre Stimme zitterte leicht dabei, und er legte Megan leicht die Hand auf die Schulter. „Das muss schwer für Sie sein“, sagte er sanft. „Aber jetzt wollen wir erst einmal herausfinden, welche Verletzungen Sie beim Unfall erlitten haben, und die Ursache für Ihre Bauchschmerzen finden. Dazu müssen wir Sie ausziehen. Nicky?“

Die Unfallschwester begann zügig, die Kleidung aufzuschneiden, und Alessandro fing mit der Untersuchung an.

„Wo ist ihr Mann?“, erkundigte er sich dabei. „Hat er sich auch verletzt?“

„Ihm geht es gut“, informierte Billy ihn, der gerade den zweiten Zugang gelegt hatte und mit einem Pflaster festklebte. „Er sitzt im Warteraum.“

„Megan hat einen hässlichen Schnitt an der Schulter.“ Nicky griff nach einem sterilen Wattetupfer, während Alessandro sich rasch die Wunde besah.

„Sie muss genäht werden, aber das kann noch warten“, murmelte er und blickte wieder zum Monitor. „Der Blutdruck sinkt weiter. Ich will wissen warum. Und zwar sofort. Wo bleibt das Gyn-Team?“

„Schon unterwegs“, erwiderte eine der Schwestern, und Alessandro runzelte die Stirn.

Der Zustand seiner Patientin gefiel ihm nicht.

„Oh …“ Nicky hatte der Frau gerade die letzten Kleidungsstücke entfernt, und nur kurz zeigte ihr Gesicht Erschrecken. „Wir haben hier einen Blutverlust, Alessandro.“

Alessandro genügte ein Blick, um das Ausmaß zu erkennen. „Jake Blackwell soll sofort herkommen. Kreuzprobe von sechs Einheiten Blut, und bestimmen Sie den Rhesusfaktor. Vielleicht müssen wir anti-D-Antikörper geben. Und jemand soll eine Decke bringen, ehe sie eine Hypothermie erleidet.“

Wenige Minuten später eilte der Chefarzt der Gynäkologie herein. „Du brauchst meinen Rat, Alessandro? Probleme?“

Alessandro ging nicht auf den spottenden Unterton ein, sondern erläuterte knapp, wie es um die Patientin stand.

Jake hörte aufmerksam zu, dann untersuchte er sie rasch und nickte anschließend mit ernster Miene. „Megan, es sieht so aus, als hätten Sie eine Bauchhöhlenschwangerschaft, und das bedeutet, dass wir sofort operieren müssen.“ Er blickte Alessandro an. „Wir bringen sie gleich in den OP.“

Stunden später tauchte Jake wieder in der Abteilung auf und ließ sich in Alessandros Büro auf einen der Stühle fallen. „Verdammt, ich bin fix und fertig. Heute habe ich nur Leben gerettet. Ein Drama nach dem anderen. Man weiß gar nicht mehr, wo einem der Kopf steht.“

Alessandro hatte sich seit dem Mittag mit zwei schweren Autounfällen, einem Herzinfarkt und einem Asthmaanfall herumgeschlagen. Dass Mittagszeit gewesen war, hatte er auch nur daran gemerkt, dass er um eins zufällig auf die Wanduhr gesehen hatte. Seit Stunden knurrte ihm der Magen. „Stimmt, ich habe nur faul auf meinem Allerwertesten gesessen.“

„Allerwertesten?“ Jake grinste. „Das ist aber nicht Spanisch, Amigo.“

Schlecht gelaunt und müde sah Alessandro ihn an. „Hast du nichts Besseres zu tun, als in meinem Büro herumzusitzen und zu jammern?“

„Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du Lust hast, nach der Arbeit noch was mit mir zu trinken. Genau das Richtige nach einem solchen Wahnsinnstag.“

„Nicht heute Abend.“

Jake gähnte herzhaft. „Arbeitest du länger?“

„Ich muss das Haus aufräumen“, sagte er angespannt. „Christy und die Kinder kommen morgen. Es ist besser, wenn ich die Fast-Food-Kartons der letzten Wochen spurlos beseitige und den Kühlschrank mit Brokkoli und dergleichen fülle, sonst gibt es gleich Ärger. Du kennst doch Christy mit ihrem Tick für gesunde Ernährung.“

„Ihr seid wieder zusammen?“

„Nein, sind wir nicht!“ Unbeherrscht zerbrach er seinen Bleistift. „Wegen der Kinder verbringen wir Weihnachten unter einem Dach.“

„Ich verstehe.“ Nachdenklich schaute Jake auf die Bleistifthälften. „Na dann, friedliche Weihnachten. Besser, du warnst Santa Claus, dass er sich eine Splitterschutzweste überzieht, wenn er über euer Haus segelt. Sonst verletzt er sich noch, wenn bei euch wieder die Fetzen fliegen.“

In den letzten sechs Wochen hatte Alessandro Christy nur gesehen, wenn sie sich die Kinder gebracht hatten. Gesprochen wurde nur das Nötigste, gestritten gar nicht. Weihnachten würde so eiskalt werden wie das Winterwetter. Plötzlich hatte er eine Idee. „Warum kommst du nicht auch zu uns? Du bist doch ihr Patenonkel.“

Jake nickte. „Könnte sein, wenn ich mich von der geliebten Arbeit hier losreißen kann. Du weißt doch, wie sehr ich kalten Truthahn und klumpige Soße aus der Krankenhauskantine liebe.“ Er streckte die langen Beine aus. „Also, was die Sache zwischen dir und Christy betrifft …“

„Wir haben uns getrennt, Jake, und das war‘s. Ich habe keine Lust, darüber zu sprechen.“

Jake seufzte. „Es ist ein Jammer, euch so zu sehen. Ihr seid meine besten Freunde, und ihr solltet festhalten, was ihr habt. Christy war von Anfang an verrückt nach dir und du nach ihr. Ich erinnere mich noch an den Tag, als ihr euch kennengelernt habt …“

„Ich sagte, ich will nicht darüber reden“, unterbrach Alessandro ihn kühl, stand auf und marschierte zum Fenster, wütend auf Jake, der Erinnerungen aufwühlte, die Alessandro seit Langem zu begraben versuchte.

Wie könnte ich diesen Tag jemals vergessen?

Schweigend starrte er auf die vertraute Landschaft, die nun unter einer glitzernden Schneedecke begraben war. In der Ferne erhoben sich die Berge zum Himmel, gezackte Gipfel, die er so gut kannte.

Doch dann ging sein mediterranes Temperament mit ihm durch. „Sie hat mich verlassen, nicht umgekehrt!“

„Ich weiß“, sagte Jake ruhig. „Und ich frage mich, warum sie es getan hat.“

Alessandro presste die Lippen zusammen. „Wenn du glaubst, dass ich daran schuld bin, dann irrst du dich gewaltig.“

„Christy betet dich an. Sie ist verrückt nach dir und ist es immer gewesen. Sie muss verzweifelt gewesen sein, sonst wäre sie nicht gegangen.“

„Unsinn, sie hätte mit mir reden können.“

„Hätte sie? Warst du denn erreichbar?“

„Wie sollen wir miteinander reden, wenn sie mich verlassen hat?“

Jake lächelte. „Ach, darum geht es eigentlich? Um deinen Stolz? Frag dich mal, warum sie nicht mehr da ist, Al.“ Er erhob sich. „Denk drüber nach, wenn du die Kartons in den Müll trägst.“

Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Bestimmt ein Dutzend Mal hatte Christy sich umgezogen, ehe sie sich für einen schmalen Rock und den blauen Kaschmirpullover entschied, den sie in einer kleinen Boutique in der King‘s Road gekauft hatte, um sich ein wenig aufzumuntern. Geholfen hatte es nicht viel, aber sie wusste, dass sie gut darin aussah. Alessandro sollte sehen, was ihm entging. Natürlich will ich ihn nicht wiederhaben, sagte sie sich hastig. So dumm war sie nun wirklich nicht.

Offensichtlich hatte er kein Interesse mehr an ihr. Ihre Ehe war zerbrochen, sie hatten sich auseinandergelebt. Er war ein arroganter, egoistischer Macho und Workaholic, der sie nicht mehr liebte.

Die Fahrt ging durch die Grafschaft Cumbria mit ihren schneebedeckten Bergen, und Christy fühlte, wie ihre innere Anspannung langsam nachließ. Der scharfe Winterwind hatte die letzten Blätter von den Bäumen gerissen, und grau und drohend hing der Himmel über ihnen. Trotzdem war alles vertraut. Heimat.

Wieso hatte sie geglaubt, sie könnte in London heimisch werden? Sie war nie ein Stadtmensch gewesen und hielt sich am liebsten draußen in freier Natur auf. Christy beschloss, nach Weihnachten wieder in den Lake District zu ziehen und sich hier einen Job zu suchen. Es war verrückt, all dies aufzugeben, nur weil ihre Beziehung kaputtgegangen war.

Sie musste sich ein neues Leben aufbauen.

Ein Leben ohne Alessandro.

„Wann sind wir endlich da, Mum?“, quengelte Ben.

„Gleich. Kennst du diese Bäume nicht mehr?“ Christy schaltete runter und bog scharf um die Kurve auf die schmale Straße ein, die zum Haus führte.

Alessandro und sie hatten die alte Scheune im zweiten Jahr ihrer Ehe zufällig entdeckt. Katy war damals noch ein Baby gewesen, und sie hatten sich sofort in das heruntergekommene, am Rand von weiten Feldern und einem kleinen Fluss gelegene Gebäude verliebt. Die nächsten Jahre hatten sie mehr oder weniger auf einer Baustelle gelebt, bis es endlich zu ihrem Traumhaus geworden war.

Aus dem Schornstein stieg Rauch langsam in den Himmel. Es war wie eine Begrüßung.

Christy musste schlucken und fuhr noch langsamer. Aber es war kein Willkommensgruß, oder? Alessandro wollte sie nicht mehr. Für ihn war ihre Ehe am Ende. Und dass sie die nächsten drei Wochen zusammen verbrachten, war nur der Kinder wegen und hatte nichts mit ihnen zu tun.

Es würde die reinste Tortur werden.

Doch sie war entschlossen, die Zeit erhobenen Hauptes durchzustehen. Also keine Tränen, keine Szenen, und sie würde sich auch nicht anmerken lassen, dass sie Tag und Nacht an ihn dachte. Christy hielt vor dem Haus und stellte den Motor aus.

Da ging die Haustür auf, und ihre guten Vorsätze waren Schnee von gestern.

Groß, schlank, dunkel stand Alessandro da. Christy hielt unwillkürlich die Luft an. Er sah überwältigend gut aus, und es war fast wie damals, als sie ihm das erste Mal in diese feurigen schwarzen Augen geblickt und ihr Herz einen Schlag lang ausgesetzt hatte. Sagte man nicht, dass mit der Zeit die sexuelle Anziehung nachließ, Langeweile und Desinteresse zunahmen?

Hilflos musste sie sich eingestehen, dass es auf sie nicht zutraf. Aber das liegt wohl daran, dass Alessandro kein gewöhnlicher Mann ist, dachte sie bedrückt, während ihr Herz hämmerte. Er war stark, sexy und unverschämt männlich. An ihm ging keine Frau vorbei, ohne sich den Hals zu verrenken.

Nun stand er da in der für ihn typischen, arrogant selbstbewussten Haltung, die Beine leicht gespreizt, in ausgeblichener Jeans, Wanderstiefeln und einem dicken Pullover, der seine breiten Schultern betonte.

Er war ein heißblütiger Mann, und seit fast zwei Monaten hatten sie nicht mehr im selben Bett geschlafen.

Ob er eine Geliebte hat?

Hastig vertrieb sie den Gedanken.

„Dad!“ Katy und Ben waren schon aus dem Wagen und taten das, was sie auch gern getan hätte. Sie wollte zu ihm laufen, in seine starken Arme, und sich an ihn schmiegen.

Ihm sagen, dass alles nur ein dummes Missverständnis gewesen sei, und von ihm hören, dass es wieder in Ordnung kommen würde.

Und dann sollte er sie ins Bett tragen, und danach wäre alles wieder gut.

Alessandro warf nicht einmal einen Blick zum Wagen. Er drückte nur die Kinder fest an sich. Also musste sie den ersten Schritt tun.

Sie riss sich zusammen, stieg aus und schlenderte hinüber.

Er hielt die Kinder noch umarmt, aber über ihre Köpfe hinweg trafen sich ihre Blicke.

Autor

Sarah Morgan
<p>Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 21 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen.</p>
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