Julia Ärzte zum Verlieben Band 153

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NOTÄRZTIN IM PARADIES von TRACI DOUGLASS
Auf Hawaii ist für Notärztin Leilani Kim ihr Traum wahr geworden: Tag und Nacht rettet sie Leben. Für die Liebe bleibt da keine Zeit! Auch nicht, wenn bei jeder Begegnung mit dem atemberaubenden Dr. Holden Ross die Funken sprühen. Doch plötzlich geraten sie zusammen in Lebensgefahr …

WARUM HAST DU GESCHWIEGEN, FAITH? von FIONA MCARTHUR
Faith ist schockiert: Dr. Raimondo Salvanelli ist zurück. Eigentlich sollte sie den italienischen Pharmamilliardär, der sie vor Jahren verlassen hat, hassen! Aber er ist noch immer so verboten attraktiv. Allerdings muss Faith ihm noch ein Geständnis machen …

HERZ GERETTET, HERZ VERSCHENKT von ALLIE KINCHELOE

Nur einer kann ihren herzkranken Sohn retten: Rhiann muss ihren einstigen Freund, den Chirurgen Dr. Patrick Scott, um Hilfe bitten. Seit Jahren herrscht eisiges Schweigen zwischen ihnen. Und beim Wiedersehen wirft er Rhiann auch noch etwas Unglaubliches vor!


  • Erscheinungstag 25.06.2021
  • Bandnummer 153
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501606
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Traci Douglass, Fiona McArthur, Allie Kincheloe

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 153

TRACI DOUGLASS

Notärztin im Paradies

Seit einem Attentat in einer Notaufnahme lebt Dr. Holden Ross nur für seine Arbeit. Auch seine schöne Kollegin Dr. Leilani Kim interessiert nur ihr Job. Obwohl es ihm mit jeder Schicht schwerer fällt, das sinnliche Knistern zwischen ihnen zu ignorieren, bleibt er vernünftig. Doch als auf ihrer Station Schüsse fallen, erkennt er, was wirklich zählt!

FIONA MCARTHUR

Warum hast du geschwiegen Faith?

Nie hat Pharmamilliardär Dr. Raimondo Salvanelli die australische Schönheit Faith vergessen können. Damals musste er sie wegen einer arrangierten Zweckehe überstürzt verlassen. Jetzt erfährt der attraktive Arzt, dass die bezaubernde Hebamme eine Tochter von ihm hat. Warum hat Faith nur all die Jahre geschwiegen?

ALLIE KINCHELOE

Herz gerettet, Herz verschenkt

Sie ist schuld am Tod seiner Familie! Einst waren Dr. Patrick Scott und Rettungssanitäterin Rhiann beste Freunde – bis zu jenem schicksalhaften Tag vor drei Jahren. Nun fleht sie ihn an, ihren kleinen Sohn zu operieren. Am liebsten möchte der Herz- chirurg ablehnen. Doch allmählich kommen Patrick Zweifel an Rhianns Schuld …

1. KAPITEL

„Sir, können Sie mir Ihren Namen sagen?“, fragte Dr. Leilani Kim, als sie ihrem neuesten Patienten mit einer Stiftlampe in die Augen leuchtete. „Pupillen sind gleich groß und reagieren. Sir, erinnern Sie sich an das, was passiert ist? Können Sie mir sagen, wo Sie sind?“

„Mach das Ding aus meinem Gesicht“, knurrte der Mann mit zusammengekniffenen Augen. Durch die Droge, die er offenbar gerade im Blut hatte, klangen seine Worte leicht verwaschen. „Ich sag euch meinen Namen nicht. Ich kenn meine Rechte.“

„Wie viele Finger halte ich hoch?“, fragte sie weiter.

„Vier.“ Erbost verzog er das Gesicht. „Wie viele halte ich hoch?“

Sie ignorierte seine unanständige Geste und kontrollierte mit dem Stethoskop seine Vitalfunktionen. „Puls 110, Atmung normal. Blutdruck?“

„130 zu 96, Doc“, antwortete eine Krankenschwester von der anderen Seite der Liege.

„Haben Sie irgendeinen Ausweis am Unfallort gefunden?“ Leilani blickte über die Schulter zu den Rettungssanitätern, die an der Tür des Schockraums standen. „Und haben Sie eine Ahnung, was er genommen hat?“

„Die Polizisten haben seinen Führerschein“, sagte eine Rettungsassistentin namens Janet. „Er heißt Greg Chambers. Laut Polizei wurde er schon öfters wegen Drogeneinfluss am Steuer verurteilt und auch zweimal wegen Crystal Meth verhaftet.“

„Na toll.“ Der Fall weckte Erinnerungen in Leilani, die sie lieber vergessen wollte. Aber sie musste professionell bleiben. Mit dem Chefarztposten der Notfallaufnahme in greifbarer Nähe war es notwendig, möglichst immer perfekt zu sein.

Eine schnelle Untersuchung von Atemwegen, Atmung und Kreislauf des Mannes zeigte, dass alles normal zu sein schien. Danach tastete Leilani den Rumpf sowie die Gliedmaßen des Patienten ab. „Haben Sie noch woanders Schmerzen außer am Kopf? Spüren Sie Ihre Arme und Beine?“

„Ich merke, wo Sie mich quetschen und pieken, wenn Sie das meinen.“ Stöhnend fasste sich der Mann an seinen bandagierten Schädel. „Mein Kopf tut weh.“

„Wenn man damit gegen die Windschutzscheibe knallt, kein Wunder.“ Leilani fand keinerlei Anzeichen für Brüche oder innere Blutungen. Der Patient hatte Glück gehabt. Wenn die Menschen, die sie am meisten auf der ganzen Welt geliebt hatte, doch nur auch so viel Glück gehabt hätten.

Sie blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an. Das musste die Erschöpfung sein, anders konnte sie es sich nicht erklären. Denn sie ließ es niemals zu, dass ihre persönlichen Gefühle ihre Arbeit beeinträchtigten.

„Alles okay, Doc?“, fragte Pam, die Krankenschwester, die den Herzmonitor einstellte.

„Ja, danke.“ Leilani nickte ihr kurz zu, ehe sie sich wieder an die Sanitäter wandte. „Gab es bei diesem Unfall noch irgendwelche anderen Verletzten?“

„Abgesehen von der Palme, in die er mit über sechzig Stundenkilometern reingekracht ist?“, meinte Peter, der zweite Sanitäter. „Nein. Keine weiteren Insassen oder andere Fahrzeuge waren daran beteiligt. Gott sei Dank. Als wir ankamen, stand der Patient neben seinem Fahrzeug und schrieb Nachrichten auf seinem Smartphone. Er hat uns gesehen, über Kopfschmerzen geklagt und ist dann zusammengebrochen. Er behauptete, er könne nicht stehen.“

„Wo ist mein Pick-up?“, knurrte Mr. Chambers.

„Ihr Fahrzeug hat einen Totalschaden, Sir.“ Leilani wurde allmählich zornig. Menschen starben, weil Idioten wie dieser Kerl mit Drogen und Alkohol im Blut Auto fuhren. Sie betrachtete seine Kopfwunde.

„Nein!“ Heftig riss er seinen Arm von einer MTA los, die ihm Blut abnehmen wollte. „Ohne meine Zustimmung dürft ihr mir kein Blut abnehmen. Ich kenne meine Rechte!“

Leilani, deren Energie und Geduld merklich nachließen, fixierte den Mann mit einem durchdringenden Blick. „Sie beschweren sich die ganze Zeit wegen Ihrer Rechte, Mr. Chambers. Aber was ist mit den Rechten der anderen Leute auf der Straße, die einfach bloß nach Hause zu ihrer Familie oder zu ihren Freunden wollen? Sie setzen das Leben unschuldiger Menschen aufs Spiel, indem Sie sich betrunken oder berauscht ans Steuer setzen. Was ist mit deren Rechten?“

Er reckte das Kinn vor. „Nicht mein Problem.“

Das wird es aber, falls die Testergebnisse positiv sind, dachte sie, ohne es jedoch laut auszusprechen.

Im Laufe der letzten zehn Jahre, in denen sie im Honolulu Ohana Medical Center arbeitete, hatte Leilani schon oft genug mit angriffslustigen Patienten zu tun gehabt. Aber dieser Kerl hier war der Übelste bisher. Sie wandte sich an Pam. „Bitte rufen Sie in der Radiologie an und fragen nach, ob sie ihn für ein Schädelröntgen dazwischenschieben können. Außerdem brauchen wir seine Laborwerte, einen Drogentest und einen Blutalkohol-Test.“ Zu dem Pfleger sagte sie: „Wenn nötig, schnallen Sie seinen Arm fest.“

„Ich bin nicht drogensüchtig!“, schrie Chambers. Er richtete sich auf, woraufhin alle Alarmsignale an den Monitoren ausgelöst wurden. „Lasst mich hier raus.“

Mehrere Pflegekräfte kamen herbei, um ihn festzuhalten, während Leilani die Untersuchungsergebnisse in die Patientendatei auf ihrem Tablet eintrug.

Dann schaute sie auf. „Wie viel haben Sie heute Abend getrunken?“

„Ein paar Bier“, antwortete der Patient achselzuckend.

Da sein Atem stark nach Alkohol roch, zog sie skeptisch die Brauen hoch. „Und?“

„Ein paar Whiskys.“

„Und?“

Er presste die Lippen zusammen.

Ihr schwelender Zorn verstärkte sich weiter. Dass jemand so rücksichtslos war, sich in einem solchen Zustand ans Steuer zu setzen, löste eine ungeheure Wut in ihr aus.

Steif vor lauter Anspannung legte sie das Tablet ab und entfernte die Kopfbandage des Mannes. Darunter waren eine starke Prellung und mehrere Schnittwunden zu sehen. „Keine offensichtlichen Schädelbrüche“, stellte sie fest. „Ein paar kleinere Schnittwunden an der Stirn sowie ein golfballgroßes Hämatom über dem linken Auge. Nähen ist nicht notwendig. Aber, Pam, würden Sie das hier bitte säubern und wieder neu verbinden?“ Erneut blickte sie zu den Sanitätern hinüber. „Er ist gegen die Windschutzscheibe geprallt?“

„Ja, das Glas ist gesplittert.“

„Okay, dann werden wir als Nächstes Ihre Wirbelsäule untersuchen, Mr. Chambers.“

„Nein.“ Er versuchte, von der Liege aufzustehen. „Ich will nach Hause.“

„Sie gehen nirgendwohin, bis ich die Entlassungspapiere unterschreibe und die Polizei Sie aus ihrem Gewahrsam entlässt“, erklärte Leilani, die ihr gesamtes Körpergewicht einsetzte, um den widerspenstigen Patienten hinunterzudrücken.

Bloß weil sie zierlich war, dachten die Leute immer, sie könnte mit schwierigen Situationen nicht umgehen. Was diese Leute aber nicht wussten, war, dass sie eine ausgezeichnete Kickboxerin war und schon mehr tragische Schicksalsschläge überlebt hatte, als die meisten Leute in ihrem ganzen Leben durchmachen mussten. Sie war daher durchaus imstande, ihre Kämpfe selbst auszufechten.

„Polizei? Verdammt. Nein.“ Der Mann musterte Leilani kurz. „Wie alt bist du, zehn?“

„Vierunddreißig.“ Mit einer Hand öffnete sie seine Halskrause und tastete mit der anderen vorsichtig den Nacken ab, ehe sie seinen Kopf langsam hin und her drehte. „Keine Wirbelverschiebungen. Pam, bitte bestellen Sie auch Aufnahmen von der Wirbelsäule, da der Patient am Unfallort über Probleme beim Gehen klagte. Mr. Chambers, waren Sie zur Unfallzeit angeschnallt?“

„Nee, ich mag keine Gurte. Die sind zu eng.“

Die MTA nahm die letzte Blutprobe ab, ehe sie dem Patienten ein Pflaster auf den Arm drückte. „Ich bring das schnell ins Labor, Dr. Kim.“

„Danke.“ Leilani griff wieder nach ihrem Tablet. „Der Patient hat möglicherweise eine Gehirnerschütterung und muss die nächsten vierundzwanzig Stunden beobachtet werden. Pam, stellen Sie sicher, dass diese Anordnung im Gefängnis befolgt wird.“

„Mach ich, Doc“, sagte Pam.

„Ich geh nicht in den Knast“, knurrte Mr. Chambers.

„Könnte sein, dass die Polizei das anders sieht. Soviel ich weiß, haben Sie einen ziemlich großen Schaden verursacht, und außerdem ist es nicht Ihr erster Verstoß.“ Leilani rieb sich über den Nacken, wobei ihre Finger die Narbe dort streiften. Zwanzig Jahre war der Unfall her, der ihr Leben für immer verändert hatte. Doch die Erinnerungen lösten noch immer einen tiefen Schmerz in ihr aus.

„Die Polizeibeamten sind bereit, den Patienten zu befragen, sobald Sie fertig sind, Dr. Kim.“ Mit einer Kopfbewegung wies Pam auf die beiden uniformierten Beamten, die vor der offenen Tür standen.

„Gut.“ Leilani wandte sich erneut ihrem Patienten zu. „Fast geschafft, Mr. Chambers. Jetzt nur noch ein paar Fragen.“

„Ich sag nix mehr“, entgegnete der Mann mit finsterer Miene. „Sie wissen doch, ich kenn meine Rechte.“

„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Dr. Kim?“, hörte sie da eine andere Stimme. Tief und unglaublich sinnlich.

Als Leilani sich umdrehte, sah sie Dr. Holden Ross, der sich zwischen den Beamten hindurch in den Raum drängte, als Pam gerade hinausging. Nun mischte sich auch noch der neue Vertretungsarzt ungefragt in den Fall ein. Vielleicht wusste er es nicht besser, da er erst seit einem Monat hier war, aber es ärgerte Leilani trotzdem. Sie konnte es nicht leiden, wenn andere Menschen ihre Grenzen überschritten.

Sie hatte hart daran gearbeitet, diese Mauern um sich herum aufzubauen, sowohl beruflich als auch privat. Jemanden zu nahe an sich heranzulassen, bedeutete nur entsetzlichen Schmerz, wenn er wieder verschwand. Und Leilanis Erfahrung nach verschwand jeder irgendwann. Manchmal ohne jede Vorwarnung.

Dass sein umwerfendes Lächeln ihr Schmetterlinge im Bauch verursachte, tat nichts zur Sache.

Sie richtete sich auf, strich sich über den weißen Kittel und lächelte höflich, um ihren Ärger zu überspielen. „Nein, ich komme gut zurecht, Dr. Ross. Wir sind hier gleich fertig.“

„Ich hab hier was, was du gleich fertigmachen kannst, Schätzchen.“ Der Patient warf ihr einen lüsternen Blick zu und fasste sich an seinen Schritt.

Wie charmant.

Holdens Blick wurde scharf, als er an die Liege trat, wobei Leilani einmal mehr seine Gehbehinderung auffiel. Sein Metallstock klirrte gegen das Seitenteil der Liege, als er finster auf den Betrunkenen hinunterstarrte. „Zeigen Sie Dr. Kim gegenüber gefälligst etwas mehr Respekt. Sie ist hier, um Ihnen das Leben zu retten.“

„Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, Dr. Ross“, sagte Leilani. „Aber ich habe die Sache unter Kontrolle. Sie haben sicher noch andere Patienten, um die Sie sich kümmern müssen.“

„Ich komme gerade erst zu meiner Schicht.“ Er trat zurück, ohne den Patienten aus den Augen zu lassen. „Sagen Sie mir, was mit ihm los ist, damit ich übernehmen kann, wenn Sie gehen.“

Verflixt, er hatte recht. Ihre Schicht war bald zu Ende, und sie sollte nach Hause gehen, um sich auszuruhen. Leilani warf ihrem Kollegen einen Blick zu. Er wirkte frisch und hellwach, während sie vermutlich genauso erschöpft aussah, wie sie sich fühlte. Die Tatsache, dass sie sich seiner Nähe heute ungewohnt intensiv bewusst war, erhöhte ihren Stress noch zusätzlich. Sich unbedacht zu einem Kollegen hingezogen zu fühlen, war das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnte.

Sie wandte sich ab und nahm ihr Tablet. „Wie viel Uhr ist es denn?“

„Viertel nach sechs“, erwiderte Holden, der um das Bett herum zu ihr kam. Mit der Hüfte lehnte er sich an den Schrank und nutzte den Stock, um sein rechtes Bein zu entlasten. „Ihre Schicht ist seit einer Viertelstunde vorbei.“

In dem folgenden Schweigen war nur das leise Summen der Blutdruckmanschette am Oberarm des Patienten zu hören. In der Gerüchteküche brodelte es bereits, wie der attraktive, faszinierende Dr. Ross im Ohana gelandet war. Von einer üblen Trennung über eine Empfehlung bis hin zu einflussreichen Geldgebern war alles dabei. Ein Gerücht beunruhigte Leilani jedoch besonders. Nämlich dass er auf Bitten der Krankenhausdirektorin Dr. Helen King gekommen war und denselben Chefarztposten anstrebte wie sie selbst.

Rasch schüttelte sie diese Gedanken ab. Im Augenblick spielte das keine Rolle. Als Medizinerin beschäftigte sie sich mit Zahlen und Fakten, nicht mit albernem Geschwätz oder irgendwelchen Emotionen.

Da steckte Pam den Kopf zur Tür herein. „Verzeihung, wenn ich unterbreche, aber wir haben eine neue Patientin für Sie, Dr. Ross. Unterleibsschmerzen seit sechs Stunden.“

„Die Pflicht ruft.“ Hoden hielt Leilanis Blick noch einen Moment lang fest, bevor er die Informationen auf dem Tablet überflog, das Pam ihm reichte.

Leilani konnte nicht anders, als ihn zu beobachten. Ihre Neugier ihm gegenüber war ihr ein Rätsel. Sicher, er war charmant, und mit seinem dunklen Haar, den markanten Gesichtszügen und den gefühlvollen grünbraunen Augen wäre er genau ihr Typ. Den Stationsärzten und anderen Mitarbeitern zufolge schien er außerdem in seinem Beruf mehr als kompetent zu sein. Doch keiner dieser Gründe war gut genug, um Dinge aufzuwühlen, die man lieber ruhen lassen sollte. Abgesehen davon würde Dr. Ross hoffentlich auch wieder gehen, sobald ein passender Kandidat für seine Vertretungsstelle zur Verfügung stand. Leilanis Leben fand hier in Hawaii statt, und sie wollte sich auf ihre Karriere konzentrieren. Für ein Privatleben war später immer noch reichlich Zeit.

Vielleicht.

Schnell verdrängte sie den Stich der Einsamkeit, den sie plötzlich empfand, und fuhr mit ihrer Dokumentation fort, während Holden seine Anweisungen an Pam weitergab.

„Okay, fangen wir mit einem HCG-Test an, um eine mögliche Schwangerschaft der Patientin auszuschließen.“ Holden tippte mehrere Male auf den Bildschirm. „Und ich habe noch einige zusätzliche Tests angeordnet, um die Dinge ins Rollen zu bringen.“

„Danke, Dr. Ross.“ Pam nahm das Tablet an sich und eilte wieder hinaus.

Leilani rieb sich erneut den Nacken. Die Narben erinnerten sie daran, dass sich das Leben von einer Sekunde auf die andere verändern konnte. Man durfte keine Zeit verlieren.

Da der Patient inzwischen schnarchte, schüttelte sie ihn vorsichtig wach. „Mr. Chambers, können Sie mir sagen, wo Sie sind?“

Blinzelnd öffnete er die Augen. „Wieso fragst du mich so’n Quatsch?“

„Weil Sie eine Gehirnerschütterung haben könnten.“ Sie schaute zu Holden hinüber und seufzte resigniert. Offenbar hatte er nicht vor zu gehen, ehe sie ihm über den Fall Bericht erstattete. Anscheinend war er ebenso stur wie sie.

Nach einem weiteren resignierten Seufzer teilte sie ihm mit: „Autounfall. Ein Sechsundzwanzigjähriger, der seinen Pick-up an einen Baum gesetzt hat. Der Kopf ist gegen die Windschutzscheibe geprallt. Er behauptet, nicht das Bewusstsein verloren zu haben. Er ist wach und …“

„Lasst mich gehen, verdammt noch mal!“ Der Patient schlug um sich und zerrte an der Halskrause. „Macht endlich dieses Ding ab!“

„Aggressiv“, beendete Leilani ihren Bericht. „Sir, sagen Sie mir, wo Sie sind, dann gebe ich Ihnen was gegen die Schmerzen.“

Er nannte den Namen des Krankenhauses und streckte dann die Hand aus. „Wo ist mein Oxycontin?“

„Paracetamol ist schon unterwegs“, gab sie zurück und tippte das Rezept auf das Tablet.

„Nein, zum Teufel!“ Wieder versuchte der Patient aufzustehen. „Ich will Opioide.“

Holden kam näher an die Liege heran, sein Gesicht war blass. „Beruhigen Sie sich, Sir.“

„Fahr zur Hölle!“ Der Patient trat nach ihm, wobei er mit dem rechten Fuß Holdens rechten Oberschenkel traf.

Mit einem gedämpften Fluch fasste Holden nach seinem Bein. „Was hat er genommen?“

„Wissen wir noch nicht genau. Auf jeden Fall Alkohol, aber vermutlich auch noch Drogen. Ich warte auf die Laborergebnisse“, antwortete Leilani. „Der Patient hat ein Hämatom an der Stirn und einige Schnittwunden, wie Sie sehen. Keine tastbaren Brüche an Nacken oder Wirbelsäule, keine offensichtlichen Blutungen oder Verletzungen. Allerdings habe ich zur Bestätigung noch Röntgenaufnahmen angefordert. Laut der Sanitäter ist sein Kopf so heftig gegen die Windschutzscheibe geprallt, dass sie gesplittert ist. Also auch keine Airbags. Wahrscheinlich war der Wagen zu alt.“

„Das heißt, von vor 1999.“ Das Gesicht schmerzlich verzogen, rieb Holden seinen Oberschenkel.

„Vor 1998“, korrigierte Leilani. „Seit 1998 sind Airbags vorgeschrieben.“

„Tut mir leid, wenn ich Ihnen widersprechen muss, Dr. Kim, aber ich habe das während meiner Arbeit in Chicago recherchiert. In den USA waren Airbags ab 1999 vorgeschrieben.“

„Dann stimmte Ihre Recherche nicht.“ Ärgerlich verstärkte sie den Griff um ihr Tablet. Gerade sie wusste ganz genau, wann Airbags zur Pflicht wurden. Das Datum war für alle Ewigkeit in ihr Gedächtnis eingebrannt. „Es war 1998, glauben Sie mir.“

„Wieso streiten wir uns überhaupt darüber?“, fragte er ebenso verärgert.

„Ich streite mich nicht, ich habe Sie lediglich korrigiert.“

„Das wäre okay, wenn ich mich irren würde. Tu ich aber nicht.“

„Da bin ich anderer Ansicht. Es war der 1. September 1998, um ganz genau zu sein.“ Leilani straffte die Schultern und wandte sich ab. „Das entsprechende Gesetz von 1991 trat am 1. September 1998 in Kraft.“ Sie führte eine Schnellsuche im Internet durch und hielt Holden das Tablet hin. „Sehen Sie? In jedem Truck und jedem Auto, das in den USA verkauft wurde, mussten Airbags für den Fahrer und den Beifahrer vorhanden sein.“

Er überflog die Information und verschränkte dann die Arme, wodurch sein durchtrainierter Bizeps hervortrat. Er musterte Leilani aufmerksam. „Und Sie können das wörtlich zitieren, weil …?“

Weil sie meiner Familie das Leben hätten retten können.

Sie schluckte schwer und wandte sich ab, weil sie ihr schmerzlichstes Geheimnis nicht mit einem Fremden teilen wollte. Oder doch?

Nein, ganz sicher nicht. Anscheinend war sie noch müder als gedacht. Sie brauchte dringend Schlaf. Schlaf und etwas zu essen. Vielleicht war ihr Blutzuckerspiegel zu niedrig. Das würde ihr Herzrasen erklären. Und wahrscheinlich auch die Tatsache, dass sie sich der Wärme und Nähe von Holden viel zu intensiv bewusst war, als sie einander so dicht gegenüberstanden. Das erklärte wohl auch Leilanis seltsame Halluzinationen, denn auf einmal kam es ihr so vor, als ob der Duft seiner Haut nach Seife und Moschus sie vollkommen zu umgeben schien. Oder dass sie mit den Fingerspitzen am liebsten den dunklen Bartschatten berühren wollte, der an seinem angespannten Kiefer dicht unter der Oberfläche zu erkennen war.

Unwillig ballte Leilani die Hände auf der Arbeitsplatte, wobei sie den Blick ihres Kollegen im Rücken spürte. Er wartete auf ihre Antwort.

Na schön. „Ich sehe mir viele Dokumentationen an.“

„Hm.“ Das klang nicht gerade überzeugt. „Ich mag solche Sendungen auch. Aber sich ohne einen echten Grund so viele Fakten zu merken …“

„Die Radiologie ist bereit für den Patienten, Dr. Kim“, sagte in diesem Moment Pam von der Tür.

„Danke“, erwiderte Leilani, als zwei Pflegehelfer Mr. Chambers hinausschoben.

Holden sah sie an. „Sobald er dort fertig ist, übernehme ich ihn, Dr. Kim. Machen Sie Feierabend.“

„Nicht nötig, Dr. Ross.“ Ohne ihn anzusehen, ging sie zur Tür, froh, endlich flüchten zu können. „Ich habe noch sehr viel Schreibkram zu erledigen. Ich werde also nachher noch hier sein, um den Fall abzuschließen.“

Für Holden war Dr. Leilani Kim ein Rätsel, und das beschäftigte ihn.

Zu verstehen, wie andere Leute tickten, schien in letzter Zeit sein großes Thema zu sein. Oder zumindest, sie einzuschätzen, bevor sie etwas völlig Unerwartetes taten, wie zum Beispiel in einem Raum voller unschuldiger Menschen um sich zu schießen.

Frustriert fuhr er sich mit den Händen durchs Haar, ehe er den Korridor hinunterging, um nach der Patientin mit den Unterleibsschmerzen zu schauen. Bei jedem Schritt durchzuckte ihn ein stechender Schmerz, dank des Fußtritts von Dr. Kims aggressivem Patienten.

Am Schwesterntresen blieb Holden stehen, um sein Tablet zu holen und sein Bein auszuruhen. Aber eigentlich sollte er sich wegen der Schmerzen nicht beklagen, denn er konnte von Glück sagen, dass er überhaupt noch atmete, nachdem die Kugel eines Angreifers seinen rechten Oberschenkelknochen zertrümmert und die Oberschenkelarterie gestreift hatte. Genauso gut hätte er auf dem Boden in der Notaufnahme in Chicago auch verbluten können, so wie David.

Nein.

Daran durfte er nicht denken, weil es seine Aufmerksamkeit beeinträchtigen würde. In der bevorstehenden Vierundzwanzig-Stunden-Schicht musste er volle Konzentration bewahren. Schlimm genug, dass die Meinungsverschiedenheit mit Dr. Kim ihm noch nachhing. Ihr exaktes Faktenwissen in diesem Fall war verblüffend. Holden hatte einen guten Grund für seine Recherche gehabt, da er mal einen Artikel für eine medizinische Zeitschrift zu diesem Thema geschrieben hatte. Aber sie?

An sich sollte es ihm gleichgültig sein, doch es interessierte ihn mehr, als ihm lieb war.

Ungehalten schüttelte er den Kopf und öffnete die Datei seiner neuen Patientin. Noch mehr Komplikationen waren das Letzte, was er in seinem Leben gebrauchen konnte. Schließlich hatte er selbst genug damit zu tun, Dinge herauszufinden. Beispielsweise, wohin er nach seinem Einsatz hier in Hawaii weiterziehen wollte. Ob er jemals wieder ohne Stock gehen würde. Wann der nächste Angriff passieren würde und ob er dieses Mal darauf vorbereitet wäre oder bloß als eine weitere statistische Zahl in den Nachrichten enden würde.

Als es um den Schwesterntresen herum allmählich eng wurde, ging Holden weiter den Korridor entlang zum Zimmer seiner Patientin, wo mehr Platz war. Mit Menschenmengen tat er sich schwer. Meistens zog er es vor, für sich zu bleiben, seine Arbeit zu tun, seine Fälle zu behandeln, anderen aus dem Weg zu gehen und dadurch Schwierigkeiten zu vermeiden. Das war im Allgemeinen seine Strategie. Deshalb kam ihm sein Impuls, in Dr. Kims Schockraum hineinzuplatzen, umso merkwürdiger vor. Normalerweise mischte er sich nie in die Fälle seiner Kollegen ein, solange er nicht um eine Konsultation gebeten wurde. Aber er hatte ihre Auseinandersetzung mit einem offensichtlich betrunkenen oder berauschten Patienten mitbekommen. Es hatte ihn wie ein Schlag vor die Brust getroffen, der ihn in den Raum hineingetrieben hatte, ehe ihm überhaupt bewusst wurde, was er tat.

Holden atmete langsam aus und bohrte die Spitze seines Stocks in den glänzenden Linoleumboden. Sein Therapeut in Chicago hätte vermutlich gesagt, dass sein Verhalten mit den Ängsten zusammenhing, die die Schießerei bei ihm ausgelöst hatte. Schließlich hatte der Amokschütze in Chicago auch unter Drogen gestanden. Er hatte nach Opioiden verlangt, genau wie Dr. Kims Patient. Diesmal gab es jedoch einen wesentlichen Unterschied. Keine Waffe.

Noch einmal atmete Holden tief durch. Ja, das musste es wohl sein. Und wahrscheinlich war dies auch der Grund für sein eigenartiges Bedürfnis, mehr über Dr. Leilani Kim zu erfahren. Ihre Schönheit, das lange dunkle Haar, die dunklen Augen und die sinnlichen Rundungen hatten nichts damit zu tun, auch wenn sie genau sein Typ war.

Kein Interesse.

Es lag nur an dem Stress einer neuen Umgebung und der posttraumatischen Überempfindlichkeit für seine jeweilige Umgebung. Immerhin war er erst seit einem Monat hier.

Seit dem Überfall auf seine Notaufnahme in Chicago waren zwölf Monate vergangen. Zwölf Monate, seit er seinen besten Freund durch einen sinnlosen Gewaltakt verloren hatte. Zwölf Monate, seit er dabei versagt hatte, für die Sicherheit der Menschen zu sorgen, die ihm nahestanden.

Warum sollte Holden wieder jemanden nahe an sich heranlassen, wenn er ihn so leicht wieder verlieren konnte?

Ein Signal auf dem Tablet kündigte den Laborbefund seiner Patientin an. Schwangerschaftstest negativ. Die übrigen Werte normal.

„Hey, Pam“, rief er den Gang hinunter. „Können Sie für eine Unterleibsuntersuchung in Schockraum drei kommen?“

„Gleich. Sobald ich den Anruf im Labor für Dr. Kim beendet habe.“ Sie hielt die Hand über den Hörer.

Holden nickte, lehnte sich an die Wand und wartete. Verglichen mit der hektischen Notaufnahme in der Innenstadt von Chicago ging es im Ohana Medical Center relativ ruhig zu. Früher hatte er den ständigen Stress geliebt, aber nach der Schießerei war es für ihn zu schmerzlich gewesen, dorthin zurückzukehren. Daher hatte er beschlossen, stattdessen als Vertretungsarzt zu arbeiten. Auf diese Weise war er wieder mit seiner alten Freundin Dr. Helen King in Kontakt gekommen. Tatsächlich war er ihretwegen im Ohana gelandet. Er stand tief in ihrer Schuld, und das konnte er ihr niemals zurückgeben. Aber er wollte es zumindest versuchen.

Deshalb befand er sich hier, mitten im Paradies, und fragte sich, wie schnell er wieder abreisen könnte. Allzu lange an einem Ort zu bleiben, war nichts mehr für ihn. Denn dadurch riskierte man emotionale Bindungen, machte sich verletzlich. Und genau das wollte Holden nie mehr erleben.

Plötzlich ließ ihn ein lautes metallisches Klirren aufhorchen. Sofort waren alle seine Sinne in höchster Alarmbereitschaft, und er sah Bilder einer anderen Notaufnahme vor sich. Eine andere gefährliche Situation. Sein bester Freund, der auf dem Boden lag und verblutete, während Holden wegen seiner eigenen Verletzungen außerstande war, es zu verhindern. Der gesamte Brustkorb wurde ihm eng, und sein Blickfeld schien sich zu verdunkeln, als die Panik ihn zu überwältigen drohte.

Nein, nicht hier. Nicht jetzt. Auf gar keinen Fall.

Mit rasendem Puls und einem Kribbeln auf der Haut wandte Holden sich der Ecke zu, wobei er sich bemühte, einen beschäftigten Eindruck zu machen, damit niemand sich fragte, wieso er dort allein im Gang stand. Nach dem Überfall hatte er viele Wochen lang gelernt, mit solchen Flashbacks seiner posttraumatischen Belastungsstörung umzugehen. Manchmal jedoch behielten die Schatten die Oberhand. Meistens, wenn er müde oder beunruhigt war. Da er in der vergangenen Nacht sehr schlecht geschlafen hatte, traf jetzt beides zu.

„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, unterbrach Pam seine wirren Gedanken. „Es ist gerade ziemlich viel los, mit der Touristensaison und all dem.“

Holden nickte und warf ihr einen kurzen Blick zu.

Als sie sein Gesicht sah, wich ihr Lächeln einem besorgten Ausdruck. „Alles in Ordnung mit Ihnen, Doc?“

Es dauerte eine Sekunde, ehe er seine Sprache wiederfand. „Ja.“ Sein Mund war entsetzlich trocken, deshalb musste er sich räuspern. Er lächelte rasch, obwohl ihm nicht danach zumute war. „Ist in Hawaii nicht immer Touristensaison?“

„Doch“, sagte da jemand aus dem Aufenthaltsraum auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors.

Leilani. Holden war so durcheinander gewesen, dass er nicht mal bemerkt hatte, wann sie dort hineingegangen war. Adrenalin schoss durch seine Adern. Ob sie seine Panikattacke mitbekommen hatte?

Als sie auf den Flur trat, ließ sie sich jedoch zum Glück nicht anmerken, ob ihr sein seltsames Verhalten aufgefallen war. Sie ging einfach an ihm vorbei zu den Lifts, wo die Radiologie-Assistenten gerade ihren betrunkenen Patienten aus einem der Aufzüge rollten.

Holdens Anspannung verstärkte sich, weil der Patient weiterhin die Mitarbeiter anbrüllte, als die ihn zum Schockraum zurückbrachten. „Schmerzmittel! Sofort!“

Leilani ging noch einmal zum Schwesterntresen. „Ich schau mir mal die Röntgenbilder an.“

Holden, der ihr folgte, erreichte den Tresen, als Dr. Kim gerade die Aufnahmen auf dem Bildschirm öffnete. „Keine Glassplitter in der Kopfhaut, Halswirbelsäule erscheint normal. Keine Rückenmarksschäden oder …“

„Ich verschwinde hier!“ Man hörte das Aufreißen eines Klettverschlusses, gefolgt von einem lauten Knall von Plastik auf dem Fußboden. „Und wenn ich meine Medikamente nicht kriege, leg ich euch alle um!“

Die Polizeibeamten an der Tür spannten sich sichtlich an, und Holden schnürte es unwillkürlich den Hals zu.

Oh Gott. Nicht schon wieder.

Unbeeindruckt marschierte Leilani zu dem Zimmer des Patienten. „Zeit, den Kerl endlich loszuwerden.“

„Warten Sie!“ Holden packte sie am Arm. „Gehen Sie da nicht rein.“

„Er ist mein Patient, Dr. Ross.“ Stirnrunzelnd schüttelte sie ihn ab. „Sagen Sie mir nicht, wie ich meine Arbeit tun soll. Wir brauchen diese Liege, und er kann entlassen werden. Dann hat die Polizei das Problem. Entschuldigen Sie mich.“

Sie eilte den Korridor entlang und bedeutete den Beamten, ihr in den Raum zu folgen.

„Ich will mein Oxycontin!“, schrie Mr. Chambers, der zudem einige wüste Flüche ausstieß.

Holden atmete tief durch. Er zwang sich, ruhig und aufmerksam zu bleiben, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Er sah den Patienten, der auf der Liege saß, die Halskrause auf dem Boden. Leilani näherte sich ihm langsam, ihre Stimme ruhig und leise.

„Ihre Röntgenbilder sind alle in Ordnung. Wir übergeben Sie jetzt der Polizei.“

„Ich hab’s doch schon gesagt.“ Schwankend stand der Patient auf. „Ich rede nich mit den Bullen.“

Die Zeit schien sich zu verlangsamen, als Holden vortrat, seine Sicht verschwommen von den Erinnerungen an die Schießerei. So viel Blut, so viel Chaos, so viel Vergeudung von Zeit, Energie und Menschenleben.

Atme, Mann. Atme.

Der Patient richtete sich auf und ging direkt auf Dr. Kim los. Die Polizisten kamen dichter heran.

Ihr Ton wurde schärfer. „Ich rate Ihnen, bleiben Sie stehen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit, Sir.“

„Meine Sicherheit?“, höhnte er. „Soll das ’ne Drohung sein?“

„Keine Drohung.“ Leilani straffte die Schultern. „Mich anzufassen, wäre nicht klug.“

„Klug?“ Der Mann schnaubte, und seine Miene wurde lüstern. „Komm schon, gib mir’n Kuss, Süße.“

Die Hände an ihren Tasern, sagten die Beamten wie aus einem Mund: „Zurück, Sir.“

Holden machte einen Schritt nach vorne, wobei sein Stock unter der Belastung ächzte. Er durfte nicht zulassen, dass so etwas noch einmal geschah. Nicht mit mir. Er durfte nicht versagen. Diesmal nicht.

Genau in dem Augenblick, als Holden sich zwischen den Beamten hindurchdrängte, drehte sich der Patient wegen des plötzlichen Tumults um und holte aus. Mit voller Wucht traf seine Faust auf Holdens Kinn, sodass der Schmerz sogar dessen Zähne zu durchzucken schien. Holden stolperte rückwärts.

Die Polizisten zückten ihre Taser, als der Patient Dr. Kims Pferdeschwanz packte. Blitzschnell fuhr sie zu ihm herum und stampfte mit der Ferse so heftig auf seinen Innenfuß, dass Chambers losließ. Nachdem er sich fluchend vornüberbeugte, rammte sie ihm zweimal das Knie zwischen die Beine. Der Mann fiel zu Boden, und die Polizisten nahmen ihn in Gewahrsam.

Es ist vorbei. Holden sank gegen die Wand, während die Zeit wieder in normale Geschwindigkeit überging.

Als die Polizisten dem Mann Handschellen anlegten und ihn über seine Rechte belehrten, eilte Leilani zu Holden.

„Sie sind verletzt.“

Verlegen schaute er an seinem OP-Hemd hinunter, dort war ein großer Blutfleck. Der Schmerz an seinem Kiefer und den Zähnen wurde stärker, außerdem hatte er einen salzigen Kupfergeschmack im Mund.

Verdammt.

„Hier.“ Leilani zerrte ein paar Kompressen aus einem Behälter auf der Arbeitsfläche und gab sie Holden. „Sieht aus wie eine ziemlich tiefe Platzwunde an Mund und Kinn.“ Sie lehnte sich an ihm vorbei und rief in den Gang hinaus: „Pam, können Sie bitte einen Behandlungsraum zum Nähen vorbereiten?“

„Nein, nein.“ Er versuchte, ihre Hände beiseitezuschieben. „Ich kann mich selbst zusammenflicken.“

Immerhin war er Facharzt für Unfallchirurgie. Sobald jedoch der Adrenalinschub nachließ, fühlte er sich tatsächlich ein wenig wackelig. In seiner Unterlippe pulsierte der Schmerz. Aber das lenkte ihn wenigstens von dem Krampf in seinem Oberschenkel ab. „Wirklich, ich krieg das hin.“

„Seien Sie nicht albern. Es ist viel leichter für jemand anderen, Sie zu nähen.“ Leilani zog ihn zur Tür hinaus und den Korridor entlang bis zum Schwesterntresen. „Ich muss nur eben die Entlassung für Mr. Chambers unterschreiben, damit sie ihn hier rausbefördern können.“

Während Holden wartete, tupfte er immer wieder seine pulsierende Lippe mit den Kompressen ab. Dr. Kim hatte recht, auch wenn es ihm schwerfiel, das zuzugeben. In seinem jetzigen Zustand war er nicht imstande, irgendjemanden zu behandeln. Auch nicht sich selbst. „Was ist mit der Unterleibspatientin?“, meinte er.

„Die sollen die Assistenzärzte übernehmen. Dafür sind sie ja da.“ Leilani unterschrieb die Entlassungspapiere, ehe sie Holden zu einem freien Behandlungsraum schob.

Hinter ihm schleppten die Polizeibeamten den noch immer schreienden und fluchenden Chambers zu dem draußen geparkten Streifenwagen.

Sobald sie in dem Behandlungsraum waren, den Pam vorbereitet hatte, schloss Leilani die Tür hinter ihnen. „Setzen Sie sich auf die Untersuchungsliege, damit ich mir Ihre Lippe angucken kann.“

Holden befolgte ihre Anweisung. Sie schob seine Hand beiseite, um besser sehen zu können. Aus dieser Nähe schien ihre Wärme ihn von allen Seiten zu umgeben, genau wie ihr blumiger Duft. Das seltsame Prickeln in seinen Adern wurde plötzlich intensiver – wesentlich beunruhigender und gefährlicher als jeder Kinnhaken. Da sie noch näher herankam, um seine geplatzte Lippe zu begutachten, wich er erschrocken zurück.

„Nicht!“, sagte er. „Ich meine, aua.“

Er wandte sich ab, und sie trat an den Wagen mit den Naht-Utensilien und der Ampulle mit einem lokalen Betäubungsmittel. „Der Riss ist durch das Lippenrot durchgegangen, also keine Klammerpflaster. Mit einer Naht erhalten Sie das beste Ergebnis, ansonsten könnte die Wunde wieder aufspringen.“

Holden kam sich vor wie ein Idiot, nachdem er sich von Dr. Kims Patient einen Kinnhaken hatte verpassen lassen. Dass sie ihn jetzt zusammenflickte, machte die ganze Sache noch peinlicher. Unvermittelt schoss ihm der Schmerz durch den Oberschenkel, sodass er die Kante der Liege umklammerte.

„Ist Ihnen irgendwie schwindelig?“, erkundigte sich Leilani. „Er hat Sie ziemlich übel erwischt.“

„Nein“, antwortete er. Zwar fühlte er sich noch etwas benommen, doch das rührte eher von der Panikattacke her als von dem Schlag.

Er stand auf und trat ans Waschbecken, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Das half. Mit Papierhandtüchern trocknete er sich ab, ehe er an seinem blutbefleckten Hemd zupfte. „Ich sollte mich umziehen.“

„Moment.“ Leilani lief hinaus und kehrte gleich darauf mit einem sauberen OP-Hemd zurück. „Bitte sehr.“

„Danke.“ Holden humpelte hinter den Wandschirm in der Ecke, wo er das schmutzige Hemd auszog und das frische überstreifte. Es war zu groß, sodass der V-Ausschnitt immer zur Seite rutschte und dadurch die Narbe seiner zweiten Schussverletzung an der linken Schulter freigab. Schnell zog er das Hemd zurecht. Als er aufblickte, sah er, dass Leilani ihn im Spiegel an der Wand beobachtete.

„Na, checken Sie mich gerade ab?“, versuchte er die unbehagliche Situation mit einem Scherz zu überspielen.

„Nein.“ Hastig schaute sie weg.

Doch Holden war die leichte Röte auf ihren Wangen nicht entgangen, was erneut sein Interesse weckte, obwohl er das gar nicht wollte. Sie war seine Kollegin, und zwischen ihnen bestand eine reine Arbeitsbeziehung, mehr nicht. Alles andere kam nicht infrage. Während sie die Spritze aufzog, setzte er sich wieder auf die Liege.

„Menschen sind manchmal unberechenbar, stimmt’s?“, meinte Leilani. „Wie Mr. Chambers. Man glaubt, er hat eine Sache vor, und dann macht er plötzlich was völlig anderes. Bitte legen Sie sich hin.“

Zögernd kam Holden ihrer Anweisung nach. Aber je schneller sie die Sache hinter sich brachten, desto besser.

Als Leilani wieder zu ihm kam, bemühte er sich, ihre Wärme zu ignorieren, die durch sein Baumwollhemd hindurchdrang. Genau wie das Gefühl, als sie seinen Kiefer für die Injektion stabilisierte und dabei mit dem Handgelenk seine Haut streifte. „Halten Sie still und versuchen Sie sich zu entspannen. Das könnte ein bisschen brennen.“

„Ich weiß.“ Er sah sie an. „Es ist schwer, selbst behandelt zu werden.“

Sie lächelte, und sein Pulsschlag schien einen Moment lang auszusetzen. „Das verstehe ich, Dr. Ross. Ärzte sind meistens die schlimmsten Patienten.“ Sie lehnte sich etwas zurück, um einen Blick auf seine linke Schulter zu werfen. „Aber Sie wurden offensichtlich schon mal behandelt.“

Holden, der unwillkürlich schlucken musste, schaute weg. Die Angst pulsierte noch immer durch seine Adern. „Ja, offensichtlich.“

„Entschuldigen Sie, ich wollte keinen wunden Punkt ansprechen.“ Leilani legte die Hand auf sein Brustbein, und ihr Lächeln schwand. „Ihr Herz schlägt viel zu schnell.“

„Es ist alles in Ordnung.“ Er versuchte ihre Hand wegzuschieben, doch sobald er ihre Finger in seinen spürte, konnte er sie nicht mehr loslassen. Das war verrückt. Er wollte keine emotionalen Verstrickungen, keine Verbindungen, und doch war etwas da, das dazu beitrug, dass sein Herz nur noch schneller schlug.

Reiß dich zusammen, Mann.

„Dr. Ross?“, fragte sie besorgt. „Holden? Sind Sie noch bei mir?“

Dass sie ihn beim Vornamen nannte, brachte ihn wieder zur Vernunft. „Sorry. Ich spreche nicht gerne über meine Verletzungen. Schlechte Erinnerungen.“

„Okay, kein Problem. Das verstehe ich vollkommen. Ich habe selbst ein paar solcher Erinnerungen.“

Ihr ruhiger Tonfall und der verständnisvolle Ausdruck in ihren Augen hatten eine besänftigende Wirkung auf Holdens Angstzustand. Leilani entzog ihm ihre Hand, ging zu ihrem Tablet auf dem Schrank und tippte auf den Bildschirm. „Welche Art von Musik mögen Sie? Rock? Country? R&B?“

Der Themenwechsel bot ihm eine willkommene Ablenkung. „Was immer Ihnen gefällt.“

„Gut.“ Gleich darauf erfüllte Ukulele-Musik den Raum, bevor Leilani an die Liege trat und mit einem kleinen Augenzwinkern nach der Spritze griff. „Ich weiß, dass diese Situation unbehaglich für Sie ist, Dr. Ross. Aber ich schlage Ihnen einen Deal vor. Sie lassen sich von mir zusammenflicken, und ich nehme Sie zu einem echten Luau mit.“

„Was?“ Er zog die Augenbrauen zusammen.

„Ein Luau. Sie wissen schon: Poi-Tanz, Kalua-Schweinefleisch, Poke-Fisch, Lomi-Lachssalat, Opihi, Haupia und Bier. Das ganze Programm. Außerdem bekommen Sie vielleicht sogar einen echten Don-Ho-Imitator zu sehen.“

Erstaunt sah Holden sie an. „Ein echter Imitator?“

Sie lachte. „Ja, er ist der beste auf der ganzen Insel. Wäre doch schade, wenn Sie nicht das volle Hawaii-Erlebnis mitkriegen, solange Sie hier sind. Es sei denn, Sie waren schon bei einem Luau?“

Nein, ein solches Fest hatte Holden noch nicht erlebt. Eigentlich hatte er von der Insel bisher kaum etwas gesehen, abgesehen von der Hotelanlage, wo er wohnte. Klar hatte er vor, sich während seines Aufenthalts hier einige Sehenswürdigkeiten anzusehen, war aber noch nicht dazu gekommen. Ihr Vorschlag klang interessant. „Bitten Sie mich gerade um ein Date, Dr. Kim?“

„Was?“ Erschrocken wich sie zurück. „Nein. Ich habe bloß ein schlechtes Gewissen, weil mein Patient Ihnen einen Schlag verpasst hat, und wollte Ihnen einfach ein besseres Gefühl vermitteln. Das ist alles.“

Wieder war da diese hübsche rosige Farbe in den Wangen, und sein Interesse flammte aufs Neue auf. Das war übel, ganz übel.

Glücklicherweise zuckte sie die Achseln und wandte sich ab, ihr Tonfall jetzt kühl. „Aber ich möchte Ihnen keinesfalls einen falschen Eindruck vermitteln. Es war ein Fehler, Sie zu fragen. Vergessen Sie es einfach.“

Nichts hätte Holden lieber getan, doch das konnte er nicht. Er stützte sich auf. „Ich hatte nicht die Absicht, Sie in Verlegenheit zu bringen.“

„Dasselbe gilt für mich.“ Über die Schulter warf sie ihm einen Blick zu. „Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wieso ich es überhaupt erwähnt habe.“

Er legte sich wieder hin und schaute an die Decke. Anscheinend waren sie beide etwas eingerostet, was soziale Interaktion betraf. „Seit ich auf der Insel angekommen bin, habe ich eigentlich noch gar nichts gesehen.“

„Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein paar Vorschläge machen. Honolulu ist meine Heimatstadt. Meine Eltern haben hier ein Hotel.“ Leilani hielt erneut sein Kinn fest und setzte die Spritze an. „Hier kommt das Brennen.“

In der Zeit, bis die lokale Betäubung wirkte, dachte Holden noch einmal über ihr Angebot nach. In seiner letzten Therapiesitzung in Chicago hatte sein Therapeut ihm gesagt, er sollte mehr unternehmen. Leilani könnte ihm die Insel zeigen, ihn vielleicht mit ein paar Leuten bekannt machen. Natürlich auf rein kollegialer Basis. Außerdem, wenn er mehr Zeit mit ihr verbrachte, würde das sicher dagegen helfen, dass er sich ihrer Nähe so eigenartig intensiv bewusst war. Sozusagen eine Desensibilisierung. Insofern wäre es sogar sinnvoll, die Einladung anzunehmen.

Noch ehe er sich zurückhalten konnte, sagte Holden daher: „Okay.“

Fragend sah Leilani auf ihn herunter. „Okay was?“

„Okay, wir können zu einem Luau gehen.“ Seine Worte klangen etwas undeutlich, da die Betäubung zu wirken begann. „Und zeigen Sie mir gerne auch ein paar Sehenswürdigkeiten, wenn Sie Zeit dafür haben.“

Sie wirkte verblüfft und überlegte sekundenlang, ehe sie nickte. „Na schön. Aber nur als Kollegen, klar?“

Auch er nickte, bevor er sich an die Unterlippe tippte, um sicherzugehen, dass sie taub war.

„Gut.“ Ihr Lächeln schien den ganzen Raum zu erhellen. „So, und jetzt kein Gerede mehr, bis ich hier fertig bin. Sonst kann ich nicht garantieren, dass es symmetrisch verheilt.“

2. KAPITEL

Leilani konnte es noch immer nicht ganz fassen. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, Holden Ross eine Sightseeing-Tour anzubieten und ihn auch noch zu einem Luau einzuladen? Mist. Sie ging grundsätzlich nicht mit Kollegen aus. Eigentlich ging sie in letzter Zeit mit überhaupt niemandem mehr aus. Zwar hatte sie in der Vergangenheit einige Beziehungen gehabt, aber nichts Längerfristiges. Und im letzten halben Jahr waren wegen ihrer Bewerbung um die Chefarztstelle alle gesellschaftlichen Kontakte in den Hintergrund getreten.

Aber hier ging es ja um keinen gesellschaftlichen Kontakt. Holden war neu in der Stadt, und Leilani wollte ihm lediglich ein wenig Gastfreundschaft erweisen, mehr nicht. Wie bei einem netten Nachbarn.

Ein Nachbar, den du gerne sehr viel besser kennenlernen würdest.

Verlegen drehte Leilani sich auf ihrem Rollhocker zum Schrank um. Es sah ihr gar nicht ähnlich, wegen eines Mannes so aus der Fassung zu geraten. Vor allem, da es sich um einen möglichen Rivalen für den Posten handelte, den sie anstrebte. Selbst wenn Holden etwas Besonderes an sich hatte. Wie zum Beispiel dieses Aufflackern von Panik in den Augen, als sie nach seinen früheren Verletzungen gefragt hatte.

Dummerweise konnte sie seine Reaktion nur allzu gut nachvollziehen. Der furchtbare Schrecken, die Unsicherheit, sich vollkommen zerschlagen und allein zu fühlen. Ohne die Freundlichkeit, Geduld und das schnelle Handeln des medizinischen Personals am Abend des Unfalls wäre Leilani nicht mehr am Leben.

Die alte Verletzung an ihrem Nacken schmerzte und erinnerte sie wieder an diejenigen, die sie gerettet hatten, nachdem der Rest ihrer Familie gestorben war. Genau das war vermutlich der Grund, weshalb sie lieber einen großen Bogen um Holden Ross machen sollte, anstatt die Reiseführerin für ihn zu spielen. Vielleicht konnte sie sich ja noch irgendwie davor drücken.

Schnell riss sie den Beutel mit den Nahtutensilien auf und nahm eine Gefäßklemme heraus.

Die Musik von ihrem Tablet wechselte zu einem langsamen, sehnsüchtigen Song. Leilani versetzte es einen Stich, doch energisch unterdrückte sie das Gefühl. Es gab nichts, wonach sie sich sehnte. Sie hatte ein großartiges Leben. Einen wunderbaren Beruf. Adoptiveltern, die sie liebten und bei all ihren Entscheidungen unterstützten. Ein neues Haus. Und ein Haustier, das in sie vernarrt war – U’i, ihr afrikanischer Graupapagei.

Ja, manchmal wünschte sie sich schon jemand Besonderen, mit dem sie das alles teilen könnte. Aber das würde eben dann passieren, wenn sie dazu bereit war.

Falls du jemals dazu bereit bist …

Sie ließ sich eben einfach Zeit, das war alles. Leilani war vorsichtig. Noch immer wachte sie gelegentlich nachts aus einem Albtraum von dem Unfall auf. Doch sie würde darüber hinwegkommen.

Irgendwann.

„Niemand hat mir erzählt, dass Sie eine Ninja-Kämpferin sind.“ Holdens Worte klangen undeutlich wegen seiner betäubten Lippe.

„Solche Fähigkeiten sind einem oft sehr nützlich.“ Leilani nahm die gebogene Nadel mit der Gefäßklemme, um das Lippenrot mit einem Stich zu begradigen, und nähte dann den Rest mit einem absorbierbaren Faden. „Nur noch vier oder fünf, dann haben wir’s geschafft.“

„Innen?“, fragte er, wieder leicht verwaschen.

„Nein, keine Muskelverletzungen, also alles äußerlich.“ Sie verknotete die Naht, befeuchtete mehrere Kompressen mit Salzlösung und zog dann behutsam Holdens Unterlippe herunter. „Ich will nur mal kurz reinschauen, um sicherzugehen, dass innen nicht noch mehr verletzt ist.“

Die salzige Flüssigkeit tropfte von seinem Kinn auf das OP-Hemd.

„Ups, tut mir leid.“ Mit einem Papiertuch tupfte Leilani den nassen Fleck ab, wobei sie sich geflissentlich bemühte, nicht auf Holdens gebräunte Haut und definierte Muskeln zu schauen. Plötzliche, ungewollte Bilder davon, wie sie seinen Hals und das Schlüsselbein mit Küssen bedeckte, dann über seine Brust weiter hinunter, verursachten ihr einen trockenen Mund …

„Dr. Kim?“

Seine Frage holte sie schlagartig in die Realität zurück. Peinlich berührt warf sie das Papiertuch auf die Ablage, ehe sie ein viel zu strahlendes Lächeln aufsetzte. „Gleich sind wir fertig.“

Der nächste Song war ein mitreißendes, sexy Gitarrenstück.

Blinzelnd blickte Holden zur Decke. „Das ist schön.“

„Eins meiner Lieblingsstücke.“ Leilani fuhr fort, die Wunde zu nähen.

Er wartete, bis sie den nächsten Stich gesetzt hatte, bevor er fragte: „Wo haben Sie gelernt, so zu kämpfen?“

„Sie meinen, wegen Mr. Chambers? Ich kickboxe seit meinem fünfzehnten Lebensjahr.“

„Wow.“ Unvermittelt umfasste er ihr Kinn.

Ihr Pulsschlag setzte einen Moment lang aus. „Was tun Sie da, Dr. Ross?“

„Dieser Kerl hat heftig an Ihrem Haar gezerrt.“ Sanft drehte er ihren Kopf zur Seite.

„Mir geht’s gut, wirklich.“ Als sie seinem Blick begegnete, stockte ihr der Atem.

Oh je.

Romantische Musik erfüllte den Raum, und Leilani spürte, wie plötzliche Hitze ihr Innerstes durchströmte.

Nicht gut. Gar nicht gut.

Holden Ross war der Letzte, mit dem sie sich einlassen sollte. Er war ihr Kollege und damit streng tabu. Sie durfte nicht riskieren, ihn näher an sich heranzulassen.

Oder doch?

Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihre Haut schien zu prickeln, und ihr Mund war auf einmal trocken. Entschlossen verdrängte sie alles, ehe sie mühsam hervorbrachte: „Danke, Dr. Ross. Jetzt sollten wir aber die Naht zu Ende bringen, damit Sie wieder einsatzbereit sind.“

„Nennen Sie mich Holden.“

„Okay.“ Leilani legte den Daumen auf sein Kinn, um eine leichte Spannung zu erzeugen, und den Zeigefinger an seinen prägnanten Kiefer, um ihre Hand ruhig zu halten.

„Sie sind also gebürtige Hawaiianerin?“

„Bitte nicht sprechen.“ Sie machte den letzten Stich. „Ja, ich bin hier geboren und aufgewachsen. Meine Eltern betreiben ein Hotel in der Stadt.“

In ihrer Stimme schwang Trauer mit, die Holden sicher nicht entging. Trotz all der Liebe und Freude, die sie von ihrer Adoptivfamilie erfahren hatte, würde ein Teil von ihr immer diejenigen vermissen, die nicht mehr da waren. Der tiefe Schmerz nach dem Unfall war nie ganz verschwunden. Genauso wenig wie die Angst, noch einmal jemanden zu verlieren, der ihr etwas bedeutete. Sie knüpfte den Knoten und lehnte sich erleichtert auf ihrem Hocker zurück. „Geschafft.“

Holden, der sich aufrichtete, schaute in den Spiegel. „Sieht gut aus, Dr. Kim.“

„Danke.“ Sie fing an, ihre Utensilien wegzuräumen. „Auf dem Ständer im Gang sind noch mehr saubere OP-Hemden, falls Sie lieber eine andere Größe nehmen wollen.“

„Mach ich.“ Auf seinen Stock gestützt, humpelte er zur Tür, wo er sich wieder umdrehte. „Nochmals danke.“

„Keine Ursache.“ Während Leilani ihm nachsah, spürte sie erneut diese intensive Anziehung ihm gegenüber. Falls sie dem Gefühl nachgab, könnte ihr das den Boden unter den Füßen wegziehen. Und das gehörte definitiv nicht zu ihrem Plan.

Am folgenden Morgen, als Holden nach seiner Schicht in seinem Mietwagen durch die Straßen von Honolulu zum Malu Huna Resort fuhr, schlief er bei dem stetigen Geräusch der Scheibenwischer beinahe ein. Das Hotel befand sich nur etwa eine Viertelstunde außerhalb der Stadt, aber nach der Arbeit im Regen zu fahren, war unangenehm.

Er parkte auf einem Behindertenparkplatz in der Nähe des Eingangs und betrachtete die Menge der Frühstücksgäste, die sich in der Hotellobby versammelte. Das ungewohnt schlechte Wetter passte wesentlich besser zu seiner Stimmung als das fröhliche tropische Dekor drinnen. Aber wenn er zu seinem Zimmer wollte, musste er sich notgedrungen seinen Weg durch die Touristen dort bahnen.

Nachdem er tief durchgeatmet hatte, schaltete Holden den Motor aus und griff nach seinem Stock, bevor er sich ein letztes Mal im Rückspiegel ansah. Die Betäubung hatte längst nachgelassen, sodass sein Kiefer schmerzte. Essen würde eine Weile lang wenig Spaß machen, doch das störte ihn kaum. Er nahm seine Mahlzeiten ohnehin fast immer allein auf seinem Zimmer ein, um den übrigen Gästen aus dem Weg zu gehen. Mit seiner düsteren Art wollte er niemandem den Urlaub ruinieren.

Seufzend stieg er aus und humpelte zum Hoteleingang, wobei er gegen den Regen den Kopf einzog. Als sich die Automatiktür öffnete, empfing ihn ein Schwall warmer Luft, der nach Ahornsirup und Bacon roch. Der Duft zog von dem üppigen All-you-can-eat-Buffet im Speisesaal herüber. Obwohl ihm der Magen knurrte, blieb Holden nicht stehen, um sich einen Teller zu füllen. Stattdessen ging er durch die Lobby direkt auf die Lifts zu. Seit der Schießerei fiel es ihm schwer, sich länger in großen Gruppen aufzuhalten. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er mit seinen Blicken den Raum nach potenziellen Gefahren absuchte.

Der Therapeut in Chicago hatte ihm dazu geraten, seine Toleranzschwelle langsam zu erhöhen. Bis jetzt hatte Holden diesen Rat jedoch nicht befolgt, weil er lieber für sich blieb, als ständig für den nächsten Angriff auf der Hut zu sein.

Als er an den vielen Touristen vorbeikam, die fast alle Shorts, T-Shirts und Sandalen trugen, fühlte er sich in seinem zerknitterten OP-Anzug noch mehr wie ein Außenseiter als je zuvor. Er entschuldigte sich, als er sich an vier Frauen vorbeidrängte, die mit Leis und schicken Sonnenhüten geschmückt waren, stieß dabei jedoch fast gegen eine Topfpalme.

Die Lobby des Malu Huna sah aus wie eine Mischung aus Tropenparadies und Trickfilm. Rattanmöbel, luftig-weiße Gardinen und ein goldfarbenes Ananasmuster auf dem glänzenden Fliesenboden. Hinter der Rezeption saß sogar ein Papagei, der die Gäste ankrächzte. Holden blickte zu dem Vogel hinüber, während er auf seinen Lift wartete. Ein afrikanischer Graupapagei, wenn er sich nicht irrte. Einer seiner Zimmergenossen im College hatte auch einen gehabt. Diese Vögel waren äußerst intelligent und lernten schnell.

Erneut drückte Holden auf den Liftknopf.

„Dr. Ross?“, rief da jemand aus der Lobby. Der Hotelbesitzer.

Resigniert ließ Holden die Schultern sinken. Das Liftsignal ertönte, und die Tür ging auf. Er überlegte kurz, ob er nicht einfach einsteigen sollte, wollte jedoch nicht unhöflich sein.

Mit einem müden Lächeln drehte er sich zu dem asiatisch aussehenden Mann um, der vom Speisesaal zu ihm herübereilte. Er war eher klein, und sein buntes Hawaiihemd leuchtete förmlich im Licht der Deckenlampen. Liebenswürdig blickte er zu Holden auf. „Wollen Sie denn nicht zum Frühstück kommen?“

Dieser warf einen Blick in den Raum voller Menschen und verkrampfte sich innerlich. „Ach, ich habe keinen großen Hunger.“

Zu dumm, dass genau in diesem Moment sein Magen vernehmlich knurrte.

Zweifelnd hob der kleine Mann die Brauen, und sein Lächeln wurde noch breiter. „Ihr Bauch sagt etwas anderes. Bitte, Dr. Ross. Wir möchten Ihnen während Ihres Aufenthalts gerne unsere Gastfreundschaft erweisen.“ Er musterte ihn. „Sie sehen aus, als könnten Sie ein ordentliches Frühstück vertragen. Kommen Sie.“

Ehe Holden protestieren konnte, ergriff der Mann seinen Arm und lotste ihn durch die Lobby. Eine vertraute Panik stieg in Holden auf. Über den Kopf des Hotelbesitzers hinweg schaute er durch die regennassen Fensterscheiben.

Es war nur ein Frühstück, das würde er schaffen. Sitzen, essen, sich unterhalten.

Doch die Vorstellung, mit Fremden Konversation machen zu müssen, quälte ihn. Zwar sprach er oft mit Patienten, aber das war etwas anderes. Im Krankenhaus ging es um bestimmte Ziele. Damit konnte er seine Ängste in Schach halten. Small Talk erforderte jedoch Interesse und Energie, was ihm gerade beides fehlte.

Vor einem Jahr hätte Holden noch mit jedem reden und feiern können. Doch seit dem Überfall waren seine kommunikativen Fähigkeiten verschwunden, und er fühlte sich unsicher und schwach. Er hasste dieses Gefühl, denn schwach bedeutete verwundbar, und das wollte er nie wieder sein.

Als der Hotelbesitzer ihn durch den Speisesaal zog, versuchte Holden zu protestieren: „Wirklich, ich kann mir doch einfach etwas beim Zimmerservice bestellen. Ich bin müde, schmutzig und wahrscheinlich keine gute Gesellschaft, Mr. …?“

„Kim.“ Der Mann blieb an einem Tisch stehen, an dem zwei Frauen saßen. „Mr. Kim, aber Sie können mich gerne Joe nennen. Bitte nehmen Sie doch Platz, Dr. Ross.“

„Holden“, murmelte er und starrte die Frau auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches an. Dr. Kim wirkte ebenso wenig erfreut wie er.

Sie hatte ja erwähnt, dass ihren Eltern ein Hotel gehörte, aber er hatte nicht weiter darauf geachtet. Jetzt kam er sich vor wie ein Idiot. „Äh, hallo.“

„Hallo.“ Sie knüllte ihre Serviette zusammen. „Wollen Sie sich nicht setzen?“

Ja, unbedingt. Vor allem, da er gerade wieder einen Krampf im Oberschenkel bekam. Holden zog den freien Stuhl hervor, setzte sich und streckte das schmerzende Bein aus, während er den Gehstock in der Lehne einhakte.

Mr. Kim lächelte ihn noch immer an, genau wie die Frau neben ihm.

Holden gab ihr die Hand. „Dr. Holden Ross. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Freut mich auch.“ Mrs. Kims Blicke gingen zwischen Leilani und Holden hin und her. „Sie arbeiten mit meiner Tochter zusammen?“

„Ja, ich mache gerade eine Vertretung im Ohana Medical Center.“ Als eine Kellnerin ihm ein Glas Wasser brachte, lehnte er sich zurück. „Unfallchirurgie.“

„Ausgezeichnet“, meinte Mrs. Kim. „Dann arbeiten Sie und Leilani sicher oft zusammen. Komisch, dass sie das nie erwähnt hat.“

Verlegen starrte Leilani auf ihren Teller. „Ich habe bestimmt mal von ihm erzählt, Mom.“

„Er nimmt das Buffet“, sagte Joe zu der Kellnerin. „Das geht aufs Haus.“

„Selbstverständlich, Mr. Kim.“ Sie ging davon.

„Nein, nein“, widersprach Holden. „Ich komme dafür auf. Meine Vertretungsstelle beinhaltet auch Spesen.“

„Vertretungsstelle.“ Mrs. Kim beugte sich vor. „Erzählen Sie mir mehr darüber, Dr. Ross. Das klingt interessant.“

„Holden, bitte.“ Er betrachtete das Gedränge am Buffet und sehnte sich nach seinem ruhigen, friedlichen Hotelzimmer. „Ich … Ähm …“

„Hey“, drang da Leilanis ruhige Stimme durch seine aufsteigende Panik. „Lasst doch den armen Mann in Ruhe. Er hat gerade eine lange Nachtschicht hinter sich. Er braucht jetzt einen Kaffee und Schlaf, kein Kreuzverhör. Stimmt’s, Dr. Ross?“

Er nickte nur stumm.

Leilani schenkte ihm Kaffee aus der Kanne ein, die auf dem Tisch stand, und schob ihm die Tasse zu. „War viel los?“

„Ja, schon.“ Über die Arbeit zu reden, half ihm, sich zu entspannen.

Nachdem er Milch und Zucker in seinen Kaffee getan hatte, berichtete er von seinen Fällen und den lustigen Geschichten, die er von den Pflegekräften gehört hatte. Bald hatte er sogar die Fragen der Kims beantwortet, ohne dass es ihm etwas ausmachte. Die ganze Zeit über suchte er immer wieder Leilanis Blick und war verblüfft darüber, wie viel inneren Frieden er darin fand.

Stopp. Immer langsam mit den jungen Pferden.

Sein innerer Friede hatte nicht das Geringste mit Leilani Kim zu tun. Das war absurd. Sie kannten einander ja kaum. Es war einfach die Routine, von der Arbeit zu erzählen, was seine Nerven beruhigte. Sonst nichts.

„Nun, das war sehr unterhaltsam“, meinte Mrs. Kim, als er seinen Bericht beendet hatte, und stand auf. „Aber mein Mann und ich müssen jetzt wieder nach vorne an die Rezeption.“

Einen Augenblick lang wirkte Joe etwas verdutzt, bis seine Frau ihm einen betonten Blick zuwarf.

„Ah, richtig. Ja, wir müssen wieder an die Arbeit. Ihr Kinder bleibt einfach noch sitzen und macht es euch gemütlich. Lani, vergiss nicht, ihn am Freitag zum Luau einzuladen.“ Er schüttelte Holden die Hand. „Wir sehen uns.“

Holden schaute den beiden nach, ehe er sich an Leilani wandte. „Dies ist also das Hotel Ihrer Familie?“

„Ja.“ Sie sah ihn direkt an und wies dann mit einem Nicken zum Buffet. „Sie sollten sich lieber was zu essen holen, bevor die Leute alles abgegrast haben.“

3. KAPITEL

Als Holden sich in die Schlange am Buffet einreihte, stieß Leilani erleichtert den Atem aus. Wäre sie fünf Minuten eher gegangen, hätten ihre Eltern nicht schon wieder versuchen können, sie zu verkuppeln. Und dieses Mal ausgerechnet mit dem letzten Mann auf der Welt, für den sie sich interessieren sollte.

Sie datete grundsätzlich keine Kollegen. Egal, wie sehr sie sich auch von Holdens hochgewachsener Gestalt, dem dunklen Haar und seiner verletzlichen Art angezogen fühlte.

Am liebsten wäre sie sofort aufgestanden und gegangen, doch ihr gutes Benehmen verlangte, dass sie zumindest so lange blieb, bis er mit seinem Teller an den Tisch zurückkehrte. Die Stimmung bei der Arbeit sollte ja nicht unbehaglich werden. Oder zumindest nicht noch unbehaglicher als ohnehin schon.

Leilani war froh über die lange Schicht, die heute vor ihr lag. Vierundzwanzig Stunden, in denen sie beschäftigt war und nicht über ihre gestrige Begegnung mit Holden nachgrübeln konnte. Vorher wollte sie allerdings noch in den Fitnessraum zu einem ausgiebigen Kampfsport-Workout.

Sie rollte ihren steifen Nacken hin und her und trank etwas von ihrem Wasser. Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie ausgesprochen unruhig geschlafen, weil sie sich in ihren Träumen erneut mit dem aggressiven, betrunkenen Mark Chambers auseinandersetzen musste. Dann waren da wieder die Erinnerungen an den Unfall vor so vielen Jahren gewesen, bei dem Leilani ihre Eltern und ihren Bruder verloren hatte. Dazwischen war immer wieder Holden aufgetaucht, wie er sein Hemd wechselte. Die Narbe an seiner Schulter. Der misstrauische Ausdruck in seinen grünbraunen Augen, als sie seine Unterlippe genäht hatte. Der raue Bartschatten, den sie sogar durch die Handschuhe hindurch gespürt hatte. Der saubere Geruch seines Shampoos. Sein schneller Herzschlag, als sie ihm die Salzlösung abgetupft hatte …

„Also“, unterbrach Holden ihre Gedankengänge. Er setzte sich ihr gegenüber und stellte seinen Teller mit Rührei, Toast und Schinken auf den Tisch. „Sie brauchen wirklich nicht zu bleiben, wenn Sie nicht wollen. Ich sehe Ihnen an, dass Sie gerne gehen würden.“

Sie wehrte ab. „Unsinn, ich habe nur einen anstrengenden Tag vor mir.“

Er lehnte sich zurück, als die Kellnerin ihm Kaffee nachschenkte. Dass sie ihn dabei verführerisch anlächelte, verursachte Leilani einen seltsamen Stich. Keine Eifersucht, denn das wäre verrückt. Es konnte ihr doch gleichgültig sein, ob eine andere Frau mit Holden flirtete. Er war ein Kollege, ein Bekannter, mehr nicht.

Während er seinen Kaffee umrührte, musterte er sie mit zusammengezogenen Brauen, und sein Tonfall klang skeptisch. „Dann lassen Sie sich von mir nicht aufhalten. Wenn Ihr Vater mich nicht mitgeschleppt hätte, wäre ich auch nicht hier.“

Stirnrunzelnd sah sie ihn an. Obwohl sie tatsächlich gerne gegangen wäre, meldete sich jetzt ihre Sturheit, und sie ließ sich ihre Tasse von der Kellnerin ebenfalls nachfüllen.

Da Holden sie fragend ansah, meinte Leilani: „Ein paar Minuten habe ich noch Zeit.“

Er nahm einen Mundvoll von seinem Rührei und senkte den Blick. „Meinetwegen brauchen Sie nicht zu bleiben.“

„Sind Sie immer so herzlich, Dr. Ross?“, fragte sie sarkastisch.

„Nein, meistens esse ich allein in meinem Zimmer.“ Er aß einen Streifen Bacon, bevor er wieder aufschaute. Dieses Mal flog ein angedeutetes Lächeln über seine undurchdringliche Miene. „Tut mir leid. Ich bin etwas aus der Übung, was Gesellschaft betrifft.“

Eine Welle des Mitgefühls erfasste sie. Offenbar saßen sie da beide im selben Boot. Sie trank ihren Kaffee, während er seinen Teller leerte. Als Notfallmediziner aß man immer schnell, weil man nie wusste, wann der nächste Notruf kam. Leilani fragte sich, wo Holden das viele Essen ließ, denn er schien kein einziges Gramm Fett zu viel an sich zu haben. Plötzlich blitzte die Erinnerung in ihr auf, wie er im Behandlungsraum sein Hemd ausgezogen hatte, doch rasch verdrängte sie das Bild.

Oh nein. Damit fangen wir gar nicht erst an, ermahnte sie sich. Auf gar keinen Fall.

Sie seufzte, leerte mit einem langen Schluck ihre Tasse und erhob sich dann. „Also dann. Ich muss jetzt wirklich los. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Dr. Ross.“

Mit einer Serviette wischte er sich den Mund ab. „Ihre Schicht im Krankenhaus beginnt um zwei, und jetzt ist es gerade mal neun.“

„Wie bitte?“ Glühende Hitze stieg ihr in die Wangen. „Ich wüsste nicht, was Sie mein Dienstplan angeht, Dr. Ross.“

Er trank von seinem Kaffee. „Gar nichts. Helen hatte es vorhin erwähnt.“

„Dr. King hat Ihnen meinen Dienstplan mitgeteilt? Das erscheint mir doch etwas merkwürdig.“

„Eigentlich nicht. Sie hat es in Bezug auf ein Projekt erwähnt, bei dem wir beide zusammenarbeiten sollen.“ Da Leilani den Mund öffnete, hob Holden die Hand. „Bevor Sie fragen, sie hat mir keine Einzelheiten genannt. Sie meinte, sie wollte es zuerst mit Ihnen besprechen, da Sie die stellvertretende Chefärztin sind.“ Als er den Atem ausstieß, ließ er die breiten Schultern ein wenig sinken. Dann zeigte er auf ihren Stuhl. „Hören Sie, es tut mir leid, dass ich vorhin so grummelig war. Bitte laufen Sie jetzt nicht meinetwegen weg. Im Grunde finde ich es nämlich ganz schön, mich mit jemandem unterhalten zu können.“

Obwohl Leilani es ungern zugab, erging es ihr genauso. Klar, sie hatte Freunde und ihre Adoptiveltern, aber die waren keine Mediziner. Mit ihnen konnte sie nicht so über die Arbeit sprechen wie mit einem Kollegen. Zögernd nahm sie daher wieder Platz. „Sie gehen nicht oft aus?“

„Nein, nicht seit …“ Er brach ab, und wieder sah sie diesen gequälten Gesichtsausdruck bei ihm, ehe er ihn hinter seiner üblichen undurchdringlichen Fassade verbarg. „Als Vertretung zu arbeiten, hat viele Vorteile, aber Beziehungen zu anderen Leuten aufzubauen, gehört nicht dazu. Vielleicht gefällt es mir deshalb so gut.“

„Hm, das klingt ziemlich abweisend.“

„Nein.“ Kopfschüttelnd blickte er in seine Tasse. „Es ist bloß klüger.“

Die Arme vor der Brust verschränkt, musterte Leilani ihn. Weil sie selbst etwas Schreckliches erlebt hatte, erkannte sie die Anzeichen eines Traumas bei anderen nur allzu gut. Irgendetwas Schlimmes musste ihm zugestoßen sein. Nach seinem Humpeln und der Schulternarbe zu urteilen, hatte dabei wohl eine Waffe eine Rolle gespielt. Ehe sie weiter fragen konnte, ging sein Blick zu den Fenstern und dem grau verhangenen Wetter draußen.

„Regnet es hier oft?“

Der abrupte Themenwechsel brachte sie etwas aus der Fassung. „Nein, aber es ist März.“

„Und März heißt Regen?“

„In Honolulu ja. Das ist unser regenreichster Monat.“ Als die Bedienung mit der Kaffeekanne erneut erschien, hielt Leilani abwehrend die Hand hoch. Zu viel Koffein vertrug sie nicht. „Warum fragen Sie?“

„Mich interessiert die Insel.“

In diesem Augenblick kam die Kellnerin von vorhin an ihren Tisch, um Holdens Geschirr abzuräumen. Dabei legte sie einen kleinen Zettel neben seine Tasse. Offenbar mit ihrer Telefonnummer. Ohne mit der Wimper zu zucken, steckte Holden den Zettel in seine OP-Hemdtasche. Wieder spürte Leilani dieses unangenehme Ziehen in der Magengrube, was ja ausgesprochen dumm war. Er konnte sich schließlich treffen, mit wem er wollte. Genau wie sie auch. Sie war keine arbeitssüchtige alte Jungfer, egal, was ihre Eltern sagten. Leilani hatte durchaus ihre Möglichkeiten, was Männer betraf. Sie war bloß wählerisch und hatte ihre Maßstäbe.

Holden, der ihren Blick aufgefangen hatte, sagte: „Ich habe der Kellnerin versprochen, mir nachher mal ihren Sohn anzuschauen. Er scheint eine Halsentzündung zu haben.“

Ja, klar.

Es gelang ihr, nicht die Augen zu verdrehen. Stattdessen lächelte sie unverbindlich. „Das ist nett von Ihnen.“

Er zuckte die Achseln. „Und wohin wollen Sie heute Morgen so eilig, wenn ich fragen darf?“

Schnell schluckte sie eine bissige Bemerkung herunter und erwiderte wahrheitsgemäß: „Ich möchte noch meine tägliche Trainingseinheit machen.“

„Ach ja?“ Holden horchte auf. „Ich wollte den Fitnessraum schon längst ausprobieren, aber bei meinem engen Dienstplan bin ich noch nicht dazu gekommen. Stört es Sie, wenn ich mitkomme? Nur um zu sehen, wo der Raum ist. Dann lasse ich Sie in Ruhe trainieren, versprochen.“

Sofort schrillten bei Leilani alle Alarmglocken. Sie interessierte sich sowieso schon mehr für diesen Mann, als gut für sie war. Und sie wollte sich unter keinen Umständen jemandem öffnen, um dann hinterher wieder verletzt zu werden. Noch einmal so verwundbar zu sein, verursachte ihr ein entsetzliches Gefühl der Angst.

„Nimm ihn mit, Keiki“, sagte ihr Vater von einem der Nebentische, den er gerade abwischte. Leilani versteifte sich unwillkürlich. Ihre Eltern waren heute wirklich auf Schnüffel-Patrouille unterwegs. „Zeig unserm Gast den Fitnessraum.“

Sie bedachte ihren Vater mit einem finsteren Blick. Doch dieser ging nur kopfschüttelnd zur nächsten Tischreihe weiter. Ihre Eltern fanden, dass sie sich albern verhielt, und vielleicht stimmte das sogar. Aber sie musste die Dinge auf ihre eigene Art tun, die Kontrolle behalten. Kontrolle war lebensnotwendig.

Schmunzelnd griff Holden nach seiner Kaffeetasse. „Kiki?“

„Keiki“, korrigierte Leilani. „Das heißt Kind auf Hawaiianisch.“

Seitdem die Kims sie adoptiert hatten, war sie von ihnen immer so genannt worden. Anfangs, weil sie tatsächlich noch ein Kind gewesen war. Eine verängstigte Vierzehnjährige mit einer unsicheren Zukunft. Jetzt war es eher ein Kosename.

Leilani atmete tief durch, bevor sie erneut aufstand. Gute Manieren waren ihr zu tief eingeprägt, um sich zu weigern. „Na schön. Wenn Sie mitkommen wollen, ziehen Sie sich um. Dann treffen wir uns in einer Viertelstunde in der Lobby. Und kommen Sie nicht zu spät, Dr. Ross.“

Sein Lächeln wurde breiter. „Nicht mal im Traum, Dr. Kim.“

Das Fitnesscenter im Malu Huna war wie der Rest der Hotelanlage – sauber, weitläufig und gut ausgestattet. Selbst wenn das Dekor für Holdens nüchternen Geschmack etwas übertrieben wirkte. Hier zierten goldene Palmen den Fliesenboden, und riesige Gemälde der berühmten hawaiianischen Sonnenuntergänge hingen an den Wänden. Es gab mehrere Reihen von Laufbändern und Steppern, Trainingsgeräte mit Gewichten, Fahrradergometer und sogar eine Boxsportfläche mit Sandsäcken und dicken Matten.

Holden folgte Leilani, die direkt auf die Matten zusteuerte. Die eng anliegende Trainingskleidung zeigte ihre Rundungen an all den richtigen Stellen. Nicht dass es ihn sonderlich interessierte. Er wollte hier lediglich seine innere Anspannung abbauen und nicht seine Kollegin anstarren. Egal, wie hübsch sie war. Er war bloß schon viel zu lange nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen.

Flüchtig dachte er an den Zettel der Kellnerin. Holden hatte zwar nicht gelogen, aber auch nicht ganz die Wahrheit gesagt. Tatsächlich hatte er vor ein paar Tagen mit der Kellnerin über ihren kranken Sohn gesprochen und ihr angeboten, mal nach ihm zu schauen. Aber die Frau hatte sich auch mit ihm verabreden wollen. An dem Tag hatte Holden wegen seiner Müdigkeit abgelehnt, und weil ihm nicht nach Gesellschaft zumute gewesen war. Jetzt, da ihn die Einsamkeit erneut überfiel, überlegte er, ob er die Einladung der Kellnerin nicht doch annehmen sollte.

Leilani zog Boxhandschuhe an, ehe sie sich zu Holden umdrehte.

Er blieb unvermittelt stehen. „Wollen Sie mir etwa einen Schlag verpassen?“

„Nur, wenn Sie mich provozieren.“ Sie hob die dunklen Brauen.

Belustigt gab er zurück: „Dann sollte ich wohl besser nicht bei Ihnen in Ungnade fallen.“

„Allerdings.“ Sie lachte und wandte sich dann dem Sandsack zu. „Also, das hier ist das Fitnesscenter. Viel Spaß beim Training.“

Holden sah sich um. Mit seinem Bein kamen weder das Laufband noch der Stepper infrage. Dann eben das Fahrradergometer. Er ging zu einem hinüber, stieg auf und stellte es auf den höchsten Schweregrad ein. Bald pumpte sein Herz wie verrückt, und der Schweiß lief ihm in Strömen über Gesicht und Rumpf. Er spürte die Ausschüttung an Endorphinen, die bei einem solch anstrengenden Sport immer stattfand. Gegen Ende seiner Einheit blickte Holden hinüber zu Leilani, die auf der Matte eine Reihe von Kickbox-Bewegungen durchführte.

Das lange Haar hatte sie oben auf dem Kopf zu einem lockeren Knoten zusammengefasst, und ihr Gesicht war von der Anstrengung gerötet. Die Muskeln an ihren Armen und am Rücken glänzten im Deckenlicht von Schweiß, als sie wieder und wieder auf den Sandsack einschlug. Vordere Gerade, hintere Gerade, Haken. Low Kick, Front Kick, High Kick und wieder von vorne.

Holden war wie gebannt. Sobald sein Fahrradprogramm zu Ende war, ging er zu den Matten hinüber, wo Leilani noch immer um den Sandsack herumtänzelte. Ihre Bewegungen so koordiniert und anmutig wie die einer Primaballerina. Sogar die pinkfarbenen Boxhandschuhe taten Leilanis kraftvollem Auftritt keinen Abbruch. Sie sah aus, als würde sie sich von niemandem etwas gefallen lassen.

Aufmerksam verfolgte Holden, wie ihre Fäuste hart auf den Sack trafen. Dann glitt sein Blick unwillkürlich weiter hinunter über ihren Oberkörper bis zur Taille und schließlich bis zu dem straffen Po in den engen schwarzen Leggings.

Wow.

Dr. Leilani Kim war nicht bloß hübsch, sie war hinreißend. Daran bestand kein Zweifel. Als Holden wieder aufsah, merkte er, dass sie ihn ausdruckslos fixierte.

Erwischt.

Weil ihm nichts Besseres einfiel, sagte er: „Sie wissen, wie man kämpft.“

Sie hielt den schwingenden Sandsack an, steckte die Boxhandschuhe ineinander und erwiderte: „Ja, sehr gut sogar. Jahrelanges Training. Und ich scheue mich auch nicht, mein Können einzusetzen.“

„Ich erinnere mich noch gut daran, wie Sie den Patienten gestern ausgeknockt haben. Keine Sorge, ich habe verstanden.“ Mit einem leisen Lachen wandte Holden sich ab. Vor der Schießerei hatte er selbst geboxt. Seit seiner Verletzung hatte er jedoch nicht wieder damit angefangen. Er wollte zu seinem Ergometer zurückkehren, doch Leilanis Stimme hielt ihn auf.

„Sie boxen?“

Über die Schulter schaute er zu ihr zurück. „Früher, ja.“ Er deutete auf sein rechtes Bein. „Aber seitdem nicht mehr.“

„Wollen Sie’s mal probieren?“ Leilani tippte ihre Handschuhe aneinander. „Als mein Sparring-Partner?“ Ihr Blick ging zu seinem Stock, bevor sie Holden direkt in die Augen sah. „Ich werde Sie schonen.“

Das war eine Herausforderung, ergänzt durch die schwarzen Boxhandschuhe, die sie ihm zuwarf. Mit einer Hand fing er sie auf, und seine Augen wurden schmal. Zum ersten Mal seit langer Zeit wollte er tatsächlich mal etwas riskieren und Dampf ablassen. „Gut.“

Autor

Fiona McArthur

Fiona MacArthur ist Hebamme und Lehrerin. Sie ist Mutter von fünf Söhnen und ist mit ihrem persönlichen Helden, einem pensionierten Rettungssanitäter, verheiratet. Die australische Schriftstellerin schreibt medizinische Liebesromane, meistens über Geburt und Geburtshilfe.

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