Julia Ärzte zum Verlieben Band 159

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KANN ES FÜR IMMER SEIN, DR. DUBOIS? von SUE MACKAY
Isabella ist überglücklich: Dr. Raphael Dubois und sie sind nicht nur beruflich, sondern auch privat endlich ein Paar. Dabei waren feste Beziehungen für die junge Hebamme nach ihrer gescheiterten Ehe lange tabu. Da erfährt sie, dass Raphael das Krankenhaus verlässt …

WEIHNACHTSZAUBER AUF GANNET ISLAND von MARION LENNOXWeihnachten auf einer Insel vor der australischen Küste? Nachdem Marc Pierce in eine Felsspalte gestürzt ist, sitzt der smarte Chirurg auf Gannet Island fest. Hier kommt er vor Heiligabend nicht weg. Aber will er das überhaupt? Schließlich umsorgt ihn die zauberhafte Ärztin Elsa!

DIE HOCHZEIT MEINER BESTEN FREUNDE von ANNIE CLAYDON
Der Arzt Cal Lewis ist ein Workaholic – bis er Andrea kennenlernt. Mit der engagierten Ärztin soll er in Italien die Hochzeit seiner besten Freunde vorbereiten und spürt zum ersten Mal, wie leicht das Leben sein kann. Sollte es neben der Arbeit doch noch mehr geben?


  • Erscheinungstag 10.12.2021
  • Bandnummer 159
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501668
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sue MacKay, Marion Lennox, Annie Claydon

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 159

SUE MACKAY

Kann es für immer sein, Dr. Dubois?

Dr. Raphael Dubois kennt Isabella schon sein halbes Leben! Endlich hat das Schicksal es gut mit ihnen gemeint, sodass sie nicht nur in derselben Klinik in London arbeiten, sondern auch zusammenwohnen. Alles scheint perfekt. Doch plötzlich muss er das Krankenhaus verlassen und nach Avignon zurückkehren. Wird Isabella ihrer Liebe trotzdem eine Chance geben?

MARION LENNOX

Weihnachtszauber auf Gannet Island

Alles könnte so schön sein: Ihre Arbeit als Inselärztin füllt Elsa vollkommen aus. Doch dann wird ein neuer Patient eingeliefert. Dank Marc Pierce erkennt sie, dass in ihrem Leben etwas Wichtiges fehlt: die Liebe. Aber sie weiß auch: Sobald das Weihnachtsfest vorbei und Marc wieder gesund ist, wird nur noch sein leeres Krankenbett an ihn erinnern!

ANNIE CLAYDON

Die Hochzeit meiner besten Freunde

Weil sie ihren Verlobten nicht retten konnte, zweifelt Andrea an ihren medizinischen Fähigkeiten. Deshalb hat sie die Stelle als Hotelärztin in Italien angenommen. Als sie dort mit dem charmanten Cal Lewis die Hochzeit von gemeinsamen Freunden vorbereiten muss, ist sie das erste Mal wieder glücklich. Hält das Leben vielleicht doch ein Happy End für sie bereit?

1. KAPITEL

„Bist du sicher, dass du ihn nicht mehr liebst?“

„Worauf du dich verlassen kannst.“

Wer weiß, ob ich meinen Ex überhaupt jemals richtig geliebt habe. Isabella Nicholson hütete sich allerdings, ihre Zweifel laut auszusprechen. Das wäre ihr zu peinlich gewesen, auch wenn Raphael Dubois ihr bester Freund war.

Bester Freund im Sinne von, ihm alles erzählen zu können, wann immer sie es brauchte. Selbst in den frühen Morgenstunden, wie jetzt um vier Uhr morgens hier in Wellington. In London, wo Raphael seinen Traumjob als Gynäkologe und Geburtshelfer am Queen Victoria Hospital gefunden hatte, war es vier Uhr nachmittags.

Moment mal … Er hatte ihr geschrieben, um zu fragen, ob sie schon wach war. Eine überflüssige Frage, da er genau wusste, dass sie zurzeit unter Schlaflosigkeit litt.

„Hey, warum wolltest du telefonieren? Bestimmt nicht, um über Darren zu reden, oder?“

„Izzy, war das die Wahrheit, oder fürchtest du die Antwort?“

„Erzähle ich dir nicht immer die Wahrheit?“ Von einigen Details in diesem speziellen Fall abgesehen …

„Du bist ziemlich gut darin, wesentliche Einzelheiten auszulassen, wenn es dir in den Kram passt.“ Raphael lachte leise, und sie wusste, dass er das Thema ihrer gescheiterten Ehe nicht weiter vertiefen würde.

„Also, was bringt dich dazu, mitten an einem Samstagnachmittag anzurufen? Ich hätte eher gedacht, dass du mit den Jungs im Rugby-Stadion sitzt.“ Er hatte seine Nische im Leben gefunden, sie nicht.

Vor zwei Jahren war sie nach Neuseeland zurückgekehrt, frisch verheiratet, voller Hoffnung und erwartungsfroh nach Darrens Versprechungen. Isabell wollte endlich ein Zuhause, an einem Ort leben, umgeben von Familie und Freunden. Zwölf Monate später war der Traum ausgeträumt. Sämtliche Freunde waren Darrens Freunde, und ihre Eltern hatten ihr eigenes Leben. Seitdem tat sie wieder das, was sie gut konnte – durch die Welt ziehen, von einem Job, von einem Land zum anderen. Vor zwei Wochen war sie von einem Freiwilligen-Einsatz in Kambodscha zurückgekommen, um ihre Eltern zu besuchen und sich zu überlegen, wie es für sie weitergehen sollte. Anders als sonst konnte sie sich jedoch nicht entschließen, einfach irgendwohin zu fliegen.

Bleib an einem Ort. Der Gedanke tauchte seit Neuestem immer öfter auf. Warum nicht ihren Traum von einem echten Zuhause allein verwirklichen?

„Ich habe gerade Drillinge auf die Welt geholt“, sagte Rafe. Er hatte den Schritt getan, lebte seit drei Jahren in London, hatte sich ein Haus gekauft und hielt Abstand zu seiner Familie in Avignon. Obwohl er ebenfalls mit Dämonen der Vergangenheit zu kämpfen hatte, schien er auf ruhige Art zufrieden zu sein. Was nicht zu dem Raphael passte, den sie fast ihr Leben lang kannte.

Isabella wünschte sich diese Zufriedenheit auch. Nach einer Kindheit auf Reisen, da ihre Eltern im Diplomatischen Dienst tätig waren, war die Sehnsucht nach Beständigkeit groß gewesen. Vielleicht hätte sie weniger auf das Wo, sondern mehr darauf achten sollen, mit wem sie sich häuslich niederließ. Und nun saß sie hier, ohne Ehemann, und versuchte, das Loch in ihrer Seele zu ignorieren.

„Drillinge! Schwer vorstellbar, wie Eltern mit so vielen Babys auf einmal klarkommen können.“

„Diese Eltern hätten auch Vierlinge genommen, so sehr haben sie sich Kinder gewünscht.“ Mit weicher Stimme fuhr er fort: „Du solltest die Zwerge sehen. So niedlich, so winzig in ihren Brutkästen.“

„Aber sie schaffen es doch?“ Wenn eins seiner Babys Komplikationen zeigte, machte er sich schwere Vorwürfe, obwohl ihn keine Schuld traf. Sie hatte keine Ahnung, warum er seit einigen Jahren so extrem reagierte. Anscheinend hüteten sie beide Geheimnisse voreinander …

„Für Drillinge sind sie in guter Verfassung. Eins ist kleiner als seine Brüder, ich werde es genauer im Auge behalten. Sie haben es bis zur 34. Woche geschafft, bevor wir sie per Kaiserschnitt holen mussten. Also die besten Startchancen. Die Eltern hatten Zeugungsschwierigkeiten, und nach künstlicher Befruchtung, voilà, ein wunderbares Ergebnis.“ Sein französischer Akzent trat deutlicher hervor, wenn er emotional wurde.

„Das solltest du feiern.“

„Ich treffe mich mit zwei der Jungs und ihren besseren Hälften, sobald wir zu Ende telefoniert haben. Wie war dein Freitagabend?“

„Ich war mit einer Nachbarin essen und auf ein, zwei Drinks in der Bar um die Ecke.“ Isabella war nicht lange unterwegs gewesen. Lieber verbrachte sie den Rest des Abends in ihrem Elternhaus, statt ins Visier von Männern zu geraten, die nur eins im Sinn hatten.

Du wirst alt, Mädchen.

Oder abgestumpft.

„Das ist auf jeden Fall besser, als in den eigenen vier Wänden zu hocken und Trübsal zu blasen.“

Häh? Was war nur los mit ihm? „Nun übertreib mal nicht, Rafe.“ Wenn er bei seinen Babys gefühlvoll wurde, okay, aber er sollte nicht in ihrem verworrenen Leben herumstochern! „Ich sage es ein letztes Mal. Ich liebe Darren nicht. Meine Gefühle für ihn sind restlos gestorben, als ich ihn mit Gaylene Abernethy in unserem Bett erwischte.“

Wäre es nur so einfach, Darren für alles verantwortlich zu machen. Aber sie war selbst schuld. Sie hatte seine Versprechen für eine gemeinsame Zukunft durch eine rosarote Brille gesehen, ohne zu bemerken, dass sie nicht dasselbe wollten. Darrens Affären standen noch auf einem anderen Blatt. Damit war ihr Mann definitiv zu weit gegangen.

„Gut. Ich musste das fragen.“ Klang Raphael tatsächlich erleichtert? Allerdings, warum nicht? Die beiden Männer hatten sich nie gut verstanden.

„Klar.“

„Liebe verschwindet nicht immer sofort, auch wenn es einen Grund dafür gibt.“ Er sprach aus Erfahrung. Würde er ihr endlich erzählen, was genau vor sechs Jahren passiert war?

„Ich habe Darren geliebt, doch nicht so sehr, wie es im Sinne von ‚bis dass der Tod uns scheidet‘ gemeint ist.“

„Sagt das jemand heutzutage überhaupt noch? Was ist, wenn ihr beide fünfundneunzig werdet? Das ist eine ganz schön lange Ehe. Wer ist mit fünfzig noch wie mit dreißig, geschweige denn mit fünfundneunzig?“, fragte der Mann, der Cassie ewige Liebe geschworen hatte, nur um zwei Jahre später von ihr einen Fußtritt zu kassieren. Eine gescheiterte Ehe war noch etwas, das Raphael und sie gemeinsam hatten.

„Typisch für dich, solche Fragen zu stellen. Mir geht’s gut, Rafe. Ich habe einen Fehler gemacht, Ende der Geschichte.“

„Solange du dir sicher bist“, murmelte Raphael. „Ich möchte nicht, dass du es irgendwann bereust, dich von ihm getrennt zu haben.“

„Hör auf, Rafe. Darren und ich kommen nicht wieder zusammen. Es ist vorbei.“

„Okay. Erzähl mir von Phnom Penh. Was hat dich bewogen, noch einen Monat dranzuhängen?“

Jetzt würde sie doch lieber über ihren Ex reden. „Ein tragischer Fall, der mich besonders mitgenommen hat“, antwortete sie dennoch.

„Professionelle Distanz ist wichtig, Izzy.“

Als wüsste sie das nicht! „Dort drüben ist es anders. Wenn jemand erkrankt oder schwer verletzt ist, ist die gesamte Familie beteiligt. Von der Urgroßmutter bis zum Babybruder, und ich war mittendrin.“ Bis zu dem Punkt, als sie die Bremse zog, um nicht mehr dem Glück hinterherzurennen, sondern darüber nachzudenken, wie sie sich ihre Zukunft wirklich wünschte. „Können wir das Thema wechseln?“

„Klar. Was kommt als Nächstes? Eine Sommerexpedition in die Antarktis im Dienst der neuseeländischen Wissenschaft? Vier Wochen auf dem Schiff einer Hilfsorganisation in Afrika?“

„Ach, komm. So rastlos bin ich nun auch wieder nicht.“

Allerdings strafte das vergangene Jahr ihre Worte Lügen. Auckland, Melbourne, Kambodscha. Vielleicht war sie ihren Eltern ähnlicher, als sie zugeben mochte, und würde nie sesshaft werden, nie das eine Zuhause finden, wo sie bleiben und glücklich sein konnte. Zugegeben, Mum und Dad waren seit zweiunddreißig Jahren verheiratet, eine beständige Ehe, obwohl es sie selten länger als drei Jahre an einem Ort gehalten hatte. Aber sie hätten kein Kind in die Welt setzen sollen. „Ich war sechs Jahre in Wellington, habe meine Ausbildung gemacht und als Krankenschwester gearbeitet. Vier weitere Jahre habe ich in London verbracht, als Hebamme, bevor …“

Oui, verstehe. Doch im Moment überlegst du, was jetzt kommt: in Wellington bleiben, nach Afrika gehen oder nach Amerika. So wie du mit Niederlagen umgehst, wird dich diese Trennung immer wieder verunsichern. Wo soll ich leben? Für welches Projekt melde ich mich als Nächstes? Bin ich eher Kiwi oder Engländerin?“ Seufzend fügte er hinzu: „Sag’s mir, wenn ich unrecht habe, Izzy.“

Das konnte sie nicht. Er hatte ihre Zerrissenheit genau richtig beschrieben. Allerdings hatte jene kambodschanische Familie sie verändert, auf eine schwer definierbare Art. Aber sie war noch nicht bereit, darüber zu reden. Würde es vielleicht nie sein …

Isabella streckte sich der Länge nach im Bett aus und stopfte die dicke Überdecke rund um sich fest. „Es wird dich freuen zu hören, dass ich mir nicht vorstellen kann, monatelang auf einem Eisberg zu hocken und tiefschürfende Gespräche mit Pinguinen zu führen.“ Sie zog sich das Kopfkissen unter den Nacken. Der Herbst zeigte sich heute von seiner kalten Seite und lieferte schon einmal einen Vorgeschmack auf den nahenden Winter.

„Möglicherweise sind Pinguine interessanter als die Hälfte aller Leute, denen du am Tag begegnest.“ Sein sonst so ansteckendes Lachen hatte etwas Müdes, fast Gereiztes.

„Alles in Ordnung an deinem Ende der Welt?“

„Das Übliche. Wir sind personell unterbesetzt, und zurzeit ist gefühlt jede Londonerin über zwanzig schwanger.“

„Und dein Leben außerhalb des Queen Victoria? Was ist mit Lieben, Leben, Lachen und so weiter?“ Raphael war einer der attraktivsten Männer, die sie kannte. Frauen verliebten sich, noch ehe er Bonjour gesagt hatte. Trotzdem hatte er nach Cassie keine ernste Beziehung gehabt, höchstens ein paar Affären. Zumindest versprach er nie mehr, als er halten konnte, und machte von Anfang an klar, dass er keine Partnerin fürs Leben suchte. Tatsächlich war er so freundlich und rücksichtsvoll, dass auch seine Verflossenen ihn für wundervoll hielten. Noch lange, nachdem er Au revoir gesagt hatte.

„Keine Ahnung, was du meinst.“ Wenigstens klang sein Lachen diesmal wie gewohnt. „Neben der Arbeit bleibt nicht viel Zeit.“

„Das klingt genauso jämmerlich wie mein Leben gerade.“

„Ah, jetzt wird’s interessant, Schwester Nicholson. Für mich, nicht für dich“, fügte er hinzu.

„Sicher?“, grummelte sie. Musste er sie mit der Nase auf ihre eigene Unzufriedenheit stoßen?

„Ich liege nicht nachts stundenlang wach und versuche, das Puzzle wieder zusammenzusetzen.“

„Du hast recht, und wehe, du reitest darauf herum“, sagte sie mürrisch. „Ja, ich muss ein paar Entscheidungen treffen.“

„Welche zuerst?“

Das war das Problem. Sie hatte keinen Schimmer, wo sie anfangen sollte. „Wo ich leben will?“

„Was passt dir an deinem jetzigen Wohnort nicht?“ Direkt wie immer, der gute Rafe.

„Wenn ich hierbleibe, muss ich mir eine Wohnung oder ein Haus kaufen, und dann hänge ich mit dem Kredit hier fest.“ Isabella seufzte. „Komisch, Wellington habe ich immer als mein Zuhause gesehen, aber es fühlt sich nicht so an.“

„Du warst dort nicht wirklich glücklich. Wir alle brauchen einen Ort, den wir Zuhause nennen, doch das bedeutet nicht, dass er uns das bietet, was wir uns von ihm erhoffen. Wie ich und Avignon.“

Eine komplizierte Beziehung. „Die Stadt ist interessant.“ Mittelalterliche Stadtmauer, eine alte Burg auf der anderen Flussseite, die berühmte Pont d’Avignon. Ihre Geschichte hatte Izzy fasziniert und die Sehnsucht verstärkt, irgendwohin zu gehören, Teil von etwas zu sein. Als Darren daherkam, war sie mit ihm nach Wellington zurückgegangen. Und jetzt würde sie vielleicht wieder aufbrechen. Ihr fehlte etwas. In Wellington? In ihr? „Ich glaube, ich möchte zu meinen Freunden zurück, Menschen, die mich kennen und wissen, woher ich komme.“

Raphael würde das verstehen. Sie hatten sich kennengelernt, als sie mit ihren Schulen auf Skifreizeit in den Schweizer Alpen gewesen waren. Bei einer wilden Fahrt mit ihrem Snowboard, das sie nicht mehr unter Kontrolle brachte, hatte sie ihn praktisch über den Haufen gefahren. Damit die Schrammen und Kratzer nicht zu sehr schmerzten, trösteten sie sich in einem Café mit heißer Schokolade und hatten sich auf Anhieb super verstanden. Sein Vater arbeitete in einer Schweizer Bank, während ihrer im neuseeländischen Konsulat in derselben Stadt tätig war.

Izzy war es gewohnt, schnell Freundschaften zu schließen, weil sie wusste, wie schnell drei Jahre vergehen konnten und sie wieder von vorn anfangen musste. Raphael hatte Heimweh nach seiner Großmutter und seinen Cousins in Avignon gehabt. Er nahm es seinen Eltern übel, dass sie ihn aus der vertrauten Umgebung gerissen hatten. Und Izzy wünschte sich, dass ihre Eltern nach Hause zurückkehrten und nicht mehr durch die Weltgeschichte zogen. Doch ihre Mutter trat eine Stelle in einer internationalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft an, für die sie viel reisen musste, und Isabella wurde auf ein Internat in England geschickt. Sie kam sich abgeschoben und unendlich verlassen vor. Selbst als sie später in den Schoß der Familie zurückkehrte, blieb die Kluft bestehen. Die erzwungene Distanz hatte sie für immer verändert.

Obwohl er zwei Jahre älter war als sie, tat Raphael alles, damit sie in Kontakt blieben. Auch wenn sie die meiste Zeit ihrer Freundschaft in verschiedenen Ländern verbrachten, waren sie sich nahe wie bei ihrer ersten Begegnung. Kurze Zeit arbeitete sie mit ihm zusammen in Tours, und es war großartig gewesen. Seitdem hielt Izzy die Erfindung moderner Kommunikationssysteme für das Beste, was ihr je passiert war.

„Du kommst doch zu Carlys Hochzeit, oder?“, fragte Raphael.

„Um nichts in der Welt möchte ich die verpassen. Schlimm genug, dass ich bei Esthers und Harrys nicht dabei war.“ Der Flug damals nach London war bereits gebucht, als von der Medizinischen Hilfsorganisation angefragt wurde, ob sie ihren Aufenthalt nicht um einen Monat verlängern könnte. Die schwer traumatisierte Familie Khy, die Izzy betreut hatte, bräuchte sie noch, um wieder Halt zu finden. Sie konnte nicht Nein sagen. Sie wurde gebraucht, und sie wollte gebraucht werden. Immer noch. „Die Flüge sind unter Dach und Fach.“

„Warum machst du nicht ein One-Way-Ticket daraus? Deine Freundinnen von der Hebammen-Ausbildung sind alle hier und arbeiten am Queen Victoria – für wie lange noch, steht allerdings in den Sternen, bei all den Hochzeiten. Und dann gibt es ja noch moi.“

Sie lachte spröde. „Einfach so?“ Doch es wäre tatsächlich einfach. Da ihre Mutter Engländerin war, wäre es für Izzy ein Leichtes, eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für das Vereinigte Königreich zu bekommen. Aber wollte sie das? Wollte sie unter Beobachtung stehen, Fragen beantworten, jede Entscheidung erklären müssen?

Raphael war anders geworden. Zumindest, seit sie sich von Darren getrennt hatte. Er fragte nach, was sie machte, welche Aufträge sie annahm, wollte wissen, in welchem Land. Wenn sie erst in seiner Nähe wohnte, würde er wahrscheinlich noch mehr auf sie „aufpassen“ wollen.

Seine Stimme wurde schmeichelnd. „Okay, ich sag dir, warum ich angerufen habe. Auf meiner Station wird eine Stelle frei. Mit deinen Qualifikationen als Hebamme und als Krankenschwester bist du für den Job ideal. Die Kollegin hat es bisher nur mir gesagt und versprochen, es nicht offiziell zu machen, bevor ich nicht mit dir gesprochen habe. Was meinst du?“

„Wie schnell müsste ich anfangen?“ Die Begeisterung fehlte. Sonst konnte sie es kaum erwarten loszulegen, wenn ein neues Angebot kam. Es sah ihr gar nicht ähnlich, erst Pro und Kontra abzuwägen.

„Jasmine möchte in drei Wochen aufhören. Anscheinend lebt ihr Freund in Kanada, und sie haben vor, im Sommer einen Roadtrip zu unternehmen.“

Will ich nach London zurückkehren? Ernsthaft? Oder sollte sie in Wellington bleiben, sich mehr anstrengen, es zu ihrem Zuhause zu machen, wie sie es sich immer gewünscht hatte?

„Und … Tada! Das Beste von allem ist …“ Er machte eine Pause, um den Effekt zu erhöhen. Typisch Raphael. „Denk daran, wer die Station leitet. Es ist deine Entscheidung, aber du weißt, dass wir ein klasse Team sind.“

Tatsächlich ein Pluspunkt. Die Stelle in Tours, gleich im Anschluss an ihre Hebammenausbildung, war fantastisch gewesen. Auch, weil ihr bester Freund am selben Krankenhaus arbeitete. Er hatte ihr die französische Lebensart gezeigt und sie mit nach Avignon genommen, damit sie seine Großmutter und die Cousins kennenlernte. An ihren freien Tagen unternahmen sie Ausflüge in malerische Städtchen, zu herrlichen Schlössern und in die Berge.

Irgendwann fing er in London an zu arbeiten, sie begegnete Darren bei einem Rugby-Spiel der All Blacks gegen die Les Bleus, und der Rest war Geschichte. Eine niederschmetternde Geschichte, aber … Was mich nicht umbringt, macht mich stark. Izzy wusste nur nicht, wann es so weit war mit dem Starksein.

„Weißt du was?“, fragte sie zögernd.

„Du bist schon unterwegs.“

„Vielleicht.“

„Halloo? Wo ist die starke, selbstbewusste Isabella hin? Entweder kommst du oder du kommst nicht. Was von beidem?“

Ich muss mich jetzt entscheiden?

Warum nicht? Raphael hatte recht. Sie hatte das Leben immer genommen, wie es kam, nicht lange über Entscheidungen gegrübelt und akzeptiert, wenn einmal etwas schieflief. Weil jeder Fehler machte, weil jeder sich irren konnte. Aber ihre gescheiterte Ehe hatte sie aus der Spur geworfen. Sie machte sich zu viele Gedanken darum, ob etwas richtig war oder falsch. Es fiel ihr schwer, anderen zu vertrauen. Als sie dann erlebte, wie die Familie Khy zusammenhielt und nach vorn sah, nachdem sie den Kampf um ihren geliebten Sohn verloren hatte, geschah etwas mit ihr.

„Izzy?“

Falls es sich als falsch erweisen sollte, in London eine Stelle anzunehmen, würde sie es überleben. Aber zumindest wäre sie mit Rafe und ihren Freundinnen zusammen, den Menschen, die ihr am meisten bedeuteten.

„Ich muss Schluss machen. Meine Koffer packen.“

2. KAPITEL

Zwei Wochen später marschierte Raphael in der Ankunftshalle auf und ab, als sein Handy mit einem Ping eine Nachricht von Isabella ankündigte.

Gelandet.

Na endlich, dachte er, plötzlich von einem starken Gefühl erfüllt. Erleichterung? Nein, dies fühlte sich drängender an. Nicht, dass er es benennen könnte, aber es machte ihn kribbelig und glücklich zugleich. Genau so war ihm zumute gewesen, als Izzy erklärte, dass sie nach London kommen würde.

Seine Finger flogen über das Display.

Ich warte in der Ankunftshalle.

Die Maschine hatte eine Stunde Verspätung. Raphael war besonders früh aufgestanden, um rechtzeitig am Flughafen zu sein. Hatte sich nicht einmal Zeit für die Visite genommen und auch darauf verzichtet, nach den Drillingen zu sehen. Nichts erschien ihm wichtiger, als pünktlich in Heathrow zu sein, und das bedeutete für ihn früh. Sehr früh. Der gewohnte Gang zum Markt fiel aus, und Rafe verfluchte die Staus auf dem Weg zum Flughafen, schimpfte stumm, wenn auf der Anzeigetafel wieder eine Maschine gelandet war, die nicht Izzys Flugnummer trug. Verdammt, er checkte sogar seine App, ob die Anzeigen auf der Tafel stimmten. Oui, natürlich stimmten die Angaben überein. Aber die Verzögerung machte ihn verrückt!

Er konnte es kaum erwarten, Izzy zu sehen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie Darren geheiratet hatte – in Raphaels Augen ein absoluter Idiot – und „nach Hause“ zurückgekehrt war. Als sie ihn einlud, sie in Wellington zu besuchen, schob er wichtige Verpflichtungen vor, um nicht mit ihrem Mann zusammentreffen zu müssen. Darren schien nicht zu begreifen, dass Raphael und Isabella enge Freunde und nie ein Liebespaar gewesen waren. Also betonte er wieder und wieder, dass sie ihm gehörte. Na klar … Und was hatte es ihm gebracht? Der Typ hatte nichts begriffen und war wieder Single.

Ping!

Hast Du einen Anhänger mit?

So viel Gepäck?

Jepp.

Echt? Für gewöhnlich reiste sie mit leichtem Gepäck. Das hatte sie als Diplomatenkind gelernt. Während ihre Eltern sich an jeden neuen Bestimmungsort eine Containerladung liefern ließen, packte Izzy wenig ein. Nur das Nötigste dabeizuhaben, so sagte sie, erdete sie in der Realität. Und die bedeutete, dass sie nie lange an einem Ort blieb. Viel Gepäck, hieß das nun, dass sie langfristig in London bleiben wollte?

Calme-toi!

Langfristig war eine Sache, eine andere dagegen Izzys tief verwurzelte Version von „an Ort und Stelle bleiben“. Damals wollte sie dauerhaft in London leben – bis ihr Mann ihr für Wellington das Blaue vom Himmel herunter versprach. Sie hatte schon immer davon geträumt, in die Stadt zurückzukehren, in der sie geboren und zeitweise aufgewachsen war. Darren nährte die Hoffnung auf ein Leben dort. Mit dem Scheitern ihrer Ehe schien auch ihr Traum sich als Luftschloss zu entpuppen, und sie wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Was seltsam war, da sie nie Probleme hatte, stark zu sein und zu erreichen, was sie wollte. Allerdings war ihr nicht immer klar, was genau sie wollte. Von der Hebammenausbildung abgesehen.

Raphael schrieb zurück.

Großartig.

Und das war es wirklich. Vielleicht fand sie endlich ihren Platz, das Zuhause, das sie sich so sehr wünschte. Er für seinen Teil würde lieber heute als morgen zu seiner Familie nach Avignon zurückkehren. Aber er traute sich noch nicht. Erst musste er darüber hinwegkommen, wie Cassie seine Liebsten behandelt hatte. Die Schuldgefühle nagten an ihm – zusammen mit der Wut darüber, dass sie ihm einen grausamen Schlag versetzt hatte. Sein Sohn, der einzige Enkel seiner Eltern, war nur acht Tage nach der Geburt den plötzlichen Kindstod gestorben. Raphael hatte nicht einmal gewusst, dass er Vater geworden war.

Die Türen zur Ankunftshalle glitten auf, und eine kleine Gruppe Flugreisender, ihre Rollkoffer schiebend, kam in Sicht. Raphael schluckte die Bitterkeit hinunter und konzentrierte sich auf das, was an diesem Tag wirklich wichtig war. Er reckte den Hals, doch Isabella war nirgends zu entdecken. Auch sein Smartphone blieb still.

„Komm schon! Wo bist du?“, murmelte er. Wahrscheinlich beantwortete sie die unausweichlichen Fragen der Einwanderungsbehörde.

Raphael hätte noch eine Runde drehen können, um die Zeit totzuschlagen, doch er blieb, wo er war, die Augen fest auf die inzwischen wieder geschlossenen Türen gerichtet. Noch immer keine Nachricht auf seinem Handy. Sicher würde sie gleich wie der Wirbelwind, der sie mitunter sein konnte, in die Halle fegen. Nicht, dass von ihrem Temperament in letzter Zeit viel zu merken gewesen war. Ihr Ex hatte ihrem lebhaften Wesen einen starken Dämpfer verpasst. Oder gab es noch andere Gründe? Vielleicht hatte sie ihm ja nicht alles erzählt?

Erneut öffneten sich die breiten Türen, weitere erschöpfte Reisende erschienen, gefolgt von einem schwer beladenen Gepäckwagen, geschoben von …

„Raphael!“ Eine zierliche Gestalt zwängte sich durch die Menge und schoss auf ihn zu.

„Izzy …“

Uff. Oui. Definitiv ein Tornado.

Auch der letzte Rest Atemluft wurde aus seinen Lungen gepresst, als Isabella gegen ihn prallte und die Arme um ihn schlang. Er umarmte sie, als wollte er sie nie wieder loslassen. Sie roch nach Reise, Müdigkeit, Aufregung und … mais oui, nach Isabella. Anschmiegsam und stark zugleich.

Vorsicht. Sie waren Freunde, nicht mehr.

„Hallo, Rafe. Ich freue mich so, dich zu sehen!“

Erleichterung durchströmte ihn wie eine warme Woge. Isabella war da. Izzy. Raphael atmete tief ihren Duft ein, drückte sie fester an sich, küsste sie dann auf beide Wangen.

Ohne sie freizugeben, lehnte er sich ein bisschen zurück, um sie zu betrachten. Zarte Gesichtszüge, Augenringe, ungewohnte Schatten in ihrem Blick. Ärger stieg in ihm auf. Das war Darrens Schuld. Der Mann hatte ihr wehgetan. Aber gehörten nicht immer zwei dazu, wenn eine Beziehung in die Brüche ging? Hatte Isabella auch Fehler gemacht? Raphael beschloss, solche Fragen aufzuschieben, bis sie etwas Schlaf bekommen und sich ausgeruht hatte. „Schön, dich zu sehen, mon amie.“

Und da war es, das verschmitzte Funkeln in ihren Augen. „Du siehst mich alle zwei Wochen.“

„Ja, und dein Kinn ist riesig, und deine Augen sind irgendwo oberhalb des Bildschirms. Jetzt sehe ich dich richtig … und kann deinen Gesichtsausdruck deuten“, fügte er hinzu, um sie zu necken.

Scherzhaftes Geplänkel gehörte bei ihnen dazu, nur war ihm bisher nicht bewusst gewesen, wie wichtig es war. Es hielt ihn in der Spur, vor allem, nachdem Cassies Betrug ihm stark zugesetzt hatte. Zwar hatte er Izzy keine Einzelheiten erzählt, aber er konnte sie jederzeit anrufen. Sie kannten einander so gut wie niemanden sonst, und was auch immer das Leben ihnen an Knüppeln zwischen die Beine warf, auf den anderen war Verlass.

Dennoch verspürte er eine merkwürdige Besorgnis, seit Isabella zugestimmt hatte, nach London zu kommen und die von ihm vorgeschlagene Stelle zu übernehmen. Raphael verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Etwas Ähnliches hatte in ihm rumort, während er am Altar neben ihr stand und hörte, wie sie Darren ihr Eheversprechen gab. Das Gefühl, etwas Wichtiges herausgefunden zu haben, als es zu spät war.

„Nächstes Mal richte ich die Kamera auf meine Puschen.“

„Hoffentlich nicht die, die der Nachbarshund zerkaut hat.“ Nächstes Mal. Wach auf, Raphael, das hört sich nicht so an, als wollte sie für immer in London bleiben. Enttäuschung packte ihn. Warum? Schließlich war er es gewohnt, dass sie kam und ging, wie es ihr gefiel, oder – als sie jünger waren – wie ihre Eltern es bestimmten. Er blickte sich um. „Wir sollten den Gepäckwagen aus dem Weg nehmen, bevor ihn jemand rammt und deine Habseligkeiten durch die Gegend purzeln. Hast du überhaupt irgendetwas dagelassen?“

Ihr angespanntes Lachen weckte neue Fragen. „Dies ist nur der Anfang. Alles andere habe ich als Frachtgut aufgegeben. Der Container müsste irgendwann im Mai hier sein.“

„Das heißt, du lässt dich hier wirklich häuslich nieder? Mit allem Drum und Dran?“

Das Lachen erstarb. „Tu nicht so schockiert. Nur weil es in Wellington schiefgegangen ist, heißt das nicht, dass es hier auch so enden muss. Meine besten Freunde wohnen in dieser Stadt.“

Raphael griff nach ihr, zog sie in die Arme, wollte ihr damit ein Lächeln ins Gesicht zaubern. „Du hast recht, und ich bin einer von ihnen.“

„Das hoffe ich doch“, murmelte sie an seiner Brust, bevor sie sich von ihm löste. Ohne zu lächeln. Bisher hatte sie nie an ihm gezweifelt. Doch bevor er nachfragen konnte, fügte sie hinzu: „Ich habe ein paar Möbel, Küchengeräte und viele Bücher verschiffen lassen.“

Er starrte sie an, ein mulmiges Gefühl im Bauch. Sie meinte es ernst mit diesem Umzug. Natürlich freute er sich für sie … und für sich selbst. Er würde alles tun, um ihr zu helfen, dass es gut ging, aber … Raphael wurde klar, dass er Distanz halten musste. Er durfte ihre Freundschaft nicht riskieren, nur weil ihn seit ihrer Hochzeit immer mal wieder seltsame Gefühle heimsuchten. „Wirklich?“

„Wirklich. Mehr schaffe ich mir an, sobald ich eine eigene Bleibe gefunden habe.“

„Eigene Bleibe?“ Er sollte froh sein, doch das Gefühl wollte sich nicht einstellen.

„Fürs Erste auch nur gemietet.“

Er seufzte. Schluss mit der Grübelei. Seine Freundin war wieder in der Stadt. Jemand, mit dem er reden, im Pub ein Bier trinken oder einen Ausflug aufs Land unternehmen konnte.

„Danke, dass du mir vorerst ein Dach über dem Kopf verschaffst.“

„Besser, als dich unter der London Bridge schlafen zu lassen.“ Seine Unbeschwertheit kehrte zurück. Er hatte sich auf diesen Augenblick gefreut, und nun war Izzy da. In letzter Zeit hatte er viel gearbeitet, sich kaum Freizeit gegönnt, Verabredungen zum Rugby mit den Jungs abgesagt, weil seine Patienten ihn brauchten. Auf Dauer konnte das nicht so weitergehen, er brauchte einen Ausgleich zum anstrengenden Krankenhausalltag. Izzy würde dafür sorgen, dass der Workaholic in ihm auch einmal Pause machte. „Komm, wir verschwinden von hier.“

„Ja.“ Isabella gähnte hinter vorgehaltener Hand. „Der Trip war anstrengend. Greinende Babys und ein massiger Mann auf dem Nebensitz, der immer wieder einnickte und in alle Richtungen sank, meistens in meine.“

„Klingt ziemlich normal.“ Langstreckenflüge waren die Hölle auf Flügeln.

„Eines Tages werde ich 1. Klasse fliegen, nur um zu sehen, wie das ist. Allerdings habe ich ein bisschen schlafen können. Ungewohnt, aber vielleicht, weil ich in den Nächten vor dem Abflug so gut wie gar nicht zur Ruhe gekommen bin.“

„Hast du schon versucht, etwas gegen diese Schlaflosigkeit zu unternehmen?“

Ihr leicht zerzaustes kastanienbraunes Haar wirbelte auf den Schultern, als sie den Kopf schüttelte. „Alles bis auf Schlaftabletten, und die werde ich nicht anrühren. Ich habe zu viele Patienten erlebt, die davon abhängig wurden. Außerdem bin ich es gewohnt, mit wenigen Stunden Schlaf auszukommen.“

Solange er sie kannte, schlief sie schlecht. Doch in den letzten Jahren schien sich das Problem verschärft zu haben. „Warum sprichst du nicht einmal mit einem meiner Kollegen. Er hat schon vielen geholfen, vielleicht kann er dir einen Rat geben.“

„Lass mich erst auspacken, bevor du anfängst, mein Leben zu organisieren, ja?“ Isabella lächelte schief, aber die Warnung war deutlich. „Was hast du für heute Abend geplant?“

Raphael ließ das Thema fallen. „Drei Runden durch die Nachbarschaft joggen, dann ein Gartenbeet umgraben und Pflanzen einsetzen.“

„Cool. Ich kann mir Pizza bestellen und auf dem Handy einen Film ansehen.“

Er lachte auf, und es war, als hätte jemand auf einem alten CD-Spieler „Play“ gedrückt und Erinnerungen an unbeschwerte Zeiten aufgerufen. Zeiten, bevor sein Herz mit Füßen getreten worden war. Raphael stoppte den Gepäckwagen, legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte Isabella an sich. „Du hast es erfasst.“

Ja, es war wirklich wie früher. Izzy, die seinen Blödsinn schelmisch konterte. Wie sehr hatte er das vermisst! Nicht einmal der schwere überladene Gepäckwagen trübte die erwartungsvolle Neugierde auf das, was kommen mochte. So ähnlich hatte er sich damals gefühlt, als er Isabella zum ersten Mal begegnete. Ein Gefühl, stärker als der Schmerz in seinem Bein, dort, wo sie ihn mit ihrem Snowboard gerammt hatte. Es war ihr peinlich, dass sie das Ding nicht unter Kontrolle hatte, und dann warf sie ihm praktisch vor, dass er im Weg gestanden hätte. Ihr Temperament brachte ihn zum Lachen, und schließlich hatten sie bei heißer Schokolade ihre Telefonnummern ausgetauscht. Soweit es ihre schulischen Pflichten zuließen, trafen sie sich von da an in Genf jedes Wochenende.

„Du hast mir gefehlt, Izzy.“

„Du mir auch.“

„Ich wäre im letzten Jahr für eine Woche nach Down Under gekommen, um dich zu unterstützen, dich aufzuheitern … Aber du warst nie da.“ Während ihrer Telefonate war sie still gewesen, manchmal traurig, ab und zu sogar auf eine Art verzweifelt, die sie jedoch nie erklärt hatte.

„Wäre nicht nötig gewesen. Ich bin ein großes Mädchen. Außerdem warst du immer am anderen Ende eines Telefons, wenn ich reden wollte.“

Er schob die Gepäckstücke in den Fahrstuhl zum Parkhaus. „Am Mittwoch habe ich zufällig Carly getroffen. Sie ist völlig aus dem Häuschen, dass du ans Queen Victoria zurückkommst.“

„Erst recht aufgeregt ist sie wegen ihrer Hochzeit. Wir haben schon einen Abend zu viert geplant, mit den beiden anderen von der Hebammen-Ausbildung. Lustig, dass wir alle zur selben Zeit hier sind. Ich frage mich, ob es bedeutet, dass wir alle sesshaft, also endlich richtig erwachsen werden? Oder ist dies wieder nur ein Zwischenstopp? London scheint unser Ort zu sein. Ist es auch mein Ort?“

Das klang schon mehr nach der vertrauten Isabella, die er seit einer halben Ewigkeit kannte: immer zuversichtlich, sprach aus, wie sie sich ihr Leben vorstellte – und doch gleichzeitig zaghaft, wenn es darum ging, Beziehungen zu trauen. Ihre Eltern hatten sie ins Internat gesteckt, weil sie meinten, sie hätte dort mehr Unterstützung und Gesellschaft als bei ihnen zu Hause. Sie verstanden gar nichts!

Raphael hatte Izzy im Arm gehalten, als sie bitterlich weinte, weil sie sie weggeschickt hatten. Doch nachdem er sich in Cassie verliebt und von ihr schwer enttäuscht worden war, konnte er nachempfinden, wie sich ein gebrochenes Herz anfühlte. Das würde er nie wieder riskieren. Genauso wenig wie ich jemanden verletzen würde, weil ich nicht genug geben kann.

„Hör auf, alles zu hinterfragen, sondern freu dich einfach, dass du wieder bei uns bist“, sagte er. Isabella würde er nie verlassen. Er brauchte ihre Freundschaft so sehr wie sie seine. Niemand verstand ihn so gut wie sie. Er musste nur aufpassen, dass es bei der Freundschaft blieb und ihm nicht andere Gefühle in die Quere kamen. „Du schaffst es. Glaub an dich, Izzy.“

Sie warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte. „Wie du an dich?“ Intensiv sah sie ihm in die Augen. „Soll ich deinem Beispiel folgen? Nonstop arbeiten, ein Haus kaufen, in dem ich nicht viel Zeit verbringen werde?“

Sein Glücksgefühl verabschiedete sich. „Bin ich ein Workaholic geworden? Willst du das damit sagen?“

„Ich wiederhole nur, was du mir vor zwei Wochen erzählt hast.“

„Wahrscheinlich wollte ich dich von deinen Problemen ablenken.“ Er hatte darüber gesprochen, dass anscheinend jeder um ihn herum die große Liebe fand und Babys machte, während er sich tiefer und tiefer in seine Arbeit vergrub. Aber er hatte nicht gesagt, wie sehr er sich wünschte, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nach vorn blicken zu können. Doch der Weg war versperrt. Durch Cassies Selbstsucht hatte er einen Sohn verloren, und damit seinen Frieden zu machen, schien ihm unmöglich.

„Was diese Probleme angeht … Wirst du immer für mich da sein, auch an den schlechten Tagen?“

Oui, auf mich kannst du zählen.“

„Danke. Ich kann dir gar nicht sagen, wie gut es tut, bei dir zu sein. Es ist eine Weile her, dass mir jemand gesagt hat, was ich tun soll.“

„Die meisten Leute trauen sich nicht.“ Er lachte. „Lass uns deine Sachen nach Hause bringen. Danach feiern wir deine Ankunft in London mit einem Drink und etwas zu essen im Pub.“

„Hört sich gut an. Als ich das letzte Mal hier gelebt habe, hat mir das Pub-Essen gefallen.“ Isabella klopfte sich auf den Bauch. „Nicht besonders gesund, aber heute Abend gönne ich es mir.“ Sie hakte sich bei ihm unter. „Ernsthaft, Rafe, ich könnte mich die ganze Zeit kneifen. Es ist ewig her, dass wir uns gesehen haben. Telefonieren und skypen bringen es nicht wirklich, ich hab dich lieber griffbereit.“ Isabella schluckte hörbar, stolperte, fing sich und blickte starr geradeaus. „Ich rede zu viel. Muss am Jetlag liegen.“

„Du hast nie Jetlag.“ Wie oft hatte er sie beneidet, wenn er noch Tage nach einem Langstreckenflug mit Erschöpfung zu kämpfen hatte, während diese Frau mit gewohnter Energie in ihren Alltag startete, kaum dass sie den Flieger verlassen hatte.

„Es gibt immer ein erstes Mal.“ Danach blieb sie auf dem gesamten Weg zu seinem Wagen still. Ungewöhnlich.

Irgendetwas war los. Er musste unbedingt herausfinden, was. Raphael blickte sie von der Seite an. Normalerweise akzeptierte er es, wenn sie nicht reden wollte, aber heute wollte er den traurigen Ausdruck in ihren Augen wegwischen, damit ihre natürliche Unbekümmertheit dahinter wieder zum Vorschein kam.

„Lass mich einladen“, sagte er und öffnete den Kofferraum. „Mach du es dir schon mal bequem.“

„Bin ich deine Großmutter?“ Sie lächelte. „Apropos, wie geht es Grandmère? Hat sie sich von der Hüftoperation erholt?“

„Sie scheucht auf Krücken ihre Urenkel durch die Gegend. Wie ich sie kenne, radelt sie wieder durch die Stadt, bevor sie es sollte.“ Raphael schmunzelte. Er verehrte seine Grandmère sehr. Neben Izzy war sie die Einzige, die ihn bei seinen Unternehmungen kritiklos unterstützte. Seine Familie liebte ihn, aber sie gaben bei allem ihren Senf dazu, ließen sich nicht selten darüber aus, warum und weshalb seine Entscheidungen falsch wären. „Gestern Abend habe ich mit ihr telefoniert. Sie meinte, wann immer du einen Tapetenwechsel brauchst, sollst du dich auf die Socken machen und sie besuchen. Sie freut sich schon darauf.“ Seine Großmutter hatte Izzy schon immer gemocht. Und als Izzy noch in Tours arbeitete, war sie oft in den Zug gestiegen, um einen Tag mit Grandmère zu verbringen.

„Cool. Das mache ich bald. Ich liebe deine Großmutter, und Avignon ist eine meiner liebsten Städte.“ Sie reichte ihm einen der kleineren Koffer.

Rafe schüttelte den Kopf. „Das Ungetüm da zuerst.“

„Das wäre genau das Richtige für mich, wenn du mal nicht da bist und ich dich nicht zutexten kann.“ Sie grinste schwach und befasste sich mit den Gepäckstücken. „Und der Rest der Familie? Dominant wie immer?“

Typisch Izzy. Da hielt er sich mit den großen Fragen zurück, und sie knallte sie ihm schonungslos vor die Füße. „Aus dem Weg. Das ist Männerarbeit.“

„Was auch immer.“ Sie verdrehte die Augen, und er musste lachen. Immerhin ließ sie ihn an den Kofferstapel.

„Was hast du da drin?“ Raphael stöhnte. „Du musst ein kleines Vermögen für Übergepäck bezahlt haben.“

„Du weichst meiner Frage aus.“

„Stimmt. Jetzt steig schon ein, sonst stelle ich einen Koffer auf deinen Sitz, und du kannst die Bahn nehmen.“

Isabella schmiegte sich in den weichen Ledersitz und zog fröstelnd ihre zerknitterte Jeansjacke fester um sich. Bereits im Landeanflug hatte sie festgestellt, dass London nicht die Sonne angeknipst hatte, um sie willkommen zu heißen. Die kalte Luft war ein weiterer Beweis. Raphael jedoch hatte den kühlen Empfang mehr als wettgemacht, hatte sie so fest an sich gedrückt, als wollte er sie nie wieder loslassen. Sie sonnte sich noch immer in der Erleichterung, die auf seinem Gesicht zu lesen war, als sie auf ihn zuraste. Hatte er gedacht, sie würde doch nicht auftauchen?

Nun, hier war sie, und im Moment brauchte sie Freunde, die keine unangenehmen Fragen stellten. Was nicht für Raphael galt. Isabella seufzte. Zumindest wusste er, wie er ihr half, ohne allzu eindringlich zu werden. Dass er von ihr eine sofortige Entscheidung wegen des Jobs am Queen Victoria verlangte, was ungewöhnlich für ihn. Aber genau das hatte sie gebraucht, um das schwarze Loch zu verlassen, in das sie sich selbst gestoßen hatte. Seit seinem Anruf war sie mehr und mehr entschlossen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Sie hatte noch einen langen Weg vor sich, um die innere Leere wieder zu füllen, aber der Anfang war gemacht.

Raphael schwang sich hinters Lenkrad. „Bereit?“

Sie nickte. „Klar. Wie ist Richmond?“ Das war der Vorort, wo er das Haus gekauft hatte. „Ich habe gehört, es soll dort hübsch sein.“

„Ist es auch. Viele gemütliche Cafés, und am Fluss entlang kann man wunderbar spazieren gehen oder Rad fahren. Vor allem nach einem anstrengenden Tag, oder wenn man die Dinge in Ruhe aus einem anderen Blickwinkel betrachten muss.“

„Kommt sicher oft vor bei dir.“ Für seine Patienten gab er alles. Isabella betrachtete ihn. Den Blick auf die Straße gerichtet, lenkte er den Wagen vom Flugplatzgelände auf die Straße, und da traf es sie wie ein Blitz.

Er hat sich verändert.

Sein Gesicht verriet Müdigkeit, seine Bewegungen wirkten schwerfälliger, wenn er etwas sagte, klang es bedächtig. Warum? Sie seufzte wieder. Er wäre nicht begeistert, wenn sie ihn fragen würde. Also wechselte sie das Thema. „Wie geht’s Pierre?“ Der Sohn seines Cousins lag Raphael besonders am Herzen.

„Hat sich in das Mädchen von nebenan verliebt. Wahrscheinlich stirbt er, wenn sie ihn nicht bald küsst.“ Raphael lachte leise. „In dem Alter ist alles so intensiv.“

„Zu intensiv, manchmal.“

Rafe war siebzehn gewesen, als er seiner Tante Adele bei der Geburt ihres Sohnes helfen musste. Sie waren unterwegs zum Entbindungshaus gewesen, mitten auf dem Land, als die Abstände zwischen den Wehen rapide schrumpften. Er hatte Isabella erzählt, dass für Peinlichkeiten keine Zeit blieb, während Adele seinen Arm umklammerte und ihn anschrie, er sollte irgendetwas mit dem Baby machen. Es war die erste Geburt, die er gesehen und bei der er assistiert hatte. Von jenem Tag an war für ihn klar gewesen, was er werden wollte.

„Pierre ist ein kräftiger Fünfzehnjähriger, der auch Arzt werden will. Allerdings nicht in der Geburtshilfe, sondern der Kardiologie. Mag etwas damit zu tun haben, dass sein Herz gerade in Aufruhr ist.“

Isabella starrte aus dem Fenster auf die Hauptstraße, die in die Innenstadt führte. „Was für ein vertrauter Anblick … Gerade habe ich das Gefühl, dass es die richtige Entscheidung war, nach London zu kommen.“ Sie empfand eine Verbundenheit mit London, die sie sonst nur in Wellington verspürt hatte – zumindest, bis Darren sie zutiefst enttäuschte. Sicher, es gehörten immer zwei dazu, wenn eine Ehe scheiterte, doch sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er sich in den Armen anderer Frauen getröstet hatte. Seitdem fiel es ihr schwer zu vertrauen.

„Papa und Maman leben wieder in Avignon. Dad hat bei der Bank gekündigt. Der Stress war zu groß für ihn, und nun arbeitet er Teilzeit bei einer Importfirma, um mehr Zeit mit der Familie genießen zu können.“

„Das ist großartig.“ Monsieur Dubois hatte sein Leben lang hart gearbeitet. „Gute Neuigkeiten, findest du nicht?“ Ihr Herz stolperte, als ihr ein Gedanke kam. Würde Raphael nach Hause zurückkehren? Ausgerechnet jetzt, wo sie in London bleiben und mehr Zeit mit ihm verbringen wollte?

Rafe beugte sich vor, auf die Straße und den dichten Verkehr konzentriert. Wie er das Steuer fest umklammert hielt, war ein weiterer Hinweis darauf, wie angespannt er war. „Oui.“

„Aber …?“, wagte sie zu fragen.

Er lockerte den Griff, packte wieder fest zu. „Ich bin immer noch nicht so weit“, antwortete in einem Ton, der sie davon abhielt, weiter nachzuhaken.

Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück. Lieber schweigen, als den Freund zu beunruhigen. Abgesehen davon, dass seine Eltern dazu neigten, ihn mit ihrer Liebe fast zu ersticken, konnte sie sich nicht vorstellen, was ihn davon abhielt, nach Hause zu fahren. Er wirkte zufriedener als in jener dunklen Zeit, nachdem Cassie und er sich getrennt hatten. Doch manchmal fragte sich Isabella, wie glücklich er wirklich mit seiner Familie war.

Die Stille wurde unangenehm. „Was hatten wir für Pläne, als wir fast noch Kinder waren!“, brach sie sie. „Nichts davon hat sich so entwickelt, wie wir es uns vorgestellt haben.“

Für Raphael war schon immer klar gewesen, dass er Medizin studieren würde. Doch er wollte in seiner Heimatstadt eine Praxis eröffnen, während sie vorhatte, Marketing zu studieren, dann vielleicht Autos zu verkaufen, um zum Sterben schöne Wagen fahren zu können. Später kam ihr die Idee, eine Bar aufzumachen. Aber nichts davon fühlte sich richtig an, ihr war, als fehlte etwas – so wie in ihrer Familie.

Und dann hörte sie Raphael von seiner Arbeit erzählen, von den Patienten, dem Schmerz, der Furcht, aber auch der Liebe, die sie während ihrer Krankheit erfuhren. Da wusste sie, dass sie auch mit Menschen arbeiten, für sie da sein wollte. Nicht, indem sie ihnen einen Drink über den Tresen reichte, sondern ihnen die Angst nahm, wenn sie verletzt waren. Sie in besonders schweren Stunden begleitete.

Isabella ließ sich zur Krankenschwester ausbilden und erlebte die nächsten vier Jahre als die entspannteste Zeit ihres Lebens. Nach dem Examen stellte sich jedoch wieder die gewohnte Rastlosigkeit ein, und in ihrer Verzweiflung schrieb sie sich in London für die Hebammenausbildung ein. Für die winzigen Babys zu sorgen, machte sie unbeschreiblich glücklich. Beruflich war sie angekommen. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals etwas anderes zu machen. Es war das Einzige in ihrem Leben, dessen sie sich absolut sicher war.

„Ich bin so froh, dass du hier bist, Izzy.“ Rafe warf ihr ein schwaches Lächeln zu. „Auch wenn ich nicht viel Zeit für dich haben werde.“

Es klang wie eine Warnung. Ihr Herz zuckte, und das verunsicherte sie erst recht. Raphael ist ein Freund. Mehr nicht, natürlich nicht. Dieses merkwürdige Herzklopfen zeigte nur, wie sehr sie aus dem Tritt geraten war, was ihr Leben anging.

„Ich werde auch gut beschäftigt sein“, entgegnete sie, um ihren Stolz zu schützen. „Eine Wohnung finden, mich mit den Mädchen treffen, mich im Job einleben.“ Sie musste gähnen. Ein Bett wäre jetzt nicht schlecht. Sie brauchte dringend Schlaf, obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass sie besser noch eine Weile wach blieb und sich eine anständige Mahlzeit gönnte. Aber auch danach würde sie nur für wenige Stunden wegdämmern, bevor sie sich wieder schlaflos hin und her wälzte.

Sie blickte Rafe an, und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit durchströmte sie ein wärmendes Glücksgefühl. Es war, als sei sie nach Hause gekommen. Was nicht nur daran liegen mochte, dass sie wieder in London war, bei ihren Freunden, sondern vor allem an Raphael.

„Ich kann es kaum erwarten, dein Haus zu sehen.“

„Du wirst enttäuscht sein. Ich habe noch nichts gemacht, weder die Wände gestrichen noch eine neue Küche eingebaut oder die Bäder modernisiert. Anscheinend fehlt mir entweder die Lust oder die Zeit dazu.“

„Vielleicht kann ich helfen.“

Raphael zog die Brauen hoch. „Wir reden hier nicht von Kleinigkeiten.“

„Irgendwo muss man anfangen. Und da ich bald meine eigenen vier Wände aufhübschen muss, kann ich bei deinen schon mal üben.“

„Meinst du?“ Er grinste. „Tut mir leid, aber ich muss dein Angebot …“ Ein Fingerschnippen. „… ablehnen.“

„Feigling.“

„Rosa Wände und Blümchengardinen sind nicht so meins.“

„Meins auch nicht.“ Sie stellte sich eher Pastelltöne vor, viel natürliches Licht, große Räume, minimalistische Einrichtung. Seit sie sich auf der Suche nach Möbeln für das Haus, das Darren und sie in Wellington kaufen würden, Inneneinrichtungen angesehen hatte, kannte sie sich aus. „Was hältst du von dunkelblauen Wänden und Teppichen, einem Hauch Weiß in den Vorhängen und limonengrünen Möbeln?“

„Exzellent. Wir haben einen Plan.“

Isabella lächelte. Es gefiel ihr, wie er „wir“ sagte. Als hätte sie einen festen Platz in seinem Leben. Obwohl, den hatte sie schon lange. Sollte sie sich bei ihm in der Nähe eine Bleibe suchen? In Richmond konnte sie sich wahrscheinlich nicht einmal eine Hundehütte leisten. Der Gedanke, weit weg von Raphael zu wohnen, gefiel ihr plötzlich gar nicht. Was für ein Unsinn. Freunde gingen ihrer Wege, kamen zusammen, zogen jeder für sich weiter. Zurzeit waren sie wieder in der Zusammensein-Phase. Wer weiß, wie lange?

„Da sind wir.“ Raphael parkte vor einer Reihe Backsteinhäuser. „Willkommen zu Hause.“

Es war nicht ihr Zuhause, nur ein Zwischenstopp, aber seine Worte taten gut. Sie drückte die Wagentür weit auf, stieg aus und blickte sich um. Bäume säumten die Straße, im Nachbarhaus bellte ein Hund, und auf dem Asphalt schimmerten Pfützen im Sonnenschein, der gerade durch die Wolken brach. Zu Hause. Ja, genau so hatte sie sich ihr Heim in Wellington vorgestellt. Ein Haus in ruhiger Wohngegend. Wenn dann noch gute Freunde in der Nähe lebten, hatte Rafe den richtigen Ort ausgesucht. Perfekt.

Nichts ist vollkommen. Nichts und niemand ohne Fehler.

Die Warnung trübte jedoch nicht das wundervolle Gefühl, das ihre Erschöpfung überdeckte.

Isabella folgte Raphael ins Haus – und blieb im Flur wie angewurzelt stehen. „Lila Wände? Das ist ja furchtbar düster.“

„Warte, bis du die Küche gesehen hast.“

Die Farbe muss weg! Schaudernd ging Izzy nach ihm die Stufen hinauf, ihren kleinsten Koffer in der Hand. Sie merkte schnell, dass in diesem Haus lange nichts getan worden war. Jedes Zimmer, in das sie schaute, brauchte dringend einen neuen Anstrich, am besten einen hellen Farbton mit passenden Gardinen.

Im dritten Stock setzte Raphael die schweren Gepäckstücke ab. „Hier ist dein Reich. Bleib, solange du willst. Es ist das schönere von zwei Gästezimmern, das kleinere nutze ich als Büro“, erklärte er, bevor er wieder nach unten ging, um weiter auszuladen.

Isabella sah sich um. Keine dunkellila Wände, zum Glück, dafür ein blasser Fliederton, der sie an die Gemächer einer alten Dame erinnerte. Immerhin hatte sie einen Ort, wo sie ihr müdes Haupt betten konnte, bis sie eine Mietwohnung fand. Warum war sie dann so aufgeregt, so kribbelig? Sie sank aufs Bett, rieb sich die Arme und sagte laut, um sich zu beweisen, dass sie nicht träumte: „Ich bin wieder in London, in meiner anderen Heimat!“

Ihre Mutter stammte aus dem Lake District, und Izzy hatte ihre Verwandten nur ein einziges Mal besucht, als sie damals hier lebte. Der Empfang war nicht besonders herzlich gewesen. Ihre Mutter hatte einen Neuseeländer geheiratet und nicht den Lord von und zu Soundso, den sich die Familie als Schwiegersohn wünschte. Isabella, als Kind des minder Begehrten, auch wenn er als Diplomat eine beachtliche Karriere hingelegt hatte, wurde entsprechend kühl behandelt. Sie fand, dass die Sippe mütterlicherseits mittlerweile darüber hinweg sein könnte, aber manches änderte sich anscheinend nie. Enttäuscht, aber fest entschlossen, nicht um Anerkennung zu betteln, hatte sie sich schnell wieder verabschiedet.

„Ich freue mich. Für uns beide.“

Sie hatte gar nicht gehört, wie Raphael mit dem nächsten Koffer das Zimmer betreten hatte. Blinzelnd sah sie auf, genau in seine Augen. „Danke, dass du mir von dem Job erzählt hast.“

„Kein Problem. Das Badezimmer ist übrigens eine Etage tiefer. Du hast es ganz für dich, mein Schlafzimmer hat ein angrenzendes Bad. Nimm dir, was du brauchst, auch in der Küche. Die Speisekammer ist voll, und im Gefrierschrank wartet dein Lieblingsfisch.“

„Danke, aber zuallererst brauche ich eine Dusche. Und frische Sachen.“ Sie schnupperte an ihrer Jacke und verzog das Gesicht. „Bäh. Langstreckenflüge hinterlassen ihren eigenen Geruch.“

Raphael zuckte zusammen und sah zur Seite. „Lass dir Zeit. Zum Pub müssen wir nur die Straße runter.“

Trotz seiner ersten Reaktion klang das so normal, dass sie auflachte. Dafür war sie hergekommen, für diese Normalität. Im Moment fühlte sich alles goldrichtig an. Vor allem, bei Raphael zu sein, der ihr nie wehtun würde. Ja, es war eine gute Entscheidung gewesen, ihren Kram zusammenzupacken und nach London zu fliegen. Besser als gut … großartig und vielversprechend.

Glaub es ruhig.

Doch so ganz normal war es nicht mit ihm. Noch nicht, oder?

3. KAPITEL

„Auf London und deinen neuen Job und ein Wiedersehen mit guten Freunden.“ Raphael stieß mit einem sanften Klingeln an Isabellas Glas, während im selben Moment schallendes Gelächter von der Bar herübertönte. „Und darauf, dass ich herausfinde, was hinter dem traurigen Ausdruck steckt, den du jedes Mal hast, wenn du glaubst, dass ich nicht hinsehe.“

Isabella ignorierte seinen letzten Satz und stieß ebenfalls mit ihm an. „Auf gemeinsame Unternehmungen.“ Obwohl er sie bereits vorgewarnt hatte, dass er nicht viel Zeit für sie haben würde.

Beide hatten sich für einen alkoholfreien Drink entschieden. Isabella war aufgedreht und erschöpft zugleich. Und sie machte sich Gedanken über tausend Sachen, die sie im Moment nicht angehen konnte. Die Fahrt vom Flughafen hatte sie auf ungewohnte Weise berührt. Wegen Raphael? Sie verstanden sich großartig, auch wenn sie die schwierigen Themen der letzten Jahre ausgeklammert hatten: Cassie, die Liebe seines Lebens, und die Wahrheit über Isabellas Ehe.

„Hoffen wir’s. Ich finde schon kaum Zeit für mich selbst.“ Er grinste schief, fast ein bisschen angespannt.

„Klingt, als müsstest du dein Leben wiederfinden.“ So kannte sie ihn gar nicht. Zwar nahm er seinen Beruf sehr ernst und tat alles für die Patienten, die ihm anvertraut waren. Doch in seiner Freizeit war er für jeden Spaß zu haben gewesen.

„Ich wette, dafür wirst du schon sorgen“, murmelte er, lächelte jedoch, und diesmal war es das vertraute charmante Raphael-Lächeln. „Win-Win für uns beide. Ich könnte einen Tritt in den Allerwertesten vertragen.“

„Danke, dass du mich so kurzfristig bei dir aufgenommen hast. Ich suche mir so bald wie möglich eine Wohnung.“

Wenn ich nicht langfristig bei dir bleiben kann.

Izzy verschluckte sich fast an ihrem Kirschsaft. Mit Raphael zusammenwohnen? Wie kam sie plötzlich auf diese Idee? Sicher, Freunde teilten sich oft eine Unterkunft, aber Raphael und sie hatten immer jeder seine eigene gehabt. Auch damals in Tours.

„Kein Problem.“ Raphael starrte auf den Tresen und schwenkte gedankenverloren seinen Drink.

„Ich mache mich baldmöglichst vom Acker“, sagte Izzy. Dabei bin ich doch gerade erst angekommen. Ich möchte Zeit mit dir verbringen. Ich brauche das, muss über den Mist reden, den ich verzapft habe. Erst dann kann ich nach vorn blicken, hier in London ein neues Leben anfangen.

Diese Sehnsucht, bei ihm zu sein, verunsicherte sie. Bisher war Raphael derjenige gewesen, der sie geerdet hatte. Natürlich war er immer noch der zuverlässige, hilfsbereite, aufmerksame Mann, den sie kannte, und doch spürte sie, dass da mehr war. Ein tieferes Gefühl, das an ihr Herz klopfte. Lass mich rein. In dein Herz. Unsanft stellte sie ihr Glas ab. Nein. Nein, kommt nicht infrage. Sie würde ihn nur enttäuschen. Und ihm wehzutun, war das Letzte, was sie wollte. Isabella griff wieder nach ihrem Glas und stürzte den Saft hinunter.

„Lass dir Zeit. Du bist gerade erst gelandet.“ Er berührte ihre Hand.

Sie zog sie weg, blickte sich im Pub um, während sie versuchte, ihr wildes Herzklopfen zu beruhigen. „Klar“, sagte sie leise. Isabella schaute ihn wieder an, und ihr Herz machte einen Satz. Rafe sah mehr als umwerfend aus. Er war schon immer ein attraktiver Mann gewesen, doch bisher hatte sie ihn nie wie andere Frauen angeblickt. Er ist mein Freund. Daran hatte sich nichts geändert. Warum fiel ihr dann sein dunkler Bartschatten auf? Ihre Handflächen kribbelten. Wenn sie die Situation nicht in den Griff bekam, musste sie morgen wieder ausziehen. London Bridge, ich komme!

„Hast du in letzter Zeit Französisch gekocht?“ Spürte Rafe ihre Anspannung? Wollte er sie ablenken?

„Nein.“ Darren hatte sich geweigert, auch nur irgendetwas zu essen, das entfernt an die französische Küche erinnerte. Nur wegen Raphael. Izzy fand es kindisch, aber um den häuslichen Frieden zu wahren, ließ sie die französischen Kochbücher im Schrank stehen und hielt sich an die langweiligen Basics: Braten, Steak, Würstchen.

„Das müssen wir ändern. Ich kann nicht zulassen, dass du vergisst, wie man eine gute Sauce Béarnaise macht.“

Als sie aufblickte, lächelte Raphael sie an, so wie immer, wenn er sie gutmütig neckte. Erleichterung überschwemmte sie. Siehst du? Alles in Ordnung. Wahrscheinlich war sie nach dem langen Flug übermüdet.

„Das letzte Mal habe ich dich in der Bar weiter unten in der Straße gesehen. Du hattest ein Haus gefunden, und wir haben vorgefeiert, weil ich bei deinem Einzug nicht mehr hier sein würde.“

Oui.“

„Du warst betrunken, und ich musste dich im Taxi nach Hause schicken, damit du nicht am Tresen einschläfst.“

Er lächelte gequält. „Musst du dich so genau erinnern?“

„Was war eigentlich der Grund?“ Rafe trank nicht übermäßig, blieb immer vernünftig.

„Weiß ich nicht mehr.“ Ihrem Blick wich er aus. „Ah, da kommen die Kartoffelspalten, die ich bestellt habe!“

Okay, er wollte ablenken. Sie hätte nachbohren, eine Antwort verlangen können, aber sie mochte ihnen nicht den Abend verderben. Der köstliche Duft nach gebackenen Kartoffeln stieg ihr in die Nase, und Izzy entspannte sich. „Hmm. Es tut gut, mal wieder zusammenzusitzen.“

Was auch stimmte, egal, wie durcheinander sie war. Ihre Beine schmerzten, und ihr Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt. Ein bisschen unheimlich war es schon, am anderen Ende der Welt einen Neuanfang zu wagen. Bisher war es ihr darum gegangen, immer unter Menschen zu sein, Menschen, die für sie da waren.

Nachdem sie spontan am Queen Victoria zugesagt hatte, hatte sie sich hingesetzt und nachgedacht. Heraus kam, dass sie gar nicht mehr von einem Job, von einem Projekt zum anderen reisen mochte. Die Erlebnisse in Kambodscha hatten sie tief bewegt. Zu erleben, wie stark und innig Familien füreinander da sein konnten, löste eine Erkenntnis in ihr aus. Bevor sie von anderen erwartete, dass sie an sie glaubten, musste sie an sich selbst glauben. Sie konnte sich in Beziehungen nicht mehr durchmogeln. Ihr Umzug hatte etwas Endgültiges, und den Weg würde sie allein gehen. Vielleicht fand sie heraus, dass sie so viel geben konnte, wie sie von anderen für sich erwartete. Mehr sogar.

„Möchtest du noch etwas trinken?“ Rafe hatte dem Barkeeper ein Zeichen gegeben. „Izzy?“

Sie tauchte auf aus dem Wust an Fragen, der durch ihr müdes Gehirn waberte. „Ein Wasser, bitte.“ Isabella betrachtete Raphael. Der schlaksige Jugendliche, den sie damals kennengelernt hatte, war zu einem großen schlanken, athletisch gebauten Mann herangewachsen, mit einem Gesicht, das signalisierte: Vertrau mir. Ausgeprägt männliche Züge, so attraktiv, dass andere Frauen ihr verraten hatten, sie würden ans Bett denken, wenn sie ihn nur anblickten.

„Triffst du dich zurzeit mit jemandem?“ Das kam schneller heraus, als ihr lieb war. Seit wann machte sie sich deswegen Gedanken?

Moi?“ Er tippte sich auf die Brust, blickte sie gespielt schockiert an. „Du weißt, wen du gefragt hast, oder?“

„Ja, dich, Rafe.“ Gut aussehende Männer blieben nicht ewig Single, vor allem nicht, wenn sie als Arzt im Krankenhaus von betörender Weiblichkeit umgeben waren. Ja, er hatte Affären. Sie wusste es, weil er ihr gelegentlich davon erzählte. Nie abfällig, immer bewundernd und verständnisvoll, aber auch nachdenklich und vorsichtig, was feste Beziehungen anging.

Resigniert zuckte er mit den breiten Schultern. „Nein. Da ist niemand, bei der es mir ernst wäre, und meistens überhaupt niemand.“

Isabella drückte den Rücken durch und griff nach ihrem Glas, trank einen Schluck. Besser, sie erlöste Raphael von ihrem Verhör. „Erzähl mir von meiner neuen Stelle. Kenne ich auf der Station vielleicht jemanden?“

„Nicht, dass ich wüsste. Von deinen Freundinnen arbeitet keine auf der Entbindungsstation. Aber das weißt du sicher.“

„Die Mails sind nur so hin- und hergeflogen. Bald ist Carlys Hochzeit. Alle sind furchtbar aufgeregt.“ Sie lächelte. „Dabei fällt mir ein … Möchtest du mitkommen? Auf der Einladung steht ‚Isabella und Begleitung‘. Allerdings bist du während der Zeremonie allein, weil ich Brautjungfer bin.“

„Niemand sonst, den du einladen würdest?“ Er lächelte sie an, aber seine Stimme hatte einen besonderen Unterton.

„Ich möchte, dass du mich begleitest. Sonst gehe ich allein“, fügte sie sicherheitshalber hinzu.

„Du kannst auf mich zählen, vorausgesetzt, ich habe keinen Dienst. Wann ist die Hochzeit?“ Als sie ihm das Datum nannte, scrollte er durch seinen Terminkalender. „Passt. Das ganze Wochenende frei.“

„Sehr schön. Bist du immer noch zufrieden am Queen Victoria?“

„Kann mich nicht beklagen. Der Job ist genau das, was ich immer wollte, und mehr als das.“ Raphael lächelte. „Wirklich perfekt.“

Und Avignon? Er hatte immer davon gesprochen, eines Tages dorthin zurückzukehren. „Das freut mich. Du hast es verdient.“ Hoffentlich konnte sie von ihrem neuen Job das Gleiche sagen.

„Das gilt auch für dich. Du musst nur daran glauben.“ Ernst blickte er sie an.

„Werde ich tun.“

„Sag es noch einmal. Entschlossener.“

Oh, wie sehr hatte sie seinen Akzent vermisst. Übers Internet hörte er sich nicht so tief und so französisch an. Was war nur mit ihr los? Rafe ist ein Freund. „Werde ich tun“, wiederholte sie widerspenstig, um zu verbergen, wie verwirrt sie war.

„Isabella“, kam es mahnend zurück.

„Wenn ich also mit meinem Pass in Richtung Flughafen abhauen sollte, hältst du mich auf? Verlangst von mir, noch einmal nachzudenken?“

„Dazu wird es nicht kommen.“

Sein aufrichtiges, warmes Lächeln hüllte sie ein, und sie hätte gleichzeitig lachen und weinen können. Ja, es war richtig gewesen, zu Raphael zu fliegen und bei ihm ihre Zelte aufzuschlagen. Auch wenn es mehr Fragen als Antworten aufwarf …

Isabella war froh, dass sein Handy klingelte.

Bitte, lass es die Station sein, bat Raphael stumm, als er sein Smartphone aus der Tasche holte. Er brauchte Abstand zu Izzy und ihren Fragen. War er vorhin noch aufgeregt und erwartungsvoll gewesen, weil er sie wiedersehen würde, so wurde ihm allmählich mulmig bei dem Gedanken, mit ihr mehr Zeit zu verbringen. Ein Blick aufs Display, und seine Hoffnung erlosch. Keine Atempause in Sicht.

„Hallo, Cooper. Wie war das Spiel?“

„Beweg sofort deinen Hintern hierher. Haley hat Wehen, und du hast uns versprochen, bei der Geburt dabei zu sein.“

Okay, da hatte er seine Atempause. Haleys Baby machte sich drei Wochen zu früh auf den Weg, aber es bestand kein Grund zur Sorge. Er stand auf, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt. „Wie weit ist sie?“

„Vier Zentimeter, sagt die Hebamme“, knurrte Cooper. „Das war vor zehn Minuten.“

„Immer mit der Ruhe. Wir haben noch Zeit. Ich bin unterwegs.“

Izzy stand auf, trank ihr Wasserglas leer und hängte sich ihre Tasche um.

Verdammt. Isabella.

„Ich komme mit“, verkündete sie und löste damit sein Problem, sie erst nach Hause bringen zu müssen.

„Drück auf die Tube.“ Cooper klang gestresst. Werdende Väter …

„Wir sehen uns gleich.“ Er folgte Izzy nach draußen. „Du könntest dir ein Taxi nehmen.“ Würde ihm ein bisschen Zeit ohne diese traurigen Augen verschaffen. „Du bist sicher völlig kaputt.“

„Stimmt, aber es ist noch früh, und nach einem Langstreckenflug versuche ich immer, bis zu meiner normalen Schlafenszeit wach zu bleiben.“

Eine Diskussion hätte Zeit gekostet, die er nicht hatte. Eine Minute später fuhren sie Richtung Queen Victoria. „Ich habe Cooper und Haley im Krankenhaus kennengelernt. Er ist Chirurg, sie Radiologin. Es ist ihr erstes Kind“, erklärte er.

„Wie aufregend.“

Cooper hatte geklungen, als wäre er kurz vorm Durchdrehen. Raphael drückte aufs Gaspedal und konzentrierte sich darauf, so schnell wie möglich zum Krankenhaus zu kommen.

„In welchem Geburtszimmer liegt Haley?“, fragte er Claudia, als er die Station betrat.

„Nummer 4“, antwortete die Hebamme. „Muttermund sechs Zentimeter, dann war Schluss. Baby scheint nicht zu wissen, ob es herauskommen oder noch drinbleiben soll.“ Sie warf einen Blick auf Izzy.

„Claudia, das ist Isabella Nicholson. Sie fängt nächste Woche hier an.“

„Hi, Claudia.“ Isabella lächelte. „Freut mich, dich kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits!“ Claudia lachte. „Heute Abend ist hier die Hölle los. Wir haben mehr Neugeborene als Betten.“

Am Zimmer angekommen, wandte Raphael sich zu Isabella um. „Möchtest du solange in meinem Büro warten?“

Sie blieb stehen. „Klar.“

Eine Klingel ertönte. „Da muss ich hin“, murmelte Claudia. „Bin bald wieder da.“

„Na endlich!“ Cooper stand im Türrahmen. „Die Wehen haben nachgelassen. Wahrscheinlich, damit du Zeit hattest, hier anzulanden.“

„Ich werde sicher ein paar Tickets für zu schnelles Fahren kriegen. Die kannst du bezahlen.“

„Wer ist das?“

„Die Freundin, die ich heute Nachmittag am Flughafen abgeholt hatte. Isabella, darf ich dir Cooper vorstellen?“

Der Chirurg schüttelte ihr die Hand. „Du bist Krankenschwester, oder?“

„Ja – und Hebamme.“

„Komm mit rein zu Haley. Sie kann ein bisschen Ablenkung vertragen.“

Isabella sah ihn an. „Ist das okay für dich?“

„Natürlich.“ Raphael biss die Zähne zusammen und betrat den Raum. So viel dazu, Isabella aus dem Weg zu gehen. „Hi, Haley. Ich habe gehört, dass es nicht mehr vorangeht, seit Cooper mich angerufen hat.“

Haley griff nach seiner Hand und brach in Tränen aus. „Ich bin so froh, dass du da bist. Ich dachte, ich muss dieses Baby ohne deine Hilfe bekommen.“

„Die meiste Arbeit hast du, ich beobachte nur, was vor sich geht.“ Er beugte sich hinab, um sie auf die Wangen zu küssen. Im selben Moment baute sich eine Wehe auf, und seine Hand versank in einem Schraubstock. „Langsam und tief ausatmen.“

„Du hast leicht reden.“ Sie lockerte den Klammergriff um seine Finger, als die Kontraktion verebbte. „Du musst hier nicht durch die Hölle gehen.“

„Stimmt. Wie viel Zeit ist zwischen dieser und der letzten Wehe vergangen?“

„Fünf Minuten“, meldete sich Cooper zu Wort.

„Fünf Minuten, vier, sechs. Wen kümmert’s?“ Haley klang angespannt. „Wetten, dass du mit dieser nicht gerechnet hast? Stehst da, redest mit deinem Kumpel, und deine Welt ist in Ordnung. Ist sie ja auch. Aber du musst das hier nicht durchmachen.“

Raphael hatte Mühe, nicht zu lachen. Noch nie hatte er Haley so viel reden hören. „Ich dachte, du bist schüchtern.“ Sie war Radiologin geworden, weil Röntgenärzte nicht viel mit Patienten redeten, sondern ihre Tage hauptsächlich mit der Begutachtung von Röntgenbildern und MRT-Scans verbrachten.

„Du kannst auch den Mund halten. Sorg dafür, dass dieses Baby herauskommt.“ Sie starrte über seine Schulter. „Wer ist das?“

Izzy trat vor. „Hallo, Haley, ich bin Rafes Freundin Isabella.“

„Also hast du es geschafft. Raphael war sich nicht sicher, ob du hier auftauchen würdest.“

Ach ja? „Wohl kaum. Wenn Isabella sich etwas in den Kopf gesetzt hat, bringt sie nichts und niemand davon ab“, sagte er. Man weiß nur nie, wie lange sie bleibt.

Haley legte den Kopf schräg. „Du hast auf glühenden Kohlen gesessen, seit sie gesagt hat, dass sie den Job annehmen wird.“

„Lieg still. Ich will Babys Herz abhören.“ Und dich am Weiterreden hindern, bevor Isabella auf falsche Gedanken kommt.

„Aah!“ Haley schrie auf. „Es geht wieder los.“

Cooper nahm ihre Hand, hielt sie fest.

Raphael trat ans Bettende und hob das Tuch an, das Haleys Unterleib bedeckte.

„Ist es angenehm, wenn du während der Kontraktionen liegst?“, fragte Isabella, nachdem die letzte vorbei war.

„Ich würde lieber stehen, aber wenn die Wehe kommt, komme ich nicht schnell genug vom Bett runter. Klar, ich könnte auf der Bettkante sitzen, und Cooper hilft mir dann beim Aufstehen. Aber im Sitzen ist es noch unangenehmer.“

„Willst du es bei der nächsten mit Aufstehen versuchen? Ich helfe dir.“ Sanft rieb Isabella ihr den Rücken, löste die deutlich spürbaren Verspannungen in ihren Muskeln. Sie spürte, wie die Schwangere sich langsam entspannte.

„Okay.“

Raphael hatte Haley untersucht. „Acht Zentimeter“, sagte er. „Du bist wieder im Geschäft.“

„Ich wusste, dass der Bengel noch auf dich gewartet hat. Jetzt gibt es kein Halten mehr.“ Auch Coopers Anspannung hatte nachgelassen, seit Raphael und Izzy da waren.

Sie rieb Haley immer noch den Rücken. „Im Zimmer herumzugehen, könnte auch helfen, den Schmerz zu lindern und die Geburt zu beschleunigen. Was meinst du?“

„Ich bin für alles zu haben. Hauptsache, es ist bald vorbei.“ Haley richtete sich auf und schob langsam die Beine über die Bettkante. Wieder packte eine Wehe sie, und Raphael und Cooper griffen jeweils nach einem Arm und zogen sie schwungvoll auf die Füße.

Gleich darauf hielt Cooper seine Frau in den Armen, flüsterte ihr Zärtlichkeiten ins Ohr, rieb ihr den Rücken „Du schaffst das, Darling.“

„Was bleibt mir übrig?“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Die Wehe war kaum zu Ende, da kam die nächste. Als sie abgeebbt war, murmelte Haley: „Glaubt nicht, dass ich auch nur einen Schritt tue.“

„Versuch es“, ermutigte Izzy sie.

Sie wird eine Bereicherung für die Station sein, dachte Raphael, als er beobachtete, wie sie mit Haley umging.

„Ich glaube, ich muss pressen“, keuchte Haley nach einer Weile.

„Zurück aufs Bett“, wies Raphael an. „Ich sehe mir das noch einmal an.“

Izzy stand neben ihm. „Sieht gut aus.“

„Oh ja, das Köpfchen ist zu sehen. Komm, kleiner Mann, wir wollen dich sehen.“

Cooper griff wieder nach Haleys Hand. „Gib alles, Darling.“

„Was meinst du, was ich die ganze Zeit tue?“ Doch diesmal klang sie nicht ärgerlich, sondern erschöpft. Und sie lächelte ihren Mann an, bevor sie tief Luft holte und dem Pressdrang nachgab.

Raphael blickte zu Izzy hinüber, die wieder Haleys Rückenmuskeln massierte. Sie sah auf und lächelte, als wollte sie sagen: Ich liebe diesen Job!

Er erwiderte ihr Lächeln. Ich auch. Babys auf die Welt zu bringen, war mit das Schönste, das er sich vorstellen konnte. Und wenn das Baby von seinen Freunden war, machte es ihn noch glücklicher.

„Und noch einmal“, sagte er zu Haley. „Die Schultern sind draußen … ein Mal noch.“ Momente später hielt er das Neugeborene in seinen großen Händen, checkte es kurz, bevor er es seiner Mutter auf den Bauch legte. „Haley, Cooper, darf ich euch euren Sohnemann vorstellen?“ Raphael musste blinzeln. Verdammt, er sollte jetzt nicht emotional werden, aber er freute sich so sehr für die jungen Eltern. „Izzy, Cooper möchte die Nabelschnur durchschneiden. Hilfst du ihm, bitte?“

„Sicher.“ Sie schnappte sich ein Paar Handschuhe vom Instrumentenwagen und half dem stolzen Vater.

Raphael sah zu, wie sie den Winzling dann mit einem Handtuch abrieb und ihn behutsam in ein sauberes Tuch wickelte. Izzy war hundemüde, das sah man ihr an, aber ihre Augen leuchteten, als sie das Kind der strahlenden Mutter in die Arme legte.

„Wir lassen euch drei jetzt eine Weile allein“, erklärte er. „Ruft einfach, wenn ihr etwas braucht.“

Cooper nickte nur, und auch Haley war wieder schweigsam, wie Raphael sie kannte. Die beiden hatten nur Augen für ihren Sohn.

Draußen im Flur lehnte sich Izzy gegen die Wand und grinste von einem Ohr zum anderen. „Wow. Es ist immer wieder aufregend, wenn ein neuer kleiner Mensch in deine Hände gleitet, oder?“

„Auf jeden Fall.“ Er scherte sich nicht darum, ob jemand zuschaute, und zog sie in die Arme. „Willkommen zu Hause, Izzy.“

Ihr schmaler Körper versteifte sich flüchtig, entspannte sich dann wieder. „Ja, endlich.“

Raphael stellte die Dusche ab und griff nach seinem Handtuch. Das heiße Wasser hatte seinen brennenden Muskeln gutgetan. Heute Morgen war er länger gelaufen, hatte sich mehr gefordert als sonst, um die Bilder loszuwerden.

Autor

Sue MacKay
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Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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Annie Claydon

Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...

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