Julia Ärzte zum Verlieben Band 165

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DER UNWIDERSTEHLICHE DR. SABAT von TINA BECKETT
Schockiert sieht Nicola, wer ihr neuer Kollege im New Yorker Krankenhaus ist: Chirurg Dr. Kaleb Sabat, mit dem sie vor ein paar Wochen eine heiße Nacht verbracht hat! Sehr lange kann sie ihm die süßen Folgen ihrer sinnlichen Stunden nicht verheimlichen …

VIER PFOTEN UND EIN TRAUMMANN von MEREDITH WEBBER
Ein Traummann fällt vom Himmel: Sofort ist Lauren zur Stelle, um nach dem Absturz des Ultraleichtflugzeugs Campbell Grahames Verletzungen zu versorgen! Es knistert zwischen ihnen, aber Lauren bleibt vorsichtig. Denn der sexy Tierarzt ist jünger als sie …

ES WAR EINMAL IN GRIECHENLAND … von ANNIE CLAYDON
„Hab keine Angst!“ Mit zwölf rettete Ben ein kleines Mädchen vor dem Ertrinken. Jetzt fährt er das erste Mal wieder auf die griechische Insel zurück. Den Tod seiner geliebten Frau will er hier vergessen – und steht unvermittelt dem Mädchen von damals, der schönen Arianna, gegenüber …


  • Erscheinungstag 03.06.2022
  • Bandnummer 165
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511568
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tina Beckett, Meredith Webber, Annie Claydon

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 165

TINA BECKETT

Der unwiderstehliche Dr. Sabat

Das Rezept für ein glückliches Leben? Festen Beziehungen aus dem Weg gehen! Sogar einen Schwur hat der Schönheitschirurg Dr. Kaleb Sabat geleistet, sich niemals zu verlieben – und scheitert kläglich! Denn seine neue Kollegin Nicola mag ausgesprochen kratzbürstig sein, aber sie ist die Einzige, mit der er sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen kann …

MEREDITH WEBBER

Vier Pfoten und ein Traummann

Die Landung im australischen Busch war äußerst unsanft! Aber Tierarzt Campbell Grahame hat Glück im Unglück. Denn seine Nachbarin am Paradise Lake, die aparte Ärztin Lauren, leistet Erste Hilfe. Schwierig ist nur, dass sie in ihm, dem Single Dad mit einer süßen, aber sehr eigenwilligen kleinen Tochter, ein absolut verbotenes Verlangen auslöst …

ANNIE CLAYDON

Es war einmal in Griechenland ...

Noch immer fühlt Arianna sich schuldig, dass sie bei einem Fährunglück als Kind gerettet wurde und ihr Bruder starb. Ihr Leben gehört nur ihren Patienten auf der griechischen Insel Ilaria. Wo eines Tages Dr. Ben Marsh, der sie damals gerettet hat, auftaucht! Mit ihm fühlt sie sich endlich glücklich – aber Ben wird nur drei Wochen bleiben …

PROLOG

Wortlos schob Kaleb Sabat seinem Freund das Glas Whiskey hin. In der Bar herrschte das zum Wochenende übliche Gedränge. Singles, die sich Gesellschaft für die Nacht suchten. Broker, die die Gewinne des Tages feierten oder die Verluste in ihrem Drink ertränkten. Kaleb war aus keinem dieser Gründe hier.

Vor fünf Jahren, kurz nach Abschluss ihres Medizinstudiums, hatte er als Trauzeuge mit seinem besten Freund und Studienkollegen am Altar gestanden. Und heute tranken sie gemeinsam auf Snowdens Scheidung. Kaleb war nur froh, dass er und seine Verlobte es gar nicht erst so weit hatten kommen lassen. Sie hatten sich getrennt, bevor ein Haus verkauft und der Hausrat aufgeteilt werden musste.

„Verflucht.“ Snow setzte den Tumbler an den Mund und leerte ihn mit zwei Schlucken. „Wir waren jung und dumm, was? Erst geht deine Verlobung in die Brüche, jetzt meine Ehe.“

„Keine Ahnung.“ Kaleb trank von seinem Whiskey und verzog leicht das Gesicht, als das Gebräu hinten in der Kehle brannte und eine feurige Spur in seiner Speiseröhre hinterließ. Ein gutes Feuer.

Freunde seit Kindertagen, waren Snow und er praktisch zusammen aufgewachsen, da Snow fast mehr Zeit bei ihm als bei sich zu Hause verbracht hatte. Warum, das fand Kaleb erst später heraus. Snowdens Zuhause war kein gutes Beispiel für eheliche Harmonie gewesen. Oder überhaupt Harmonie.

Trotzdem kann nichts dich wirklich darauf vorbereiten, dass deine Frau dich mit einem Kollegen betrügt. Kaleb nahm den nächsten Schluck. „Wenigstens ziehen sie von hier weg.“

Snows Ex Theresa plante längst die nächste Hochzeit.

„Lass uns schwören, dass wir uns nie wieder mit Frauen einlassen.“

Kaleb lachte. „Definiere einlassen.“ Er selbst hatte längst strenge Regeln festgelegt. Frauen, die einen Ehemann oder Freund hatten, waren tabu. Keine lange Bindung. Sex ja, übernachten nein. Inzwischen nahm er eine Frau auch nicht mehr mit zu sich, sondern ging zu ihr oder suchte nach anderen Wegen, ihr körperlich nahe zu kommen.

„Das ist einfach. Keine Ringe. Keine Bindung. Nicht zum Altar. Nicht in einem Bett schlafen …“

Kaleb hob die Hand. „Schlafen ist verboten?“

„Sehr witzig. Du weißt, was ich meine.“

Leider ja. Beziehungen waren anstrengend. Ihm war schleierhaft, wie seine Mom und sein Dad es geschafft hatten, seit fünfunddreißig Jahren glücklich verheiratet zu sein. Und sie liebten sich immer noch. Auch seine Schwester, die ihr zweites Kind erwartete, schwebte im siebten Ehehimmel. Sosehr er es sich auch wünschte, er war nicht so wie sie. Zweimal verlobt, zweimal grandios gescheitert. Er hatte nicht vor, ein drittes Mal zu versagen.

„Verheiratet warst du, Snow, nicht ich.“

„Reib ruhig Salz in die Wunde, Kumpel. Ich wünsche dir, dass du nicht auf die harte Tour lernst, was eine Ehe wirklich bedeutet – so wie ich.“

Diese Erfahrung hatte Kaleb schon gemacht, und ein Trauschein war dafür nicht nötig gewesen. Nur zwei Wochen und eine Frau, die sofort ein Kind haben wollte, als er gerade mit dem Medizinstudium angefangen hatte. Er sagte Nein, obwohl er sich eine Familie wünschte. Später. All seine Argumente stießen auf taube Ohren, und als ihr versehentlich ein Eisprungkalender aus der Tasche fiel, wusste er, dass die Beziehung unter keinem guten Stern stand.

Seine zweite Verlobung erwies sich auch als Flop. Candice dachte wohl, dass sie mit einem plastischen Chirurgen an ihrer Seite jede Schönheitsoperation haben konnte, die sie wollte. Nach ein paar Rollen am Broadway träumte sie von Hollywood. Ihr Pech, dass Kaleb sich auf rekonstruktive Chirurgie spezialisiert hatte, um Menschen zu helfen, die durch Unfall oder Krankheit verunstaltet worden waren. Sie fand es heraus, als er zu seiner ersten Mission aufbrach.

Warum fährst du dahin, wenn du hier viel mehr Geld verdienen kannst?

Diese Beziehung endete noch hässlicher als die erste. Kaleb löste die Verlobung auf der Stelle und fand bei seiner Rückkehr eine leere Wohnung vor. Candice hatte all ihre Sachen, allerdings auch die meisten seiner Möbel mitgenommen. Er fand, es war ein geringer Preis dafür, sie nie wiedersehen zu müssen. Snow war also nicht der Einzige, der die harte Tour kennengelernt hatte.

„Ich habe nicht vor, jemals zu heiraten. Zwei Verlobungen haben mir gereicht.“

„Das wird die beste Entscheidung deines Lebens sein.“ Sein Freund hob die Hand, um einen zweiten Drink zu ordern. „Du auch?“

„Nein. Du wirst einen Fahrer brauchen.“

„Wirklich nicht? Wir können ein Taxi nehmen. Schließlich ist das hier eine Feier.“

Seine harte Miene passte nicht dazu.

„Na gut, wie feiern nicht, wie fassen einen Entschluss.“ Nachdem der Barkeeper Snow den Whiskey hingestellt hatte, erhob Kaleb sein Glas. „Auf das Junggesellenleben!“

Snow prostete ihm zu. „Und darauf, klüger zu sein.“

„Unbedingt.“ Während Kaleb nur an seinem Drink nippte, leerte sein Freund das Glas in einem Zug.

Es konnte eine lange Nacht werden. Wahrscheinlich musste er eine eiserne Regel brechen und ausnahmsweise Übernachtungsbesuch zulassen. Kaleb sah schon kommen, dass Snow auf dem neuen Sofa seinen Rausch ausschlief.

In einem Punkt hatte Snow allerdings recht. Kaleb war entschlossen, aus den Fehlern seines Freundes – und seinen eigenen – zu lernen.

Nie wieder würde er jemanden bitten, bei ihm einzuziehen. Nie wieder einen Verlobungsring kaufen. Nie Kinder haben. Beim letzten Gedanken zog sich ihm das Herz zusammen.

Und das größte Tabu von allen? Einen sehr langen Mittelgang zum Altar entlangzuschreiten. Einen Weg, der mit welkenden Blumen und gebrochenen Versprechen gesäumt war, der einzige Ausweg ein sehr teures Stück Papier … Wie das, was Snow gerade erst unterzeichnet hatte.

Auf das Junggesellendasein. Drei bedeutungsvolle Worte. Von nun an sein Lebensmotto.

1. KAPITEL

Sechs Monate später

Kaleb wachte in einem leeren Bett auf. Helles Sonnenlicht strömte durch die Fenster des mondänen Hotelzimmers.

Wo war er? Und warum war er …?

Abrupt richtete er sich auf. Whoa. Er war die ganze Nacht hier gewesen? Teufel auch!

Das war ihm seit Langem nicht mehr passiert. Er hatte eins seiner Tabus gebrochen. Es gab nur eine sinnvolle Erklärung: Er war gestern Abend erschöpfter gewesen als gedacht. Nach dem furchtbaren Tag allerdings kein Wunder.

Erinnerungsfetzen an den gestrigen Abend verfolgten ihn. Sanfte, verlangende Küsse auf seinem Körper. Hände, die erogene Zonen fanden, von denen er nicht wusste, dass er sie hatte. Und eine Explosion, die ihn erschütterte wie nichts zuvor. Sein Körper reagierte nur bei dem Gedanken daran.

Aber bei der Frau die Nacht verbringen?

Verdammt. Zum Glück hatte sie nicht gewartet, bis er aufwachte. Das hätte unbehaglich werden können, ganz gleich, wie wundervoll sie sich angefühlt hatte. Wie verführerisch ihr Duft war. Nein, er hätte sie auf den Mund geküsst und sich verabschiedet. Kaleb verlor sich in Bildern. Nun, vielleicht hätte er den Abschied etwas hinausgezögert, um sie noch einmal zu genießen.

Nicola.

In Gedanken murmelte er ihren Namen. Schmeckte ihn auf der Zunge. Ihren Nachnamen kannte er nicht. Es war nicht wichtig gewesen. Wichtiger waren ihre Augen, die Blicke, die sie ihm in der Bar immer wieder zugeworfen hatte. Mit einem Hauch Unsicherheit, der ihn anzog. Also ging er zu ihr und lud sie zu einem Drink ein. Sie sagte nicht Nein. Eine halbe Stunde später verließen sie die Bar und nahmen sich ein Hotelzimmer. Was dann passierte, war …

Der Himmel auf Erden.

Nein. Nicht der Himmel. Nur eine weitere Nacht. Mit einer weiteren Frau.

Abgesehen davon, dass er eingeschlafen war, im Arm ihren nackten Körper – statt wie sonst aufzustehen, sich anzuziehen und zu gehen. Warum? War es der besondere Reiz, mit einer völlig Fremden zusammen zu sein?

Vielleicht. Andererseits war es nicht sein erster One-Night-Stand dieser Art. Aber dass er seine Gründe genau sezierte, konnte doch nur bedeuten, dass es diesmal anders gewesen war.

Blödsinn. Gut, dass er sie nicht nach ihrem vollen Namen gefragt hatte.

Von Bindungen die Finger zu lassen, war die beste Entscheidung, die er je getroffen hatte. Warum auch immer er hiergeblieben war, änderte nichts daran.

Kaleb streckte sich lang aus und verschränkte die Finger hinter dem Kopf. Diese Nicola würde er wahrscheinlich nie wiedersehen, es sei denn, sie besuchte die Bar öfter. Allerdings hätte er schwören können, dass er sie dort zum ersten Mal gesehen hatte. Allein. Und was er in ihrem Blick las, weckte Regungen, die er längst für tot gehalten hatte.

Okay, vielleicht nicht tot, aber untergetaucht in einem Meer der Ernüchterung.

Verflucht, er wollte dem nicht nachspüren.

Er trieb sich aus dem Bett und unter die Dusche, drehte sie voll auf. Ihm blieb eine Stunde, bevor er zur Arbeit musste. Umziehen würde er sich in seinem Büro und schon bald sämtliche Gedanken an die letzte Nacht und die geheimnisvolle Frau aus seinem Kopf vertreiben. Zurückkehren in das Leben, das er kannte und wollte. Ohne die Candices, Melanies oder Nicolas dieser Welt, die es auf den Kopf stellten, bis er sich fragte, ob seine Entscheidung, Junggeselle zu bleiben, richtig war. Oder die, nie Vater zu werden.

Es war und blieb der beste Entschluss seines Lebens. Nichts und vor allem niemand konnte ihn vom Gegenteil überzeugen.

Nicolas Gedanken gingen auf Wanderschaft. Das Krankenhaus war riesig, und die Namen all derer, denen sie vorgestellt wurde, füllten ihren Schädel bis zum Rand aus.

Dazwischen tauchte eine Erinnerung auf, an eine Nacht vor fünf Wochen. Und an den hochgewachsenen Fremden, mit dem sie ins Bett gefallen war.

Sie schluckte. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass sie das getan hatte. Was hatte sie sich dabei gedacht?

Sie hatte gar nicht gedacht. Weil sie es nicht wollte. Nicht denken, nicht reden … sich nicht erinnern. Nur fühlen. Und, oh Mann, wie sehr sie gefühlt hatte …

„Kaleb, kannst du einen Moment herkommen?“ Die Stimme von Harvey Smith holte sie in die Gegenwart zurück. „Ich möchte dir unsere neue Kollegin vorstellen. Nicola Bradley ist Internistin mit Spezialgebiet Diagnostik. Sie wird uns helfen, die harten Nüsse zu knacken.“

Während der Verwaltungsdirektor weitersprach, drehte sie sich um – und fiel fast in Ohnmacht. In ihrem Kopf schrillten Alarmsirenen.

„Nicola, darf ich Ihnen Kaleb Sabat vorstellen? Er leitet hier am New York City Memorial die Plastische Chirurgie.“

Irgendwie gelang es ihr, in die kühlen blauen Augen des Mannes zu blicken, ohne zusammenzuzucken. Wie war das möglich? Erlaubte sich das Universum einen Scherz mit ihr? Wenn ja, verstand sie die Pointe nicht.

Der Mann, mit dem sie verrückten spontanen Sex gehabt hatte, war Chefarzt der Plastischen Chirurgie am NYC Memorial? Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?

Sofort wieder kündigen? Den Flur hinunterrasen, bis sie den nächsten Ausgang fand? Nein. Nicola war kein Angsthase. Hoffte sie wenigstens.

Am besten tat sie, als wäre es nie geschehen. Und hoffentlich tat er das Gleiche. Hatte sie vielleicht längst vergessen.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Sabat.“

Er neigte leicht den Kopf zur Seite, zog die Brauen zusammen, mit fragender Miene, die schließlich ironischer Amüsiertheit wich.

Oh nein! Er erinnert sich.

Hätte sie auch nur geahnt, dass er an dem Krankenhaus arbeitete, wo sie demnächst anfangen würde, wäre sie schnellstens von jenem Barhocker gerutscht und hätte das Weite gesucht. Aber sie war außer sich vor Kummer gewesen und wollte nur vergessen.

Kaleb hatte ihr ein paar Stunden Unbeschwertheit geschenkt … und mehr.

Doch das lag hinter ihr. Vorbei und abgeschlossen.

„Leben Sie in New York?“ Sein scharfer Blick ließ sie nicht los. Beobachtete genau.

„Inzwischen ja. Ich habe bis vor Kurzem an einer Klinik in New Jersey gearbeitet.“

„Ach. An welcher?“

Nicola war sich bewusst, dass der Verwaltungsleiter ihrer Unterhaltung zuhörte, und warf die Haare über die Schulter zurück. Im selben Moment bereute sie die Geste, da Kaleb ihr mit den Augen folgte. „Grace Central, eine kleine Privatklinik.“

„Kenne ich. Hat eine interessante Forschungsabteilung, oder?“

Das überraschte sie. Die meisten hatten keine Ahnung, dass das Grace Central überhaupt existierte. Nach dem Medizinstudium war sie dort gelandet und hatte sich einige Jahre später neue Tätigkeitsfelder erschlossen. Nicola beriet auch bei Fällen in benachbarten Krankenhäusern, bis der Verwaltungsdirektor – ein Mann, der wie ein zweiter Vater für sie war – sie eines Tages beiseitenahm. Auch wenn er sie ungern verlieren würde, war er der Meinung, dass sie in einem der größeren Krankenhäuser noch mehr bewirken konnte. Und nachdem ihr Bruder, der auch am Grace Central gearbeitet hatte … Nun, sie musste gehen. Etwas Neues finden. Einen Arbeitsplatz, wo nicht tagtäglich schreckliche Erinnerungen lauerten.

„Stimmt. Warum fragen Sie?“ Sie biss die Zähne zusammen, als sie merkte, wie angriffslustig das klang. Ein Wesenszug, auf den sie nicht stolz war. Andererseits ging es ihn nichts an, warum sie ans NYC Memorial wechselte.

„Nur so.“

Sie war froh, dass er nicht auf die gemeinsame Nacht anspielte oder Harvey erzählte, sie seien sich bereits begegnet. Mehrmals. Auf verschiedene Weise.

„Ein guter Freund empfahl mir dieses Krankenhaus, und ich kann ihm nur zustimmen. Eine großartige Gelegenheit, die ich nicht ungenutzt lassen konnte.“

„Ja, es wäre schade, eine gute Gelegenheit verstreichen zu lassen, nicht wahr?“

Bevor sie darüber nachdenken konnte, ob er damit etwas andeuten wollte, zog Harvey ihre Aufmerksamkeit wieder dorthin, wo sie sein sollte. „In der Tat. Ich glaube, es wird Ihnen bei uns gefallen, Nicola. Tausende Patienten kommen jeden Monat durch unsere Türen. Wir sind sehr stolz darauf, dass wir versuchen, allen die Antworten zu geben, die sie brauchen. Kaleb hatte selbst einen harten Fall im letzten Monat. Ich habe ihm gesagt, er könnte sich eine kleine Auszeit nehmen, aber davon wollte er nichts hören. So viel Engagement sehen wir hier gern.“

Letzten Monat. Hatte jener Fall etwas damit zu tun, dass er in dieser Bar hing und Whiskey wie Wasser in sich hineinkippte?

„Mit positivem Ausgang, hoffe ich“, sagte sie.

„Leider nicht.“

Ihr Blick flog zurück zu seinem Gesicht. Kein Muskel zuckte in den markanten Zügen, aber seine durchdringenden Augen blickten noch eine Spur kühler.

„Das tut mir leid.“ Sie konnte sich schwer vorstellen, wann ein plastischer Chirurg an seine Grenzen stoßen sollte. Es sei denn, es handelte sich um eine Form von Entstellungssyndrom, das die Wahrnehmung der Betroffenen für ihren eigenen Körper bis hin zur Phobie störte. Aber da keiner der beiden Männer weitere Einzelheiten nannte, konnte sie nur spekulieren.

War der Patient depressiv gewesen? Hatte er keinen Ausweg gesehen? So wie ihr Bruder?

„Deshalb sind wir ja so froh, Sie hierzuhaben“, sagte Harvey.

Kaleb streckte ihr die Hand hin. „Sorry, in ein paar Minuten wartet eine Patientin auf mich. War nett, Sie kennenzulernen, Dr. … Bradley.“ Der ironische Unterton und die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließen sie aufhorchen. Vielleicht, weil sie damals vermieden hatte, ihm ihren vollen Namen zu sagen.

Jetzt nicht mit der Wimper zucken. Nicola schüttelte ihm die Hand und musste ein Zittern unterdrücken, als seine warmen Finger ihre umschlossen. Das feine Prickeln erreichte all die Stellen, wo seine Hände sie berührt hatten.

Dann war es vorbei, und Kaleb ging mit langen Schritten den Flur hinunter. Nicola holte bebend Luft und atmete unhörbar aus.

Harvey lachte leise vor sich hin. „Tut mir leid, Kaleb hat manchmal eine raue Art, aber er ist ein guter Arzt. Einer unserer besten.“

Sie glaubte ihm aufs Wort. Er war auch einer der Besten, den sie je gehabt hatte. Das machte es ja zum Problem, ihn jetzt wiederzusehen. Als sie sich noch darauf verlassen hatte, dass sie getrennter Wege gingen, war es einfacher gewesen, die Nacht mit ihm zu vergessen. Aber jetzt wand sie sich innerlich, wenn sie daran dachte, was sie gesagt … und getan hatte. So wie mit ihm war es noch mit niemandem gewesen. Nicht einmal mit ihrem Ex.

Zuerst schrieb sie es den Cocktails zu, die der Barkeeper ihr serviert hatte. Doch irgendwann wurde sie das Gefühl nicht mehr los, dass es der Mann selbst war, der sie mutig machte, ihre Lust exzessiv auszuleben. Nicola hatte nicht gewusst, dass sie dazu überhaupt fähig war.

Das einzig Gute an der neuen Situation war, dass sie wahrscheinlich kaum mit Kaleb zusammenarbeiten würde. Bei neurologischen Fällen, in der Onkologie und auch in der Orthopädie waren ihre diagnostischen Fähigkeiten sicher mehr gefragt. In der rekonstruktiven Chirurgie lagen die Dinge klarer. Keine mehrdeutigen Symptome, die man richtig einordnen musste, um die Ursache einer Erkrankung zu finden.

Und dennoch, Harvey hatte gesagt, er hätte einen harten Fall gehabt. Ihm sogar angeboten, einige Tage freizunehmen.

Ihre Neugier war zu stark. „Sie erwähnten, dass Dr. Sabat vor Kurzem einen schwierigen Fall hatte.“

„Ja. Wirklich tragisch. Eine Fünfundzwanzigjährige kam mit Verdacht auf Krümmung der Nasenscheidewand zu uns. Sie hatte schon immer Probleme mit Schnarchen gehabt und oft verstopfte Nebenhöhlen, wie sie sagte. Eine Nacht im Schlaflabor schloss eine Apnoe aus, sodass sie und ihr Mann beschlossen, mit Kaleb über eine Operation zu sprechen. Er schickte sie zur Computertomografie, um zu sehen, womit er es zu tun hatte.“

Harvey seufzte. „Alle waren schockiert, als dabei ein Tumor in der Nasenhöhle entdeckt wurde. Die Biopsie zeigte ein malignes Melanom, das bereits ins Gehirn gestreut hatte. Wie Sie wissen, ist es äußerst selten, dass sich an der Stelle eine bösartige Geschwulst entwickelt. Unglücklicherweise ging die Patientin nach der Diagnose nach Hause und nahm sich das Leben.“

Ein Schaudern überlief sie. Welche Chancen hätte sie gehabt? Vermutlich deshalb war Kaleb an jenem Abend an der Bar gewesen. Beide hatten sie etwas erlebt, dass sie vergessen wollten. Vergessen mussten.

Und nun wollte Nicola am liebsten vergessen, was auf ihr „Vergessen wollen“ gefolgt war.

„Ich habe von Melanomen in der Nasenhöhle gelesen, aber nie mit einem Fall zu tun gehabt. Die Prognose ist äußerst ungünstig, oder? Und da der Tumor bereits metastasiert hatte …“

„Genau. Und weil sie ständig nur leichte Beschwerden hatte, kam sie nicht auf die Idee, deswegen zum Arzt zu gehen. Und irgendwann war es zu spät. Wie man es dreht und wendet, es ist tragisch.“

„Auch für ihren Mann.“

„Sie haben zwei kleine Kinder.“

„Wie schrecklich.“ Was hatte die arme Frau durchgemacht! Zwei Kleinkinder zurücklassen zu müssen! Nicola war ungefähr zehn Jahre älter als Kalebs Patientin und hatte keine Kinder. Obwohl sie immer gehofft hatte, eines Tages Mutter zu werden …

„Es hat alle, die mit dem Fall beschäftigt waren, schwer getroffen. Besonders Kaleb.“ Er schüttelte den Kopf. „Lassen Sie uns die Führung beenden, damit ich Sie nicht länger aufhalte. Fangen Sie nächste Woche an?“

„Ja. Meine Fälle am Grace Central habe ich abgeschlossen, sodass ich am Montag hier starten kann.“

„Ausgezeichnet.“

Sie herumzuführen und weiteren Kolleginnen und Kollegen vorzustellen, dauerte eine weitere Stunde. Hatte ihr schon vorher von all den Namen und Funktionen der Kopf geschwirrt, so behielt sie jetzt kaum noch einen. Vor allem, nachdem sie Kaleb wiedergesehen hatte.

Der Verwaltungsdirektor öffnete die Tür zu einem weiteren Zimmer. „Und dies wird Ihr Büro sein.“

„Mein …?“ Sie blinzelte erstaunt. Eigene vier Wände hatte sie nicht erwartet. Am Grace Central herrschte ein offenes Bürokonzept, das, von zwei Konferenzräumen abgesehen, wenig Privatsphäre bot. Die meisten arbeiteten in Bereichen, die von Trennwänden abgeteilt waren. Schmale Arbeitsplatten und ein Stuhl davor, mehr gab es nicht. Höchstens noch Platz für einen Computer und vielleicht ein paar Fotos.

„Ich glaube, so einen großen Raum brauche ich gar nicht.“ Eigentlich meinte sie, dass sie nichts mit einer Tür brauchte.

Harvey blickte hinein und wandte sich lächelnd ihr wieder zu. „Es ist sogar eins unserer kleineren Büros. Ich hatte schon befürchtet, dass Sie beleidigt sein würden.“

„Nicht im Mindesten.“

Er hatte recht. So groß war das Zimmer gar nicht. Es beherbergte einen Schreibtisch mit zwei Besucherstühlen davor, Schreibtischsessel und Bücherregal dahinter. In einer Ecke stand eine Garderobe, auf dem Schreibtisch ein Laptop. Als ahnte er ihre Frage, sagte Harvey: „Aus datenschutzrechtlichen Gründen sehen wir es lieber, wenn sie statt Ihres eigenen PCs unsere Technik benutzen.“

Dafür hatte sie Verständnis. „Im Vergleich zu vorher kommt mir dies wie Luxus vor.“

Wieder sah er sich um. „Sie werden Patientengespräche führen und sich mit anderen Ärztinnen und Ärzten beratschlagen. Es ist einfacher, das in einem eigenen Raum zu tun, statt jedes Mal im vierten Stock nach einem freien Zimmer suchen zu müssen. Dort sind unsere Konferenzräume.“

Das Krankenhaus verfügte über eine ganze Etage für Besprechungen? An die Größenordnung würde sie sich erst gewöhnen müssen. Das Betriebsklima im Grace Central war hervorragend, vielleicht gerade, weil die Klinik klein war und das Team eine eingeschworene Gemeinschaft. Nach dem Tod ihres Bruders waren die Beileidsbekundungen, die tröstenden Worte und mitfühlenden Blicke allerdings unerträglich geworden. Sie hatte einige Freundinnen am Grace Central, mit denen sie in Kontakt bleiben wollte. Vermutlich war es an einem großen Krankenhaus wie dem NYC Memorial schwierig, solche Freundschaften zu schließen. Hier kannte sie niemanden.

Falsch. Du kennst jemanden.

Wirklich? „Kennen“ war übertrieben. Aber auch wenn sie die Geschichte seiner Patientin betroffen gemacht hatte, so war Nicola doch froh, zu wissen, dass er Kummer nicht normalerweise an der Bar wegspülte.

Huch! Wenn er das nun von ihr gedacht hatte? Das musste sie so bald wie möglich klarstellen. Es wäre das Letzte, wenn er dächte, dass die neueste Ärztin am NYC Memorial ein Alkoholproblem hätte. Fehlte nur noch, dass er seine „Besorgnis“ Harvey mitteilte oder irgendwelche Gerüchte in die Welt setzte!

Oh ja, sie würde ein kleines Gespräch mit Dr. Sabat führen, um die Dinge ins rechte Licht zu rücken.

Allerdings hatte sie so getan, als würden sie sich nicht kennen. Da konnte die Unterhaltung schnell peinlich werden. Nicola zögerte kurz und beschloss, die Idee zu verwerfen. Falls er Vermutungen über sie äußerte, konnte sie immer noch die gleichen auch über ihn anstellen.

Das ist kindisch. Aber sie war erwachsen. Solange sein Verhalten keine Patienten gefährdete, würde sie niemandem erzählen, wie viel er an dem Abend getrunken hatte. Vor allem wollte sie nicht mit Kaleb darüber sprechen.

Jene Nacht gehörte der Vergangenheit an. Ein für alle Mal.

Deshalb sagte sie, in der Hoffnung, dass sich ihre Worte als prophetisch erweisen würden: „Mir gefällt das Büro genauso gut wie das Krankenhaus, und ich habe das Gefühl, dass ich am NYC Memorial sehr glücklich werde.“

2. KAPITEL

Nicola wartete auf den Knall. Den, der für gewöhnlich erfolgte, wenn sie die Diagnose eines Chirurgen anzweifelte.

Dr. Danvers hob die Hand, als sein Assistenzarzt – anscheinend, um Dr. Danvers’ Fazit zu verteidigen – den Mund öffnete. „Sie meinen also, dass das, was wir auf dem MRT gesehen haben, nebensächlich ist. Erklären Sie mir, warum?“

Wie sollte sie ihm klarmachen, dass die Diagnose zweier Ärzte nicht stimmte? Dass der Zustand der Patientin nicht auf einen Hirntumor, sondern etwas viel Simpleres zurückzuführen war? Etwas, für das man nicht den Schädel eröffnen und mit einem Skalpell darin herumfuhrwerken musste? Für Nicola wäre es bequemer gewesen, sie den Eingriff vornehmen und eine Gewebeprobe ins Labor schicken zu lassen, um ihre Einschätzung zu bestätigen. Doch wozu, wenn sie ihnen einen anderen Weg aufzeigen konnte?

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Tür zur Caféteria aufging.

Na toll. Kaleb. Genau der Mann, dem sie aus dem Weg gehen wollte!

Er kam zu ihnen herüber und stellte sich zu der Gruppe, und natürlich musste Dr. Danvers ihm berichten, worum es ging.

Kaleb sah sie eindringlich an. „Und was ist es Ihrer Meinung nach?“

„Ein bisschen Fett.“

Dr. Danvers starrte sie ungläubig an. „Fett.“

„Sie wissen, dass so etwas vorkommt. Man entdeckt auf den Aufnahmen etwas, das einem nicht gefällt. Etwas, das böse aussieht, und man denkt an den Worst Case.“

„Manchmal ist es der Worst Case.“ Kaleb verschränkte die Arme vor der Brust.

Dachte er an seine Patientin mit dem malignen Melanom? Und hatte sich bei ihrem Bruder nicht nach Jahren der Fehldiagnosen das Schlimmste herausgestellt, schlimmer als alles, was man für möglich gehalten hätte?

Mitgefühl milderte ihre harte Haltung. „Ja, manchmal“, sagte sie sanfter. „Aber nicht immer. Lassen Sie uns noch eine Aufnahme versuchen. Diesmal mit Kontrastmittel. Bestimmt macht es zu diesem Zeitpunkt keinen großen Unterschied, ob wir noch ein, zwei Tage warten. Falls – was der Himmel verhüten möge – es wirklich ein Tumor ist, gibt es keine Anzeichen dafür, dass er gestreut hat. Doch wenn wir mittels einer anderen Technik noch einmal genau hinsehen, können wir endgültig sicher sein. Sie ist jung. Das Gehirn entwickelt sich noch.“

Kaleb blickte Dr. Danvers an. „Klingt sinnvoll.“

Damit hatte sie nicht gerechnet. Vor allem nicht nach seiner letzten, bedrückend mutlos klingenden Bemerkung.

Dieses Gefühl kannte sie nur zu gut. Dennoch durfte es ihr Urteil nicht beeinflussen. Angst war ein schlechter Ratgeber. Sie musste sich davon abgrenzen, um sich einen klaren, faktenbasierten Blick zu bewahren. Deshalb schob sie Gedanken an ihren Bruder ganz weit weg.

Ein einziges Mal war ihr das nicht gelungen, und sie ging in eine Bar, hoffte, den Kummer zu ertränken, um ihn besser ertragen zu können. Nur war es nicht bei den Drinks geblieben. In einem schwachen Moment hatte sie einem Impuls nachgegeben und ein Hotelzimmer betreten. Eine Fehlentscheidung, die sie nicht vergessen konnte. Vor allem, wenn diese Fehlentscheidung in Fleisch und Blut vor ihr stand.

Dr. Danvers und sein Assistenzarzt warfen sich einen Blick zu, dann zuckte der Chirurg mit den Schultern. „Okay. Untersuchen wir noch einmal mit Kontrastmittel und sehen, was sich ergibt. Doch eins muss absolut klar sein: Wenn die Bilder keinen Unterschied zeigen, werden wir ihren Eltern zur Operation raten.“

„Sollte das der Fall sein, haben Sie meine volle Unterstützung. Doch im Moment halte ich das Gewebe für harmlos.“

„Wir werden sehen.“ Dr. Danvers und sein Verbündeter traten den Rückzug an, nicht jedoch, ohne Kaleb einen vielsagenden Blick zuzuwerfen, den sie nicht ganz deuten konnte.

Als sie weg waren, zeigte Kaleb auf einen freien Tisch. „Nutzen Sie immer noch jede Gelegenheit, die sich Ihnen bietet?“

„Verzeihung?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht so wichtig. Haben Sie einen Moment Zeit?“

Sofort war die Anspannung wieder da. Wollte er den Abend an der Bar zur Sprache bringen? Oder das, was danach im Hotelzimmer passiert war? Oh, hoffentlich nicht! „Klar.“

Sie ließ sich auf einen der Stühle sinken, bevor ihre Beine beschlossen, ihr den Dienst zu versagen. Bisher war es ihr gelungen, Kaleb aus dem Weg zu gehen. Nicht so schwierig bei einem Krankenhaus dieser Größe.

„Kaffee?“

„Ja, bitte. Schwarz, ein Stück Zucker.“

Das verschaffte ihr ein paar Minuten, sich nach der Konfrontation mit Danvers zu sammeln. Zwar war der Knall ausgeblieben, aber sie hatte gemerkt, dass sich die beiden Ärzte über sie geärgert hatten. Allerdings waren sie zu ihr gekommen, um ihre Einschätzung zu hören. Nicola hatte es nicht nötig, sich aufzudrängen. Schon am Grace Central war ihre Arbeit stark nachgefragt gewesen. Sie brauchte sich keine Fälle an Land zu ziehen, hier in New York würde sie mehr als genug zu tun haben.

Er kam mit zwei Bechern Kaffee zurück und stellte ihr einen hin. „Und, wie läuft’s so?“

„Gut. Allerdings ist vieles noch neu.“

Vor genau einer Woche hatte sie ihr Büro bezogen. In dieser kurzen Zeit gab es schon zwei Konfrontationen, die mit Danvers war Nummer drei. Aber es gehörte zu ihrem Job, Diagnosen zu hinterfragen.

„Danvers ist ein guter Kerl, wie Sie noch feststellen werden. Man kann mit ihm reden.“

Wollte er damit sagen, mit ihr nicht? „So? Was hat das mit mir zu tun?“

Er starrte sie lange an. „Sie werden Kollegen sein, Nicola. Verdammt, Sie sind es schon.“

„Aha, verstehe. Nur nicht an bestehenden Strukturen rütteln? Das haben die Jungs nicht so gern?“

„Das meinte ich nicht.“ Kaleb seufzte. „Hören Sie, ich wünschte, Sie wären hier gewesen, als besagter Fall auf meinem Tisch landete. Harvey wird Ihnen erzählt haben, was passiert ist.“

„Ja, und es tut mir sehr leid.“ Das Gesicht ihres Bruders tauchte vor ihrem inneren Auge auf, und ihr wurde flau im Magen. Sie zwang sich, das Bild zu verdrängen.

„Das war der Grund, warum ich in diese …“ Er schüttelte den Kopf. „Egal, tut nichts zur Sache.“

Nicola trank einen Schluck Kaffee. Kaleb war nicht der Feind. Er versuchte zu helfen. „Entschuldigen Sie meine schroffe Antwort. Auch Dr. Danvers gegenüber. Manchmal ist es nur schwer, Gehör zu finden, vor allem, wenn ich den Leuten nicht auf die Schulter klopfe und ihnen sage, was sie hören wollen. Es kommt vor, dass ich ihrer Diagnose und der geplanten Therapie nicht zustimmen kann, weil meine Beobachtungen ein anderes Bild ergeben. Dafür wurde ich eingestellt. Und glauben Sie mir, es fällt mir nicht immer leicht. Ehrlich gesagt, ist es ein verdammter Kampf, und ich weiß, dass mich viele für …“

„Gnadenlos halten?“

Sie lachte. „Wow, Sie nehmen kein Blatt vor den Mund!“

„Genau wie Sie.“

„Touché. Unterm Strich geht es mir einzig und allein um das Wohl der Patienten. Nicht darum, ein Mediziner-Ego zu streicheln.“

„Weshalb, wie Sie schon sagten, Harvey Sie ins Boot geholt hat. Trotzdem könnte der eine oder die andere denken, dass der Verwaltungsdirektor Grenzen überschreitet. Es ist, als würde er ihnen ständig über die Schulter gucken und ihre Arbeit kontrollieren.“

So hatte sie es noch nicht gesehen. Am Grace Central war ihre Meinung stets respektiert worden. Dass ihr an diesem Krankenhaus Widerstände drohen könnten, war eine bittere Pille, die sie nicht schlucken wollte. „Was schlagen Sie vor?“

„Arbeiten Sie mit den Leuten zusammen.“

Nicola runzelte die Stirn. „Ich dachte, das tue ich.“

„Tatsächlich?“

In der Rückschau musste sie zugeben, dass sie mit den beiden Kollegen ziemlich unwirsch umgesprungen war. „Vermutlich ist es nicht einfach, mit Zweifeln an der eigenen Kompetenz umzugehen.“

„Richtig. Und der Ton macht die Musik. Oder, wie heißt es so schön: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.“

„Und meine Musik war voller Misstöne?“ Nicola lächelte.

Kaleb lachte. „Wie Sie selbst sagten, ist es schwer, angezweifelt zu werden. Abgesehen davon, hoffe ich, dass Sie wegen der Patientin recht haben.“

„Ich auch. Vor allem nach dem, was Sie gerade gesagt haben.“

„Weil Sie sich darauf freuen, ein ‚Hab ich’s nicht gesagt‘ anzubringen?“

„Nein. Weil ich mir wünsche, dass das Mädchen um eine Hirnoperation herumkommt.“

Er stützte sich mit den Unterarmen auf dem Tisch ab und sah Nicola an. „Falls Ihre Einschätzung richtig sein und das MRT Fett nachweisen sollte, was verursacht dann die Sehstörungen? Oder haben Sie mit Dr. Danvers schon darüber gesprochen?“

„Noch habe ich nicht alle Testergebnisse gesehen. Nur das MRT. Aber ich will den Fall heute Abend zu Hause gründlich durchgehen.“

„Warum nicht jetzt gleich? Mich interessiert, wie Sie arbeiten.“

„Hier in der Cafeteria?“

„Wie wäre es bei Ihnen im Büro?“

Sie war nicht sicher, wie sie sich fühlen würde, wenn ihr jemand über die Schulter sah. „Meine Vorgehensweise ist nicht besonders spannend. Ich starre ziemlich lange auf ein Blatt Papier und murmele vor mich hin.“

„Das ist okay. Ich bin auch dafür bekannt, dass ich vor mich hin murmele.“

Unerwartet stieg ihr heiß das Blut in die Wangen. Sie hatte es erlebt, ihn flüstern hören. Nur, dass er dabei mit seinen warmen Lippen über ihren Hals strich …

Oh, Hilfe! Das war das Letzte, woran sie jetzt denken sollte. Erst recht, weil er nicht wissen sollte, dass sie sich an jene Nacht erinnerte. Es war viel einfacher, hier zu sitzen und so zu tun, als würden sie sich ausschließlich von der Arbeit her kennen.

Was eigentlich der Wahrheit entsprach. Auch wenn sie mit ihm geschlafen hatte – und es war fantastisch gewesen –, so wusste sie sonst nicht das Geringste über ihn.

Wenn sie schlau war, beließ sie es dabei! Deshalb war es keine gute Idee, ihn bei ihrer Arbeit zusehen zu lassen. Andererseits konnte sie schlecht ablehnen, er würde überlegen, warum, und ihr Fragen stellen, die sie nicht beantworten wollte. Zum Beispiel zu einer gewissen Nacht. Oder danach, wieso sie in dieser Bar gewesen war.

Also würde sie ihn teilhaben lassen. Und seine Neugier hoffentlich befriedigen können.

Denn danach sollten Dr. Sabat und ihre Erinnerungen an jene Nacht endgültig der Vergangenheit angehören!

Nein, er hatte sich nichts eingebildet. Sie erinnerte sich wirklich nicht an die Nacht mit ihm.

Nachdem er sich von dem Schock erholt hatte, sie hier zu sehen, überlegte er rasch, wie er reagieren sollte, wenn sie dem Verwaltungsleiter erzählte, dass sie sich bereits kannten. Doch es war nicht nötig, etwas zu sagen. Ihr „Freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Sabat“ klang professionell höflich. Und völlig glaubwürdig. Selbst für ihn. Kaleb zweifelte fast an seinen Erinnerungen an jene Nacht. Bis Nicola sich auf die Lippe biss, genau wie damals. Immer dann, wenn er etwas getan hatte, das ihr gefiel.

Als er die zarte Kuhle an ihrem Hals leckte. Oder sie da berührte, wo …

Denk nicht dran, Kaleb!

Doch während sie vor ihm herging und sein Blick auf ihren festen, sanft schwingenden Po fiel, war es nicht einfach, die Bilder zu verscheuchen. Und es war verdammt hart zu verstehen, warum ihn diese Frau so sehr beschäftigte. Seit es mit seiner letzten Verlobten aus war, hatte er Beruf und Privatleben wunderbar trennen können.

Allerdings war es ihm noch nie passiert, dass eine Frau vergaß, dass sie mit ihm geschlafen hatte.

Das musste es sein. Sein Ego war verletzt.

Unwillkürlich musste er lächeln. Was hatte sie noch gesagt? Dass ihr nichts daran lag, jemandes Ego zu streicheln? Nun, vielleicht nicht, aber ihr hatte sehr viel daran gelegen, ihn zu streicheln …

Verdammt, hör endlich auf damit!

Sie erreichten ihr Büro, und sie schloss auf. Während er ihr hineinfolgte, gelang es ihm endlich, den Blick von ihrem süßen Po loszureißen, und sich die Einrichtung anzusehen.

Schlicht und schnörkellos wie ihre Konversation mit Dr. Danvers. „Gefällt mir, was Sie aus dem Raum gemacht haben. Sieht aus, als fühlten Sie sich schon zu Hause“, konnte er sich die ironische Bemerkung nicht verkneifen.

Nicola fuhr herum und sah ihn ernst an. „Ein eigenes Büro hatte ich nicht erwartet. Also habe ich beschlossen, alles zu lassen, wie es ist, falls es sich um ein Versehen handelt.“

Er brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass sie scherzte. Nun, vielleicht nicht, was ihre Erwartung betraf, aber den Rest. „Vielleicht stellen Sie wenigstens ein Familienfoto auf Ihren Schreibtisch, damit Ihre Patienten wissen, dass Sie kein Roboter sind.“

Ihre Miene veränderte sich schlagartig, sie wirkte betroffen. Eine lange Pause entstand.

„Ich bin kein Roboter“, sagte sie schließlich.

Diesmal scherzte sie nicht. Vielleicht hatte sein erster Kommentar ihr doch etwas ausgemacht. „Tut mir leid, das wollte ich nicht andeuten.“

„Ich weiß. Sie haben einen Witz gemacht. Ich auch.“

Nein, hatte sie nicht. Ihre Augen verrieten noch leichte Anspannung, so, als hätte er mit seinen Worten einen Nerv getroffen. Kaleb fragte sich, was in ihr vorging.

Sie presste kurz die Lippen aufeinander. „Ein Familienfoto aufzustellen, könnte schwierig werden“, sagte sie dann. „Für mich. Und für meine Familie.“

„So?“

„Mein Bruder ist vor Kurzem gestorben. Ich bin noch nicht so weit, dass ich jedes Mal, wenn ich in mein Büro komme, auf ein Bild von ihm blicke. Ihn lächeln zu sehen, voller Leben, wäre kaum zu ertragen.“

Ihm verschlug es für einen Moment die Sprache. „Nicola, ich hatte ja keine Ahnung! Es tut mir wirklich leid.“

„Schon gut.“ Sie holte tief Luft und atmete hörbar aus. „Es kam … völlig unerwartet, und wir trauern immer noch. Wie gesagt, es wäre schwierig. Nehme ich ein Foto, auf dem er nicht drauf ist? Hieße das nicht, so zu tun, als hätte er nie existiert? Und sollten meine Eltern mich hier im Krankenhaus besuchen, würde ein Bild von uns, ob mit oder ohne ihn, ihnen nicht nahegehen?“

„Bestimmt.“ Kaleb hätte gern nachgefragt, was passiert war, doch es ging ihn nichts an.

„Wie auch immer, Sie sind sicher nicht in mein Büro gekommen, um die Einrichtung zu bewundern – oder den Mangel derselben zu ergründen.“

Nein. Das Einzige, was er bisher bewundert hatte, war sie. Aber damit war auf der Stelle Schluss. Seine beiden gescheiterten Beziehungen hatten genauso angefangen, und ein drittes Mal wollte er nicht riskieren. Kaleb beschloss, sie nicht nach jenem Abend zu fragen. Vor allem nicht, nachdem er ernsthaft erschrocken war, als er feststellte, dass er die gesamte Nacht in diesem Hotelzimmer verbracht hatte. Falls sie also nichts sagte, würde auch er den Mund halten.

Nicola schien sich keine Sorgen zu machen, dass er mit jemandem darüber reden könnte. Vielleicht hatte sie ihn wirklich längst wieder vergessen – oder ihre Gründe, nichts zu sagen.

„Natürlich nicht“, antwortete er. „Wie wollen Sie’s machen? Mit mir hinter Ihrem Schreibtisch? Oder Sie davor?“

Ihre Augen weiteten sich. „Wie bitte?“

Verdammt. Was war los mit ihm? „Um die Kernspin-Aufnahmen auf Ihrem Computer anzusehen.“

„Klar. Verstehe.“ Sie klang erleichtert. „Entschuldigung. Ich weiß nicht, was ich gedacht habe.“

Damit sind wir schon zu zweit.

„Setzen wir uns davor. Das ist einfacher.“ Sie drehte den Monitor herum und schob die Tastatur vor einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch. Zum Schluss griff sie nach einem großen Spiralblock.

Nun, die Papier-und-Bleistift-Methode schien etwas altmodisch, aber er verfasste seine Notizen auch gern erst mit der Hand, bevor er sie später in den Computer eingab. „Mir scheint, wir sind uns zumindest in einem Punkt einig“, sagte er.

„Und der wäre?“ Sie setzte sich auf einen der beiden Stühle.

„Sie machen sich handschriftliche Notizen.“

Nicola schlug ihren Block auf und legte ihn auf den Schreibtisch, bevor sie sich Kaleb zuwandte. „Ich neige dazu, in linearen Begriffen zu denken, und da ich in diesem Büro noch kein Whiteboard habe, nutze ich Papier und Stift.“

Es war eher ein Skizzen- als ein Notizbuch, wie er jetzt sah. Auf dem aufgeschlagenen Blatt waren beschriftete, durch Linien verbundene Kästchen gezeichnet.

„Dies war ein Fall, den ich am Grace Central hatte.“ Sie deutete auf die erste Reihe Vierecke. „Ich schreibe die Symptome in der Reihenfolge auf, in der sie auftreten und ziehe eine Verbindung zu möglichen Ursachen. Das setze ich fort, bis die Linien beginnen, sich zu bündeln.“

Mit dem Stift wies sie auf die dritte Reihe, wo einige Konditionen nur eine Linie aufwiesen, während zu anderen mehrere führten. „Die mit den meisten Treffern ziehe ich eine Reihe tiefer und fange von vorn an, frage den oder die Patientin nach weiteren Symptomen, die ihnen noch aufgefallen sind oder denen sie vielleicht bisher weniger Beachtung geschenkt haben. Es kommt oft vor, dass man mit scheinbar nebensächlichen Beeinträchtigungen lebt und auf eine Erkrankung erst aufmerksam wird, wenn starke Beschwerden auftauchen.“

Kaleb fiel auf, dass sie in der neuen Reihe „Haarausfall“ hinzugefügt hatte. Er tippte mit dem Zeigefinger darauf. „War das eins der weniger beachteten Symptome?“

„Ja. Neben fortschreitender Gewichtszunahme stellte sie fest, dass beim Kämmen mehr Haare in der Bürste blieben als gewohnt. Beides schob sie auf ihre beginnende Menopause.“

„Aber das war nicht der Grund.“

„Meiner Einschätzung nach nicht. Wir haben uns vorangetastet und Untersuchungen durchgeführt, um zu sehen, ob die Ergebnisse für unsere Suche weitere Anhaltspunkte ergeben.“

Die Testergebnisse wurden ihrer Skizze hinzugefügt, und schließlich führten alle Linien zu einer Diagnose: Hashimoto-Thyreoiditis, einer Autoimmunerkrankung, bei der sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper richtete und gesundes Gewebe angriff. In diesem Fall die Schilddrüse.

„Fantastisch. Okay, ich nehme zurück, dass ich ähnlich vorgehe wie Sie. Das hier ist komplexer und geht weit über alles hinaus, was ich tue.“

„Ich bin sicher, Sie tun andere Dinge, die genauso fantastisch sind“, sagte sie und wurde rot. Plötzlich schien sie sehr damit beschäftigt, die MRT-Bilder auf ihrem Monitor durchzusehen.

Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er annehmen können, dass mehr hinter ihrer Bemerkung steckte. Als würde sie sich genau erinnern …

Nein. Ihm war es vorhin ja auch passiert, dass er etwas gesagt hatte, was anders ausgelegt werden konnte. Allerdings hatte sie sich nicht korrigiert und gesagt, dass sie seine Arbeit meinte.

Netter Versuch, Kaleb. Es stört dich gewaltig, dass sie sich an den Wahnsinnssex mit dir nicht erinnert!

Die nüchterne, fast abweisende Art, die sie bei der Arbeit an den Tag legte, passte nicht zu der Frau, die er in den Armen gehalten hatte. Im Bett war sie …

Unglaublich sexy. Verführerisch. Heiß.

Unvergesslich.

Genau das setzte ihm am meisten zu. Weil er es nicht abschütteln konnte, sosehr er es auch versuchte. Faszinierte ihn der starke Gegensatz zwischen ihrer ungezügelten Sinnlichkeit und kühlen Zurückhaltung, die sie hier im Krankenhaus zeigte? Kaleb ertappte sich dabei, dass er diesen Kontrast näher erforschen wollte.

Doch er würde es nicht tun. Und ihrem Verhalten nach zu urteilen, konnte er sich durchaus eine Abfuhr holen, wenn er sie um ein Date bat.

Außerdem hielt er Beruf und Privatleben fein säuberlich auseinander. Bisher war er damit gut gefahren. Snow würde ihn schallend auslachen, wenn er von seinen Gedanken wüsste. Vor allem nach dem, was sie sich letzten Winter geschworen hatten.

Nicolas Stimme holte ihn aus seinen Gedanken.

„Hier haben wir, was wir bisher über Dr. Danvers’ Patientin wissen. Vor vier Monaten begann eine Diplopie auf dem linken Auge. Das rechte ist normal. Sowohl beim Optiker als auch später beim Augenarzt wurden, von einer Hornhautverkrümmung abgesehen, keine strukturellen Probleme festgestellt. Vor dem ersten Auftreten der Symptome war ihre Sehstärke normal, was für das rechte Auge nach wie vor zutrifft. Aber links sieht sie doppelt, was natürlich sehr störend ist.“

Kaleb nickte. „Ich verstehe, warum Danvers ein MRT veranlasst hat. Und auch, dass er den Schatten für ein Mikroadenom hält – vor allem, da es sich in der Nähe ihrer Hirnanhangdrüse befindet. Ein wachsender Tumor kann Sehstörungen verursachen.“

„Stimmt. Das Einzige, was mich daran stört, ist, dass ein Mikroadenom dieser Größe das Sehvermögen nicht so stark beeinträchtigen würde, wie es bei dieser Patientin der Fall ist. Bei einem Makroadenom wäre es eine andere Geschichte.“

Seltsamerweise genoss er es, ihren Schlussfolgerungen zuzuhören. Es war nicht anders als der Austausch mit anderen Kolleginnen, oder? Allerdings hatte er mit den anderen nicht geschlafen.

„Was außer einem Tumor könnte das Problem noch verursachen?“ Er deutete zum Monitor. „Wir haben ihre Sehtest-Ergebnisse von vor zwei Jahren, die keine Auffälligkeiten zeigen.“

„Einiges“, konstatierte sie und begann aufzuzählen. „Multiple Sklerose, Myasthenia gravis, Schlaganfall, Guillain-Barré …“

„Ja, ich habe bei alternden Patienten so etwas Simples wie Hängelider als Ursache für eingeschränktes Sehvermögen gesehen. Aber Danvers’ Patientin ist jung.“

„Richtig.“ Nicola tippte mit ihrem Bleistift auf den Notizblock und begann ein Schema aufzuzeichnen, ähnlich wie das, das sie ihm gezeigt hatte. „An schwere Lider hatte ich bisher nicht gedacht. Oder etwas anderes, das das Lid beeinträchtigt. Irgendwelche Hinweise auf Schwellungen durch ein Chalazion?“

Er war nicht sicher, ob die Frage ihm galt, doch dann scrollte Nicola durch Arztberichte und Testergebnisse. „Hmm … Nichts erwähnt.“

„Was heißt das?“

„Das heißt, dass ich gern mit ihr sprechen und sie einiges fragen möchte. Meinen Sie, Danvers hat etwas dagegen, wenn ich mit seiner Patientin rede?“

„Warum sollte er? Wie gesagt, man kann mit ihm reden.“

Sie lächelte. „Stimmt, das haben Sie gesagt – kurz bevor Sie mir zu verstehen gaben, dass das nicht für mich gilt.“

„Ich habe nie behauptet, dass man mit Ihnen nicht reden kann.“

„Nicht ausdrücklich, aber ich kann zwischen den Zeilen lesen.“

Kaleb hob die Hand. „Da war nichts zu lesen, das schwöre ich. Ich sagte nur, dass Sie und Danvers Kollegen sind und Sie deshalb angemessen vorgehen sollten.“

„Mit anderen Worten, mit mir reden lassen?“ Die Brauen fragend hochgezogen, wandte sie sich ihm zu und fixierte ihn.

„Sieht so aus, als würde ich diese Diskussion nicht gewinnen.“

„Wollen Sie das? Gewinnen?“

Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Nicht unbedingt. Besonders nicht diese Art der Auseinandersetzung. Wenn ich mich ins Zeug lege, um zu gewinnen, muss es sich lohnen.“

„Sehe ich auch so. Dann kämpfe ich mit allen Mitteln und kenne kein Erbarmen.“

Kaleb schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust. „Muss ich mir Sorgen machen?“

„Im Moment nicht …“ Ihr sanftes Lachen hatte etwas Bezauberndes.

Kaleb blickte ihr ins Gesicht, und ihm gefiel, was er sah. Es war das, was ihn in der Bar angezogen hatte. Die feinen Gesichtszüge und die Lachfältchen an ihren ausdrucksvollen Augen. Sie verrieten, dass sie gern lächelte. Und obwohl sie während der Arbeit selten ein Lächeln zeigte, waren die Fältchen der Beweis.

An jenem Abend hatte sie viel gelächelt, während sie an ihrem Drink nippte.

Er allerdings auch. Sein Lächeln war jedoch nicht echt gewesen. Der Schock über den Freitod seiner jungen Patientin saß tief, und Kaleb hatte einen Drink gebraucht. Oder zwei oder drei. Am Ende des Abends hatten sie beide zu viel getrunken, um sich noch ans Steuer zu setzen, und teilten sich ein Taxi. Statt sich jedoch nach Hause fahren zu lassen, fingen sie auf dem Rücksitz an zu knutschen und baten den Fahrer schließlich, sie zu einem Hotel zu fahren. Der Rest war Geschichte.

Nun, seine Geschichte, da Nicola sich an jene Nacht nicht zu erinnern schien.

Ihr Bruder war gestorben. Erst kürzlich, hatte sie gesagt. Vor ihrer gemeinsamen Nacht? Oder danach?

Aus einem Impuls heraus beugte er sich vor und legte seine Hand auf ihre. Sofort merkte er, dass es ein Fehler war, denn ihre weiche Haut erinnerte ihn daran, wie sehr er es genossen hatte, sie zu streicheln. Zu küssen. Kaleb räusperte sich. „Hey, es tut mir wirklich leid wegen Ihres Bruders.“

Ihre Blicke trafen sich, und sie schwieg lange, bevor sie schließlich sagte: „Danke, das weiß ich zu schätzen. Es war schlimm. Für mich. Für meine Eltern. Wir haben zusammen am Grace Central gearbeitet, er in der Forschungsabteilung. Hätten wir gewusst, was kommt … Nun ja, vielleicht wäre manches anders gewesen.“

„Inwiefern?“

„Ich weiß nicht. Wir hätten mit ihm reden, ihm versichern können, dass wir immer für ihn da sein würden. Dass wir ihn bei uns behalten wollten.“

Kälte kroch ihm den Rücken hinauf, ein Gefühl des Déjà-vu stellte sich ein, als ihn eine Ahnung beschlich.

„War er krank?“

Ihre Hand bewegte sich unter seiner, ihr Zeigefinger hakte sich um seinen, als suchte Nicola Halt. Kaleb hatte den Eindruck, als sei ihr gar nicht bewusst, was sie da tat. Doch bei ihm löste es einen merkwürdigen Beschützerinstinkt aus – wie damals an der Bar.

„Bei ihm wurde Morbus Bechterew festgestellt.“

„Verdammt.“ Die Krankheit begann mit chronischen Entzündungen, die zu schmerzhaften Veränderungen an Wirbelsäule und anderen Gelenken und weiterhin zu starken Bewegungseinschränkungen führte. Manchmal hatten die Betroffenen aufgrund der Verknöcherungen sogar Schwierigkeiten beim Atmen. „Aber normalerweise bedeutet das kein Todesurteil.“

„Direkt nicht, nein, aber für einen Mann, der auf seine Kraft und Fitness stolz war – er liebte Windsurfen, Segeln und Bergklettern –, veränderte die Diagnose sein Leben schlagartig. Für ihn muss es wie ein Todesurteil gewesen sein. Und letztendlich war es das auch.“

„Gab es Komplikationen bei der Behandlung?“

„Nein, Kaleb. Danny starb, noch bevor die Therapie begann. Er erhielt die Diagnose, ging nach Hause und nahm sich das Leben. Mein Dad fand ihn am nächsten Tag, nachdem ich ihn angerufen und gebeten hatte, nach Danny zu sehen, weil er nicht zur Arbeit gekommen war. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan, weil …“ Sie schüttelte den Kopf. „Deshalb wäre es jetzt nicht gut, ein Bild von ihm auf meinen Schreibtisch zu stellen.“

Ihm wurde die Kehle eng, als er den Schmerz in ihrer Stimme wahrnahm. Gedanken und Gefühle wirbelten durcheinander. Wie sehr die Geschichte der seiner Melanom-Patientin glich. Beide mussten von unbeschreiblicher Verzweiflung und Angst erfüllt gewesen sein, sodass sie keinen anderen Ausweg gesehen hatten.

„Verdammt, Nicola, ich hatte keine Ahnung.“

Sie lachte auf, aber es klang nicht fröhlich. Dann entzog sie ihm ihre Hand und blätterte in ihrem Skizzenbuch weit zurück. „Er hatte mir erzählt, dass er Schmerzen in den Hüften und im Rücken hatte, also habe ich mir eine meiner Zeichnungen gemacht. Als ich ihn fragte, ob er unter Lichtempfindlichkeit leidet – hätte mir nie träumen lassen, dass er Ja sagt –, brach für mich die Welt zusammen. Ich wollte alles ausradieren, was ich notiert hatte, und so tun, als wüsste ich von nichts. Aber das ging nicht.“

Nicola deutet auf das Kästchen, in dem das Symptom vermerkt war. Das Wort Nein! stand wie ein stummer Schrei daneben. Sie hatte gewusst, was für einen Schlag die Diagnose ihrem Bruder versetzen würde.

„Haben Sie es ihm gesagt?“

„Nein. Ich … Ich konnte es nicht. Ich habe ihn an einen befreundeten Arzt überwiesen, nachdem ich diesen eingeweiht hatte. Je früher mit der Therapie begonnen wird, um die Entzündung einzudämmen, umso besser. Danny wurde getestet, und ich hoffte sehnlichst, dass ich mich dieses Mal irrte. Ich hätte alles dafür gegeben, die falschen Schlüsse gezogen zu haben, Kaleb.“

„Ich weiß.“

Ein resigniertes Schulterzucken, bebende Lippen, als würde sie gleich weinen, doch sie fing sich. „Hatte ich aber nicht“, flüsterte Nicola. „Und Danny …“

Er konnte nicht anders, legte ihr den Arm um die Schulter und zog Nicola an sich. „Für ihn muss es furchtbar gewesen sein zu erfahren, dass seine Schmerzen nicht einfache Muskelverspannungen waren.“

„Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr.“

Nein, konnte er nicht. Seine Mutter hatte eine Mastektomie und Bestrahlung hinter sich, aber die Diagnose hatte nicht er gestellt. Natürlich war es ein Schock, als er davon erfuhr, doch wie viel schlimmer musste es für Nicola gewesen sein, selbst die Krankheit bei ihrem Bruder zu entdecken.

Sie lehnte den Kopf an seine Brust, und Kaleb schob die Hand unter ihr Haar. Wie Seide fühlten sich die honiggoldenen Strähnen auf seiner Haut an. Wie in jener Nacht. Sein Körper reagierte, und Kaleb fluchte stumm. Er sollte sie loslassen, und zwar sofort!

Aber die Verbindung zwischen Verstand und Körper schien im Moment gekappt.

Er hörte Nicola leise seufzen. „Danke. Es tut mir leid, dass ich Ihr Hemd vollheule. Ich weiß auch nicht, warum es mich plötzlich wieder so fertigmacht.“

„Vielleicht, weil ich nachgefragt habe. Das hätte ich nicht tun sollen.“

„Nein, es liegt nicht an Ihnen. Von Zeit zu Zeit überkommt es mich, und dann kann ich die Gedanken kaum ertragen. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich …“

Nicola sprach nicht weiter, und Kaleb fragte sich, ob sie hatte sagen wollen, dass sie deshalb in jener Bar gelandet war.

Doch da fuhr sie fort: „… warum ich manchmal kurz angebunden bin, wenn ich mit Leuten rede.“

Einleuchtend. Kaleb fühlte sich auf einmal mies, weil er sie wegen ihrer Art Danvers gegenüber getadelt hatte. Ein Grund mehr, keine Vermutungen anzustellen, wenn er keine Ahnung hatte. Und gerade jetzt war sie nicht kurz angebunden, sondern eher … weich, zugänglich. Es gefiel ihm. Viel zu sehr.

Wenn er jetzt nicht den Rückzug antrat, tat er vielleicht etwas, das er noch stärker bereuen würde als die Nacht mit ihr.

Kaleb rutschte leicht zur Seite, gerade so, dass keine peinliche Situation entstand, und tätschelte ihr – beruhigend, wie er hoffte – die Schulter. Nicola richtete sich abrupt auf. So hastig, dass seine Hand weggestoßen wurde.

„Entschuldigung.“ Sie strich sich das Haar aus der Stirn, wahrscheinlich, um zu verbergen, dass sie dabei auch Tränenspuren unter den Augen wegwischte. „Ich muss mich auf meine nächste Konsultation vorbereiten. Die ist in einer knappen Stunde.“

„Klar. Ich sollte mich auch wieder an die Arbeit machen.“ Kaleb stand auf. „Sagen Sie mir Bescheid, wenn Danvers’ Patientin ihr MRT hatte? Mich interessiert, worauf all Ihre kleinen Pfeile hindeuten.“

„Mache ich.“ Auch sie erhob sich.

Er war schon fast an der Tür, da hielt ihre Stimme ihn auf.

„Ach, und Kaleb …?“

„Ja?“ Er blickte über die Schulter.

„Von jetzt an werde ich versuchen, mich im Ton etwas ‚kollegialer‘ zu verhalten. Zögern Sie nicht, mich daran zu erinnern, falls ich es mir nicht recht gelingt.“

Genau das würde er nicht tun. Vor allem nicht, weil er sich wegen seiner Belehrungen miserabel gefühlt hatte, als sie ihm von ihrem Bruder erzählte. Statt zu widersprechen, nickte er jedoch nur und drückte die Tür auf.

Während er den Flur hinunterging, ärgerte er sich über sich selbst, beruhigte sich dann aber. Nichts passiert, vergiss es einfach.

Ein vernünftiger Rat.

Das Problem war nur, dass er wollte, es wäre etwas passiert. Wenn er es zuließ, konnte es in einem noch größeren Desaster enden als die Nacht im Hotel. Und Nicola wäre in seinem Bettpfosten die dritte Kerbe für gescheiterte Beziehungen.

3. KAPITEL

Warum hatte sie ihm gestern von Danny erzählt? Weil Kaleb ein Familienfoto auf ihrem Schreibtisch vermisst hatte? Oder weil sie jeden einzelnen Tag an ihren Bruder dachte? Sogar noch, bevor sie abends einschlief. Und Kalebs Hand hatte sich so unendlich gut auf ihrer angefühlt. Als würde er sich aufrichtig um sie sorgen.

Vielleicht brauchte sie neben dem Kollegium am Grace Central und ihrer Familie jemanden, der wusste, was mit Danny passiert war. Jemand, der den unbeschreiblichen Verlust begriff, wenn jemand sich das Leben genommen hatte. Kaleb hatte eine Patientin verloren. Und ich meinen Bruder.

Doch kaum hatte sie es Kaleb gesagt, verspürte sie Panik, zusammen mit anderen Gefühlen, die sie nicht näher erforschen wollte. Ihr wurde übel, weil jemand, den sie kaum kannte, sie in diesem Zustand erlebte. Aber dann legte Kaleb den Arm um sie, und sie schmiegte sich mit einer Selbstverständlichkeit an seine Brust, als gehörte sie dorthin. Sie spürte seine warme Handfläche im Nacken, und sofort war alles gut. Es war sinnlich und gleichzeitig tröstlich und vertraut. So hatte sie sich vor Wochen in jener Bar gefühlt. Sie wünschte sich, dass er sie küsste. Sehnte sich danach, dass er sie wieder alles andere vergessen ließ.

Eine dumme Idee. Diese Nacht hatte nichts geändert, und es würde sich nichts ändern, wenn sie noch einmal mit ihm schlief. Gut, dass sie in den frühen Morgenstunden aus dem Zimmer geschlüpft war, bevor er aufwachte. Besser, sie verließ ihn als er sie. Das wurde allmählich zum Ritual. Selbst zu gehen, bevor sie verlassen wurde. Sie musste als Erste den Raum verlassen. Die Erste sein, die sich nach einem geselligen Beisammensein verabschiedete. So wurde man, wenn man den Verlobten verlor und dann den Bruder. Der Gedanke, allein zurückgelassen zu werden, hatte etwas Verstörendes, das sie nicht abschütteln konnte.

Allerdings war ihr nicht entgangen, dass Kaleb in ihrem Büro von ihr abgerückt war. Behutsam zwar, aber in ihr hatte sich etwas zusammengezogen, wie ein leises Erschrecken. Vielleicht erklärte das die leichte Übelkeit, die sie nach der Begegnung befallen hatte. Und heute Morgen war sie mit dem gleichen elenden Gefühl aufgewacht. Wahrscheinlich, weil sie Kaleb im Krankenhaus wiedersehen würde.

Sie nahm zwei Scheiben Brot aus der Verpackung und steckte sie in den Toaster, wartete auf den Duft nach warmem, knusprigem Toast, der gleich die Küche erfüllen würde. Schon komisch, wie sehr sie den liebte. Selbst, wenn ihr schlecht war, konnte sie wenigstens noch Toast essen.

Ein, zwei Minuten später schnupperte sie. Hmm, es war so weit. Der Apparat warf die Scheiben aus, Nicola legte sie auf ihren Teller, bestrich sie mit Butter und verteilte je ein Löffelchen Orangenkonfitüre darauf.

Schon beim ersten Bissen beruhigte sich ihr Magen, und sie schloss wohlig seufzend die Augen, während die Aromen von geröstetem Brot, geschmolzener Butter und fruchtig bitterer Orange ihre Geschmacksnerven verwöhnten.

Dr. Danvers’ Diplopie-Patientin war für heute Nachmittag zu ihrem zweiten MRT einbestellt worden. Schneller, als Nicola gedacht hatte. Es bot ihr die Gelegenheit, der Patientin und ihren Eltern noch ein paar Fragen zu stellen. Wenn sie pünktlich da sein wollte, sollte sie sich allmählich auf den Weg machen.

Nach dem Frühstück ging sie ins Bad, um sich dezent zu schminken. Nicola wunderte sich über die dunklen Augenränder und verteilte etwas mehr Concealer. Hatte sie letzte Nacht zu wenig Schlaf bekommen?

Achselzuckend griff sie unters Waschbecken, um den Schwamm hervorzuholen und das Becken zu putzen. Dabei fiel ihr Blick auf den Vorrat an Binden und Tampons. Hm, sie hatte ihre Tage noch nicht bekommen.

Wie lange waren sie schon überfällig?

Gut eine Woche, vielleicht. Ihre Periode kam nie regelmäßig, sodass Nicola immer nur eine vage Ahnung hatte, wann sie dran sein könnte. Und oft lag sie eher falsch als richtig.

Wahrscheinlich war ihr deshalb gestern und heute Morgen unwohl gewesen – sie bekam ihre Regel. Auch das noch … Allerdings wäre die Alternative, dass sie …

Ein Frösteln überlief sie. Nein, das konnte sie erst recht nicht gebrauchen. Obwohl die Chancen schlecht standen. Es war ja nicht so, dass sie in letzter Zeit viel Sex hatte.

Außer …

Sie blinzelte. Unmöglich. Sie hatten verhütet, und außerdem war es nicht ungewöhnlich, dass ihre Tage ein, zwei Wochen später kamen.

Abgesehen davon konnte sie jetzt sowieso nichts tun. Sorgen brauchte sie sich erst zu machen, wenn in einer Woche immer noch nichts passiert war. Und bis dahin würde ihr Leben wie gewohnt weitergehen.

Angefangen mit Dr. Danvers’ Patientin.

Eine Stunde später saß Nicola mit Lindy MacDonald, ihren Eltern und Dr. Danvers in einem Untersuchungszimmer. Diesmal war der reizbare Assistenzarzt nicht mit von der Partie, worüber sie froh war.

Lindy wurde auf die Untersuchung vorbereitet, und Dr. Danvers klärte ihre Eltern über den Einsatz des Kontrastmittels auf. Sie mussten eine weitere Einverständniserklärung unterschreiben. Nicola fiel auf, dass die Hand der Mutter zitterte. Die arme Frau, sie musste außer sich vor Sorge sein, dass im Kopf ihrer Tochter etwas wachsen könnte, das dort nicht hingehörte.

Wenn Nicola Antworten wollte, fragte sie am besten jetzt.

„Darf ich ein paar Fragen stellen?“

Danvers war einverstanden, dass sie Lindy auch untersuchte. Da sie ihn für gründlich hielt, verzichtete Nicola auf die körperliche Untersuchung. Stattdessen fragte sie die Mutter, ob ihr Symptome aufgefallen waren, die sie nicht mit dem Doppelsehen ihrer Tochter in Zusammenhang gebracht hatte.

„Nein, nicht dass ich wüsste.“

„Auch nicht an ihren Augen? Unabhängig von der Sehfähigkeit? Irgendwelche Beulen, Schwellungen oder Druckgefühl?“

„Was ist mit dem Spinnenbiss, Mom?“

„Ach, das hatte ich vergessen.“ Mrs. MacDonald schüttelte den Kopf. „Aber das tut sicher nichts zur Sache.“

„Spinnenbiss?“ Nicola beugte sich vor. Wie oft hatte sie schon gehört, dass ein bestimmtes schlichtes Symptom nichts mit dem Zustand zu tun haben konnte, nur um dann festzustellen, dass es des Rätsels Lösung war.

„Lindy hatte diese komische Beule auf dem Lid. Zuerst dachte ich, eine Mücke hätte sie gestochen. Aber dann zog sich das über sechs Monate hin, tauchte auf und verschwand wieder. Jedes Mal, wenn ich einen Arzttermin vereinbaren wollte, schien es besser zu werden. Ich habe es mit warmen Kompressen und einer Insektenstich-Lotion behandelt. Irgendwann war es weg.“

„Sie waren mit Lindy deswegen nie beim Arzt?“ Nicola blickte auf die Patientenkarte, um sich zu vergewissern, welches Auge betroffen war.

„Nein. Lindy hat gesagt, dass es nicht wehtut. Es sah aus wie von einem Insektenstich oder vielleicht ein Gerstenkorn oder so ähnlich. Aber es war genau in der Mitte des Lids.“

„An welchem Auge?“

„Dem linken.“

Dr. Danvers stand direkt neben ihr, deshalb spürte sie seine plötzliche Anspannung. Er ging zu seiner Patientin, setzte die Brille auf und fragte Lindys Mom: „Darf ich es mir einmal ansehen?“

„Natürlich.“

Der Chirurg hob das Kinn des Mädchens an und inspizierte das linke Auge. „Schließ bitte einmal die Augen.“

Lindy tat, was er sagte, und Dr. Danvers drückte mit dem behandschuhten Daumen vorsichtig auf verschiedene Stellen des Lids. Schließlich blickte er auf und sah Nicola an. „Ich denke, hier liegt eine leichte Verdickung vor. Woher wussten Sie das?“

„Ich habe es nicht gewusst. Ohne ein MRT konnte ich nur vermuten. Aber ich habe Fälle erlebt, bei denen ein großes Chalazion genügend Druck auf die Cornea ausüben kann, um sie zu verformen.“

„Ein Chalazion?“ Lindys Mom trat zu ihrer Tochter und betrachtete das Lid.

„Möglicherweise.“ Danvers wandte sich dem Mädchen zu. „Ich werde dein Lid umstülpen, okay?“

„Tut das weh?“

„Nein. Es kann sich nur ein bisschen komisch anfühlen. Ich möchte mir die Unterseite ansehen.“ Gesagt, getan. „Hier ist eine leichte Vernarbung. Sehen Sie?“

Nicola begutachtete die Stelle. Und tatsächlich, inmitten der feinen roten Äderchen entdeckte sie eine weißliche Stelle.

Nach der Untersuchung setzte sich Dr. Danvers auf einen Hocker den Eltern gegenüber. „Ihre Tochter hatte wahrscheinlich ein Chalazion, auch Hagelkorn genannt. Es unterscheidet sich von einem Gerstenkorn dahingehend, dass Gerstenkörner am Lidrand vorkommen. Das Chalazion geht in Richtung Auge. Wenn es platzt oder austrocknet, entsteht die Öffnung auf der Rückseite des Lids, sodass man sie nicht sehen kann. Sie merken vielleicht sogar nichts davon, sondern nur, dass die Schwellung zurückgeht. Genau, wie Sie es uns beschrieben haben. Wie groß war die Schwellung?“

„Wie eine dieser bunten Schokolinsen ungefähr. Manchmal sogar größer. Wehgetan hat es ihr nie. Sie hat sich mehr Sorgen darum gemacht, was ihre Freunde denken könnten.“

„Weil es hässlich war. Ich bin froh, dass es weg ist.“

„Ich auch“, meinte Danvers. „Dennoch möchte ich das MRT machen lassen, um alles andere auszuschließen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass Lindys Sehstörungen von diesem Hagelkorn verursacht wurden.“

„Bleiben sie dauerhaft?“

„Es könnte sein, wenn der Druck auf die Hornhaut ein halbes Jahr lang bestanden hat. Bestenfalls nimmt ihr Auge langsam die ursprüngliche Form wieder an. Es wäre eine Erklärung, warum Lindys Sehfähigkeit auf diesem Auge ständig wechselte, sodass es schwierig war, die richtigen Brillengläser zu verschreiben.“

„Wir sind fast verrückt geworden. Bei jedem Sehtest kamen andere Ergebnisse heraus. Manchmal konnte sie nicht einmal sagen, welche Buchstaben schärfer waren.“

Nicola hätte stolz sein müssen, aber das nagende Unwohlsein im Magen war wieder da. Was sollte sie davon halten? Konnte es an diesem Fall liegen? Hatte sie befürchtet, falsch zu liegen und sich zu blamieren? Dass jemand sagen könnte: Sehen Sie, ich hatte recht …?

Nein. Solange die Diagnose richtig war, interessierte es sie nicht, wer sie gestellt hatte.

Und wenn sie einer Patientin die Hirn-OP ersparte, war es jedes Unbehagen wert.

Vielleicht hatte sie Hunger. Zwei Scheiben Toast zum Frühstück, mehr hatte sie heute noch nicht gegessen. Ist wahrscheinlich nicht besonders schlau, nur Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Andererseits machte sie es sonst nicht anders, und ihr wurde nie übel.

„Okay, bringen wir Lindy in die Radiologie und sehen uns die Stelle vom letzten Mal noch einmal genauer an.“

Lindy sah Nicola an. „Kommen Sie auch mit?“

„Wenn du es möchtest. Ich werde nicht im selben Raum sein können, aber ich warte gern draußen. Einverstanden?“

„Ja.“

Nicola warf Dr. Danvers einen Blick zu. Er nickte und lächelte sie offen und freundlich an. Vielleicht glaubte er ihr ja jetzt.

Warum auch nicht? Sie hatte keinen persönlichen Vorteil in dieser Angelegenheit. Sie wollte nur das Beste für seine Patientin.

Wie er auch, nahm sie zumindest an.

Eine Dreiviertelstunde später war die Untersuchung beendet, und die MacDonalds wurden in den Wartebereich gebeten. Dr. Danvers wollte die Aufnahmen selbst begutachten, sodass sie nicht lange würden warten müssen. Kaleb hatte recht. Danvers war ein guter Kerl. Sie spürte keine Ressentiments von seiner Seite und war froh darüber.

Jetzt saß sie in seinem Büro und übte sich mühsam in Geduld, während er die Bilder am Computer durchsah. Gelegentlich wies er sie auf etwas Interessantes hin, und sie speicherte die Informationen für den zukünftigen Gebrauch mental ab.

„Okay, da sind wir.“ Eine Aufnahme von Lindys Hirnanhangdrüse erschien, und der Schatten schien im Vergleich zum ersten MRT weniger deutlich zu sein. Es war nichts Abnormes zu erkennen.

Seufzend blickte der Kollege auf. „Sie hatten recht. Es ist wahrscheinlich kein Mikroadenom. Danke, dass Sie sich von Ihrer Einschätzung nicht haben abbringen lassen.“

Nicola dachte an das, was Kaleb gesagt hatte. „Dr. Danvers, ich hoffe, Sie glauben nicht, dass ich …“

„Clint, bitte. Wie’s aussieht, werde ich Sie in Zukunft regelmäßig konsultieren.“

Wärme breitete sich in ihr aus. Wollte er damit sagen, dass er ihre Meinung schätzte? Anscheinend ja, sonst hätte er sich wohl kaum bei ihr dafür bedankt, dass sie nicht zurückgewichen war. Nicola erinnerte sich an seine ungläubige Reaktion, als sie meinte, der Schatten könnte einfaches Fettgewebe sein. Vielleicht war sie wirklich zu forsch gewesen, als sie sich über seine Diagnose hinwegsetzte und eine eigene präsentierte. Daran sollte sie noch arbeiten.

Als Medizinstudentin hatte sie nicht nur einmal die Erfahrung gemacht, dass sie bestimmter auftreten musste, um sich Gehör zu verschaffen – nur, weil sie eine Frau war. Es spielte keine Rolle, dass sie von ihren Leistungen her zu den ersten zehn zählte.

Aber sie war nicht mehr an der Uni, hier waren alle gleichgestellt. Also entspann dich. Sie hatte ihren Abschluss geschafft und einiges an Berufserfahrung vorzuweisen. Und es schien, als würde sie auch in einem Krankenhaus von der Größe des NYC Memorial nicht untergehen.

„Und ich bin Nicola – oder Nic, wie Sie wollen.“

„Okay, Nic, ich sollte mich für mein Verhalten gestern entschuldigen. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand meine Kompetenz anzweifelt.“

Also hatte sie sich doch nichts eingebildet.

Sie lächelte ihn an. „Und mir wurde von verlässlicher Quelle gesagt, dass ich manchmal etwas schroff sein kann.“

Ein warmes Lachen war die Antwort. „Als jemand, der auch als barsch bezeichnet wurde, kann ich das nachvollziehen. Sie dürfen jederzeit schroff zu mir sein. Ich verspreche, nicht beleidigt zu sein. Oder zumindest zu versuchen, schnell darüber hinwegzukommen.“

„Ich verspreche das Gleiche.“ Sie lächelte. „Beziehungsweise, es zu versuchen.“

Die Tür ging auf, und Kaleb kam herein, musterte sie beide. „Ich hoffe, dass ihr so vergnügt ausseht, weil es gute Neuigkeiten für die Patientin gibt. War es ein Chalazion?“

Clint zog die Augenbrauen zusammen. „Wie zum Teufel bist du darauf gekommen?“

Vor ihrem inneren Auge poppte die Szene in ihrem Büro auf. Sie an Kaleb gelehnt, während er mit dem Daumen ihren Nacken streichelte.

„Kaleb war in meinem Büro, als ich mir die Patientenakte ansah.“

„Aber in ihren Unterlagen stand nichts davon, das hätte ich gesehen.“

Kaleb trat zu ihnen und blickte auf den Bildschirm. „Nicola hat eine Liste der möglichen Diagnosen erstellt. Ein Chalazion stand ganz oben.“

Erstaunt sah Clint sie an. „Das haben Sie gewusst, noch bevor Sie die Patientin fragen konnten, ob sie irgendwelche Probleme am Lid hatte?“

„Nein, nicht gewusst. Ich nutze diese eigenartige Methode, bei einem Diagramm Linien zu verbinden. Wo sich die meisten treffen, habe ich meinen ersten Anhaltspunkt, genauer nachzuforschen.“

„Und ein Hagelkorn erfüllte alle Kriterien?“

„Ja. Aber ich konnte erst sicher sein, nachdem die Patientin die Punkte für mich verknüpft hatte.“

Clint fuhr mit dem Zeigefinger zu dem kleinen Punkt bei Lindys Hypophyse. „Und wenn sich die Patientin nicht an die Schwellung erinnert hätte?“

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Wir können nur unser Bestes geben und mit den Informationen arbeiten, die wir haben.“

„Wie sieht der Behandlungsplan aus? Gibt es überhaupt einen?“, fragte Kaleb. „Wenn das Doppelsehen nicht von einem Tumor verursacht wird, was kann man tun?“

„Wir müssen ihre Sehfähigkeit stabilisieren, damit Lindy wenigstens eine Brille angepasst bekommen kann. Ich werde sie an einen Augenchirurg überweisen, der sich um das vernarbte Gewebe unter ihrem Lid kümmert und etwas unternehmen kann, falls die Entzündung noch fortschreitet. Als Erstes wollen wir jedoch der Familie die guten Nachrichten mitteilen.“

„Wir?“ Überrascht sah Nicola ihn an. Vielleicht meinte er es im übertragenen Sinne – oder wollte, dass Kaleb ihn begleitete.

Clint lächelte. „Ich denke, da Sie mich dazu gebracht haben, meine Diagnose zu überdenken, sollten Sie dabei sein. Und Kaleb auch, weil er sich für Sie eingesetzt hat.“

Kaleb hatte sich für sie eingesetzt? Das hätte sie nie erwartet. Vor allem nicht nach seiner kleinen Predigt über kollegiales Verhalten.

Ihre Blicke trafen sich, und er sah sie an, eine Braue leicht hochgezogen. Aha, das hatte sie gar nicht wissen sollen. Warum nicht? Sie würde für ihn auch ein gutes Wort einlegen, wenn es nötig wäre.

„Ich komme gern mit. Danke.“

Clint stand auf. „Du auch, Kaleb?“

„Klar. Ich bin dabei, wenn es gute Neuigkeiten zu überbringen gibt.“

Aber tat er das nicht immer? Nun, vielleicht nicht im Fall der Patientin mit dem Melanom, doch normalerweise half er Menschen, sich besser zu fühlen. Vorausgesetzt, er musste eine Operation nicht aus triftigem Grund ablehnen, konnte er mit plastischer Chirurgie nur Gutes bewirken.

Zu dritt machten sie sich auf den Weg zum Warteraum. Lindys Vater stand auf, als er sie sah. Seine Besorgnis war ihm deutlich anzumerken. Wer konnte es ihm verdenken? Erst drohte seiner Tochter eine Hirnoperation, dann auf einmal nicht mehr.

Clint schüttelte ihm die Hand und lächelte Lindy und ihre Mom an, die dicht aneinandergeschmiegt dasaßen. „Nun, dank Dr. Bradley haben wir sehr gute Nachrichten. Sie ist der Meinung – und ich stimme ihr zu –, dass die Schwellung an Lindys Lid die Verformung der Hornhaut verursacht und zu den Sehstörungen geführt hat.“

„Also hat sie keinen Tumor?“ Lindys Mutter griff nach der Hand ihres Mannes.

„Nein.“

„Aber das MRT …“

„Wir sind ziemlich sicher, dass es sich nicht um ein Mikroadenom handelt, wie ich anfangs dachte.“

Lindys Dad sank auf seinen Stuhl zurück, die Hand seiner Frau noch immer in seiner. Er hob ihre Finger an die Lippen und küsste sie, bevor er sie anblickte. „Das sind fantastische Neuigkeiten. Für uns alle.“

„Ja, besonders, weil wir uns noch ein Kind wünschen. Als bei Lindy die Sehprobleme auftraten, haben wir den Gedanken aufgegeben, damit wir uns voll auf sie konzentrieren können. Doch jetzt wäre es wieder möglich …?“ Sie sah Clint an. „Lindys Behandlung wird nicht so kompliziert, oder?“

„Ich glaube nicht. Auf der Lidinnenseite hat sich Narbengewebe gebildet, das vielleicht geglättet werden muss, aber der Eingriff geht schnell und kann ambulant vorgenommen werden. Ich gebe Ihnen die Nummer eines erfahrenen Chirurgen, der sich auf Augenprobleme spezialisiert hat. Er wird die Operation durchführen.“

„Wie kann ich Ihnen nur danken?“ Mit tränenfeuchten Augen sah Lindys Mutter Nicola an.

„Das brauchen Sie nicht. Ich bin sehr froh, dass wir es mit einer einfachen Sache zu tun haben.“

„Wir auch! Müssen wir etwas tun, bis wir von Ihnen wegen des Chirurgen hören?“

„Nein“, antwortete Clint lächelnd. „Gehen Sie nach Hause, und genießen Sie das Leben. Ich höre gern bei Gelegenheit von Ihnen, wie sich die Dinge entwickelt haben. Und viel Glück für den Familienzuwachs.“

Lindys Mutter warf ihrem Mann einen Blick zu. „Danke“, sagte sie dann. „Wir halten Sie über Lindys Behandlung auf dem Laufenden. Noch einmal danke – Ihnen allen.“

„Falls Sie etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen. Mein Büro wird Sie irgendwann am Nachmittag anrufen und alles Nötige durchgeben. Ich werde den Kollegen vorab informieren.“

Damit verabschiedeten sie sich von der Familie und verließen das Zimmer.

„Das sind die Fälle, die uns für alle Mühe belohnen“, meinte Kaleb.

„Oh ja.“

Kaleb sah sie und Clint an. „Was haltet ihr von Lunch im Plato’s?“

„Tut mir leid, ich muss passen“, sagte Clint. „Ich bin um zwölf mit meiner Frau verabredet.“ Er sah auf seine Uhr. „Und ich bin schon spät dran. Lasst es euch schmecken, Leute.“ Clint winkte kurz und verschwand eilig.

Nicola spürte einen leichten Druck im Magen. Kaleb hatte es sicher nicht darauf angelegt, mit ihr allein zu essen, also versuchte sie, ihn vom Haken zu lassen. „Nun ja … Sicher müssen Sie auch noch irgendwohin.“

Autor

Tina Beckett
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Meredith Webber
Bevor Meredith Webber sich entschloss, Arztromane zu schreiben, war sie als Lehrerin tätig, besaß ein eigenes Geschäft, jobbte im Reisebüro und in einem Schweinezuchtbetrieb, arbeitete auf Baustellen, war Sozialarbeiterin für Behinderte und half beim medizinischen Notdienst.
Aber all das genügte ihr nicht, und sie suchte nach einer neuen Herausforderung, die sie...
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Annie Claydon

Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...

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