Julia Ärzte zum Verlieben Band 180

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EIN NEUANFANG IN BARCELONA von SCARLETT WILSON
Ihre Blicke treffen sich, und sofort knistert es zwischen der schönen Chirurgin Caitlin und Graf Javier Torres. Wie damals, als sie sich eine Nacht lang liebten! Ist ein Neuanfang in Barcelona möglich? Nur, wenn Javiers todkranke Schwester überlebt – Caitlins Patientin …

HEIRATSANTRAG MIT HUND von RACHEL DOVE
Susannahs erste Begegnung mit Tierarzt Chris Jennings endet dank ihres Hundes im Chaos und mit einem handfesten Streit! Und doch fragt sich die fröhliche Krankenschwester, warum Chris so düster ist. Kann sie die Sonne zurück in sein Leben bringen – oder gar die Liebe?

STÜRMISCHE BEGEGNUNG AUF ALBATROSS ISLAND von MARION LENNOX
„Wir haben einen Verletzten gefunden!“ Aufgeregt stürzen Jennys Neffen ins Haus, und liebevoll kümmert Jenny sich um Dr. Silas Braden. Allmählich wird aus der Nähe mehr, aber Silas will möglichst schnell weg von Albatross Island, und Jenny muss wegen der Kinder bleiben …


  • Erscheinungstag 28.07.2023
  • Bandnummer 180
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519168
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Scarlet Wilson, Rachel Dove, Marion Lennox

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 180

1. KAPITEL

Caitlin McKenzie rannte die letzten Stufen hinauf und stieß die Tür zum Helipad auf dem Dach des Santa Aelina University Hospitals auf. Vom pechschwarzen Nachthimmel beschirmt, funkelten um sie herum die Lichter von Barcelona. Die sanfte Brise der warmen Mainacht fuhr ihr in die Haare und zupfte ein paar Strähnen aus dem straff gebundenen Pferdeschwanz.

Normalerweise liebte sie diesen Blick auf die Stadt. Die wenigsten wussten, dass sie sich hierherflüchtete, wenn die Belastungen im OP und der Stress des Jobs ihr zusetzten. Von hier aus konnte sie den Blick über die Stadt schweifen lassen, die Silhouette der Sagrada Família bewundern, zum Castell de Montjuïc hinaufsehen, sich dem Meer zuwenden oder manchmal von ihrer schottischen Heimat träumen, wo zweifellos um einiges kühlere Temperaturen herrschten.

Vermutlich würde ihr niemand glauben, aber sie sah Ähnlichkeiten zwischen Glasgow und Barcelona. Beide waren pulsierende, lebhafte Großstädte, in denen sich farbenfrohe Typen tummelten, wo Menschen vieler verschiedener Nationen sich niedergelassen hatten, und fabelhafte Restaurants und Bars einluden, das Leben zu genießen. Allen gemeinsam war eine unbändige Lebensfreude, die Caitlin mit Worten kaum beschreiben konnte.

Barcelona hatte das schottische Mädchen mit einer herzlichen Umarmung aufgenommen, wofür sie immer dankbar sein würde. Natürlich hatte es ein paar Jahre gedauert, hier Fuß zu fassen. Caitlin lernte die Sprache und übernahm aufgrund ihrer Position als Herzchirurgin an diesem Krankenhaus Fälle, die aus ganz Spanien ans Santa Aelina’s gebracht wurden.

Wie dieser hier.

Sie leckte sich die trockenen Lippen und ballte die Hände zu Fäusten, während sie auf die blinkenden Lichter des ankommenden Hubschraubers starrte.

Caitlin konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich wieder mit Javier Torres zu tun haben würde. Es war zwölf lange Jahre her. Ihre Haut kribbelte, was nicht daran lag, dass der Heli Luft aufwirbelte.

Nein, es war die Erinnerung an den verboten gut aussehenden Mann mit den dunkelbraunen Augen, neben dem sie morgens aufgewacht war, an seine warme Haut, den kraftvollen Körper. Ihr Magen machte einen Satz abwärts. Während ihres Medizinstudiums in London hatten Javier und sie ständig im Wettstreit gelegen. Sie trieben sich gegenseitig an, entschlossen, über den anderen zu triumphieren. Es war schonungslos und seltsamerweise doch hilfreich gewesen. Caitlin hatte unermüdlich und hart gearbeitet. Im Bewusstsein, dass jemand ihr im Rennen um die besten Plätze, die besten Chancen dicht auf den Fersen war, lief sie zur Höchstform auf.

Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie praktisch mit gesenktem Kopf, um nicht in die Schusslinie ihrer streitsüchtigen Eltern zu geraten, die sie kaum wahrgenommen und erst recht nie ermutigt hatten. Dass ausgerechnet sie die Aufmerksamkeit des attraktiven, wortgewandten jungen Spaniers erregte, kam Caitlin merkwürdig vor. Aber der stellte von Anfang an klar: „Dich behalte ich im Auge. Neben mir bist du der hellste Kopf im Jahrgang. Ich will sichergehen, dass du auch neben mir bleibst und mich nicht überholst“, neckte er sie wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung. Und so ging es die nächsten sechs Jahre weiter.

Javier Torres hatte sie wahnsinnig gemacht, sie herausgefordert, infrage gestellt und sich ein paarmal hitzige Diskussionen mit ihr geliefert. Sehr zur Belustigung ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen. Doch er hatte sie immer respektiert – und sie ihn. Nach jedem Examen checkte sie zuerst ihre Punkte, dann Javiers. Er war der Einzige, der es von den Leistungen her mit ihr aufnehmen konnte.

Die Nacht, die sie nach dem Abschluss miteinander verbrachten, war das Ergebnis jahrelang angestauter Anziehung, Erleichterung, Erschöpfung und einiger Flaschen teuren Champagners. Eine Nacht, die Caitlin nie, niemals vergessen würde. Wie er sie mit seinen dunklen Augen angesehen hatte, wie sich seine nackte Haut an ihrer anfühlte. Die Hemmungslosigkeit, zusammen mit der überwältigenden Erfahrung, endlich eins mit ihrem perfekten Rivalen zu werden.

Doch als Stunden später die Sonne aufging, verblasste der Glanz der leidenschaftlichen Nacht. Verwirrende Emotionen und peinliche Verlegenheit beherrschten den Morgen danach, setzten sich wie ein schwerer kalter Klumpen in ihrer Brust fest. Bis heute. Könnte Caitlin die Zeit zurückdrehen und jenen Morgen verändern, sie würde es tun. Am Ergebnis ihres hastigen Abschieds und dem abrupten Verlust der nächtlichen Nähe änderte es vielleicht nichts, doch sie hätte es zumindest versucht.

Und sie wäre mit einem heilen Herzen davongekommen.

Ihrs war noch immer gebrochen.

Der Hubschrauber setzte zur Landung an, und Caitlin vertrieb die Erinnerungen. Jetzt ging es nicht um sie. Und auch nicht um ihn. Sondern darum, dass die Patientin, die sie zur Begutachtung und für eine eventuelle Operation angenommen hatte, Javiers Schwester Natalia war.

Die Bitte war nicht von Javier gekommen, sondern von der Condesa de Maravilla, Javiers und Natalias Mutter. Es hätte schmerzen können, dass er sich nicht selbst mit ihr in Verbindung gesetzt hatte, doch Caitlin wusste nicht, wie weit Javier bei der Krankengeschichte seiner Schwester involviert war.

Fachlich gesehen hätte er eine Diagnose stellen und Natalia auch operieren können, aber Verwandte waren tabu. Caitlin fragte sich, ob er sie seiner Mutter empfohlen hatte, verwarf den Gedanken allerdings gleich wieder. Seit sie sich dafür entschieden hatte, in seiner Heimat zu leben und zu arbeiten, war ihr allerdings klar gewesen, dass sich ihre Wege eines Tages kreuzen würden.

Sie hatten gemeinsame Patienten. Ihre persönlichen Assistenten überwiesen sie ihnen gegenseitig. Natürlich wurden auch andere Fälle aus ganz Europa an sie herangetragen. Caitlin hatte sich einen exzellenten Ruf erworben, war bekannt für eine neu entwickelte Methode in der Herzklappen-Chirurgie. Ihre Fähigkeiten als geschickte und erfahrene Operateurin wurden überall bewundert.

Natürlich war sie stolz auf sich. Aufgewachsen in einer kleinen Wohnung in Glasgow, mit Mum und Dad, die mal mehr, mal weniger präsent waren, hatte sie hart gearbeitet, um ein Stipendium für ihr Medizinstudium an einer Londoner Universität zu ergattern. Die meisten Schulfreundinnen und – freunde reagierten erstaunt. In Schottland wurden keine Studiengebühren erhoben, und mit ihren Noten wäre sie sofort an jeder schottischen Hochschule angenommen worden. Stattdessen hatte sie beschlossen, in England zu studieren, wo die Gebühren horrend hoch waren und für Studierende aus Schottland nicht vollständig übernommen wurden. Aber Caitlin ließ sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Die gewählte Universität kooperierte mit einem namhaften Krankenhaus, das für seine erfolgreichen Herzoperationen bekannt war. Caitlin wusste schon früh, welche Richtung sie einschlagen wollte. An dieser Uni zu studieren, bedeutete, dass sie die richtigen Leute kennenlernen, von den Besten lernen und Kontakte knüpfen konnte, die sie bei ihrer Karriere unterstützten.

Zu Studienbeginn musste sie eine Vereinbarung unterschreiben, dass sie während des Studiums keinen Nebenjob annehmen würde. Die Universität legte gesteigerten Wert darauf, dass ihre Studenten sich uneingeschränkt auf das Studium konzentrierten. Das Stipendium deckte zwar die Kosten für Gebühren, Fachbücher und Unterbringung ab, doch für ihren Lebensunterhalt war nicht gesorgt. Als Javier in der Buchhandlung auftauchte und ihr Geheimnis aufdeckte, war Caitlin völlig fertig. Ihr stärkster Konkurrent konnte dafür sorgen, dass sie von der Uni flog.

Ihr war schlecht vor Sorge, während er mit einem wissenden Lächeln auf sie zukam. „Sieht aus, als arbeitest du hier“, meinte er.

Javier blickte sie an wie immer. Mit dunklen, neckenden Augen.

„Ich muss essen“ war alles, was sie herausbrachte, bevor sie sich den höchsten Bücherstapel schnappte, den sie tragen konnte, und in die entgegengesetzte Richtung marschierte.

Er folgte ihr durch den Laden zu dem Regal, wo sie die Bände geschäftig einsortierte. „Hierher verschwindest du also nach den Vorlesungen? Ich dachte, du besuchst Extrakurse – oder lernst.“

„Ich lerne frühmorgens“, fauchte sie. „Der Tag hat nicht genug Stunden, um alles zu erledigen.“ Sie starrte ihn an. „Nicht alle von uns schwimmen in Geld.“

Einen Moment lang wirkte Javier verblüfft. Dann lehnte er sich zurück und betrachtete sie.

„Meldest du mich?“, fuhr sie ihn an.

„Warum sollte ich das tun?“ Ehe sie antworten konnte, meinte er lässig: „Wenn sie dich rauswerfen, wie soll ich dann beweisen, dass ich der bessere Chirurg bin?“ Javier zog spöttisch die Brauen hoch, wandte sich ab und verließ die Buchhandlung.

Und er hielt Wort. Erzählte niemandem von ihrem Job und gab ihr gelegentlich Rückendeckung, wenn sie an manchen freiwilligen Laborkursen nicht teilnehmen konnte, weil sie arbeiten musste. Seine Unterstützung bedeutete, dass Caitlin studieren und arbeiten konnte, um den Studienplatz an der Universität ihrer Träume zu behalten.

Dafür stand sie für immer in seiner Schuld. Was sie umso mehr wurmte.

Der Wind zerrte an ihren Haaren. Kaum hatte sie eine mahagonirote Haarsträhne zurückgeschoben, flatterte ihr eine andere ins Gesicht. Gegen den von den Rotorblättern entfachten Wirbel hatte ihr Haarband keine Chance. Der Heli landete.

Staubkörnchen trieben ihr in die Augen, und sie wandte den Kopf ab, um sie herauszureiben, während sie sich auf den Hubschrauber zubewegte. Tatsächlich hätte sie das mit geschlossenen Augen tun können. Bei unzähligen Notfällen war sie hier auf dem Dach zur Stelle gewesen, und der einzige Unterschied heute Abend war die Patientin an Bord des Hubschraubers.

Eine warme Hand drückte ihre Schulter. „Okay, Doc?“

Marco, einer der Medizinisch-technischen Assistenten im Kardio-Team, tauchte neben ihr auf. Sie nickte und griff nach der Tür, riss sie schwungvoll auf.

Eine Frauenstimme ertönte. Sie gehörte der Ärztin, die den Transport überwachte – eine ernst dreinblickende Frau Mitte vierzig, die ihre Haare zu einem makellosen Knoten geschlungen hatte. Anscheinend war sie Hubschrauberflüge gewohnt. Sie ratterte medizinische Details herunter, während sie die Trage Richtung Caitlin schob. Die Räder klappten automatisch aus, als Caitlin das Rollbett zusammen mit Marco näher zu sich zog. Eine Krankenschwester aus ihrem Team griff nach dem tragbaren Monitor und dem Sauerstoffzylinder, an die die Patientin angeschlossen war, und sicherte sie an der Trage. Die Ärztin redete weiter, meldete Herzfrequenz, Blutdruckwerte und Sauerstoffsättigung während des Fluges sowie die Ergebnisse der letzten Röntgenaufnahme.

Lärm, Wind und Dunkelheit lenkten Caitlin nicht davon ab, sich auf ihre Patientin zu konzentrieren – Natalia Torres. Ihr für gewöhnlich schimmerndes, kräftiges dunkles Haar lag stumpf und schlaff auf dem Kissen, und ihr südländischer Teint wirkte fahl. Aber ihre Augen leuchteten auf, als sie nach Caitlins Hand griff.

„¡Hola, mi amiga!“, sagte sie lächelnd.

Caitlin beugte sich herab und küsste sie auf die Wange, wiederholte dabei den Gruß. Sie kannte Natalia, seit sie Javier vor achtzehn Jahren begegnet war, hatte sogar in Spanien auf dem Stammsitz der Familie einige Urlaube verbracht und sich dabei mit Javiers kleiner Schwester angefreundet. Sie waren in Kontakt geblieben und ein paarmal im Jahr zusammen essen gegangen. Über Javier sprachen sie selten. Natalia schien zu ahnen, dass etwas zwischen ihrem Bruder und Caitlin vorgefallen war, besaß jedoch zu viel Klasse, um nachzufragen. Caitlin war Natalia für ihr Taktgefühl immer dankbar gewesen.

Die Ärztin sprang aus dem Hubschrauber, und Caitlin schickte sich an, wie gewohnt an der Seite ihrer Patientin den Transport so schnell wie möglich zur Kardiologie-Station im vierten Stock zu begleiten. Doch sie zuckte unwillkürlich zusammen, hielt inne.

Sie konnte nicht einmal sagen, warum. Es war wie ein Blitz am Himmel, den nur sie sah.

Die Rotoren drehten sich langsamer, standen aber noch nicht still. Trotzdem spürte Caitlin, dass noch jemand mit ihr auf dem Dach war. Wurde sich ihrer dünnen blassrosa OP-Kleidung bewusst, die sich im Wind an jede Rundung ihres Körpers schmiegte, und ihrer zerzausten Haare. Als sie sich umdrehte und dabei das Haarband vom Pferdeschwanz abzog, erstarrte sie.

Das schwarz-goldene Scrunchie fiel ihr aus der Hand.

Javier. Javier hatte den Pilotensitz des Helis verlassen. Javier ist der Pilot? Caitlin hatte nicht einmal in Richtung des Piloten geblickt. Zum einen war sie abgelenkt gewesen, zum anderen war ihr nicht eine Sekunde in den Sinn gekommen, dass sie ihn kennen könnte.

Sie konnte sich nicht bewegen. Seine braunen Augen hielten ihren Blick fest. So viel Wiedererkennen, so viel Tiefe – und so viel mehr. Caitlin sog buchstäblich alles auf, was sie sah. Weißes Hemd, dunkle Hose, kurze dunkle Jacke. Es hätte ein gewöhnliches Piloten-Outfit sein können. Aber an Javier Torres war nichts gewöhnlich. Nicht, wie seine breiten Schultern die Jacke ausfüllten. Oder wie sich das weiße Hemd an den athletischen Oberkörper schmiegte und der Wind die dunklen Hosenbeine an die muskulösen Schenkel drückte.

Während des Studiums waren sie beide regelmäßig laufen gegangen, joggten zu den ungewöhnlichsten Tag- und Nachtzeiten, felsenfest davon überzeugt, dass ein trainierter Körper ein herzgesunder Körper war. Anscheinend galt das für ihn – wie auch für sie – heute immer noch.

All das nahm sie in wenigen Sekunden wahr.

In seinen Augen las sie noch etwas anderes. Besorgnis. Wegen seiner Schwester natürlich. Natalia stand ein komplizierter Eingriff bevor, der sorgfältig geplant werden musste. Caitlin hatte volle zwei Wochen Vorbereitungszeit festgelegt, in der Natalia gründlich durchgecheckt werden sollte. Erst dann wusste Caitlin genau, wie sie vorgehen würde. Als Kollege vom selben Fach kannte Javier die Risiken so gut wie die wenigsten Menschen.

Eigentlich müsste sie verlegen sein. Als sie Javier das letzte Mal gesehen hatte, war er nackt gewesen, und sie auch. Seitdem hatte sie sich oft genug vorgestellt, wie es wäre, ihm eines Tages wiederzubegegnen. Sicher auf einer Kardiologenkonferenz. In ihren Tagträumen trug sie einen eleganten Hosenanzug, High Heels, makelloses Make-up und ihr kastanienbraunes Haar gezähmt und businesslike frisiert. Sie sähe perfekt aus – perfekt genug, dass Javier sich fragen könnte, ob aus jener Nacht nicht mehr hätte werden können. Sie würde Selbstvertrauen und Weltgewandtheit ausstrahlen und sich auf der Tagung fachkundig präsentieren, sodass alle sie für ihre Expertise bewunderten. Ja, solche Träumereien stellten sich meistens spätabends ein, nach einem Glas Wein, wenn sie sich in ihrem Pyjama unter die Bettdecke kuschelte.

Aber durfte ein Mädchen nicht träumen?

Javier blinzelte. Kaum wahrnehmbar, doch deutlich genug, dass Caitlin schlagartig wieder in der Gegenwart landete. Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben. Amüsierte er sich, dass sie wie angewurzelt dastand und ihn anstarrte?

Ein kalter Windstoß ließ sie frösteln. Caitlin erwachte aus ihrer Erstarrung. Sie lief los, der Rollliege hinterher, hörte, was das Transfer-Team noch berichtete.

Sie musste sich auf ihre Patientin konzentrieren, nicht auf den Mann auf dem Dach. Selbstverständlich wollte er bei seiner Schwester sein. Mit dir hat das nichts zu tun!

Dennoch hatte ihr Körper auf das Wiedersehen reagiert, wie sie es nie erwartet hätte. Ihr Haut kribbelte. Überall. Beeinträchtigte ihr Denken, ihren Fokus, sprengte Erinnerungen frei, die sie sonst fest in sich verschlossen hielt.

Wie er ihr mit dem Finger über den Rücken strich, während sie dicht aneinandergeschmiegt dalagen. Wie sein Mund sie am Nacken liebkoste. Das sinnliche Kratzen seiner Bartstoppeln am Morgen auf ihrer Haut. In zwölf Jahren hatte ihr Körper nichts davon vergessen.

Noch immer verstand Caitlin nicht, wie es passiert war. An der Uni galten sie als „frenemies“, freundschaftlich verbundene Feinde. Der Ausdruck passte. Sie hätte jedoch nie gedacht, dass zwischen ihnen so viel Explosives unter der Oberfläche brodelte. Und als es dann hervorbrach …

Nicht, dass sie nach jener Nacht mit Javier wie eine Nonne gelebt hätte. Sie verabredete sich, hatte ein paar kurze Affären und schließlich eine längere Beziehung, die katastrophal endete. Letztendlich konnte keiner der Männer mit Javier mithalten, und das war das Problem.

Oft genug hatte sie sich gefragt, ob sie die Nacht mit ihm romantisch verklärte. Mehr hineinlas, als tatsächlich da gewesen war. Nur eins wusste sie noch genau: die peinliche Verlegenheit am Morgen danach. Das schreckliche Gefühl hatte sich fest in ihre Erinnerung gebrannt.

Verzweifelt bemüht, vor ihrem Konkurrenten nicht das Gesicht zu verlieren, hatte sie das Erste gesagt, was ihr einfiel, und setzte damit die leidenschaftlichen Stunden mit Javier tief herab.

„Na, wenigstens ist der Druck aus dem Kessel“, gab sie sich betont locker. „Jetzt können wir das vergessen und weitermachen mit dem, was wir am besten können – um die besten Posten und Chancen kämpfen.“

Sein Gesichtsausdruck verriet nichts. Aber er murmelte etwas, das nach Zustimmung klang, und sie hatte sich nicht anmerken lassen, dass ihr das Herz bis in die Zehenspitzen ihrer nackten Füße rutschte. Nach außen hin lässig suchte sie ihre Sachen zusammen, doch der beschämende Moment verfolgte sie länger, als ihr lieb war.

Jetzt fiel ihr wieder ein, wie belustigt er gerade für einen flüchtigen Moment gewirkt hatte. Warum war Javier hier? Um Spielchen mit ihr zu treiben? Unwahrscheinlich. Seit zwölf Jahren hatten sie praktisch keinen Kontakt mehr. Oder hatten seine Mundwinkel gezuckt, weil er sich, genau wie sie, an jene Nacht erinnerte?

Sie würde sich wohler fühlen, wenn sie wüsste, dass auch er die Nacht nie vergessen hatte. Aber nach zwölf Jahren wäre das schon ziemlich ungewöhnlich.

Javier hatte sie immer gern überrascht. Also hätte sie damit rechnen können, dass er hier auftauchte. Damals kannte sie ihn fast so gut wie sich selbst. Und so sehr konnte er sich in zwölf Jahren nicht verändert haben, oder?

Die Fahrstuhltüren schlossen sich hinter ihr und bargen sie in einer augenblicklich ruhigen, windfreien Kabine, während Javier fürs Erste außen vor blieb. Als der Lift sich sanft in Bewegung setzte, warf Caitlin einen Blick auf das EKG des Überwachungsmonitors.

Bald glitten die Türen wieder auf, gaben die Sicht auf die gleißend weißen Räume der hochmodernen Kardiologie frei. Caitlin wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte, hier arbeiten zu dürfen. In Spanien existierten zwei angesehene kardiologische Abteilungen. Die eine befand sich hier, im St. Aelina’s mitten in Barcelona, die andere in Madrid, wo Javier arbeitete.

Schon immer hatten sie einander zu beeindrucken versucht. Mit Sicherheit hatte er von ihrer Herzklappen-Forschung gehört. Aber sie vermutete, dass auch Javier eigene Forschungen betrieb. Ihn hier zu wissen, beunruhigte sie. Wie lange würde er bleiben?

Unwillkürlich erschauerte sie, als sie an den Moment dachte, in dem sie ihn unerwartet wiedergesehen hatte. Sie merkte, wie sie das Seitengitter der Fahrtrage fester umklammerte, während sie den Flur entlang auf das bereits hergerichtete Privatzimmer zusteuerten.

„Okay?“ Marco, auf der anderen Seite der Trage, blickte sie fragend an. Dem erfahrenen MTA entging nichts.

Caitlin nickte, bevor sie an sich hinunter auf ihre hellrosa OP-Kleidung blickte und eine Grimasse schnitt. Sie strich sich das Haar zurück und suchte in ihren Taschen nach einem anderem Scrunchie, fand jedoch keins. Wahrscheinlich würde ihr, nicht zum ersten Mal, nichts anderes übrig bleiben, als die Haare mit einem Gummiband hochzubinden. Ihr Make-up hatte sich wahrscheinlich auch längst verabschiedet. Nicht, dass sie es genau wüsste. Seit sie heute um sechs Uhr morgens geduscht und sich angezogen hatte, hatte sie keine Gelegenheit gehabt, in einen Spiegel zu sehen. Sogar ihr Markenzeichen, die flachen bunten Schuhe, konnte ihr kein Lächeln entlocken. Es spielte keine Rolle, dass sie davon zehn verschiedene Paare besaß, die so bequem wie Slipper waren. Was ihr Äußeres anging, bot sie genau das Gegenteil dessen, was sie sich bei einem Wiedersehen mit Javier Torres ausgemalt hatte.

Zu spät, daran noch etwas zu ändern.

Sie setzte ein zuversichtliches Lächeln auf und berührte Natalia am Arm, während sie die Trage ins Zimmer rollten. Es war das größte im vierten Stockwerk. Sämtliche Überwachungsgeräte waren installiert, und ein breites Innenfenster ermöglichte den Blick auf die Stationszentrale, konnte jedoch bei Bedarf durch eine Jalousie zugezogen werden. Zum Zimmer gehörte ein barrierefreies Bad. Obwohl dies hier ein Krankenhaus war, hatte die Condesa bereits einen Privatkoch und ein Team von Krankenschwestern engagiert, die sich zusätzlich um Natalia kümmern würden.

Die Vorbereitungen waren ein bisschen wie ein Kampf gewesen. Caitlin stellte an die Pflegekräfte, mit denen sie zusammenarbeitete, hohe Ansprüche, und sie musste sich auch auf das Team der Condesa verlassen können. Deshalb prüfte sie genau, dass die Krankenschwestern die erforderlichen Qualifikationen besaßen.

Jetzt listete sie ihre Standard-Anweisungen auf: neue EKGs, ein Herz-Echo, eine weitere Röntgenaufnahme der Brust. Dazu verschiedene Bluttests und spezielle Untersuchungen, die nur in ihrer Abteilung und von ihrem Team durchgeführt werden konnten. Caitlin war bekannt für ihre Gründlichkeit.

Im hellen Licht sah Natalia noch blasser aus. Bei einer Frau mit ihrem warmen südländischen Teint war der Unterschied besonders stark. Caitlin gab die letzte Instruktion und nickte dem Rest des Teams zu, das Natalia von der Trage auf das bequemere Krankenhausbett half und an die Monitore anschloss.

Caitlin konzentrierte sich auf ihre Patientin. Natalias Zustand war ernst. Sie musste operiert werden, daran bestand kein Zweifel. Die aktuellen Tests würden die letzten Teilchen liefern, um das Puzzle zusammenzusetzen, und Caitlin verraten, wie heikel der Eingriff werden könnte und – weitaus wichtiger – welche Erfolgschancen damit verbunden waren. Caitlin war etwas nervös. Sie hatte lange überlegt, bevor sie den Auftrag annahm. Sie kannte Natalia und war mit ihr befreundet. Andererseits war sie weder eine Familienangehörige noch ihre allerbeste Freundin, sodass sie Natalia wie jede andere Patientin auch behandeln konnte. Außerdem war sie hier in Spanien die beste Chirurgin für diese besondere Aufgabe. Es hätte wenig Zweck, sie woanders hinzuschicken.

„Ich bin froh, dass du gut hergekommen bist, Natalia. Wie war der Flug für dich?“

Natalia lächelte. „Mit meinem Bruder auf dem Pilotensitz würde ich es nicht wagen, etwas anderes zu sagen, als dass ich eine angenehme Reise und eine weiche Landung hatte.“

Caitlin unterdrückte die Fragen, die sie am liebsten gestellt hätte. Allen voran die, wie es dazu gekommen war, dass Javier den Hubschrauber zum St. Aelina’s geflogen hatte.

„Was kann ich tun, um es dir behaglich zu machen?“

Natalia zwinkerte ihr aus müden Augen zu. „Sorg dafür, dass mein Bruder beschäftigt ist. Du weißt, wie er ist. Er wird sich um jedes Detail Gedanken machen. Ich bin wirklich froh, dass du zugestimmt hast, mich zu operieren. Vermutlich bist du die Einzige, die ihn in Schach halten kann. Jedem anderen würde er Löcher in den Bauch fragen.“

Caitlin war sich nicht sicher, wie sie Javier ablenken sollte. Ihre Fantasie lenkte sie in eine Richtung, die hier absolut nichts zu suchen hatte. Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden. Solche Gedanken wollte sie auf keinen Fall zulassen. Zumal sie keine Ahnung hatte, ob er in einer Beziehung lebte. Er könnte verheiratet sein. Zwar wusste sie, dass er als Chirurg in Madrid arbeitete, aber nichts über sein Privatleben. Schon vor langer Zeit hatte sie beschlossen, dass es besser war, nichts zu wissen. Sie wollte kein Leben voller Bedauern.

Dennoch machten Natalias Worte sie neugierig. Was steckte dahinter?

Sie blieb noch eine Weile bei ihr, ließ das Thema Javier links liegen und verschaffte sich einen besseren Überblick über Natalias Gesundheitszustand, der Javiers Schwester das tägliche Leben mehr und mehr erschwerte. Es war definitiv Zeit, etwas zu unternehmen. Caitlin ging, als der Privatkoch mit einem leichten Abendessen für Natalia erschien. Abgesehen davon musste sie nach ihren anderen Patientinnen und Patienten sehen und Laborberichte lesen.

Eilig machte sie sich auf den Weg zu ihrem Büro am Ende des Flurs. Sie hatte Glück gehabt, es war ein Eckzimmer mit zwei großen Fenstern mit Blick auf die Stadt. Ihre Wohnung hatte keinen spektakulären Ausblick. Aber das störte sie nicht, da sie sowieso mehr Zeit im Krankenhaus als zu Hause verbrachte. Hier stand ein bequemes Ausziehsofa, und im Einbauschrank konnte sie Ersatzkleidung und Waschzeug unterbringen. Mit dem angrenzenden kleinen Duschbad hatte sie alles, was sie brauchte.

Sie öffnete den Schrank und inspizierte die Kleidungsstücke. Ein paar Blazer, Röcke und Blusen für offizielle Auftritte. Wenige Kleider, dann Yogapants, noch mehr OP-Kleidung, Laufsachen, eine Jeans und drei, vier legere Tops.

Nichts Besonderes. Nichts, das den Effekt erzielen würde, den sie sich vorstellte.

Caitlin blickte auf die nächtliche, von funkelnden Lichtern erhellte Metropole und unterdrückte einen Fluch. Warum zum Teufel ließ sie solche Gedanken überhaupt zu? Soweit sie wusste, hatte Javier seinen Hubschrauber wieder gestartet und war auf halbem Weg dorthin zurück, wo er hergekommen war. Die Chance, mächtig Eindruck auf ihn zu machen, war verpasst. Statt kultiviert und schick gestylt, hatte er sie in zerknitterter OP-Kleidung gesehen, mit zerzausten Haaren und knallbunten Tretern!

Seufzend setzte sie sich, schaltete ihren Computer ein und widmete sich der ersten Mail. Sobald sie sich konzentrierte, drehten sich sämtliche Gedanken nur noch um ihre Patienten. Mit Javier würde sie sich später befassen.

Eine Stunde später wehte ein verlockender Duft in ihr Büro. Caitlin rieb sich die Nase. Spielte ihr Gehirn ihr einen Streich? Gleich darauf tauchte im Flur ein Schatten auf. Sie sah hoch. Im Türrahmen, einen Teller in der Hand, stand Javier.

Anscheinend hatte er sich nicht wieder auf den Rückweg gemacht.

Er hatte gewusst, dass es so kommen würde – in Caitlins Nähe fehlten ihm die Worte.

Ein Blick auf sie, dort oben auf dem Dach, hatte genügt, ihm den Atem zu verschlagen.

„Ich bringe Geschenke“, sagte er und zuckte insgeheim zusammen, weil es leicht befangen klang. Vor zwölf Jahren hatte er sie zuletzt gesehen. Das Mädchen, das seine beste Konkurrentin und – obwohl es ihr nicht klar war – seine beste Freundin gewesen war. Die ihm sein Herz gestohlen hatte. Das stolze, lebhafte schottische Mädchen, das an der medizinischen Fakultät in sein Leben gestürmt war und das er nie hätte wieder gehen lassen dürfen.

Der dreiundzwanzigjährige Javier war ein Dummkopf gewesen.

Beim ersten Blick auf sie, als sie auf dem Helipad des Krankenhauses stand und ihre rotbraunen Haare wild im Wind flatterten, da flatterte sein Herz genauso heftig. Und jetzt war sie hier. In ihrem Büro. Auf der Position, die sie sich hart erarbeitet und zu Recht erworben hatte. Javier unterdrückte ein Lächeln. Er könnte nicht stolzer sein.

Sie blinzelte und stand auf. „Hi“ war alles, was sie sagte.

Vielleicht war sie genauso verwirrt wie er. Eine nette Vorstellung, aber wollte er wirklich, dass sie wegen einer Nacht vor langer, langer Zeit durcheinander war? Schließlich brauchte er Caitlin in Topform, wenn sie seine Schwester operierte!

Javier zögerte kurz, kam dann langsam ins Zimmer. Er hoffte sehr, dass er nach außen hin sicherer wirkte, als er sich fühlte.

„Ich habe unseren Koch gebeten, dir deine Lieblingskuchen zu backen … ein kleines Dankeschön“, sagte er und hielt ihr den Teller hin. Die Himbeer-Muffins mit weißer Schokolade sollten ihre Sinne ansprechen. Ein armseliger Versuch der Bestechung, aber er würde alles tun.

„Dass du das noch weißt …“, sagte sie leise und sichtlich überrascht.

Sein Herz geriet kurz aus dem Takt. Hatte sie ernsthaft geglaubt, dass er sich an ihre Vorlieben nicht erinnerte? So vieles war auf immer mit ihr verbunden. „Warum sollte ich es vergessen?“, antwortete er sanft.

Sie erschauerte unwillkürlich, er sah es und wusste sofort, dass sie für dies nicht bereit war. Nicht jetzt. Nicht hier. Sie musste sich auf ihre Patienten konzentrieren.

Caitlin blickte auf und starrte ihn einen Moment lang an. Er hatte keine Ahnung, was hinter diesen grünen Augen vor sich ging, während sie ihn von oben bis unten musterte. Es fühlte sich an, als würde sie ihn langsam ausziehen. Aber ihre Stimme klang locker, als sie schließlich sagte: „Neuer Job, Javier – private Charterflüge? Ich hoffe, es wird gut bezahlt.“

Ein Scherz auf seine Kosten. So war es damals zwischen ihnen oft gewesen. Javier hatte das merkwürdige Gefühl, nach Hause zu kommen. Er blickte an sich hinunter. „Mir war nicht klar, dass es wie eine Uniform aussieht. Hab nicht nachgedacht, als ich mich anzog. Wahrscheinlich wollte ich nur wie ein normaler Typ rüberkommen.“ Wieder hatte er Mühe, nicht zu lächeln.

„Kann ein Graf überhaupt ein normaler Typ sein?“

Auch die spöttische Frage erinnerte ihn an früher. An der Universität wusste kaum jemand, dass er einer vermögenden Adelsfamilie entstammte. Doch Caitlin hatte es gewusst, aber nie versucht, einen Vorteil daraus zu schlagen. Im Gegenteil, bei den wenigen Gelegenheiten, wenn er ihr finanzielle Unterstützung angeboten hatte, lehnte sie rundheraus ab. Obwohl sie ihre letzten Pennys für die nächste Mahlzeit zusammenkratzen musste. Ihr Stolz ließ es nicht zu, um Hilfe zu bitten.

Javier verdrehte die Augen und deutete auf die Muffins. „Klar, ein normaler Kerl mit Chefkoch. Wenn die Gesundheit meiner Schwester auf dem Spiel steht, ist Bestechung erlaubt, oder?“

Ihre Blicke trafen sich. So viel lag darin. Zwölf verlorene Jahre. Sie nahm sich einen Muffin, kam um ihren Schreibtisch herum und deutete auf den Sessel davor, bevor sie zu ihrer Kaffeemaschine ging und ein paar Schalter betätigte.

Er spürte, dass sie einen Moment brauchte, um zu überlegen, wie sie sich verhalten sollte. Immerhin war er völlig überraschend hier aufgetaucht. Seit jenem unbehaglichen Morgen nach dem Examen hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. Wie oft war ihm dieser Tag durch den Kopf gegangen, immer wieder … Caitlin hatte ihm deutlich zu verstehen geben, dass die gemeinsame Nacht in ihren Augen ein Fehler gewesen war. Noch heute klang ihm ihr Kommentar in den Ohren. „Jetzt können wir das vergessen … und wieder Konkurrenten sein …“ Er hatte keinen Ton gesagt. Hatte ihr nicht erklärt, wie sehr ihre Bemerkungen ihre leidenschaftliche Liebesnacht zu einer billigen Bedürfnisbefriedigung herabsetzten. Geschweige denn, dass er sie nicht mehr vergessen konnte, seit er sie geschmeckt, ihr Duft ihn eingehüllt hatte.

Die verletzten Gefühle ließ er los. Javier wollte ihre Wünsche respektieren. Dennoch hatte sich ihm eingebrannt, wie peinlich er seinen überstürzten Aufbruch empfand. Er hatte den Menschen verloren, der ihm sechs Jahre lang näher wie kein anderer gewesen war. Das sollte die eine Nacht ihm nicht wert sein.

Und trotzdem hatte ihm jene Nacht alles bedeutet. Noch immer war er froh, dass sie es so weit hatten kommen lassen. Auch wenn der Morgen danach im Desaster endete. Javier wollte es nicht, aber sein Blick glitt zu ihrer linken Hand. Kein Ring. Das Gefühl der Erleichterung war unerwartet überwältigend.

Wie lächerlich. Außerdem bedeutete es gar nichts, dass sie keinen Ring trug. Sie war Chirurgin, Schmuck an den Händen störte da nur. Vielleicht lebte sie auch schon lange ohne Trauschein mit jemandem zusammen.

Javier deutete auf den großzügig geschnittenen Raum. „Ein Eckbüro? Sie scheinen dich zu mögen.“

„Selbstverständlich. Ich bin der Star der Chirurgie.“

Wie sie das sagte, verriet ihr starkes Selbstbewusstsein. Genau das hatte ihn hergebracht.

Er blickte aus den Fenstern über Barcelona, die wunderschöne Stadt, die im abendlichen Lichterglanz dalag. Sah die vertrauten Silhouetten der Sehenswürdigkeiten.

„Du bist weit gekommen“, sagte er nicht ohne einen Anflug von Stolz. Wenn ein Kollege oder eine Kollegin Caitlin erwähnte, antwortete er immer, dass sie zusammen studiert hätten, und lobte ihre chirurgischen Fähigkeiten.

„Das denke ich auch.“ Ihre Augen verengten sich leicht. Der Small Talk machte sie argwöhnisch.

„Wie ist es dir ergangen?“

Sie zog die Brauen hoch.

„Ich meine, zwölf Jahre sind eine lange Zeit. Du könntest verheiratet, geschieden, Mutter von zehn Kindern sein.“

Ihre Augen weiteten sich. Mit solchen Fragen hatte sie sichtlich nicht gerechnet. „Weder noch“, erwiderte sie rasch. Caitlin zeigte auf eine Sammlung verschiedener Figuren eines berühmten Science-Fiction-Films. „Siehst du nicht, dass ich mich um ein Imperium kümmern muss?“

Lachend beugte er sich vor. „Sammelst du sie immer noch?“ Kaum zu glauben. Caitlin war schon immer ein glühender Sci-Fi-Fan gewesen, und er hatte sich oft darüber amüsiert, mit welcher Begeisterung sie sich über jede weitere der bereits damals 30 Jahre alten Figuren freute. Anscheinend brannte diese Leidenschaft nach wie vor.

Und er machte sich nichts vor: Er war unbeschreiblich erleichtert, dass sie nicht glücklich verheiratet war. Oder einen langjährigen Partner hatte. Sonst hätte sie es bei dieser Gelegenheit erwähnt.

„Was tust du hier, Javier?“, fragte Caitlin, während sie zwei Tassen unter den Kaffeeautomaten stellte. Ein leises Gurgeln ertönte, und frisch gebrühter Kaffee floss mit dampfender Milch in dünnem Strahl in die Tassen.

Er lachte leise. „Was glaubst du? Ich will mich vergewissern, dass die Behandlung meiner Schwester problemlos klappt.“

Wieder der ironische Blick. Javier wurde bewusst, wie seine Worte auf sie gewirkt haben mussten, und hob beschwichtigend die Hand.

„Es war praktisch ein Last-minute-Plan“, meinte er und seufzte. „Natalias Zustand verschlechterte sich sehr viel schneller als erwartet. Wie du weißt, haben wir nicht viele Herzchirurgen, also bot es sich an, dass ich beim Transfer half. Ein externes Unternehmen damit zu beauftragen, hätte das Medieninteresse geweckt. Genau das wollten wir unbedingt vermeiden. Während des Eingriffs möchte ich vor Ort sein und danach auch, um sicherzustellen, dass alles glattläuft. Keine Sorge, ich will mich nicht auf die faule Haut legen. Ich habe nachgefragt, ob ich auf temporärer Basis im St. Aelina’s Nachtdienste übernehmen kann.“

Ihrer Miene nach zu urteilen, war sie nicht gerade begeistert. „Wen hast du gefragt?“

„Deine Direktorin, Louisa Gerard. Sie war froh über das Angebot, da anscheinend eine Kollegin im Mutterschutz und ein Kollege länger erkrankt ist. Mach dir keine Gedanken. Sie hat mir gesagt, dass ich mich nach dir richten muss, da du die Abteilung leitest.“

Nein, die Neuigkeiten schmeckten ihr definitiv nicht. Vielleicht wollte sie auch nach zwölf Jahren nichts mit ihm zu tun haben. Die Sache könnte problematischer werden, als er gedacht hatte. Da sie sich bereit erklärt hatte, Natalia zu operieren, müsste sie doch davon ausgehen, dass er in der Nähe sein wollte, oder?

Caitlin brachte die Kaffeetassen und warf einen Blick auf ihren Computer. Ihre Schultern entspannten sich. „Louisa hat mir heute Abend nichts davon gesagt. Aber ich sehe gerade eine Mail von ihr. Wahrscheinlich geht es darin um dich.“ Sie stellte ihm eine Tasse hin. „Deine Mutter …“

Javier unterbrach sie. „Ich habe dich für diesen Eingriff empfohlen. Du bist die Beste. Du weißt, dass du am besten bist – nun ja, von mir abgesehen.“ Er lachte kurz auf, während er nach der Kaffeetasse griff, und hoffte, die unbehagliche Atmosphäre etwas aufzulockern.

Caitlin setzte sich ihm gegenüber und schälte das Papierförmchen von ihrem Muffin. Dann blickte sie Javier direkt an. „Was dein Ego betrifft, hast du dich nicht verändert.“

Ihm entging nicht, dass ihr schwerer schottischer Akzent stärker durchkam. Javier setzte sich aufrecht hin, weil er ahnte, was kommen würde. Wenn Caitlin sich ärgerte, hörte man ihr an, woher sie kam.

„Bist du hier, um mich zu kontrollieren? Vertraust du mir bei der OP an deiner Schwester nicht?“

Ihre Heftigkeit überraschte ihn. „Wenn ich an deinen Fähigkeiten auch nur ansatzweise zweifeln würde, hätte ich meiner Mutter nicht gesagt, dass du die Beste bist.“ Keine Sekunde lang hatte er ihre Kompetenz infrage gestellt. Caitlin hatte bereits mehrere wissenschaftliche Artikel über die Technik publiziert, die sie für die Herzklappenchirurgie entwickelt hatte. Niemandem sonst auf der ganzen Welt würde er das Leben seiner Schwester anvertrauen.

„Ich brauche deine Hilfe nicht“, sagte sie bestimmt. „Ich halte dich auf dem Laufenden, wie es Natalia geht. Dir sollte klar sein, dass du in die Behandlung deiner Schwester nicht einbezogen werden darfst. Es wäre ein Interessenkonflikt.“

„Das weiß ich. Aber findest du es so ungewöhnlich, dass ich hier bin? Die meisten Familien wollen bei ihren Liebsten sein, wenn diese sich einer komplexen Operation unterziehen müssen. Warum sollte es bei uns anders sein?“ Langsam ärgerte ihn diese Diskussion. Die Sache verlief überhaupt nicht nach Plan. Andererseits war nicht viel Zeit zum Planen geblieben. „Man hat mir erzählt, dass du durch den kranken Kollegen und die Kollegin im Mutterschutz eine Warteliste hast – eine, die man schneller abarbeiten will, indem auch nachts operiert werden soll.“

„Wird die Condesa sich ebenfalls hier einfinden?“

Javier seufzte. „Nein.“

„Warum nicht?“

„Meine Mutter ist zu Hause und kümmert sich um das Anwesen. Ich bin hier, weil Natalia mich darum gebeten hat. Sie wusste, dass Mutter nicht kommen würde.“

„Scheint mir ein kurzfristiger Entschluss gewesen zu sein. Hast du in Madrid keine Patienten, die dich brauchen?“

„Doch, natürlich. Aber das habe ich mit meinem Team geregelt. Sie wissen, dass ich bei meiner Schwester sein muss.“

Caitlin sah ihn prüfend an. „Warum muss deine Mutter sich um das Anwesen kümmern?“

Ihm zog sich das Herz zusammen, ein kalter Schauer überlief ihn. Sie wusste es nicht. Er hatte angenommen, dass sie vielleicht etwas in den Zeitungen gelesen hätte. Oder dass Natalia ihr davon erzählt hätte. Allerdings konnte er nicht sagen, wie sehr die beiden in Kontakt standen.

Er leckte sich die Lippen und trank einen Schluck Kaffee. Der trockene Mund blieb. Javier hob den Kopf, sah sie an.

Es hatte etwas Befreiendes, die Frau wiederzusehen, an die er sich in den vergangenen zwölf Jahren immer wieder erinnert hatte. An ihr Lachen. Ihr Lächeln. Ihren Akzent. Die kleinen Eigenheiten – wie sie es hasste, wenn jemand den letzten Schokoladenkeks nahm. Oder dass sie sich, ungeachtet der hohen Kosten, eine besondere Teesorte schicken ließ, die es nur in Schottland gab. Oder dass sie Baked Beans nur von einer bestimmten Marke aß. Aber auch, wie leidenschaftlich sie sich für ihre Patientinnen und Patienten einsetzte. Oder wie ihr kluger Verstand arbeitete, wie sie Bestehendes ständig hinterfragte, um Operationstechniken und Patientenbetreuung zu verbessern.

Widerstrebend sprach er aus, was immer noch schmerzte. „Vor drei Jahren ist mein Vater unerwartet verstorben. Seitdem verwaltet Natalia das Anwesen, und sie macht einen ausgezeichneten Job. Aber ich habe mich oft gefragt, ob der zusätzliche Stress ihr gesundheitlich geschadet hat.“ Er lächelte traurig. „Ich habe sowohl den Titel als auch die Ländereien geerbt. Meine Eltern – und inzwischen auch Natalia – haben mir gestattet, meinen Traum zu verwirklichen und Chirurg zu werden. Doch irgendwann werde ich zurückgehen und das Anwesen übernehmen müssen. Zurzeit sorgt meine Mutter vorübergehend dafür, dass alles rundläuft. Sobald Natalia sich von der OP erholt hat, bringe ich sie nach Hause und übernehme ihre Aufgaben.“

Sichtlich betroffen sank Caitlin in ihren Stuhl zurück. „Das tut mir so leid. Ich habe nicht gewusst, dass dein Vater nicht mehr lebt. Als ich dich mit Graf ansprach, war das scherzhaft gemeint, so wie ich es früher immer getan habe.“

Es war ihr wirklich unangenehm. Javier nickte. „Schon gut.“

Sofort beugte sie sich vor. „Ist es nicht. Du kannst deinen Beruf nicht aufgeben. Dafür bist du zu wichtig. So viele Menschen brauchen deine Hilfe. Deine Fähigkeiten sind einzigartig, Javier. Wir sind nicht von einem Tag auf den anderen ersetzbar. Wir haben Jahre gebraucht, um zu lernen, was wir heute können.“

„Das weiß ich.“ Wieder wurde ihm das Herz schwer. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich darüber nachgedacht habe. Aber ich muss an meine Familie denken. Wer soll es sonst tun?“

Reglos saß sie da, und er sah ihr an, wie sie zu verarbeiten versuchte, was er ihr gerade erzählt hatte. Seltsam, dass sie vom Tod seines Vaters nichts gehört hatte. Vielleicht kannte sie dann auch nicht den Rest der Geschichte … von der langen und schließlich gelösten Verlobung mit einer Freundin der Familie. Seine Eltern waren sehr für die Verbindung gewesen. Aber er hatte Herzogin Elisabeth nie geliebt – und sie ihn auch nicht. Javier hatte sein Bestes gegeben, sie zu lieben, das zu fühlen, was er für Caitlin empfunden hatte. Vergeblich. Für seine Eltern war die Trennung von Elisabeth ein Schock gewesen. Manchmal plagten ihn Schuldgefühle, dass die Gesundheit seines Vaters auch deshalb stark gelitten hatte.

Javier war nie in der Lage gewesen, seine Beweggründe richtig zu erklären. Wie hätte er seinen Eltern verständlich machen sollen, dass ein zukünftiger Graf und eine deutsche Herzogin, Liebling der Medien, einander einfach nicht liebten? Elisabeth war intelligent, hübsch und charmant. Seine Eltern hatten sie vergöttert. Wohin sie auch ging, folgten ihr Fotografen auf Schritt und Tritt, und eine Frage wurde immer wieder gestellt: Wann wird die Hochzeit sein?

Für die Öffentlichkeit waren sie das märchenhafte Traumpaar. Doch Javier wusste es besser. Von Märchen konnte man träumen, aber diese Träume waren wie alle Träume nur Schäume. Er hatte es zwei Mal versucht und war beide Male elend gescheitert.

Eine Erinnerung blitzte auf: Caitlin neben ihm im Bett, ihr kastanienrotes Haar auf dem Kissen ausgebreitet, ihr sanfter warmer Atem auf seinem Hals, während Javier die winzigen Sommersprossen auf ihrer Nase betrachtete.

Das Bild versetzte ihm einen Stich. Er erhob sich im selben Moment, als Caitlin zu sprechen anfing. „Du weißt, dass ich gut auf deine Schwester aufpassen werde, Javier. Du kannst mir vertrauen.“

Aber er hatte sich bereits abgewandt. Vielleicht war sein Plan doch keine so gute Idee gewesen. Wenn er in den nächsten Wochen hier arbeitete, würde er mit noch mehr Erinnerungen an Caitlin überschwemmt werden. Der Freundin, die die gemeinsame Nacht bereute. Der Frau, die er nie hatte vergessen können.

Javier streckte die Hand nach der Klinke aus, da klingelte das Telefon. Er hörte, wie Caitlin sich meldete. Ihre Stimme klang ruhig, doch an der Art, wie sie rasch und präzise Fragen stellte, merkte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie legte den Hörer auf. „Hat Louisa ihr Okay gegeben? Darfst du schon hier arbeiten?“

Er drehte sich um und nickte, während er gleichzeitig den Mitarbeiterausweis zückte, den er in der letzten Stunde bekommen hatte.

„Dann bleib hier, Javier. Ich kann Hilfe gebrauchen.“

2. KAPITEL

Caitlin reagierte wie auf Autopilot. „Schwerer Verkehrsunfall. Massive Thoraxverletzungen bei mindestens zwei Beteiligten.“ Rasch ging sie zu ihrem Schrank, nahm einen Satz blaue OP-Kleidung heraus und warf sie Javier zu. Zum Glück waren seine Reflexe auf Zack wie immer, und er fing die Sachen mühelos auf. „Gut, dass wir einen Herz-Thorax-Chirurgen zu Besuch haben. Ich kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, also komm bitte mit, und wir sehen uns die Verletzungen genauer an.“ Mit dem Kopf deutete sie auf das angrenzende Bad. „Umziehen kannst du dich da drin.“

Was auch immer ihm in den letzten Minuten durch den Kopf gegangen war, spielte jetzt keine Rolle mehr. Javier zog seine Jacke aus und warf sie auf einen Stuhl. Die obersten Hemdknöpfe waren offen, und er packte den Kragen, um sich das Hemd mit einer einzigen Bewegung über den Kopf zu ziehen. Caitlin sah sonnengebräunte Haut und seinen muskulösen flachen Bauch. Der Mann war atemberaubend. Immer noch. Und sie musste den Blick abwenden, als er sich das blassblaue Top überstreifte. Bevor sie etwas sagen konnte, kickte er die Schuhe von sich, und die Hose flog auf den Stuhl. Im nächsten Moment zog er sich die OP-Hose über die kraftvollen Schenkel.

„Schuhe?“, fragte er.

Wieder öffnete sie ihren Schrank und förderte ein Paar weißer Clogs zutage, wie sie im OP getragen wurden. Die genaue Größe war nicht wichtig. Die konnte so gut wie jeder tragen. Caitlin warf sie ihm zu, und falls ihm der Stil der Schuhe nicht passte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken.

„Gehen wir“, sagte sie.

Javier nickte. „Was weißt du?“

„Zwei Verletzte, männlich, Fahrer und Beifahrer in einem Wagen, der bei Rot über die Kreuzung fuhr und in ein Gebäude krachte. Beide, wie gesagt, mit schwersten Brustverletzungen.“

Mit langen Schritten eilten sie den Flur entlang und hielten sich nicht erst damit auf, am Fahrstuhl zu warten. Sie drückten die Türen zum Treppenhaus auf und liefen die vier Stockwerke hinunter zur Notaufnahme.

Sie müsste ihn eigentlich mit den Räumlichkeiten vertraut machen. Aber Javier war ein heller Kopf und würde schnell herausfinden, was er brauchte.

In der Notaufnahme ging es zu wie in einem Bienenstock. Caitlin ging schnurstracks zu den Schockräumen. Javier hielt Schritt, blickte dabei links und rechts. „Hier ist ja was los!“, murmelte er.

Caitlin nickte zustimmend. „Das kannst du laut sagen. Und es hört nie auf. Barcelona gehört zu den meistbesuchten Städten der Welt, und manchmal fühlt es sich an, als würden alle Reisenden im Urlaub krank.“ Sie blieb stehen, um zu lesen, was auf der Weißwandtafel an der Stationszentrale stand. „Auf dem Whiteboard findest du eine Übersicht darüber, welche Fälle aktuell behandelt werden. 4 Kopfverletzungen. 11 Frakturen. 6 Infektionen. 4 mit Brustschmerzen und Verdacht auf Myokardinfarkt. 8 für den OP. 24 geringfügige Verletzungen und 16 Kinder, die untersucht werden müssen.“ Sie blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Personalmangel herrscht, wie überall, auch bei uns. Anscheinend haben wir kürzlich einen hervorragenden Krankenpfleger aus Kuba eingestellt. Seinen Namen weiß ich noch nicht, aber ich wünschte, er wäre schon hier.“

Sie betrat den Reanimationsbereich, wo ein dunkelhaariger Arzt auf sie zukam.

„Kannst du draußen auf die Rettungswagen warten und einschätzen, ob wir einen Schockraum brauchen? Es hat noch einen Verkehrsunfall gegeben.“ Sichtlich gestresst warf er einen Blick auf den Mann neben ihr.

Caitlin legte Javier die Hand auf den Arm. „David, das ist Javier Torres, Herzchirurg aus Madrid. Er wird ein paar Wochen bei uns arbeiten und Nachtdienste übernehmen.“

„Perfekt.“ David seufzte erleichtert. „Leider steckt Julia, die heute Rufbereitschaft hat, im Verkehrsstau fest, der sich hinter dem Unfall gebildet hat. Dann hast du wenigstens zwei Hände mehr, wenn du sie brauchst.“

Unwillkürlich sah sie zu ihrer Hand, die immer noch auf Javiers Arm lag. Während David redete, hatte sie Mühe gehabt, sich auf seine Worte zu konzentrieren. Javiers Haut unter ihren Fingern weckte einen Sturm sinnlicher Erinnerungen.

Zwecklos, sich dagegen zu wehren. Caitlin spürte seine Wärme, die feinen dunklen Härchen. So vertraut. Sie hatten nur eine Nacht gehabt, aber sie war unausweichlich gewesen nach sechs Jahren Rivalität, Neckereien und Vertrautheit. Wie oft saßen sie dicht beieinander, Haut, die sich berührte, während sie ihren Alltag zusammen verbrachten. Lange Nächte, in denen sie gelernt und sich gegenseitig abgefragt hatten, bis sie nicht mehr konnten und, die Köpfe auf dem Tisch, einschliefen. Unzählige Umarmungen und tränenfeuchte Momente gehörten ebenso dazu. Javier war der Erste gewesen, dem sie davon erzählte, wie sie das erste Mal selbst operiert hatte. Wo waren sie nicht überall ermüdet nebeneinander eingeschlafen … auf Sofas, Betten bei Partys, Fußböden.

Am meisten vermisste sie bis heute, jemanden um sich zu haben, mit dem sie sich nahezu wortlos verstand, der ihr vertraut war. Fast vergessen hatte sie das Knistern zwischen ihnen, so als sprühte die Luft dort Funken. Jetzt hatte eine kurze Berührung genügt, und alles kehrte schlagartig zurück.

Javier bewegte den Arm und rieb mit der anderen Hand darüber. Was bedeutete das? Caitlin blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Ohrenbetäubende Sirenen verkündeten die Ankunft der Krankenwagen. Sie drückte ihm eine Packung mit Einmalkittel, Maske und Handschuhen in die Hand. Jahre praktischer Erfahrung hatten sie gelehrt, in weniger als zehn Sekunden bereit zu sein.

Javier marschierte so schnell Richtung Eingang, dass sie fast laufen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Caitlin war größer als die meisten Frauen, aber immer noch zwölf Zentimeter kleiner als Javier.

Der erste Rettungswagen hatte kaum gehalten, da riss Javier bereits die Türen auf. Einer der Paramedics sprang heraus, und eine Krankenschwester der Notaufnahme eilte zu ihnen.

Caitlin trat auf die andere Seite der Fahrtrage, nachdem diese aus dem Wageninneren herausgezogen worden war, und blickte auf den dunkelhäutigen Mann hinunter. Schwach lag er da und atmete keuchend.

„Rian Caballero, zweiundvierzig – er ist der Fahrer. Wir vermuten, dass er während der Fahrt einen Herzinfarkt erlitten hat und bewusstlos wurde. Da er über dem Lenkrad zusammengesackt ist, hat der Thorax beim Aufprall mehr abbekommen, als es normalerweise der Fall wäre.“

Caitlin hatte ihr Stethoskop schon angesetzt und lauschte.

Javier tat es ihr nach, bevor er einen Knopf am Herzmonitor drückte und den Ausdruck las. „Sieht ganz nach einem Hinterwandinfarkt mit zusätzlicher Komplikation durch einen Pneumothorax aus.“

Sie war beeindruckt, wie ruhig er blieb. Was sie eigentlich nicht verwundern sollte, da sie praktisch Seite an Seite mit ihm gelernt hatte. Aber nachdem sie in den letzten zwölf Jahren mit sehr unterschiedlichen Kolleginnen und Kollegen zusammengearbeitet hatte, empfand sie es als sehr angenehm mit jemandem, der nie in Panik verfiel. Ganz gleich, wie belastend die Situation war.

„Ich glaube, er hat einen Hämatothorax auf dieser Seite.“ Sie wandte sich an die Krankenschwester. „Er muss in einen Schockraum. Trauma-Behandlung und Kardiologie wegen des MI übernehmen. Wir kümmern uns um den nächsten Patienten.“

Die Schwester nickte und rollte zusammen mit dem Paramedic die Trage ins Gebäude. Da tauchte auch schon der zweite Rettungswagen auf.

Diesmal öffnete Caitlin die Türen und stutzte einen Sekundenbruchteil lang. Ein langes dünnes Rohr steckte in der Brust des Patienten. Die begleitende Paramedic sah fertig aus. Ihre Handschuhe waren voller Blut, und auf dem Boden des Fahrzeugs lagen benutzte Wundreinigungskissen.

„Wir sind gefahren wie der Teufel!“, stieß sie hervor. „Die Verletzung entstand beim Aufprall, als der Wagen durchs Schaufenster in ein Geschäft für Klempnerbedarf krachte. Der Patient hat so schnell Blut verloren, dass ich nur mit Mühe und Not einen Zugang legen konnte.“

Javier stieg zu ihr in den Wagen. „Gut gemacht, Sie haben es geschafft.“ Er warf einen Blick auf den Infusionsbeutel und dann auf den Schwerverletzten. Selbst von dort, wo sie stand, vermutete Caitlin, dass das Rohr das Herz verletzt hatte.

Sie drehte sich zu den Pflegekräften um, die hinter ihr warteten, und hob eine Hand. „Wir bewegen die Trage sehr, sehr vorsichtig. Alle in Position.“

Hoch konzentriert leitete sie mit Gesten den langsamen Transport aus dem Rettungswagen und auf den Asphalt. Jemand sorgte dafür, dass der Weg zu den Schockräumen frei war, während Caitlin das Eisenrohr festhielt, damit es sich nicht bewegte und weiteren Schaden anrichtete. Obwohl sie auf dem Fahrgestell stand, spürte sie überdeutlich jede Unebenheit im Boden.

Kaum waren sie im Schockraum, drückte ein sichtlich betroffener David ihr den Schallkopf des Ultraschallgeräts in die Hand. „Ich hab’s schon gehört.“

Genau, was sie brauchte. Während die anderen den Mann an den Blutdruckmonitor anschlossen, EKG-Elektroden befestigten und ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht drückten, legte Javier seine Hand auf ihre, um an Caitlins Stelle das Rohr zu halten. Diesmal trugen sie beide Handschuhe, und doch war ihr seine vorsichtige Berührung überdeutlich bewusst.

Den Blick fest auf den Bildschirm gerichtet, erkannte sie sofort das Ausmaß der Verletzung. „Zwei Herzkammern sind betroffen“, sagte sie. Der Patient befand sich in einem höchst kritischen Zustand. Javier gab ihr ein Zeichen, den Schallkopf tiefer zu bewegen, das sie gut kannte. Es war seltsam, wie gut sie sich ohne Worte verständigen konnten. Einen Moment später nickte sie. „Auch die Aorta ist beschädigt.“

Ihre Blicke trafen sich. Bei solchen Verletzungen waren die Überlebenschancen des Mannes äußerst gering. Jede Minute konnte sein Herz stehen bleiben. Und durch den Schaden an der Hauptschlagader drohte jederzeit ein hypovolämischer Schock, der unbehandelt schnell zum Tode führte.

Caitlin traf eine Entscheidung. „Multiple Kammerverletzung plus Aortenschaden. Wir bringen ihn in den OP und schließen ihn an die Herz-Lungen-Maschine an, um die Überlebenschance zu erhöhen.“

„Einverstanden“, kam die kurze Antwort von Javier.

Sie hatte erwartet, dass er mit ihr diskutieren und mehr Argumente für die teure und riskante Prozedur verlangen würde.

Wäre es möglich, ihr wäre das Herz vor Dankbarkeit in der Brust geschwollen. „Welcher OP ist frei?“, rief sie und sah sich im Raum um.

„Nummer sieben“, sagte jemand. „Mit Anästhesistin Danielle Lunar.“

„Sagen Sie ihr, dass wir unterwegs sind.“ Caitlin stöpselte bereits die Geräte aus und legte sie auf die Trage.

Jemand von der Rettungswagen-Crew betrat das Zimmer, in der Hand eine Brieftasche. „Roberto Puente, 64. Soll ich die Polizei benachrichtigen, damit sie die Familie verständigt?“

„Sagen Sie ihnen, dass wir ihn in den OP bringen und uns so bald wie möglich wieder melden“, sagte Javier.

Vorsichtig machten sie sich auf den Weg zu den Not-OP-Räumen. Bald darauf bereiteten sich Caitlin und Javier auf den Eingriff vor.

Alle OP-Säle im St. Aelina’s waren auf dem neuesten Stand der Technik. Eine Herz-Lungen-Maschine stand bereit. Die Anästhesistin erfragte Details zu Roberto und sorgte dafür, dass er narkotisiert wurde, obwohl er bewusstlos war. Seine Vitalzeichen wurden ständig überwacht. Überraschend für alle schlug sein Herz auf langsam galoppierende Art im Sinus-Rhythmus, der normalen Herzfrequenz, obwohl es mehr als nur ein paar ektopische Schläge gab. Hätte Caitlin in einer Gruppe Studentinnen und Studenten gefragt, wie sie den Herzschlag eines Patienten mit Robertos Verletzungen beschreiben würden, hätte niemand mit Sinus-Rhythmus geantwortet. Allerdings geriet sein Herz zunehmend unter Stress, da die ektopischen Schläge sich häuften.

Am OP-Tisch nahm Caitlin ihre gewohnte Position ein. Javier tauchte neben ihr auf, nickte und ging dann auf die andere Seite. Klar, als leitende Chirurgen waren sie es gewohnt, an einem bestimmten Platz zu stehen.

„Okay?“, fragte sie, bevor sie anfing.

Eine Angewohnheit, die sie nie vernachlässigte. Immer vergewisserte sie sich, dass ihr Team bereit war. Dann erst begann sie mit dem Eingriff. Mit Höflichkeit hatte das wenig zu tun. Sie wollte sichergehen, dass alle konzentriert bei der Sache waren. Vor allem diese OP konnte lange dauern.

„Ja“, sagte Javier und blickte sie aus seinen dunkelbraunen Augen direkt an. Kein Zögern, keine Zweifel und erst recht keine Fragen zu ihrer Entscheidung. Dafür hätte sie ihn umarmen können.

Obwohl sie in den letzten zwölf Jahren keinen Kontakt gehabt hatten, war sie davon überzeugt, dass Javier ihr volle Rückendeckung geben würde. Das war schon immer so gewesen. Wie eine warme Decke vermittelte es ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Es war lange her, dass sie diese Sicherheit gespürt hatte.

Sie sah sich um, suchte die gleiche Bestätigung auch in den Augen ihres Teams. Ihr Blick fiel auf die Krankenschwester, die das Eisenrohr stabil hielt. „Bringt jemand Lisa bitte einen Hocker?“

Wie von Zauberhand tauchte ein Rollhocker auf und wurde in Lisas Richtung geschoben. Das Rohr würden sie vorerst nicht entfernen können, da war es wichtig, dass Lisa sich nicht bewegte.

Als schließlich alles zu ihrer Zufriedenheit hergerichtet war, was keine zwei Minuten gedauert hatte, war Caitlin so weit.

„Fangen wir an“, sagte sie zuversichtlich und griff zum Skalpell.

Javier beobachtete sie. Caitlin arbeitete ruhig und präzise. So war es früher schon gewesen. Sie ging akribisch und mit der nötigen Erfahrung vor. Genau deshalb hatte er sie seiner Mutter empfohlen. Genau deshalb war er sicher, dass sie die Richtige war, um seine Schwester zu operieren.

Ihre grünen Augen blickten konzentriert. Vorhin im Schockraum hatte er in ihnen eine Frage gelesen. Caitlin traf eine Entscheidung, für die andere Chirurgen nicht den Mumm aufbringen würden. Er hätte es genauso entschieden wie sie, doch auch in Madrid, an seinem Krankenhaus, hätte ein anderer Chirurg Zweifel angemeldet.

Angesichts der katastrophalen Verletzungen lagen die Überlebenschancen ihres Patienten bei rund zwanzig Prozent. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Sein Freund hatte am Steuer das Bewusstsein verloren, woraufhin der Wagen ungebremst in ein Ladengeschäft fuhr, das ausgerechnet Waren führte, von denen eine Roberto lebensbedrohlich verletzte.

Ein Zufall, wie er selten eintrat. Aber so war das Leben. Unglücksfälle passierten. Und nun war es an Caitlin und ihm, folgenreiche Entscheidungen zu treffen, um Robertos Chancen zu erhöhen. Falls er den OP lebend verließ, lägen sie bei fünfundfünfzig Prozent. Nicht überragend viel, aber genug, um zu kämpfen.

Sobald die Herz-Lungen-Maschine die Pumpleistung des Herzens übernahm, flickte Caitlin die rechte Herzkammer und Javier die linke.

Schließlich war auch der kleine Riss in der Aorta geschlossen, und als sie die letzten Stiche setzten, spürte Javier schmerzhaft seine beanspruchten Muskeln und den Rücken. Er hatte Caitlin nicht erzählt, dass er bereits zwölf Stunden gearbeitet hatte, bevor er seine Schwester nach Barcelona flog. Inzwischen war er seit fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Egal, wie wach seine Sinne in Caitlins Nähe waren, er brauchte allmählich etwas Schlaf.

Roberto wurde in den Aufwachraum gerollt, und Caitlin nahm ihre mit Herzchen bedruckte OP-Haube ab. Rasch entledigte sie sich des Kittels, zog Handschuhe aus und Maske ab, bevor sie sich gründlich die Hände wusch. Erst draußen im Flur schüttelte sie ihre langen Haare.

„Ich sollte sie wirklich abschneiden“, sagte sie.

„Untersteh dich.“ Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

Überrascht blickte sie ihn an. „Warum nicht?“ Es klang herausfordernd. Caitlin hatte es noch nie leiden können, wenn jemand ihr sagte, was sie tun sollte.

„Du hast wundervolles Haar. Ich habe es immer geliebt.“

Sie wandte sich ihm zu. „Und wenn ich es verlieren würde?“

Ihm lief es kalt über den Rücken. Wollte sie ihm zu verstehen geben, dass sie krank war? Bei dem Gedanken bekam er Magendrücken.

Caitlin sah ihm in die Augen. Javier richtete sich auf. „Das täte mir sehr leid. Aber wenn du es verlierst, verlierst du es. Du wärst immer noch Caitlin.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe nur gesagt, dass ich dein Haar mag.“

Die Hand auf der Hüfte, streckte er den Rücken. „Wollen wir uns einen Kaffee holen? Ich muss dringend schlafen, aber lass uns vorher etwas essen.“

Sie blickte ihn an, auf eine merkwürdige Art, die er nicht deuten konnte. Doch dann nickte sie. „Warte, ich ziehe mich schnell um und hole mir eine Jacke.“

Damit verschwand sie im Umkleidebereich und kehrte bald darauf in frischer OP-Kleidung zurück. Darüber trug sie einen leichten Cardigan. „Komm, ich weiß, wo wir hingehen.“

Durch den Hauptausgang verließen sie das Krankenhaus. Das milde Licht der aufgehenden Sonne lag über Barcelona und tauchte die Metropole in warmes Gelb, Orange und Rot. Die dunkle Silhouette der Sagrada Família hob sich deutlich davon ab, ein herrlicher Anblick.

Caitlin seufzte. Obwohl ihr alle Knochen und jeder Muskel wehtaten, konnte sie die Schönheit der Stadt genießen, die ihr zur zweiten Heimat geworden war. „Ich liebe diese Stadt.“

„Letztes Jahr wurde in London eine Stelle frei. Hast du nicht überlegt, dich zu bewerben?“

„Natürlich.“ Sie warf ihm einen wissenden Blick zu. Wahrscheinlich vermutete sie, dass er es auch in Betracht gezogen hatte. „Aber ich liebe Barcelona. Ich habe mich sofort willkommen gefühlt, und die Ausstattung im St. Aelina’s ist topmodern. Und mein Team ist großartig. Warum sollte ich nach London ziehen, wo ich ein viel kleineres Rädchen im praktisch gleichen Getriebe wäre?“

Er nickte. Zu genau dem gleichen Ergebnis war er auch gekommen, als er sich fragte, ob er nach London wechseln sollte.

Sie zeigte auf ein kleines Café auf der anderen Straßenseite. „La...

Autor

Scarlet Wilson

Scarlet Wilson hat sich mit dem Schreiben einen Kindheitstraum erfüllt, ihre erste Geschichte schrieb sie, als sie acht Jahre alt war. Ihre Familie erinnert sich noch immer gerne an diese erste Erzählung, die sich um die Hauptfigur Shirley, ein magisches Portemonnaie und eine Mäusearmee drehte – der Name jeder Maus...

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Rachel Dove
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Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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