Julia Ärzte zum Verlieben Band 63

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DIE LIEBE HEILT ALLES von MARINELLI, CAROL
Mit Liebe lässt sich alles heilen, glaubt die Sozialarbeiterin Nina. Nur Jack Carter, der attraktive Dr. Perfect des Angel Mendez Children’s Hospital, hält das für Gefühlsduselei! Bis ein kleiner Junge rätselhaft erkrankt - und Nina und Jack gemeinsam um sein Leben kämpfen …

MIT EINEM TANZ FING ES AN von LYNN, JANICE
Dr. Tyler Donaldson traut seinen Augen kaum! Ist die Schöne, die in dem sexy Kleid über den Flur stöckelt, wirklich die sonst so scheue Kinderärztin Eleanor Aston? Tyler kann es kaum erwarten, sie auf der Eröffnungsgala für die Frühchenstation zum Tanzen aufzufordern …

KLEINE SCHRITTE INS GROßE GLÜCK von IDING, LAURA
Er hat den Ball gefangen! Joshs Kinderaugen strahlen - und Physiotherapeutin Molly wächst ihr kleiner Patient sofort ans Herz. Auch sein charmanter Vater lässt sie nicht kalt, ganz im Gegenteil. Doch sie muss die Schmetterlinge im Bauch ignorieren - denn Chirurg Dan Morris ist ihr Chef im Angel’s


  • Erscheinungstag 31.01.2014
  • Bandnummer 63
  • ISBN / Artikelnummer 9783733702670
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carol Marinelli, Janice Lynn, Laura Iding

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 63

CAROL MARINELLI

Die Liebe heilt alles

Nach vielen hitzigen Meetings mit seiner Kollegin Nina Wilson ist Dr. Jack Carter überzeugt: Die junge Sozialarbeiterin ist zu naiv. Sie glaubt ernsthaft, mit Liebe die Welt verbessern zu können! Der erfahrene Kinderarzt kann darüber nur den Kopf schütteln. Da kommt es zu einem Rettungseinsatz, und plötzlich ist Jack auf Ninas Unterstützung angewiesen …

JANICE LYNN

Mit einem Tanz fing es an

Widerstrebend erklärt sich Eleanor bereit, die neue Frühchenstation des Angel’s, New Yorks bestem Kinderkrankenhaus, feierlich zu eröffnen. Glamour-Galas sind nämlich eigentlich nichts für sie. Doch dann ändert sie ihre Meinung, denn genau dort trifft sie den sexy Kollegen Dr. Tyler Donaldson, ihren heimlichen Schwarm …

LAURA IDING

Kleine Schritte ins große Glück

Dr. Dan Morris bittet die Physiotherapeutin Molly, sich um seinen kleinen Sohn zu kümmern: Josh kann seit einem Unfall nicht mehr laufen, und in der Klinik gilt Molly als die Beste ihres Fachs. Doch je näher Dan sie kennenlernt, desto mehr wächst zwischen Molly und ihm ein Gefühl, das ihm Angst macht. Denn es ist mehr als beruflicher Respekt, viel mehr …

1. KAPITEL

„Nina Wilson ist die zuständige Sozialarbeiterin für Baby Sienna.“

Aha. Jack verdrehte kaum merklich die stahlgrauen Augen, während er die Neuigkeit verdaute. Nina Wilson war ein harter Brocken, das wusste Jack aus Erfahrung.

„Der Sozialdienst scheint fest entschlossen, Sienna wieder in die Obhut ihrer Eltern zu geben.“ Dr. Eleanor Aston seufzte frustriert. „Seit vierzehn Tagen überwache ich jetzt Siennas Drogenentzug. Zwei Kinder wurden der Mutter bereits weggenommen. Zufällig habe ich mich auch letztes Jahr schon um ihren gerade neugeborenen Sohn gekümmert.“

Eleanors Ton spiegelte wider, wie nahe ihr dieses Thema ging – ein Umstand, den Jack geflissentlich ignorierte. Mit Fakten konnte er viel besser umgehen als mit Gefühlen. „Ich sehe es einfach nicht ein. Warum ihr eine dritte Chance geben, wenn sie bei ihren ersten beiden Kindern schon versagt hat?“

„Mit diesem Argument darfst du Nina Wilson nicht kommen“, gab Jack nüchtern zurück. Rasch überflog er die Einträge in der Akte – einige davon von ihm höchstpersönlich. Leicht irritiert stellte er fest, dass er sich kein Bild von Baby Sienna machen konnte, obwohl er sie sich erst vor knapp einer Woche angeschaut hatte. Fünf Tage alt, unruhig, verstört … So lautete seine Aktennotiz.

Okay, im Angel Mendez Children’s Hospital, einem der wenigen kostenfreien Kliniken in New York City, herrschte für gewöhnlich Hochbetrieb, da konnte man schon mal ein Gesicht vergessen. Als Chefarzt der Pädiatrie war Jack voll ausgelastet, darüber hinaus musste er sich ständig mit dem Verwaltungsrat herumschlagen und intensive Netzwerkarbeit leisten, um den Zufluss an dringend benötigten Spendengeldern sicherzustellen.

Wobei es durchaus von Vorteil war, einer berühmten New Yorker Park-Avenue-Ärztedynastie zu entstammen. Seine Beziehungen waren buchstäblich Gold wert. Allein sein Name öffnete so manches Portemonnaie, weshalb ihm die unbeliebte Aufgabe zufiel, auf Spendengalas ein nettes Gesicht zu machen.

Aber zurück zu Baby Sienna … Es galt, die Weichen für die Zukunft des kleinen Mädchens zu stellen.

Wieder vertiefte Jack sich in die Akte, studierte Ninas akribische Notizen. Die bemerkenswert sachlich waren – und ganz im Gegensatz zu ihrer äußerst temperamentvollen Art standen, sich für ihre Klienten zu engagieren. Nina war jung, immer auf Kriegsfuß mit der Bürokratie und wollte die Welt zu einem besseren Ort machen. Jack dagegen mit seinen vierunddreißig Jahren betrachtete alles etwas nüchterner und realistischer.

„Nina ergreift grundsätzlich für die Eltern Partei“, erklärte Eleanor jetzt frustriert.

„Nicht immer. Aber ich weiß schon, was du meinst.“

Nina glaubte an die Institution Familie. Natürlich stieß auch sie manchmal an die Grenzen des Machbaren und war dann zum Glück klug genug, das einzusehen. Trotzdem … ihm stand ein langes, anstrengendes Meeting bevor, das ahnte Jack.

Eine Diskussion mit Nina glich einem extrem langen Tennismatch … jeder Ball wurde mit Power zurückgespielt. Kein Wunder, dass Eleanor ihn gebeten hatte, an der Fallbesprechung teilzunehmen – wie immer würde Nina über jedes noch so winzige familiäre Detail informiert sein und versuchen, ihren Standpunkt mit allen Mitteln zu verteidigen.

„Also, auf in den Kampf.“ Jack schlüpfte in sein Jackett. Ein prüfender Blick in den Spiegel erübrigte sich. Wohlhabend und mit fantastischen Genen ausgestattet, machte er in jeder Situation eine gute Figur. Alle vierzehn Tage stand ein Besuch bei seinem Friseur auf dem Programm, um seine Designer-Garderobe kümmerte sich seine Haushälterin.

Jacks einzige Aufgabe bestand darin, morgens aufzustehen, der jeweiligen Sexpartnerin in seinem Bett einen Abschiedskuss zu geben, sich fertigzumachen – um wenig später wie aus dem Ei gepellt das Haus zu verlassen und die nächsten Frauenherzen zu brechen.

Auf dem Weg zum Meeting musste er flüchtig an Monicas Tränen heute Morgen denken. Warum mussten Frauen immer alles zerreden? Musste es denn für alles einen Grund geben?

Ewig die gleiche Litanei: Was habe ich falsch gemacht? Ich kann mich doch ändern! Oder: Was ist passiert, warum magst du mich nicht mehr?

Nichts war passiert. Er war einfach nur nicht der Typ für eine feste Beziehung.

Jetzt stand ihm die nächste Konfrontation mit weiblicher Emotionalität bevor. Als Jack den Konferenzraum betrat, war Nina bereits da, knöpfte ihren Mantel auf und wickelte sich aus ihrem langen, flauschigen Wollschal. Bei Jacks Anblick kniff sie leicht die Lippen zusammen. Es passte ihr sicher nicht, dass Eleanor mit Verstärkung angerückt war.

„Guten Morgen, Nina“, begrüßte Jack sie mit einem strahlenden Lächeln, um sie zu ärgern.

„Morgen, Jack“, erwiderte sie zuckersüß, bevor sie ihm den Rücken zudrehte, um den Mantel auszuziehen.

Verdammt.

Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie kriegten sich regelmäßig in die Haare. Mit seiner coolen, betont gleichmütigen Art ging er ihr fürchterlich auf die Nerven.

Erst kürzlich waren sie über das Schicksal von Baby Thanner zusammengestoßen. Wobei sich im Nachhinein herausstellte, dass Jack mit seiner Einschätzung recht behalten hatte. Eine Fehlentscheidung von Nina, die dem Baby fast das Leben gekostet hätte. Jack hatte ihr keine Vorwürfe gemacht, aber der Blick aus seinen stahlgrauen Augen hatte Bände gesprochen. Ich habe es Ihnen doch gleich gesagt.

Das war nicht der einzige Grund, weshalb Nina sich verunsichert fühlte.

Auch sein umwerfendes Aussehen brachte sie regelmäßig aus dem Gleichgewicht. Jacks Playboy-Dasein und seine privilegierte Herkunft waren allgemein bekannt. Die anerzogene Arroganz, die damit einherging, ärgerte Nina.

Und nicht nur das.

Wirklich zu schaffen machte ihr die Tatsache, dass er sie nicht kalt ließ. Er war arrogant, chauvinistisch, herablassend – alles Eigenschaften, die Nina nicht ausstehen konnte. Logisch betrachtet, müsste sie ihn eigentlich verabscheuen. Doch ihr verräterischer Körper ließ sie im Stich, reagierte auf ihn. Und zwar heftig.

Nina spürte Jacks Blick, war sich seiner Gegenwart nur zu bewusst, als sie zum Tisch ging, um das Meeting zu eröffnen. Fast freute sie sich schon auf die bissigen Spitzen, die er bestimmt gleich abschießen würde.

Er enttäuschte sie nicht. „Wie erfreulich, noch jemanden hier am Tisch zu sehen, der was Anständiges anhat.“ Alle anderen außer Nina und Jack waren in ihrer Krankenhauskluft zum Meeting erschienen. Und alle anderen lachten über seine launige Bemerkung.

Alle außer Nina.

Ihm wurde bewusst, dass er sie noch nie richtig hatte lachen sehen. Sie war immer ernst … und überpünktlich. Nur heute nicht. Hatte sie womöglich verschlafen?

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: „Tut mir leid, dass ich zu spät bin, aber es kam noch ein Notfall dazwischen.“

Plötzlich fragte er sich, ob es wohl einen Mr Wilson gab, der sich darüber ärgerte, dass seine Frau in aller Herrgottsfrühe vom Notfallteam aus dem Ehebett gescheucht wurde.

Die Vorstellung, sie könnte verheiratet sein, behagte Jack irgendwie nicht. Seltsam eigentlich. Ihm wurde bewusst, dass Nina nie versucht hatte, mit ihm zu flirten. Nie hatte sie es darauf angelegt, ihn mit ihren unglaublich blauen Augen zu verzaubern. Das mochte sich vielleicht arrogant anhören, aber Flirten gehörte nun mal zum Metier, wenn man Jack Carter hieß.

Ausgenommen mit Nina.

„Also, können wir anfangen?“ Sie warf einen raschen Blick in die Runde, wobei sie sich nicht die Mühe machte, zu lächeln. Wahrscheinlich war hier sowieso jeder gegen sie.

Nina fühlte sich absolut nicht wohl in ihrer Haut. Zum einen deshalb, weil sie sich nicht vernünftig hatte vorbereiten können. Ihr Wochenende hatte sie mit ehrenamtlicher Arbeit verbracht, außerdem war sie in ihre neue Dreizimmerwohnung umgezogen.

Um sich noch einmal in die Akten zu vertiefen, hatte sie heute Morgen ganz früh ins Büro kommen wollen. Doch da hatte dann der Notfall dazwischengefunkt. Jetzt fühlte sie sich schrecklich unvorbereitet.

Was ihr sonst nie passierte.

Eins wusste sie: Die Mehrzahl der hier Anwesenden war dagegen, Sienna in die Obhut ihrer Eltern zu entlassen.

Brad Davis, Chefarzt der Perinatalstation, war der Erste, der das Wort ergriff. In nüchternen Worten sagte er: „Wir haben Hannah, die Mutter, in der vierunddreißigsten Schwangerschaftswoche gesehen. Andy, der Vater des Mädchens, hatte sie dazu überredet, sich im Angel’s untersuchen zu lassen, aus Sorge um Hannahs Drogenkonsum und die Auswirkungen auf das ungeborene Baby. Hannah dagegen sorgte sich einzig und allein darum, weiter an Stoff zu gelangen.“

„Damals“, betonte Nina. „Sie ist doch in das Methadonprogramm eingestiegen, oder?“ Brad nickte, und so ging das Frage- und Antwortspiel weiter. Die Hebamme, Krankenschwestern und die Drogenberaterin, die ihre Klienten regelmäßig im Krankenhaus aufsuchte, kamen zu Wort.

Auf besonders großen Widerstand stieß Nina bei Dr. Eleanor Aston. Sie bestand mit Nachdruck darauf, Sienna nicht ihrer Mutter anzuvertrauen.

„Letztes Jahr habe ich ihren Sohn betreut.“ Eleanors Stimme bebte. „Und ich erinnere mich noch gut …“

„Siennas Halbbruder ist heute Morgen nicht unser Thema“, unterbrach Nina sie scharf. Wobei sie natürlich selbst wusste, wie schwer es war, die beiden Fälle nicht miteinander in Zusammenhang zu bringen. Zu der Zeit, als Siennas Halbbruder geboren wurde, war Hannah ganz unten gewesen, und Eleanor hatte sie von ihrer schlimmsten Seite kennengelernt: eine kalte, gefühllose Mutter, die nur an ihren nächsten Schuss dachte.

„Seit damals hat Hannah ernsthaft an sich gearbeitet und ist heute in sehr viel besserer Verfassung“, erklärte Nina. „Andy, der Vater des Babys, scheint sich sehr zu engagieren und hat Hannah dazu gebracht, überhaupt erst ins Methadonprogramm einzusteigen. Ich denke, sie ist wirklich auf einem guten Weg.“

„Ach ja, ist sie das?“ Es war das erste Mal in der halben Stunde nach Beginn des Meetings, dass Jack sich zu Wort meldete. Über den Tisch hinweg sah er Nina eindringlich an. „Seit wann genau, sagten Sie, bemüht sie sich, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen?“

„Seit sie sich hier in der Klinik vorgestellt hat“, erwiderte Nina gelassen.

„Sie hatte neun Monate Zeit, von den Drogen loszukommen“, erklärte Jack unnachgiebig. „Alles in allem hat sie also gerade mal zwei Wochen vorgeburtliche Betreuung in Anspruch genommen, gedrängt von ihrem Freund, sowie zwei Wochen postnatale Betreuung. Und das unter Inanspruchnahme sämtlicher staatlicher Möglichkeiten.“

„Soll heißen?“ Nina funkelte ihn gereizt an, aber Jack antwortete nicht. „Warum sollten wir ausgerechnet dieser Familie nicht sämtliche Ressourcen zur Verfügung stellen?“ Seine Miene verhärtete sich, doch sie fuhr ungerührt fort:

„Zweimal täglich nimmt Hannah die Angebote der Suchtberatungsstelle wahr. Zum ersten Mal in ihrem Leben zeigt sie echtes Interesse an der Unterstützung, die wir ihr bieten können. Sie hat mir wiederholt versichert, dass sie bereit ist, alles zu tun, damit man ihr Sienna nicht auch noch wegnimmt. Und vergessen wir nicht den Vater des Kindes, für den das Wohl des Babys ganz offensichtlich an erster Stelle steht. Ich weiß, es ist noch zu früh …“

„Meine Ärzte mussten sich bis jetzt jede Nacht ausgiebig um das Kind kümmern“, fiel Jack ihr ins Wort. „Ich übrigens auch einmal, als Sienna besonders unruhig war.“ Sein Blick bohrte sich in ihren. „Das Baby leidet unter heftigsten Entzugserscheinungen, kam mit einem viel zu niedrigen Geburtsgewicht zur Welt, genau wie sein älterer Bruder. Meiner Meinung nach ist Hannah die Letzte, die …“

„Sienna, das Baby heißt Sienna“, unterbrach ihn Nina nun nicht weniger scharf. „Ich denke, dieser Fall ist anders gelagert. Das bestätigen auch die Krankenberichte.“

Jack holte tief Luft, während Nina weiterredete. Ihr Gutmenschentum, dieses ganze Geschwafel der Sozialarbeiter über ihren ganzheitlichen Ansatz nervten ihn. Gereizt spielte er mit seinem Kugelschreiber, während sie sich lang und breit darüber ausließ, wie verheerend die Auswirkungen einer Trennung für Mutter und Kind wären. Besonders, da sich eine innige Mutter-Kind-Bindung entwickelt hätte.

Er wollte einwenden, dass sich die nicht in knapp zwei Wochen herstellen ließ, doch er verkniff sich die Bemerkung, wohl wissend, dass nicht nur Nina, sondern auch alle anderen Anwesenden im Raum dann über ihn herfallen würden.

Das Argument Mutter-Kind-Bindung zog bei ihm nicht.

Sofort musste Jack an seine eigene Mutter denken, die ganz gewiss keine solche Bindung entwickelt hatte. Jack war von zwei Nannys großgezogen worden und hatte seine Mutter nur beim Dinner oder irgendwelchen gesellschaftlichen Events zu Gesicht bekommen.

Rasch verscheuchte er diesen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf Ninas Ausführungen. Die Sozialabteilung hatte beschlossen, der Familie eine Chance zu geben, natürlich mit der nötigen behördlichen Unterstützung. Sienna würde bei ihrer Mutter bleiben.

„Was mache ich dann eigentlich hier?“, warf Jack herausfordernd ein. „Aus medizinischer Sicht bestehen keine Einwände gegen Siennas baldige Entlassung. Sie hat ausreichend zugenommen, ist stabil und der Entzug mithilfe des Methadons scheint aussichtsreich. Etwas anderes wollen Sie von mir doch gar nicht hören, oder? Sie haben längst beschlossen, dass alles Friede, Freude, Eierkuchen ist.“

„Stopp!“ Ninas Stimme zitterte. „Wagen Sie es ja nicht, mir Leichtsinn zu unterstellen!“

Okay, vielleicht war er ein bisschen zu weit gegangen, aber er hatte nicht vor, sich zu entschuldigen.

„Selbstverständlich wurden all Ihre Einwände zur Kenntnis genommen und diskutiert.“ Ernst blickte Nina in die Runde, wobei ihr Blick sekundenlang auf jedem einzelnen Anwesenden ruhen blieb.

„Meine Aufgabe ist es, jeden Fall unabhängig von früheren Erfahrungswerten zu betrachten. Und in diesem Fall komme ich zu dem Schluss, dass die Mutter große Anstrengungen unternimmt, sich zu bessern. Mit anzusehen, was Sienna durchmachen musste, hat starke Schuldgefühle in ihr geweckt und …“, jetzt sah Nina Eleanor an, „… auch wenn ich einräumen muss, dass sie diese Gefühle nicht für ihre beiden anderen Kinder hat aufbringen können, sind die Umstände diesmal deutlich günstiger.“

Sie räusperte sich. „Diesmal gibt es einen Vater, der bereit ist, sich einzubringen, ein junges Paar, das sein Baby unbedingt behalten will. Und ja, wir haben ein Baby, das einen denkbar schlechten Start ins Leben hatte, genau wie seine Mutter. Natürlich könnte ich Sienna auch in einer Pflegfamilie unterbringen, aber glauben Sie mir, als Pflegekind aufzuwachsen, ist auch nicht gerade ein Zuckerschlecken. Mit der nötigen Unterstützung erscheint es mir sinnvoller, der Familie eine Chance zu geben.“

„Nun, meine Bedenken kennen Sie ja“, brachte Jack zwischen zusammengepressten Lippen hervor.

„Danke, ich habe sie vermerkt.“

Die Versammlung begann sich aufzulösen, und Jack stand auf. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen …“

Draußen sagte Eleanor zu ihm: „Danke, dass du es versucht hast, Jack.“

„Ninas Argumente waren nicht ganz von der Hand zu weisen“, erwiderte Jack. Stimmt, dachte er, diesmal hat sie mich tatsächlich rumgekriegt. „Nicht leicht, das einzugestehen, ich weiß … Aber in diesem Fall sprechen die Fakten für sich, da hat Nina schon recht. Und seien wir mal ehrlich … wissen wir denn, ob Siennas Leben besser verlaufen wird, wenn wir sie jetzt von Pflegefamilie zu Pflegefamilie schicken?“

„Mit ein bisschen Glück landet sie in der perfekten Familie. Sie könnte …“ Eleanor unterbrach sich, als Nina aus dem Konferenzraum kam.

„So was wie eine perfekte Familie gibt es nicht.“ Mit einem knappen Nicken in Ninas Richtung wandte Jack sich zum Gehen.

„Na, wenn du nicht die perfekte Familie hast, dann weiß ich auch nicht“, dachte Eleanor laut. Mit leisem Unbehagen registrierte sie, dass Nina stehen geblieben war, um mit ihr zu reden. „Haben Sie das diesjährige Weihnachtsfoto der Carter-Familie schon gesehen?“

Nina lächelte schmallippig. Klar hatte sie es gesehen. Die Carters in trauter Runde um den Weihnachtsbaum in der Klinik versammelt – die teuren Klunker strahlten mit dem falschen Lächeln der Frauen um die Wette. Doch Nina wollte jetzt nicht an Jack denken, also kam sie gleich auf den Punkt. „Tut mir leid, dass ich Sie nicht überzeugen konnte.“

Eleanors Augen hinter ihren Brillengläsern schimmerten verräterisch. „Ich habe gerade eben mit Jack geredet – er hat ja recht, Ihre Argumente sind nicht von der Hand zu weisen. Es ist nur … ach, ich habe erlebt, wie Hannah mit ihrem Sohn umgegangen ist. So schrecklich distanziert und gefühllos, unwillig, auch nur die geringste Verantwortung zu übernehmen.“

„Typisch für Drogensüchtige“, erwiderte Nina ruhig.

„Ich weiß.“ Eleanor seufzte.

„Keine Sorge, wir werden Hannah sorgfältig überwachen. Diesmal sieht die Sache ein bisschen anders aus, weil es einen Vater gibt, der bereit ist, sich einzubringen. Falls Hannah es wieder nicht packt, dann ist da wenigstens Andy, der bereit sein wird, Sienna allein großzuziehen.“

„Auch nicht gerade ideal, wenn Sie mich fragen.“

„Finde ich nicht.“ Nina lächelte optimistisch. „Der kriegt das prima hin, glauben Sie mir.“

Nachdem sie sich von Eleanor verabschiedet hatte, machte sie sich auf den Weg zu Hannah.

Soso, Jack Carter hatte eingeräumt, dass ihre Argumente nicht von der Hand zu weisen waren.

Recht hatte er, denn ihre Argumente waren stichhaltig.

Auf sein Wohlwollen konnte sie gut verzichten. Alles, was zählte, war seine professionelle Meinung, das durfte sie nie vergessen.

2. KAPITEL

Im Anschluss an das Meeting machte Jack sich gleich auf den Weg zur Entbindungsstation. Er fühlte sich ruhelos und unzufrieden, ohne zu wissen, warum. Ja, er konnte es kaum erwarten, sich in sein Büro zurückzuziehen, doch das Piepen seines Pagers vereitelte diesen Plan.

Schlecht gelaunt marschierte Jack ins Schwesternzimmer, wo das nächste Telefon stand. Während er wartete, blickte er auf die Entlassungspapiere, die eine der Schwestern gerade fertigmachte.

Sienna Andrews. Dahinter ein Kürzel, das für „neonataler Drogenentzug“ stand. Nachdem Jack sein Telefonat beendet hatte, setzte er seinen Weg durch die Station fort. Vor Siennas Zimmer blieb er stehen und spähte durch die Glasscheibe. Hannah war nirgends zu sehen, eine Schwester kümmerte sich um das Baby.

Wie immer erfüllte es Jack mit Unbehagen, auf Station zu sein, konfrontiert mit all dem Elend und den Schicksalen, die sich unter dem Dach eines Krankenhauses wie dem Angel’s versammelten. Seine Arbeit als Chefarzt der Pädiatrie stellte sich oft genug als äußerst belastend heraus, auch ohne dass er sich mit jedem einzelnen Fall intensiv auseinandersetzte.

Für den Erfolg seiner Arbeit war es wichtig, einen gewissen Abstand zu wahren. Was ihm nicht schwerfiel.

Die Kunst des Abstandhaltens hatte Jack schon lange vor seinem Medizinstudium perfektioniert. Abhärtung – körperlich und seelisch – war das oberste Erziehungsziel seiner Eltern gewesen. Also hatte er seine Gefühle abgehärtet, stets darauf bedacht, anderen gegenüber nie preiszugeben, was er wirklich empfand.

Nein, die perfekte Familie gab es nicht.

Natürlich hatte er dieses Thema nie mit einer seiner vielen Freundinnen besprochen. So nah ließ er keine Frau an sich heran. Er hatte gelernt, das Carter-Image aufrechtzuerhalten. Damit war er im Leben immer gut gefahren.

„Suchst du etwas, Jack?“, unterbrach Schwester Cindy seine Gedanken.

„Nein. Ich schau einfach nur mal nach dem Rechten. Wie macht sich Baby Sienna?“

„Erstaunlich gut. Manchmal ist sie noch ein bisschen unruhig, insgesamt wirkt sie aber ziemlich ausgeglichen. Sie nimmt brav zu, und ihre Mum hat sie heute Morgen gebadet. Wie ist das Meeting gelaufen?“

„Na, wie schon?“ Jack zuckte die Achseln. „Entlassung nach Hause, entwicklungspsychologische und sozialmedizinische Nachsorge, engmaschige Kontrollen.“ Er sah Cindy fragend an. Sie arbeitete schon seit einer halben Ewigkeit im Angel’s, und vor ein paar Jahren hatte Jack eine kurze, leidenschaftliche Affäre mit ihr. Was ihr Arbeitsverhältnis nicht getrübt hatte. Jetzt war Cindy glücklich verheiratet und erwartete ihr erstes Kind. Jack schätzte ihre Meinung sehr. „Wie denkst du darüber?“

„Tja, du hast meinen Bericht gelesen. Die Mutter strengt sich wirklich an …“

„Aber was denkst du?“

„Diesmal ist es keine Eintagsfliege. Ich glaube, sie kriegt endlich die Kurve.“

Cindy entfernte sich, um nach einem schreienden Säugling zu sehen. Jacks Blick fiel wieder auf das kleine Wesen in dem Gitterbettchen hinter der Glasscheibe. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob dies nicht der völlig falsche Job für ihn war.

Er machte seine Arbeit gut, perfekt sogar, wenn man der Krankenhausleitung glauben wollte. Stemmte mühelos eine Sechzigstundenwoche, dazu noch ein ausgedehntes Gesellschaftsleben. So manch einer hätte da längst schlappgemacht.

Jack aber nicht.

Er leistete ausgezeichnete Arbeit.

Eine Arbeit, die er nicht ausstehen konnte.

Wie es sich wohl anfühlte, für seine Arbeit zu brennen, so wie Nina?

Er dachte an das leichte Beben in ihrer Stimme, wenn sie eine ihre flammenden Reden hielt, ihr Engagement für die Familien, die Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen, sich voll und ganz für einen Fall einzusetzen. Manchmal wünschte er, er besäße auch nur ein Zehntel ihrer Leidenschaft.

Nachdenklich betrachtete er die kleine Sienna. Hoffte, dass man hier alles Menschenmögliche für sie getan hatte. Sie hatte die besten Ärzte, Schwestern, Sozialarbeiter – aber war das genug?

Hinter ihm betrat Nina den Raum, und Jack drehte sich um.

„Wie geht es ihr?“, fragte sie ihn. Hatte man Jack gerufen, weil es ein Problem gab?

„Gut.“

„Ist Hannah hier?“

„Nein. Wahrscheinlich ist sie bei einer Therapiesitzung.“

„Ach so.“ Zögernd trat sie ein bisschen dichter an das Kinderbett heran, warf ein unsicheres Lächeln in Jacks Richtung. Er schien in ungewohnt grüblerischer Stimmung. So kannte sie ihn gar nicht.

„Ich habe Eleanor gerade erklärt, dass wir die Kleine engmaschig …“, begann sie.

„Danke, ich lese mir Ihren Bericht durch“, fiel er ihr ins Wort.

„Aber natürlich tun Sie das.“ In ihrem Ton schwang ein Anflug von Ironie mit, den sie sofort bereute. Jack hatte das nicht verdient, er machte wirklich einen tollen Job.

„All die Ressourcen, die Sie für Sienna und ihre Familie heranziehen …“ Seine Stimme klang stahlhart. „Was glauben Sie, wo das alles herkommt?“

Achselzuckend gestand sie sich ein, dass sie wohl ein bisschen zu weit gegangen war. Sie hatte ihn ärgern wollen, als Revanche für seine Worte beim Meeting. Offensichtlich war ihr das gelungen.

Mit einem knappen Nicken ließ Jack Nina stehen und fuhr mit dem Fahrstuhl in die untere Etage, wo sich die Notaufnahme befand. Dort war er mit einer prominenten Sponsorin des Krankenhauses verabredet.

Wie satt er das hatte!

Er hasste es, sich einzuschmeicheln, nur um einen möglichst dicken Scheck zu kassieren.

Vielleicht war es wirklich höchste Zeit für eine Veränderung. Dank seiner privilegierten Herkunft und ein paar kluger Investitionen könnte er es sich locker leisten, die Arbeit hinzuschmeißen und nie wieder einen Finger zu rühren.

Aber was dann?

Sollte er in die Fußstapfen seines Vaters treten? Eine Privatpraxis in der Park Avenue gründen, um ein paar handverlesene Patienten zusammenzuflicken?

Eine Praxis, die keine allzu großen Herausforderungen parat hielt.

Arbeitsbeginn morgens um neun. Ein paar Patienten durchschleusen. Dankbare Worte und einen dicken Scheck kassieren. Um sechs Uhr abends nach Hause fahren.

Nach Hause?

„Hey, Kumpel.“

Beim Klang der wohlbekannten Stimme blickte er auf, und die düsteren Gedanken verflogen.

„Alex!“ Herzlich schüttelte Jack seinem Kollegen die Hand. „Schön, dich zu sehen. Dein erster Tag?“

„Genau.“

„Und?“

„Es läuft ganz gut“, erwiderte Alex.

Die beiden hatten sich während des Medizinstudiums kennen- und schätzen gelernt. Beide waren sie extrem ehrgeizig gewesen, fest entschlossen, jede Herausforderung perfekt zu meistern. Mit seiner Spezialisierung auf Kinderheilkunde hatte Jack gewissermaßen die Abkürzung genommen, während Alex Rodriguez erst kürzlich sein Studium der Neurochirurgie abgeschlossen hatte und jetzt seine erste Stelle antrat.

Die er nicht zuletzt Jacks Einfluss zu verdanken hatte. Alex’ Qualifikation war nicht das Thema, vielmehr ein dunkler Punkt in seinem Lebenslauf, über den der Verwaltungsrat großzügig hinweggesehen hatte.

„Ich habe dir noch gar nicht für deine Unterstützung gedankt“, sagte Alex jetzt.

„Die hattest du doch gar nicht nötig“, erwiderte Jack leichthin. „Du hast sie beim Vorstellungsgespräch sofort alle in die Tasche gesteckt.“

„Danke.“ Alex zögerte einen Moment. „Ich war so erleichtert, dass das Thema nicht auf …“ Er verstummte.

Überflüssig, weiter ins Detail zu gehen, Jack wusste ja Bescheid über den Fall damals in Los Angeles, der Alex nicht nur beruflich fast zerstört hätte. Gleichzeitig wusste Jack auch, dass es keinen Besseren für die freie Stelle im Angel’s gab.

„Das ist doch alles längst Schnee von gestern.“

„Yep.“ Bevor er sich von Jack verabschiedete, fragte Alex noch: „Alles okay mit dir?“

„Ja, wieso?“

„Ich sehe Gewitter im Anzug.“ Alex lächelte spöttisch. „Hab ich gleich gemerkt – das ist nicht der Jack, den ich kenne.“

„Na ja, du warst während der letzten fünf Jahre schließlich in Australien. Vielleicht ist der gute alte Jack einfach nur ein bisschen älter geworden.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Spaß beiseite. Ich habe gerade eine nervige Sitzung mit einer nervigen Sozialarbeiterin hinter mir.“ Jack verdrehte die Augen. „Du kennst den Typ.“

„Unerträgliches Gutmenschentum und ganzheitliche Herangehensweise?“ Mit verstellter Stimme plusterte Alex sich auf. „Mit der nötigen Betreuung und engmaschiger Kontrolle … Blabla …“ Jetzt musste Jack lachen. „Glaub mir, diesen Typ triffst du überall auf der Welt. Aber sei mal ehrlich, ohne die wäre unsere Arbeit doch langweilig, oder?“

„Stimmt“, räumte Jack ein. „Sorry, ich muss los, eine großzügige Sponsorin bezirzen. Eine kleine private Führung durch unsere Notaufnahme.“ Sarkastisch fügte er hinzu: „Du verstehst, das kann nicht warten.“

Womöglich war es gar nicht die Sozialabteilung, die ihm so auf die Nerven ging. Womöglich war es der Job an sich. Oder aber eine ganz bestimmte Sozialarbeiterin, schoss es ihm durch den Kopf, als er besagte Nervensäge – rote Strümpfe, lange schwarze Stiefel – schnellen Schrittes den Gang entlangeilen sah. Ihr Pager piepte, im Gefolge hatte sie einen Mann von der Security.

„Probleme?“, erkundigte sich Jack, als sie an ihm vorbeisauste.

Eine Frage, mit der er nur einen irritierten Blick erntete. In Ninas Welt fügte sich normalerweise alles zum Guten.

Auch für Tommy und seinen Vater Mike hatte sie so sehr gehofft, dass die Dinge sich endlich positiv entwickeln würden.

„Halten Sie sich bitte zurück“, wies sie die Security-Leute vor dem Lift an. „Mike neigt zu Wutausbrüchen, aber das ist alles nur heiße Luft. Ich gebe Ihnen ein Zeichen, falls Sie einschreiten müssen.“

An diesem Montagmorgen war in der Notaufnahme die Hölle los. Zu gerne hätte Jack sich sofort in die Arbeit gestürzt. Stattdessen musste er Elspeth Hillier herumführen und ihr erklären, wofür die großzügige Spende im Andenken an den seligen Mr Edgar Hillier bestimmt war.

„Wir hoffen, eine betreute Spielecke einrichten zu können“, begann er, als der Anblick rotbestrumpfter Beine ihn einmal mehr an diesem Tag aus dem Konzept brachte. Nina hastete an der Seite eines aufgebrachten Mannes mit einem blassen Kind in den Armen den Korridor entlang, Alex Rodriguez im Schlepptau. Flankiert wurde die kleine Gruppe von zwei Security-Leuten.

Jack versuchte sich wieder auf seinen Gast zu konzentrieren, als die Situation zu eskalieren drohte.

„Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, Elspeth …“

Alarmiert beobachtete er das Geschehen vor dem Fahrstuhl. Der Mann mit dem Kind im Arm tobte, während die Sicherheitsleute drohende Mienen aufsetzten und Alex kurz davor schien, die Cops zu rufen. Einzig und allein Nina behauptete resolut und völlig ruhig ihre Stellung, redete auf den wütenden Mann ein. Ihre Worte zeigten Wirkung, denn jetzt übergab der Mann den Jungen einer Krankenschwester.

Jack wollte sich schon wieder seinem Gast zuwenden, als die Situation ausuferte.

„Verdammt, wofür halten Sie sich?“, brüllte der Mann Nina an und drängte sie drohend gegen die Wand, völlig unbeeindruckt von den Security-Männern.

„Danke, ich komme allein klar“, versuchte sie, immer noch gelassen, die Wachmänner zurückzuhalten, die Anstalten machten, den wütenden Mann zu packen.

Nein, sie kam nicht klar, daran zweifelte Jack keine Sekunde. Wie sollte sie auch gegen diese geballte männliche Wut? Er hätte ihr vertraut, schrie Mike sie an, und sie sollte ihn eigentlich besser kennen. Wie sie nur auf die Idee käme, dass er seinem Sohn etwas antun würde?

„Beruhigen Sie sich, Mike“, sagte Nina gelassen, während der Mann weitertobte. „Niemand macht Ihnen Vorwürfe. Aber Tommy sieht krank aus, und es wäre besser, ein Arzt schaut ihn sich mal an. Die Wunde, die er da am Arm hat, wirkt entzündet.“

„Sie, Sie …“

Bevor der Mann seine nächste Beleidigung loslassen konnte, schritt Jack ein. „Jack Carter, Chefarzt der Pädiatrie. Würden Sie mir bitte sagen, was hier vorgeht?“

„Ich hab das im Griff, vielen Dank, Jack.“

Ihre Stimme vibrierte vor Ärger, und er schüttelte ungläubig den Kopf, als ihm bewusst wurde, wem ihre Verärgerung galt. Ihm! Egal.

Er ignorierte Nina und richtete den stahlharten Blick auf den Mann. „Sir?“ Sein Ton klang drohend.

Und verfehlte seine Wirkung nicht.

Immer noch aufgebracht, aber schon etwas beherrschter, antwortete der Mann: „Tommy hatte heute einen Termin beim Kinderpsychologen, und es schien auch alles okay zu sein. Doch dann meinte jemand, dass die Wunde an seiner Hand untersucht werden muss. Ich wollte ihn aber nach Hause bringen, weil er müde ist. Plötzlich tauchte sie mit der Security auf. Jetzt gehen hier alle auf mich los, weil ein Vierjähriger eine Schnittwunde an der Hand hat. Wie irre ist das denn?“

„Die Wunde scheint entzündet zu sein“, beharrte Nina. „Jemand muss sie sich anschauen, so einfach ist das, Mike.“

„Wie ist das passiert?“, wollte Jack wissen.

„Keine Ahnung“, brauste Mike auf. „Mann, er ist erst vier. Die fallen ständig auf die Nase.“

„Stimmt.“ Jack nickte bedächtig. „Ich werde ihn mir gleich mal selbst ansehen. Von Ihnen erwarte ich, dass Sie sich beruhigen, bevor Sie zu ihm gehen. In Ihrer Verfassung machen Sie Ihrem Sohn Angst.“ Er bedeutete Nina mit einem raschen Nicken, ihm zu folgen.

„Es ist eine ziemlich komplizierte Geschichte …“, setzte Nina an.

„Das glaube ich Ihnen aufs Wort“, unterbrach Jack sie. „Im Moment interessiert mich allerdings nur der Gesundheitszustand des Kindes.“

„Der Vater kann manchmal ziemlich aufbrausend sein, aber bei seinem Sohn reißt er sich immer zusammen.“

Ihre Vorträge waren wirklich das Letzte, was er jetzt hören wollte. Sein einziger Gedanke galt dem Wohlergehen des Kindes – und Ninas Sicherheit. „Ich muss nachher noch mal kurz mit Ihnen sprechen, ja? Es geht um ein paar Sicherheitshinweise. Ich sehe es nämlich gar nicht gerne, wenn das Personal unnötige Risiken eingeht.“

„Ich kenne die Familie und weiß genau, worauf ich mich einlasse.“

„Wie gesagt, reden wir später darüber“, erklärte Jack energisch.

„Wenn ich Ihnen nur kurz ein paar Worte zu Tommy sagen darf …“

„Bitte nicht jetzt. Okay?“

Und schon ließ er sie stehen. Wenigstens hatte er ihr keine Vorwürfe gemacht wie sonst.

Aber im Moment hatte Nina keine Zeit, sich den Kopf über Dr. Perfect zu zerbrechen. Stattdessen wandte sie sich Mike zu, dessen Wut in Verzweiflung umgeschlagen war. Mit vors Gesicht geschlagenen Händen ließ er sich auf einen Stuhl sinken und fing an zu schluchzen.

„Ich wollte ihm doch keine Angst machen.“ Mike war jetzt völlig außer sich.

„Das weiß ich“, sagte Nina. „Was ist los, Mike?“

„Nichts.“

„Wann hat Tommy sich diese Wunde zugezogen?“

„Keine Ahnung, vor ein paar Tagen … ich muss jetzt zu ihm.“

„Später. Bleiben Sie noch ein Weilchen hier sitzen. Sobald sich die Dinge beruhigt haben, komme ich zurück, und wir unterhalten uns in Ruhe.“

„Aber ich sollte bei ihm sein.“

„Sie können jetzt nicht bei ihm sein, weil Sie gerade völlig die Beherrschung verloren haben, Mike! Sie haben es gründlich vermasselt, also seien Sie jetzt endlich vernünftig und hören Sie auf mich. Ich gehe jetzt zu ihm. Tommy kennt mich, es wird ihn beruhigen, wenn ich ein bisschen bei ihm bleibe.“

Sie erkundigte sich bei einer Schwester, wo Tommy war, dann klopfte Nina an die Tür des Untersuchungsraums und trat ein.

„Tolles Timing.“ In Jacks Stimme schwang Besorgnis mit. „Ich war kurz davor, Sie ausrufen zu lassen.“

Ihr Blick fiel auf Tommy, der jetzt in einem Krankenhaushemd steckte. Erschrocken betrachtete sie den blassen, malträtierten jungen Körper. Deswegen hatte Jack sie ausrufen lassen wollen. Sie sah ihn an, und sein Blick sprach Bände.

Genauso hatte er sie angesehen, nachdem die Sache mit Baby Tanner schiefgegangen war.

Diesen Blick kannte sie von Jack Carter nur zu gut.

Ich habe es Ihnen doch gleich gesagt.

3. KAPITEL

„Entschuldige mich bitte eine Minute, Tommy.“ Jack verließ den Raum, machte die Tür aber nicht zu, was Nina so deutete, dass sie ihm folgen sollte. Ein Irrtum, wie sich herausstellte, als sie ihn mit einer älteren, sehr eleganten Dame sprechen sah. Wieder zurück, sagte er: „Ich muss gleich noch mal los, warte nur noch auf eine Vertretung, die hier übernimmt.“

„Kann ich noch kurz etwas mit Ihnen besprechen, Jack?“ Mit einem frustrierten Seufzer nickte er. „Tommy ist ein sehr behütetes Kind. Anfangs hatte er keinen Zugang zu seinem Vater, nur zu mir, aber während der letzten Monate …“

Sie unterbrach sich, als sie bemerkte, wie Jacks graue Augen sich umwölkten. „Wollen Sie nicht hören, was ich zu sagen habe?“

„Im Moment nicht. Lieber würde ich von dem Jungen selbst erfahren, was passiert ist. Da Sie die Familie kennen und Tommy Ihnen vertraut, hätte ich gern, dass Sie dabei sind. Glauben Sie, Sie schaffen das?“

„Natürlich, aber …“

„Für mich zählen nur Fakten, Nina“, unterbrach er sie. „Und ich bilde mir gerne meine eigene Meinung. Also würde ich es begrüßen, wenn Sie mir nicht Ihre Sichtweise überstülpen wollten, okay?“

„Okay.“

Ohne Zweifel, er war arrogant, herablassend, sogar unverschämt. Umso mehr erstaunte es Nina, wie einfühlsam er mit dem Jungen umging. Ohne ihn zu bedrängen, plauderte Jack ganz unverfänglich ein paar Minuten mit ihm, bevor er begann, ein paar beiläufige Fragen zu stellen. Als Erstes über Tommys Eltern.

„Tommys Mum ist tot“, warf Nina leise ein. Hoffentlich kam er sich jetzt wie ein Schuft vor, weil er sie vorher nicht hatte ausreden lassen.

Jack hatte gehofft, dem Jungen ein paar Worte entlocken zu können. Doch der Junge saß nur blass und schweigend da, sein dunkler Lockenschopf zerzaust und ungewaschen.

„Okay, Tommy.“ Jack zog sich ein Paar Untersuchungshandschuhe über. „Jetzt wollen wir uns mal deine Wunde ansehen.“ Zum ersten Mal an diesem Tag gönnte er Nina ein Lächeln, natürlich nur zum Wohl seines kleinen Patienten, wie sie wusste. „Du kennst Nina, oder?“

Tommys Blick huschte in ihre Richtung, und sie lächelte ihm aufmunternd zu. „Wir haben uns schon ein paarmal getroffen, stimmt’s, Tommy?“

Sie kam zu ihm, um sich die Verletzung anzuschauen. Eine tiefe Wunde, entzündet und feuerrot. Selbst sie konnte sehen, dass die Verletzung sofort von einem Arzt hätte behandelt werden müssen. „Das sieht aber böse aus. Was ist passiert?“ Als sie die Verwirrung im Blick des Jungen bemerkte, fügte sie beruhigend hinzu: „Ist schon gut, Tommy. Wir müssen wissen, was passiert ist, um dir helfen zu können.“

„Wo ist Dad?“ Die Frage war an Nina gerichtet. Es waren die ersten Worte, die Jack aus dem Mund des Jungen hörte.

„Dad ist unten, um eine Tasse Kaffee zu trinken.“

Jack erkannte, was sie dem Jungen mit ihren Worten vermitteln wollte: dass sein Vater außer Hörweite war und er frei sprechen konnte. Wieder erkundigte sie sich nach der Schnittwunde.

„Ich weiß nicht.“

Vorsichtig begann Jack, den Jungen zu untersuchen, tastete den kleinen Bauch ab, fuhr mit den Fingern über die Rippen, wobei ihm nicht verborgen blieb, wie Tommy zusammenzuckte. Er hatte gerade sein Stethoskop angesetzt, um die Lunge des Jungen abzuhorchen, als jemand den Untersuchungsraum betrat.

„Sorry, dass ich einfach so hereinplatzte.“ Die junge Frau lächelte. „Ich bin die Assistenzärztin, Lorna Harris.“

„Schon gut, Lorna, ich kümmere mich selbst um den Jungen“, wollte Jack die junge Frau gerade wieder entlassen. Da steckte eine Schwester den Kopf zur Tür herein und verkündete, dass Elspeth langsam ungeduldig wurde.

Gereizt schloss Jack die Augen. Als er sie wieder öffnete, begegnete er den fragenden Blicken der beiden jungen Frauen. Zum ersten Mal an diesem Tag sprach er aus, was er wirklich dachte: „Wissen Sie, was ich am Spendenrummel am meisten hasse?“

Seine Worte waren mehr an sich selbst gerichtet als an irgendjemanden sonst, und er erwartete auch keine Antwort. Umso mehr schien es ihn zu verblüffen, als Nina leise erwiderte: „Den Preis, den Sie dafür zahlen müssen?“

Er quittierte ihre Bemerkung mit einem ironischen Lächeln, registrierte leicht amüsiert, wie ihre Wangen sich röteten, während er ihren Blick festhielt. Schade. Gerade jetzt, wo es interessant zu werden begann, musste er gehen. Die Welt da draußen wartete. Bedauernd wandte er sich Tommy zu und erklärte ihm, dass Lorna sich jetzt um ihn kümmern würde.

„Kommen Sie noch mal wieder?“, fragte Tommy plötzlich.

Normalerweise hatte Jack ein ganzes Repertoire unverbindlicher Antworten auf solche Fragen parat. Aber dieser Junge hatte außer mit Nina nur mit ihm geredet. Er verdiente eine ehrliche Antwort. Und er verdiente es, dass man seinem Fall auf den Grund ging. Zum ersten Mal war Jack bereit, seine Prinzipien über Bord zu werfen und sich auf das Schicksal eines Patienten einzulassen.

„Ich sehe später noch mal nach dir, wahrscheinlich aber erst abends. Da schläfst du bestimmt schon.“ Nachdem er Lorna Tommys Unterlagen in die Hand gedrückt hatte, eilte er wortlos aus dem Raum.

Und ließ eine leicht irritierte Nina zurück. Das flüchtige Einverständnis zwischen ihnen hatte sie verwirrt, wie so vieles an diesem Mann sie verwirrte. Bis jetzt hatte sie Jack Carter immer für ziemlich oberflächlich gehalten. Einen verwöhnten Spross reicher Eltern, der Spaß daran hatte, Doktor zu spielen. Doch heute hatte sie gespürt, wie wichtig er Tommy genommen hatte. Er wäre viel lieber hiergeblieben, als sich draußen mit einer vermutlich anspruchsvollen Wohltäterin abzugeben.

Zum ersten Mal fragte Nina sich, ob er es wirklich immer so leicht hatte. Aber ihr blieb keine Zeit, weiter über den widersprüchlichen Charakter von Dr. Jack Carter nachzugrübeln.

Eine weitere vorsichtige Befragung von Tommy ergab, dass sein Vater heute Morgen ziemlich sauer gewesen war, weil der Junge plötzlich wieder ins Bett gemacht hatte. Mehr war aus Tommy nicht rauszukriegen.

Lorna hatte sich ihre Meinung rasch gebildet. Für sie war klar, dass Mike seinen Sohn misshandelt hatte. In ihrem Urteil sah sie sich bestätigt, als eine Röntgenuntersuchung zwei gebrochene Rippen ergab. Also ordnete sie eine Blutentnahme und einen Ganzkörperscan an, Routine bei Verdacht auf Kindesmisshandlung. Was bedeutete, dass Mike seinen Sohn vorerst nur unter Aufsicht würde besuchen dürfen.

Nina blieb skeptisch – trotz der scheinbar eindeutigen Fakten. Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass Mike für die Verletzungen seines Sohnes verantwortlich war.

Nachdem sie abends noch einmal rasch bei Tommy reingeschaut hatte, suchte sie Jack in seinem Büro auf.

Jack blickte fragend von Tommys Krankenbericht auf seinem Monitor hoch. Ninas heute Morgen noch so sorgfältig hochgestecktes Haar begann sich zu lösen und umrahmte in sanften Locken ihr Gesicht. Sie muss völlig erschöpft sein, dachte er, als er sich daran erinnerte, dass sie schon vor Dienstbeginn zu einem Notfall gerufen worden war.

Wieder einmal fragte er sich, ob es wohl auch einen Mr Wilson gab. Nein, tippte er, sonst wäre sie vorhin nicht so entzückend errötet.

Sofort verscheuchte er diesen irritierenden Gedanken und konzentrierte sich wieder auf den Bericht. Das Letzte, was er brauchen konnte, war eine Affäre mit einer Frau wie Nina Wilson.

Denk nicht mal dran! Jack schmunzelte in sich hinein. Wahrscheinlich war sein eigener Schlafmangel schuld, dass seine Gedanken so seltsame Wege gingen.

Trotzdem musste er Nina wieder ansehen. Sie war zweifellos müde, das ja, wirkte aber gleichzeitig auch ruhig und konzentriert. Wo nahm sie bloß diese Stärke her?

Er begegnete ihrem Blick, und plötzlich war er es, der sich verunsichert fühlte. Als hätte man ihn dabei erwischt, wie er sie lüstern anstarrte. Doch er wich ihrem Blick nicht aus, sah ihr gelassen entgegen, während sie auf ihn zukam.

„Nina.“ Er nickte ihr freundlich zu.

„Kann ich kurz mit Ihnen reden?“

„Klar.“

„Ehrlich gesagt, mache ich mir Sorgen.“ Ihr Lächeln wirkte angespannt. „Nichts Neues eigentlich … ich mache mir ständig Sorgen. Aber heute ganz besonders.“

„Ich höre.“

„Tja, gerade habe ich mich noch mal ziemlich lange mit Mike unterhalten. Ich glaube nicht, dass er für Tommys Verletzungen verantwortlich ist.“ Eindringlich fügte sie hinzu: „Haben Sie meinen Bericht gelesen?“

„Noch nicht ganz, ich habe gerade eben angefangen.“ Auch etwas, was ihn an seiner Arbeit frustrierte. Dass er nie Zeit hatte, sich in Ruhe hinzusetzen und die Berichte zu studieren. „Schießen Sie los, was haben Sie auf dem Herzen?“

Sie atmete erleichtert auf, bevor sie anfing: „Ich arbeite jetzt seit sechs Monaten mit dieser Familie, seit dem Tod der Mutter. Finanziell ging es ihnen nie gut. Unter der Woche war Mike regelmäßig weg, um irgendwo zu arbeiten, und an den Wochenenden verkroch sich die Mutter mit dem Sohn meistens bei ihrer Mutter. Mike hat Tommy also kaum zu Gesicht bekommen. Vor sechs Monaten dann hatten Mike und Kathy Streit, bevor Mike wegfuhr, um zu arbeiten. Abends rief er sie nicht wie sonst an, erst am nächsten Tag. Als Kathy nicht ranging, machte er sich keine großen Sorgen, weil er glaubte, sie sei noch böse auf ihn.“

Nina seufzte. „Er versuchte es noch ein paarmal, und als er sie auch dann nicht erreichen konnte, rief er einen Nachbarn an, um ihn zu bitten, nach dem Rechten zu sehen. Der Mann fand Kathy tot auf, neben ihr einen völlig verstörten hungrigen und dehydrierten Tommy …“

Eine traurige Geschichte, wie Jack sie ähnlich schon viel zu oft gehört hatte. Die Tränen, die jetzt in Ninas Augen schimmerten, nervten ihn. Es stimmte ihn gereizt, dass sie sich dermaßen in den Fall involvierte.

„Selbstverständlich verdächtigte man auch Mike, etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun zu haben. Seitdem betreue ich die beiden“, erzählte Nina weiter.

„Okay.“ Jacks Miene war verschlossen, aber er hörte wenigstens aufmerksam zu, das merkte Nina.

„Natürlich leidet Tommy noch unter dem Trauma, den Tod seiner Mutter mitzuerleben. Abgesehen davon, gab es immer massive Probleme mit der Vater-Sohn-Bindung.“

„Können Sie mir das bitte näher erklären?“

„Ganz zu Anfang fiel mir auf, dass Tommy viel intensiver auf mich reagierte als auf seinen Vater. Wie Sie sicher wissen, verhalten sich Kinder normalerweise Fremden gegenüber eher unsicher. Nicht in diesem Fall. Meine Aufgabe war es, die Vater-Kind-Bindung zu stärken, während die Psychologin mit Tommy an seinem Trauma über den Verlust der Mutter arbeitete. Vater und Sohn machten rasche Fortschritte miteinander. Sie halten jetzt richtig gut zusammen, und Tommy möchte seinen Vater dringend sehen.“

„Der Vater hat ganz eindeutig ein Aggressionsproblem.“

„Stimmt. Aber mit Tommy ist er nie so.“

„Wirklich nie?“

„Okay, heute Morgen war er sauer wegen des Malheurs im Bett, aber mehr aus Frustration und Sorge. Er kann sich ebenfalls keinen Reim auf die Prellungen und die entzündete Wunde machen. Mike fürchtete, die Ärzte würden sofort falsche Schlüsse daraus ziehen. Deswegen wollte er Tommy nicht untersuchen lassen. Ein fürchterlicher Fehler, ich weiß …“

Jack nickte ernst. Ja, ein fürchterlicher Fehler, den leider viele Eltern begingen.

„Ich erinnere mich noch an einen Fall, da rührten die blauen Flecken daher, dass das Kind Leukämie hatte. Was viel zu spät erkannt wurde, weil die Eltern Angst hatten, wegen Kindesmisshandlung angezeigt zu werden.“

„Wir haben seine Laborwerte genommen.“ Jack schüttelte den Kopf. „Tommy hat keine Leukämie. Die würde übrigens auch nicht die beiden gebrochenen Rippen und die infizierte Wunde erklären. Dazu kommt, dass er wieder angefangen hat, das Bett zu nässen.“

„Schön.“

Jack furchte die Stirn. „Was soll das heißen?“

„Sie haben sich also schon Ihre Meinung gebildet.“ Schon war Nina aufgesprungen und rauschte aus seinem Büro. Er sah sie im Schwesternzimmern verschwinden, wo sie sich hinter dem PC verschanzte und aufgebracht auf der Tastatur herumzuhämmern begann.

Was war sie nur für eine hitzige kleine Person! Am liebsten wäre er zu ihr rübergegangen, um ihr sanft auf die Schulter zu klopfen und ihr zu sagen: Keine Angst, ich ziehe keine voreiligen Schlüsse, und nein, ich habe mir noch keine Meinung über den Fall gebildet. Bevor ich das tue, studiere ich erst mal genau die Patientenberichte.

Und genau das würde er jetzt auch tun.

Zunächst vertiefte er sich in das psychologische Gutachten, das sich vorrangig mit dem frühen Verlust der Mutter beschäftigte. Dann las er Ninas Berichte, die sehr detailliert und mit großem Einfühlungsvermögen die positive Entwicklung des Jungen aufzeichneten.

Was war da plötzlich schiefgegangen?

Jack blickte auf und bemerkte, wie Nina gähnte und aufstand, um sich ein Glas Wasser zu holen. Anschließend überflog sie noch einmal stirnrunzelnd, was sie gerade geschrieben hatte, und schickte das Dokument ins Intranet. Plötzlich erschien auf Jacks Bildschirm ein Update.

Interessiert vertiefte er sich in ihre neuen Anmerkungen. Brillant geschrieben wie immer. Einfühlsam, trotzdem stets objektiv schilderte sie detailliert die Ereignisse des heutigen Tages. Aufgrund der unklaren Befunde war sie leider gezwungen, bei Gericht einen Eilantrag durchzuboxen, der es Mike verbot, Tommy ohne Aufsicht zu besuchen.

Jack saß da und zermarterte sich das Hirn.

Immerhin war er nicht nur aufgrund seiner gesellschaftlichen Beziehungen Chefarzt der Pädiatrie.

Als er später noch einmal zu Tommy ins Zimmer ging, fand er dort Nina an seinem Bett sitzend vor. Nachdenklich strich sie dem schlafenden Jungen über die zerzausten Haare. „Bringen Sie sich bei jedem Ihrer Klienten so intensiv ein?“

„Ja, klar.“ Sie blickte auf. „Die Unterstützung meiner Abteilung ist alles, was die Kleinen haben.“

„Schwestern und Ärzte sind doch auch noch da.“

„Das ist nicht dasselbe. Nehmen Sie zum Beispiel Tommy. Er sehnt sich nach seinem Vater, aber wegen der unklaren Befunde musste ich einen Gerichtsbeschluss erwirken, der den Kontakt zwischen Vater und Sohn einschränkt. Eine solche Entscheidung nimmt man nicht auf die leichte Schulter. Morgen um neun kommt eine Sozialarbeiterin, die anwesend sein wird, wenn Mike seinen Sohn besuchen darf. Aber wissen Sie was? Eigentlich braucht Tommy seinen Vater heute Nacht hier an seinem Bett.“

„Ich bin gerade noch mal seine Akte durchgegangen“, begann Jack, als der schlafende Junge plötzlich zu weinen begann. Nina wollte tröstend den Arm um ihn legen, da setzte sich Tommy abrupt auf und riss in blankem Entsetzen die Augen auf.

„Schon okay, Tommy“, versuchte Nina ihn zu beschwichtigen. Sie nahm an, der Junge hätte einen Albtraum gehabt.

Doch Jack wusste es besser. Sofort schickte er Nina raus, während er gleichzeitig den Schwesternotruf betätigte. Ihn überfiel eine schreckliche Ahnung, was wirklich mit Tommy los war. Der Junge war nicht aufgewacht. Er machte gerade eine Panikattacke durch, wie sie oft einem zerebralen Krampfanfall voranging. Schon spannte sich sein kleiner, ausgemergelter Körper wie eine Feder. Jack hielt den gepeinigten Jungen fest, bis der Krampf sich allmählich löste und die Muskeln des Jungen erschlafften.

Erschüttert beobachtete Nina das Geschehen vom Flur aus. Sie war jetzt hier überflüssig, Tommy brauchte medizinische Hilfe. Also fuhr sie wohl am besten nach Hause, um nicht im Weg zu sein.

Doch sie konnte sich nicht von der Stelle rühren.

Im Eilschritt rollten zwei Schwestern einen Laborwagen herbei. Jack legte dem Jungen einen intravenösen Zugang und injizierte Medikamente.

Mit zitternden Knien ging Nina ins Schwesternzimmer, ließ sich dort erschöpft auf einen Stuhl sinken und wartete. Nach einer Weile kam Jack, um ihr mit grimmiger Miene mitzuteilen: „Er ist jetzt anästhesiert und wird gerade für ein Schädel-CT nach unten gebracht. Sie müssen seinen Vater verständigen.“

„Was soll ich ihm erzählen?“

„Dass er so schnell wie möglich herkommen soll. Die schlechte Nachricht bringe ich ihm dann bei. Es steht gar nicht gut um Tommy.“

Es wurde eine fürchterliche Nacht.

Mike war völlig außer sich. Irgendwann traf auch Lorianna ein, die diensthabende Sozialarbeiterin, um Nina abzulösen. Doch die brachte es nicht über sich, nach Hause zu fahren.

„Es ist schon nach eins, und morgen früh musst du wieder ausgeruht hier auf der Matte stehen“, sagte Lorianna.

„Ich möchte noch die Untersuchungsergebnisse abwarten.“

„Die sind morgen früh immer noch dieselben“, erwiderte Lorianna in ihrer praktischen Art. „Du musst jetzt wirklich loslassen und nach Hause gehen. Das weißt du.“

Ja, das wusste Nina.

Morgen wurde sie von anderen Kindern und Familien gebraucht, und zwar wach und ausgeruht. Es wäre nicht fair, ihnen nicht dieselbe ungeteilte Aufmerksamkeit und dasselbe Engagement zu widmen wie Tommy. Andererseits fühlte es sich so schrecklich falsch an, jetzt zu gehen …

Benommen vor Erschöpfung, überquerte sie den dunklen, menschenleeren Krankenhausparkplatz Richtung Straße, um nach einem Taxi Ausschau zu halten. Als ein Wagen neben ihr bremste, fuhr sie zusammen. Durch das geöffnete Fenster rief der Fahrer ihr zu: „Kann ich Sie vielleicht irgendwo absetzen?“

Jack. In seinem Luxusschlitten.

„Nein, danke.“

„Ich wollte sowieso noch mit Ihnen sprechen – diesmal hatten Sie recht.“

„Wie bitte?“

„Es war kein Schädeltrauma, was den Krampfanfall verursacht hat. Der Junge hat eine Hirnläsion, dessen Ursache wir noch klären müssen. Wie gesagt, ein durch einen Schlag zugeführtes Trauma konnten wir nicht feststellen.“

Ernst fügte er hinzu: „Alex Rodriguez ist gerade gekommen, er spricht jetzt mit dem Vater.“

Langsam fuhr Jack neben Nina her, die rasch weiterging. Die Sohlen ihrer Stiefel knirschten auf dem eisverkrusteten Bürgersteig, und weiße Atemwölkchen bildeten sich vor ihrem Mund, während sie sich bemühte, die Beherrschung zu wahren.

„Was soll’s, da sieht man’s mal wieder. Ein weiteres Beispiel dafür, wie der Schein trügen kann. Nina, nun machen Sie schon, steigen …“

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

„Was soll’s?“, fauchte sie ihn an und kämpfte mit Tränen der Wut. „Was soll’s? Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?“ Nina wusste, sie sollte jetzt besser den Mund halten, sich ins nächstbeste Taxi setzen und zu Hause gründlich ausschlafen. Aber sie tat es nicht. „Soll das etwa heißen, dass Tommy einen Gehirntumor hat? Oh, hallo, Nina, was ich Ihnen noch erzählen wollte …

„Ich versuche, Ihnen zu erklären …“

„Großartig! Haben Sie überhaupt ein einziges Mal richtig zugehört? Anscheinend machen Sie sich keinen Begriff davon, was Tommy und Mike alles durchgemacht haben. Und jetzt stellt sich heraus, dass Tommy einen Gehirntumor hat? Wahrscheinlich erwarten Sie noch einen kleinen Freudentanz von mir, weil ich recht hatte, dass Mike seinen Sohn nicht misshandelt hat? Tja, dann können Sie lange warten. Im Gegensatz zu Ihnen neige ich nicht zu Schadenfreude.“

„Jetzt warten Sie doch mal …“ Jack parkte am Straßenrand und stieg aus.

Völlig erledigt stand Nina da und zitterte vor Wut. Die seit Wochen angestauten Schuldgefühle und Frustrierungen machten sich jetzt mit aller Macht Luft.

„Worum geht es hier überhaupt?“ Jack fixierte sie scharf.

„Das wissen Sie doch ganz genau“, fuhr Nina ihn an. „Um Ihren vielsagenden Blick zum Beispiel, als Baby Tanner wieder in die Klinik eingeliefert wurde.“

„Baby Tanner?“, wiederholte er ratlos.

„Der acht Wochen alte kleine Junge, der auf Anraten meiner Abteilung in die Obhut seiner Eltern entlassen wurde …“ Seit der Nacht, als der Junge wiedereingeliefert worden war, litt sie unter Schuldgefühlen. Zu denen sich jetzt ohnmächtige Wut gesellte, als ihr bewusst wurde, dass Jack sich nicht mal an das Kind erinnerte. „Sie haben keine Ahnung, wen ich meine, oder?“

„Nina …“

„Sie erinnern sich wirklich nicht!“ Vor Abscheu spuckte sie die Worte förmlich aus.

„Nina, was Sie nicht verstehen, ist …“

Sie wollte ihn ja gar nicht verstehen, wollte nicht wissen, wie Jack Carter tickte. Sollte er doch verschwinden und sie in Ruhe lassen! „Sie sind so schrecklich professionell und unpersönlich, unfähig, eine menschliche Beziehung zu Ihren Patienten aufzubauen“, schleuderte sie ihm entgegen, kurz davor, völlig die Beherrschung zu verlieren.

Es war zwei Uhr nachts, sie fror entsetzlich, hatte Hunger und war total übermüdet. Was sie allerdings am meisten zur Weißglut brachte, war die Tatsache, dass sie dieses arrogante Scheusal tatsächlich auch jetzt noch attraktiv und zum Dahinschmelzen sexy fand … Wie abgefahren war das denn?!

„Wissen Sie was, Jack?“, zischte sie. „Sie sind ausgebrannt.“

„Oh, ganz und gar nicht, Baby – ich bin noch gar nicht richtig heiß geworden“, erwiderte er mit einem vielsagenden Lächeln.

Baby! Schlimmer konnte es nicht kommen! Dieser chauvinistische Mistkerl wagte es, sie Baby zu nennen?

Sein halb entschuldigendes Achselzucken bedeutete wohl, dass er begriffen hatte, dass er zu weit gegangen war. Er machte ein paar Schritte auf sie zu. „Kommen Sie, steigen Sie endlich ein.“ Jetzt stand er so dicht vor ihr, dass Nina den frischen Duft seines vermutlich sündhaft teuren Aftershaves wahrnahm. „Ich bringe Sie nach Hause.“

„Nein, danke.“

„Sie sind verärgert …“

Die Untertreibung des Jahrhunderts! Nina war richtig wütend. Wütend auf ihn, wütend auf sich selbst, weil seine Nähe ihr Herz schneller schlagen ließ … „Ich bin fuchsteufelswild! Jemand sollte mich festbinden, sonst … sonst …“

Jack Carter besaß auch noch die Frechheit, ihr ins Gesicht zu grinsen!

„Oh, ich bin sicher, das ließe sich arrangieren.“

Ihre Blicke trafen sich in der Dunkelheit der Nacht. Bestimmt würde er sie gleich küssen! Wäre das nicht typisch Jack Carter? Sich auf diese Weise aus der Affäre zu ziehen?

Das Schlimme war, dass Nina es kaum erwarten konnte, von ihm geküsst zu werden. Sie wollte ihn, und das machte ihr Angst.

In seiner Gegenwart war sie einfach nicht mehr sie selbst …

„Ich bringe Sie jetzt nach Hause“, widerholte er, „und wir reden morgen noch mal in aller Ruhe.“

„Es gibt nichts zu bereden“, meinte Nina stur.

„Oh, da bin ich anderer Ansicht. Aber jetzt müssen Sie sich erst mal beruhigen.“

Mit dieser Bemerkung brachte er das Fass zum Überlaufen. Genauso gut hätte er ihr vorwerfen können, sie sei PMS-gesteuert. Was zufällig gerade stimmte … „Oh, ich werde mich schon beruhigen, sobald ich Ihren Anblick nicht mehr ertragen muss!“

„Nina …“ Jack hielt sie am Ärmel fest, als sie weitergehen wollte.

Mit zornblitzenden Augen fuhr sie zu ihm herum. „Bleibt das hier unter uns?“

„Natürlich!“

Ha! Sie hätte schwören können, dass er ein Grinsen unterdrückte.

„Gehen Sie zum Teufel!“

Wie ein lästiges Insekt schüttelte sie ihn ab, stapfte mit großen Schritten weiter über den vereisten Bürgersteig, sorgfältig darauf bedacht, nicht auszurutschen. Das Vergnügen gönne ich ihm nicht, dachte Nina grimmig.

Endlich, ein Taxi! Wild gestikulierend lief sie darauf zu und ließ sich erleichtert auf den Rücksitz fallen. Missgelaunt beobachtete sie, wie Jack in seinem Luxusschlitten sie überholte.

Jack hinter dem Steuer seines Wagens war nicht weniger missgelaunt.

Was zum Teufel war eigentlich los mit Nina Wilson?

Solche Szenen konnte er nun wirklich nicht gebrauchen.

Und doch ließ die temperamentvolle Nina ihn irgendwie nicht kalt. Er dachte an ihre zornroten Wangen, das Stampfen ihrer Stiefel, die ganze geballte Aggression. Seine beinahe amüsierte Reaktion darauf war so untypisch für ihn. Normalerweise ließ er sich nicht auf erregte Wortgefechte ein. Er sagte einfach, was Sache war, und gut.

Während der Fahrt nach Hause verblasste das Bild der wütenden Nina langsam. Schade, dass er ausgerechnet heute mit Monica Schluss gemacht hatte. Ein bisschen nette Entspannung hätte er jetzt gut gebrauchen können.

Professionell und unpersönlich. Ja, schuldig im Sinne der Anklage.

Aber ausgebrannt?

Nein, da irrte Nina sich gewaltig.

Erleichtert schloss Nina die Wohnungstür hinter sich und sperrte die Welt aus.

Sie würde nicht über Jack nachdenken.

Auch nicht über Tommy.

Nein, sie brauchte dringend Schlaf und hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es manchmal einfach nötig war, alle störenden Gedanken wegzuschieben und für ein Weilchen die Augen zuzumachen.

Trotzdem zitterte ihre Hand, als sie sich ein Glas Milch einschenkte.

Also ging sie noch einmal durch ihr neues Zuhause, in der Hoffnung, so zur Ruhe zu kommen.

Die Wohnung war ihr ganzer Stolz. Seit acht Jahren arbeitete sie darauf hin: ein anständiges Zuhause, in dem sie endlich eine Familie sein konnten.

Als Erstes öffnete sie die Tür zu Blakes zukünftigem Zimmer, betrachtete die großen Umverpackungen, die ein Bett, einen Nachttisch und einen Kleiderschrank enthielten. Leider waren die Heinzelmännchen nicht so freundlich gewesen, die Möbel inzwischen zusammenzubauen. Das würde sie morgen Abend erledigen oder spätestens bei Blakes Besuch am nächsten Wochenende.

Nebenan befand sich das Zimmer, das bald hoffentlich Janeys kleines Reich sein würde. Beim Gedanken an ihre Schwester schnürte es Nina sofort die Kehle zu.

Schon vor dem Tod ihrer Eltern war Janey ein schwieriges, bockiges Kind gewesen. Jetzt mit fünfzehn steckte sie mitten in der Pubertät und balancierte hart am Abgrund zur Kriminalität. Nina machte sich schreckliche Sorgen um ihre kleine Schwester.

Janey sollte bei ihr wohnen, damit sie sie notfalls auffangen konnte. Nina hoffte und betete, dass man ihr bei der Verhandlung in wenigen Wochen endlich das Sorgerecht für ihre beiden Geschwister zusprechen würde.

Ihre Eltern waren bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen, da war Nina gerade sechzehn gewesen. Alt genug, um nach Meinung der Behörden für sich selbst zu sorgen, aber zu jung, um ihre ein und sieben Jahre alten Geschwister aufzuziehen. Eine weise Entscheidung, wie sie im Nachhinein erkannte.

Zwei Jahre lang war sie genauso schwierig und wild gewesen wie Janey heute – eigentlich sogar noch schlimmer. Völlig am Boden zerstört durch den Verlust der Eltern und ihrer beiden Geschwister, hatte Nina irgendwann das Geld für die Miete nicht mehr aufbringen können. Sie verlor ihre Wohnung, und es folgten ein paar Jahre Couchsurfen bei Freunden. Keine einfache Zeit.

Erst der Kontakt mit der ehrenamtlichen Beratungsstelle hatte ihr Leben buchstäblich auf den Kopf gestellt. Dort hatte sie Hilfe – auch finanziell – gefunden. Mit neunzehn schließlich hatte sie angefangen zu studieren und mit dreiundzwanzig ihr Diplom als Sozialarbeiterin gemacht.

Mit dem nicht gerade üppigen Anfangsgehalt hatte sie sich allerdings nur eine winzige Einzimmerwohnung leisten können, war nicht in der Lage gewesen, ihren beiden Geschwistern ein angemessenes Zuhause zu bieten.

Also hatte Nina eisern gespart und jeden Cent zur Seite gelegt, bis sie genug Geld zusammenhatte, um sich diese Dreizimmerwohnung leisten zu können. Endlich konnten die Wilson-Geschwister wie eine richtige kleine Familie zusammenleben.

Das war das Einzige, was zählte.

Und ausgerechnet jetzt hatte sie sich mit dem Chefarzt der Pädiatrie anlegen müssen.

Nina kuschelte sich in ihr warmes Bett und versuchte einzuschlafen. Versuchte sich zu beruhigen, dass er sie schon nicht feuern lassen würde. Immerhin hatte auch er sich danebenbenommen.

Ziemlich heftig sogar.

Während sie in die Dunkelheit starrte, ließ sie sich seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen – erschüttert, dass sie allein bei der Erinnerung daran heiß erschauerte.

Energisch drehte sie sich auf die Seite und schloss die Augen, als könnte sie so jeden Gedanken an Dr. Perfect aussperren. Was natürlich nicht funktionierte.

Nina fühlte sich schrecklich durcheinander. Ihr Kontakt mit Männern beschränkte sich auf Kollegen und Klienten. Beziehungserfahrung? Fehlanzeige.

An Jack allerdings dachte sie ganz und gar nicht mit professionellem Abstand.

Und das, wo sie sich nichts aus Sex machte … Ohne sich dagegen wehren zu können, überfielen sie die erotischsten Fantasien über Jack, sodass sie seinen Namen laut herausstöhnte.

Mist! Wie sollte sie ihm morgen bloß gegenübertreten?

4. KAPITEL

Doch am nächsten Tag war das gar kein Thema mehr.

Als Nina die Intensivstation betrat, um nach Tommy zu sehen, brach ihr der Anblick von Mikes kummervoller Miene fast das Herz, und alles andere war vergessen. Jack, der gerade mit Alex sprach, nahm sie kaum wahr.

Doch er nahm sie wahr.

Sie trug einen schwarzen Rock und ein jadegrünes Oberteil, farblich dazu passende Strümpfe und hochhackige Stiefeletten. Die dunklen Ringe unter den Augen und ihre auffallende Blässe signalisierten, dass sie nicht genug geschlafen hatte. Trotzdem wirkte sie wie üblich voller Elan.

„Wie geht es Tommy?“, fragte sie mitfühlend.

Mike zuckte hilflos die Schultern. „Er hat schon eine ganze Reihe Untersuchungen hinter sich, fehlt nur noch eine Biopsie. Sie wollen ihn für ein paar Tage künstlich beatmen …“ Er sah sie zerknirscht an. „Tut mir leid wegen gestern.“

„Ach, darüber reden wir ein andermal.“

„Ich glaube, ich habe gespürt, dass irgendetwas ganz fürchterlich nicht mit ihm stimmt … ich habe es nur nicht wahrhaben wollen.“

„Mike, das diskutieren wir später noch in aller Ruhe. Ich habe für morgen Vormittag eine Fallbesprechung anberaumt. Jetzt wollen wir uns ganz auf Tommy konzentrieren. Haben Sie schon Ihre Schwester angerufen?“

Mike nickte. „Sie kommt sofort aus Texas her, sobald sie ihre Kinder untergebracht hat.“

„Gut.“

Jack hatte der Sozialabteilung bis jetzt immer mit ziemlich gemischten Gefühlen gegenübergestanden. Sie machten einen tollen Job, das war ihm schon klar. Doch viel zu oft war er mit ihren Entscheidungen nicht einverstanden. Heute begriff er zum ersten Mal wirklich, wie wichtig es war, dass sie das gesamte Umfeld ihrer Klienten erfassten.

Mike hatte niemanden, hatte seine Frau und seinen Job verloren. Nun stand auch noch das Leben seines Sohnes auf dem Spiel. Wie gut, dass jemand wusste, da gibt es noch eine Schwester in Texas. Jemanden, der Mikes Ausbruch gestern als Ausrutscher einordnen konnte. Jemanden, der für Mike sprechen konnte, jetzt, wo er sprachlos vor hilfloser Verzweiflung war.

In diesem Fall war dieser jemand Nina. Glück gehabt, Mike, dachte Jack anerkennend.

Ihr Blick streifte ihn flüchtig, blieb dann auf Alex liegen. „Können Sie es einrichten, morgen an einer Fallbesprechung teilzunehmen?“

„Bis morgen sind wir auch noch nicht viel schlauer“, gab Alex zurück.

„Das ist mir klar. Es geht mir darum, die gerichtliche Verfügung gegen Mike zu stoppen und alle auf den neuesten Stand zu bringen.“

Nina wandte sich gerade zum Gehen, da rief Jack: „Bis später dann!“

„Bitte?“ Sie sah ihn irritiert an. „Es ist nicht nötig, dass Sie ebenfalls an dem Meeting teilnehmen.“

„Ich weiß. Aber ich möchte mich gerne über ein paar andere Dinge, die gestern Abend angesprochen wurden, auf den neuesten Stand bringen.“

„Ach so.“

Mist. Sie hatte also vergeblich gehofft, dass er ihren Wutausbruch ignorieren würde. Nina konnte ja selbst kaum glauben, dass sie das gesagt hatte. Und dann auch noch zum Chefarzt der Pädiatrie, Jack Carter höchstpersönlich! Ein völlig unprofessionelles Verhalten, das war ihr natürlich bewusst. Schuld waren ihre völlig unprofessionellen Gefühle für Jack.

Wie konnte es nur passieren, jemanden attraktiv zu finden, den man eigentlich gar nicht ausstehen konnte?

Eine Frage, die sich so leicht nicht beantworten ließ.

Als um drei Uhr nachmittags die Gegensprechanlage auf ihrem Schreibtisch summte und die Sekretärin Jack Carter ankündigte, reagierte Nina fast erleichtert. Jetzt würde reiner Tisch gemacht, gut so.

Am besten brachte sie es so schnell wie möglich hinter sich. „Schicken Sie ihn bitte rein.“

Nina atmete ein paarmal tief durch. Sollte sie aufstehen, um ihn zu begrüßen? Sollte sie sich unaufgefordert entschuldigen und ihr unmögliches Verhalten mit ihrer Erschöpfung gestern Abend erklären?

Während sie noch darüber nachgrübelte, klopfte es an der Tür, und Jack füllte den Raum mit seiner männlichen Präsenz.

„Sie wollten mich also am liebsten zum Teufel schicken?“, meinte er augenzwinkernd.

Jack Carter brachte sie zum Lachen? Dass sie das noch erleben durfte …

„Sie wissen genau, es war nur eine dumme Redensart.“

„Oh, schade.“ Er tat enttäuscht. „Und ich hab mich extra rasiert und fein rausgeputzt für meinen Besuch beim Teufel. Sehen Sie, ich trage sogar meine beste Krawatte.“

Ja, er hatte sich rasiert, und er duftete fantastisch.

Er sah auch fantastisch aus.

Jack konnte letzte Nacht nicht mehr geschlafen haben als sie, trotzdem wirkte er kein bisschen müde. Nach allem, was sie über ihn gehört hatte, war er es gewöhnt, mit einem Minimum an Schlaf auszukommen. Kein Wunder, neben seinem gewaltigen Pensum als Chefarzt der Pädiatrie stemmte er ein ebenso beeindruckendes Pensum an gesellschaftlichen Aktivitäten.

Wahrscheinlich hatte jeder in New York schon mal von den legendären Carters gehört. Den Namen verband man automatisch mit Glamour, unermesslichem Reichtum und rauschenden Festen. Die Klatschblätter titelten regelmäßig mit Jack, immer in Begleitung einer neuen hinreißenden Schönheit. Und in genauso regelmäßigen Abständen erschienen Artikel über die tränenreiche Trennung von seiner letzten Eroberung.

Dazu brauchte Nina gar nicht die Boulevardpresse zu bemühen. Die Einschläge wurden immer dichter, und sie hatte nicht die Absicht, sich in das Heer der abgelegten Freundinnen einzureihen.

„Ich möchte mich gern für meine Ausrutscher gestern Nacht entschuldigen. Es war ein langer, harter Tag, und ich war völlig fertig.“

„Oh, das kann ich gut verstehen.“ Nina hoffte schon, das Thema sei damit erledigt, aber da hatte sie sich geirrt. Eifrig zog Jack sich einen Stuhl heran. „Trotzdem würde ich der Sache gerne noch ein bisschen näher auf den Grund gehen.“

„Nicht nötig, glauben Sie mir.“

„Doch. Auch ich möchte mich nämlich bei Ihnen entschuldigen. Ich hätte Ihnen meine Diagnose nicht so hinknallen dürfen. Aber ich dachte, Sie würden gerne wissen, was Tommy fehlt, bevor sie nach Hause fahren.“

Jack Carter entschuldigte sich bei ihr? Das musste sie erst mal verdauen. „Wie geht es ihm eigentlich heute?“

„Er wird immer noch beatmet. Sein Vater ist bei ihm. Wir hoffen, dass die Medikamente anschlagen, sodass wir die Beatmung wieder einstellen können. Alex hat inzwischen eine Biopsie durchgeführt.“

„Ist es sehr ernst?“, fragte Nina beklommen.

Autor

Laura Iding
Laura Iding hat zwei aufregende Leben: Tagsüber arbeitet sie als Krankenschwester und nachts ist sie Autorin. Schon als Teenager fing sie an zu schreiben - und hat bis heute nicht damit aufgehört. Ihr absolutes Lieblingsgenre ist, wie könnte es anders sein, der Arztroman.
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Carol Marinelli
<p>Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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Janice Lynn
Janice Lynn hat einen Master in Krankenpflege von der Vanderbilt Universität und arbeitet in einer Familienpraxis. Sie lebt mit ihrem Ehemann, ihren 4 Kindern, einem Jack-Russell-Terrier und jeder Menge namenloser Wollmäuse zusammen, die von Anbeginn ihrer Autorenkarriere bei ihr eingezogen sind.
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