Julia Ärzte zum Verlieben Band 79

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ZÄRTLICHER TROST IN DEINEN ARMEN von CLAYDON, ANNIE
Dr. Edward North ist der Traum aller Schwestern in der Hunter Clinic! Nur Charlotte verbietet sich jeden Gedanken an den attraktiven Chirurgen. Ihr Leben ist kompliziert genug. Bis sie eines Tages verzweifelt in seinem Büro steht - und Edward sie zärtlich in seine Arme zieht …

EINE NEUE LIEBE FÜR DR. BAILEY von HARDY, KATE
Eigentlich braucht die junge Ärztin Laurie Grant keinen Mann in ihrem Leben. Aber dann tritt der ernste, in sich gekehrte Dr. Bailey in ihrer Dorfpraxis seine Stelle an. Plötzlich hat Laurie den unbezähmbaren Wunsch, ihr eigenes Glück zu teilen. Und Marc einmal lächeln zu sehen!

DER BOSS UND DIE EISKÖNIGIN von MARINELLI, CAROL
Penny hat ein delikates Geheimnis. Um jeden Preis will sie es für sich behalten, viel zu viel hängt davon ab! Aber das wird schwierig, als ihr Boss, der charmante Dr. Ethan Lewis, ihr tief in die Augen schaut. Ausgerechnet Ethan … Ahnt er, was sie vor ihm verbirgt?


  • Erscheinungstag 16.10.2015
  • Bandnummer 0079
  • ISBN / Artikelnummer 9783733702885
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie Claydon, Kate Hardy, Carol Marinelli

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 79

ANNIE CLAYDON

Zärtlicher Trost in deinen Armen

Dr. Edward North lebt nur für seine Arbeit als Schönheitschirurg. Selbst mit den Namen in seinem Team hat er manchmal Probleme! Bis auf einen: Schwester Charlotte. Als er sie eines Tages trösten muss, ist er plötzlich nicht mehr der weltfremde Wissenschaftler, sondern ein Mann, der die schöne Frau in seinen Armen lieben will …

KATE HARDY

Eine neue Liebe für Dr. Bailey?

„Du kannst meine Hand halten.“ Normalerweise würde Dr. Marc Bailey sofort Nein sagen. Vor Nähe hat er seit dem Tod seiner Frau Angst. Aber dieses Mal sagt Marc Ja. Denn die süße 6-jährige Izzy bietet es ihm charmant an. Sie hat das gleiche unwiderstehliche Lächeln wie ihre Single-Mutter, seine wunderbare neue Kollegin Laurie Grant …

CAROL MARINELLI

Der Boss und die Eiskönigin

Professionell hält Dr. Ethan Lewis große Stücke auf Penny Masters. Aber rein menschlich ist sie immer so kühl und so perfekt, dass es ihn manchmal richtig wütend macht! Ob die bildschöne Eiskönigin der Station lockerer wird, wenn er sie mal heiß küsst? Ethan ahnt nicht den Grund, warum Penny ihr Herz hinter einer Mauer verbirgt …

1. KAPITEL

„Was, glaubst du, steckt dahinter?“

„Wie bitte?“ Charlotte King gab sich alle Mühe, Edward North nicht zu beachten, der seine Taschen gerade nach seinen Schlüsseln durchwühlte. Daher hatte sie die Gespräche auch nicht mitbekommen, die im Schwesternzimmer kursierten.

„Ein geheimes Liebesleben oder gar kein Liebesleben?“ Paula reckte den Hals, um mehr sehen zu können. „Vielleicht braucht er ja Hilfe.“

Charlotte unterdrückte nur mit Mühe ein Lachen. „Was? Weißt du denn, wo er die Schlüssel verloren hat?“

„Nein. Aber ich bin wirklich gut darin, Dinge zu finden.“ Paulas Lächeln ließ keinen Zweifel offen, dass sie eine gründliche Untersuchung plante, vielleicht sogar eine Leibesvisitation.

„Zu spät. Er hat sie.“ Alli grinste Paula an. „Ich wette mit dir, dass er eine heimliche Geliebte hat.“

„Aber wann sieht er sie denn? Der Mann arbeitet ja praktisch rund um die Uhr. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Zeit für irgendetwas anderes hat.“

„Immerhin hat er Zeit genug, um schwimmen zu gehen.“ Allie lächelte spitzbübisch.

„Wirklich?“ Paula sah sie interessiert an.

„Ja, ich hatte letzte Woche meine Sportschuhe im Studio gelassen und sie mir nach der Arbeit geholt. Da habe ich ihn im Pool gesehen, wo er ein paar Runden gedreht hat.“

„Verstehe. Na ja, vielleicht kaufe ich mir demnächst einen neuen Bikini. Gemeinsame Interessen sind für eine Beziehung sehr wichtig.“

„Aha, du hast anscheinend schon darüber nachgedacht.“ Charlotte hätte sich gewünscht, dass Paula und Allie etwas leiser sprechen würden. Allerdings war es nicht sehr wahrscheinlich, dass Edward sie gehört hatte. Es war ziemlich schwierig, seine Aufmerksamkeit zu erregen, selbst wenn er vorgab, seinem Gegenüber zuzuhören. Trotzdem hatte sie ein unbehagliches Gefühl. Es war irgendwie falsch, so über ihn zu reden.

„Wer nicht? Ich glaube, er braucht eine gute Frau. Ich würde mich auf jeden Fall für diese Position bewerben, wenn sonst niemand Interesse zeigt.“

Allie lachte. „Reiß dich zusammen, Paula. Es stehen schließlich noch andere in der Schlange. Ich zum Beispiel und auch Charlotte, oder?“

Charlotte dachte ernsthaft über die Vorstellung nach. „Na gut, aber nur, um euch Gesellschaft zu leisten. Eigentlich habe ich keine Zeit, mich mit jemandem zu treffen.“

Und auch kein Geld. Oder auch nur den Wunsch dazu, jedenfalls meistens. Allerdings war Edward einmal … sie sah hinüber in sein Büro, durch die Glaswand hindurch. Er saß jetzt hinter seinem Schreibtisch und war tief in Gedanken versunken. Vor ihm türmte sich ein großer Stapel Bücher und Papiere auf.

Nein, Edward war kein Mann, den man mit anderen teilen konnte. Er verdiente es, von einer Frau geliebt und verwöhnt, nicht aber wie ein hübsch verpacktes Geschenk herumgereicht zu werden. Plötzlich sah er auf, als ob er ihre Gedanken gespürt hätte. Ihre Blicke trafen sich.

Charlotte merkte, dass sie errötete. Ja, vielleicht war Edward der Mann für eine einzige Frau. Aber diese Frau war sie nicht.

Sie drehte sich schnell um und gab vor, nicht bemerkt zu haben, dass er sie beim Starren erwischt hatte. „Stellt ihr beide euch nur hübsch an. Ich muss noch eine Runde auf der Station machen. Außerdem wird meine Freundin Lucy bald Isaac bringen.“

„Ach, wirklich?“ Paula liebte Isaac, Charlottes Sohn, über alles. „Welchem Umstand verdanken wir diese Ehre?“

„Na ja, heute fällt die Schule aus, und Lucy hat sich bis jetzt um ihn gekümmert. Aber später hat sie ein Date, deshalb liefert sie ihn vorher bei mir ab. Wenn ihr die beiden seht, könnt ihr ihnen dann sagen, dass sie auf mich warten sollen?“

Paula nickte. „Natürlich. Lass dir ruhig Zeit.“

Edward North war gerade zum interessantesten Teil der morgigen Operation gekommen. Mikrochirurgie war an sich schon sehr komplex, aber dieser Fall stellte für ihn eine besondere Herausforderung dar. Er liebte es, sich gedanklich darauf vorzubereiten, und das gelang ihm am besten im Pool, der sich im Keller der Hunter Clinic befand. Durch körperliche Anstrengungen bekam er seinen Kopf am besten frei. Doch leider konnte er nicht damit rechnen, heute im Pool allein zu sein, daher hatte er sich für sein Büro entschieden.

„Nein. Nein, nicht so …“ Frustriert schüttelte er den Kopf. Er würde noch einmal von vorn anfangen müssen. Oder wenigstens vom letzten Satz der mikroskopischen Nähte aus. Er holte tief Luft und versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Aber ihm kam ein ungebetenes Bild dazwischen. Das Bild einer Frau mit dunkelblonden Haaren, die hinten fest zusammengebunden waren. Sie hatte hellbraune Augen. Aus der Ferne konnte er die kleinen Goldfleckchen darin nicht erkennen. Doch er wusste, dass es sie gab. Irgendwann war Charlotte ihm aufgefallen, obwohl er sich von keiner anderen Schwester den Namen merken konnte.

Er hatte hochgeschaut und sie angesehen. Sie war errötet und hatte weggeguckt.

Die genaue Funktionsweise dieser speziellen Art der Gefäßerweiterung zu analysieren, war für Edward ein Kinderspiel, auch wenn der Fall recht kompliziert war. Er schloss die Augen, fokussierte sich erneut und kehrte zur Arbeit zurück.

Lucy stand bereits vor der Tür zum Schwesternzimmer, als Charlotte von der Stationsrunde zurückkehrte.

„Hey, Lucy, du siehst toll aus. Warte bitte kurz, ich muss nur meinen Mantel holen.“ Sie sah sich suchend um. „Wo ist Isaac?“

„Oh, er wollte dir entgegengehen. Ich habe ihm nachgerufen, konnte ihn aber nicht mehr aufhalten.“

Charlotte sah ihre Freundin entsetzt an. Eiskalte Furcht packte sie, und sie wusste, dass sie sofort handeln musste.

„Bitte, geh nach unten und sieh nach, ob er das Gebäude nicht verlassen hat. Ich werde ihn hier suchen, auf diesem Stockwerk.“

Isaac wusste, dass er nicht in die Behandlungszimmer gehen durfte. Das hatte Charlotte ihm strengstens verboten. Trotzdem sah sie dort nach und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Weder Allie noch Paula hatten ihn gesehen, und ihre Furcht wurde immer größer. Schließlich kam Lucy von unten zurück.

„Nein, die Dame am Empfang hat ihn auch nicht gesehen. Er muss noch in der Klinik sein.“

Nun, das war ein kleiner Trost. Aber ein Fünfjähriger konnte schnell in Schwierigkeiten geraten. Der Pool … plötzlich musste Charlotte an den Pool im Keller denken, und ihr wurde ganz schlecht.

„Ich werde den Sicherheitsdienst rufen.“ Sie griff nach dem Telefonhörer, ließ ihn dann aber sinken. Entweder hörte sie jetzt schon Stimmen, oder …

Aber nein, das war eindeutig das Lachen ihres Sohnes gewesen und keine Halluzination.

Lucy hatte es auch gehört. „Wo kann er nur sein?“

Ein erneutes Lachen, aber diesmal von einem Erwachsenen. Vielleicht von Edward? Charlotte konnte sich nicht erinnern, ihn jemals lachen gehört zu haben. Wortlos marschierte sie auf sein Büro zu und riss die Tür auf, ohne anzuklopfen.

Sie war so erleichtert darüber, Isaac zu sehen, dass sie die Szene gar nicht richtig wahrnahm. Doch dann sah sie, dass Isaacs Lieblingsspielzeug, das blaue Häschen, das er überall mit sich herumschleppte, auf Edwards schwarzem Ledersessel thronte und dass Edward auf dem Boden kniete.

„Isaac!“, sagte sie entsetzt. „Was machst du denn da?“

Ihr Sohn sah sie an. Aus seinen unschuldigen blauen Augen und mit jenem Lächeln, das all ihren Ärger und ihre Angst zum Schmelzen brachte.

„Hi, Mum. Ich mache Wasser.“ Er griff nach einem kleinen roten Ball aus einer Kiste, die vor ihm stand. „Schau mal, hier, dieser Ball. Das ist …“

„Sauerstoff“, sagte Edward und stand schnell auf. Er sah Charlotte beschämt an. „Sie sind seine Mutter?“

„Ja.“ Jetzt hatte sie nur noch Augen für Isaac. „Bitte, komm her.“

„Aber Mum, ich hab’s dir ja noch gar nicht gezeigt. Sieh mal …“

„Wir dürfen Mr North nicht länger bei der Arbeit stören. Wo hast du das her?“ Verblüfft betrachtete sie den Modellsatz von Molekülen vor ihm auf dem Boden. Er sah wie ein großartiges Spielzeug aus. Sie wünschte, sie könnte es sich leisten, ihrem Sohn so etwas zu schenken, auch wenn er im Moment noch ein bisschen zu klein dafür war.

„Das gehört Edward“, erklärte Isaac und wandte sich seinem neuen Freund zu, der inzwischen wieder im Sessel saß – allerdings nicht ohne vorher schnell das blaue Häschen wegzunehmen.

Es war eine lange Woche gewesen, und Charlotte merkte plötzlich, wie erschöpft sie war.

„Bitte, leg jetzt alles wieder in die Kiste zurück und verabschiede dich von Edward. Wir müssen nach Hause fahren.“

Isaac warf ihr einen gekränkten Blick zu, aber dann nickte er schließlich.

Charlotte wandte sich an Edward. „Bitte entschuldigen Sie, dass er Sie gestört hat. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Er sah sie eindringlich an. „Haben Sie ihn gesucht?“

„Ja, allerdings.“

„Ich hätte Ihnen Bescheid sagen müssen.“

„Das ist schon in Ordnung. Schließlich habe ich ihn gefunden.“ Sie war entsetzlich müde und den Tränen nahe. Jetzt wollte sie nur noch nach Hause. „Isaac, bitte gib Edward die Kiste zurück.“

Isaac gehorchte ihr, hob die Kiste hoch und setzte sie vorsichtig auf Edwards Schreibtisch ab. „Vielen Dank noch mal.“

„Gern geschehen.“ Edward schenkte Isaac ein verhaltenes Lächeln, das der Junge erwiderte. „Vergiss … Wie heißt er noch mal?“

„Stinky.“

„Richtig. Also, dann vergiss Stinky nicht.“

Er sah Charlotte an, und sie versuchte zu lächeln.

„Würden Sie bitte noch eine Minute bleiben?“

Das war das Letzte, was sie jetzt brauchte. Ihr war klar, dass Isaac nicht unbewacht in der Klinik herumlaufen durfte. Das musste Edward ihr nicht sagen. Selbstverständlich würde sie dafür sorgen, dass es nicht wieder vorkam. „Isaac, bitte geh raus zu Lucy und warte dort auf mich, okay? Es wird nicht lange dauern.“

Edward beugte sich nach vorn und drückte Isaac ein bisschen Kleingeld in die Hand. „Davon kannst du dir und Lucy etwas im Automaten holen.“

Charlotte hätte das gern verhindert, aber ihr Sohn war schon fast an der Tür. Er bedankte sich noch einmal bei Edward, dann waren die beiden allein.

„Es tut mir leid, Charlotte.“

Sie sah ihn verblüfft an.

„Bestimmt haben Sie sich Sorgen gemacht, als Sie Isaac nicht finden konnten.“

Sorgen? Sie hatte fast einen Herzanfall bekommen. „Bitte … entschuldigen Sie, wenn er Sie belästigt hat.“

„Er hat mich nicht belästigt. Außerdem hat er anscheinend eine Schwäche für Moleküle.“

„Er ist erst fünf“, erklärte sie. „Nichts macht ihm mehr Spaß, als Dinge auseinanderzunehmen und sie dann wieder zusammenzusetzen.“ Erst jetzt merkte sie, wie sehr der Vorfall ihr an die Nerven gegangen war. Außerdem setzte ihr Edwards intensiver Blick zu. Seine Augen wirkten plötzlich viel blauer als zuvor.

„Hey. Was ist das denn?“ Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und legte ihr die Hände auf die Schultern. Seine Freundlichkeit war Charlotte in diesem Moment fast zu viel.

„Nichts, gar nichts. Mir geht es gut.“

„Das ist aber nicht mein Eindruck.“

In Edwards Stimme klang eine unerwartete Zärtlichkeit mit. Sie atmete seinen herben, männlichen Duft ein und hätte sich am liebsten an ihn geschmiegt. Doch sie wusste, dass das keine gute Idee gewesen wäre.

„Nein, wirklich. Ich bin okay. Bitte glauben Sie mir.“

Edward zog seine Hände zurück und trat zur Seite. „Wie Sie meinen. Wenn es irgendetwas gibt, was Ihnen Sorgen macht, sollten Sie sich vielleicht jemandem anvertrauen.“ Er dachte einen Moment lang an sich selbst, wusste aber, dass er der letzte Kandidat für so etwas war. „Vielleicht Lizzie. Sie ist sehr gut in solchen Dingen.“

Jetzt klang er wieder sehr professionell, was Charlotte erleichtert zur Kenntnis nahm. „Nein, es ist nichts. Ich habe mich nur sehr erschrocken, als ich Isaac nicht finden konnte.“ Sie biss sich auf die Lippen. Es klang ja doch ein bisschen so, als würde sie Edward die Schuld daran geben.

„Tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Eigentlich wäre das ihr Satz gewesen. Sie lächelte ihn an. „Alles in Ordnung. Er ist in Sicherheit, und nur das zählt.“

„Mir hat es Spaß gemacht, mit ihm zu sprechen.“ Er zeigte auf den Modellsatz von Molekülen vor ihm. „Der Junge hat einen ausgesprochen erfrischenden Ansatz.“

Wollte er sie auf den Arm nehmen? Das konnte man bei Edward nie genau sagen. Charlotte blickte sich um und sah aus den Augenwinkeln, wie Lucy und Isaac sich gerade mit ihren Getränken auf einer Bank niederließen. Sie unterhielten sich angeregt miteinander.

„Wofür ist das eigentlich?“, fragte sie neugierig.

„Oh, damit kann man alles Mögliche machen. Zum Beispiel eine DNA nachbauen.“ Das klang ganz selbstverständlich, als hätte jeder ein solches Modell zu Hause im Schrank stehen.

„Vielleicht würde Isaac sich ja darüber freuen. Oder später, wenn er ein bisschen älter ist.“

„Gute Idee. Wäre das dann so weit alles?“ Sie hatte die Tränen ja noch im letzten Moment zurückhalten können. Aber wer wusste schon, für wie lange?

„Wollen Sie nach Hause fahren? Wenn Sie mögen, kann ich Sie mitnehmen. Die Busse fahren um diese Zeit ja nur noch selten.“ Er biss sich auf die Zunge, als ob er etwas Falsches gesagt hätte.

Woher wusste er, dass sie mit Isaac den Bus nehmen würde? Verblüfft starrte sie ihn an.

„Ich habe Sie an der Bushaltestelle warten sehen“, erklärte er und wirkte dabei etwas verlegen.

„Verstehe.“ Sie lächelte ihn an. „Vielen Dank für das nette Angebot. Aber bestimmt haben Sie noch zu arbeiten.“

Er zuckte die Achseln. „Ich war heute Morgen schon um sechs Uhr im OP. Ich hätte längst zu Hause sein müssen. Und Sie sehen ziemlich müde aus.“

Vielleicht nahm Edward doch mehr von seiner Umwelt wahr, als alle glaubten.

„Danke, aber … nein, das geht nicht. Isaac braucht einen Kindersitz.“

Eigentlich war es schade. Am Freitagabend waren die Busse immer besonders voll.

„Kein Problem. Ich habe einen in meinem Auto.“

Fast hatte sie den Eindruck, als hätte er es darauf angelegt, sie nach Hause zu bringen. Jedenfalls hatte sie jetzt keine Entschuldigung mehr.

„Na gut. Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht … vielen Dank!“

Edward lieferte keine Erklärung für den brandneuen Kindersitz ab, als er die Hintertür seines Autos öffnete und Isaac beim Einsteigen half. Vielleicht hatten Charlottes Kolleginnen ja recht gehabt, und er hatte doch eine Freundin. Eine Freundin mit Kind.

Wie dem auch sein mochte, Charlotte hatte nichts gegen eine Mitfahrgelegenheit. Das war auf jeden Fall bequemer, als sich in den vollen Bus zu quetschen. Sie half Edward dabei, den Kleinen anzuschnallen, und ließ sich dann auf dem Beifahrersitz nieder. Edward stellte das Radio an und fuhr los.

„Wäre es nicht bequemer für Sie, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren?“

Sie waren bereits am Regents Park, als er das Schweigen unterbrach.

„Bequemer bestimmt. Aber auch viel teurer. Denken Sie nur an die Parkgebühren!“

Er nickte. „Ich dachte, vielleicht mögen Sie es ja, mit dem Bus zu fahren.“

„So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Man trifft eine Menge interessanter Leute. Isaac und ich sitzen am liebsten oben, stimmt’s?“

Ihr Sohn nickte. „Ja, da kann man immer in die Fenster sehen.“

„Und was sieht man da?“, fragte Edward neugierig.

„Weihnachtsbäume.“

„Im Juli?“

„Nein, an Weihnachten. Letztes Mal haben wir sie alle gezählt.“

„Aha, du bist also Mathematiker. Heißt du deshalb Isaac? Nach Isaac Newton?“

Der Kleine sah ihn verblüfft an. „Wer ist das?“

Charlotte rollte die Augen. „Edward, er ist erst fünf!“

Er nickte. „Wie viele Weihnachtsbäume habt ihr denn gesehen?“

„Eine Million.“

„Ach, ja? Dann lebst du wohl auf dem Mond?“ Seine Lippen zuckten verräterisch, und Isaac fing laut zu lachen an. Obwohl sie intellektuell Lichtjahre voneinander entfernt waren, hatten sie anscheinend denselben Humor.

„Nee. In Kentish Town.“

„Verstehe. Und bist du sicher, dass du sie nicht doppelt gezählt hast?“

Der Kleine zuckte die Schultern. „Na ja, vielleicht waren es auch hundert.“

Charlotte stimmte in das Lachen der beiden ein. „Es waren dreihundertneunundvierzig, stimmt’s?“

„Ja, genau.“

Edward nickte. „Das ist eine Primzahl, hast du das gewusst?“

„Was ist eine Primzahl?“

Er sah Charlotte Hilfe suchend an, doch sie blieb stumm. Plötzlich war dieser ruhige, reservierte Mann geradezu gesprächig, und sie wollte hören, was ihm dazu einfiel.

„Das ist … äh, na ja, eine sehr besondere Zahl. Es gibt ganz viele davon. Irgendwann wirst du das in der Schule lernen.“

„Wann denn?“

„Na ja … ziemlich bald, würde ich sagen. Frag mal deinen Lehrer.“

„Mach ich.“

Gerade noch mal davongekommen. Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, doch er hob nur leicht die Augenbrauen, als hätte er die Situation von Anfang an im Griff gehabt. Aber er hatte nicht mit Isaacs Ausdauer gerechnet.

„Wie viele gibt es denn davon?“

„Unglaublich viele. Mehr, als du zählen kannst, und wenn du den ganzen Tag mit dem Bus durch die Gegend fahren würdest. Die erste Primzahl ist zwei. Dann kommt die drei …“

Als Edward bei der neunundzwanzig war und immer noch keine Ermüdungserscheinungen zeigte, entschloss Charlotte sich, einzugreifen. Wenn sie so weitermachten, konnten sie bis Birmingham und zurück fahren, bevor einer der beiden des Spiels müde wurde.

Daher drehte sie sich zu ihrem Sohn um. „So, das reicht jetzt. Edward muss sich aufs Autofahren konzentrieren. Ich werde dir alles über Primzahlen erzählen, wenn wir zu Hause sind.“

„Okay.“

Edward gefiel es, Charlotte in seinem Auto zu haben. Sie roch gut – nach Seife und Rosen. Nach Rosenseife, vielleicht.

Aber sie duftete nicht nur gut, sondern war auch ausgesprochen sympathisch. Immer, wenn er sie bei der Arbeit sah, blieb sie dieselbe – freundlich zu allen Leuten, aufmunternd und mit einem kleinen Lächeln um die Lippen. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, als wäre das noch nicht alles. Als er sie eines Nachmittags im Regen an der Bushaltestelle gesehen hatte, wirkte sie ausgesprochen niedergeschlagen. Am liebsten hätte er angehalten, aber er hatte sich das dann doch nicht getraut. Er gehörte schließlich nicht zu den Leuten, die sich in die Angelegenheiten anderer einmischten.

„Mögen Sie Jazz?“, fragte Charlotte in diesem Moment, nachdem sie der Musik eine ganze Weile zugehört hatte.

„Ich liebe diese Musikrichtung“, erwiderte Edward. „Und Sie?“

„Keine Ahnung. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nicht viel Jazz gehört. Aber dieses Stück gefällt mir.“

„Freut mich.“ Dabei hätte er es eigentlich belassen können. Doch er wollte das Gespräch unbedingt verlängern. „Die meisten Leute sagen, sie würden Jazz mögen, ob sie ihn nun kennen oder nicht.“

Charlotte lachte. „Ja, ich weiß, was Sie meinen. Als müsste man ihn mögen. Wenn nicht, ist man ein Banause.“

„Ich würde Sie nie für einen Banausen halten.“ Aber ihre Ehrlichkeit gefiel ihm.

Charlotte bat Edward, sie in der High Street abzusetzen, doch davon wollte er nichts hören. Daher dirigierte sie ihn in eine ruhige Seitenstraße. Die Häuser waren recht klein, manche davon auch ziemlich heruntergekommen. Er parkte den Wagen vor einem Haus mit Vorgarten. Die Haustür musste dringend gestrichen werden. Charlotte stieg aus und hob Isaac aus dem Kindersitz, während Edgar die Einkaufstüten aus dem Kofferraum holte.

„Darf ich sie Ihnen noch hineintragen?“

„Nein, nicht nötig. Danke für die Mitfahrgelegenheit.“ Sie griff nach den Tüten. „Wir sehen uns dann am Montag.“

„Tschüss, Edward. Vielen Dank noch mal“, sagte der Kleine.

„Tschüss, Isaac. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.“

Als die beiden auf den Eingang zugingen, drehte der Junge sich noch einmal zu Edward um und schenkte ihm ein Lächeln. Jetzt blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als einzusteigen und davonzufahren. Nach ein paar Metern sah er jedoch im Rückspiegel, dass Charlotte Mühe hatte, das kleine Tor vor dem Garten zu öffnen. Er überlegte, ob er zurückfahren und ihr helfen sollte. Doch dann stieß sie mit dem Fuß dagegen, und es sprang auf. Sie marschierte direkt zum Eingang, ohne sich noch einmal nach ihm umzuschauen.

Charlotte ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und stellte die Einkaufstüten ab. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen. Ein Teil von ihr wünschte sich, sie wären doch bis nach Birmingham und zurück gefahren. Aber der andere Teil war froh, dass Edward weggefahren war, ohne den abgetragenen Teppich im Flur und die Möbel aus zweiter Hand im Wohnzimmer gesehen zu haben.

„Ist Edward dein Boss, Mum?“

„Er ist Chirurg in der Klinik.“

„Hilft er den Leuten, wieder gesund zu werden? So wie du?“

„Ja, Liebling.“

Isaac nickte. „Er ist nett.“

Sie sah ihn lächelnd an. „Ja, das finde ich auch.“ Sie griff wieder nach den Tüten. „So, jetzt lass uns mal sehen, was wir heute zum Abendessen machen.“

Eigentlich war es nur ein kurzer Weg von Edwards Haus zurück zu der Straße, in der Charlotte und Isaac wohnten. Aber es schienen Welten dazwischen zu liegen. Irgendwann wichen die modischen Boutiquen und schicken Cafés einer Reihe von Häusern, die ihm noch heruntergekommener vorkamen als gestern Abend.

Vielleicht war es ja ein Fehler, zu ihr zu fahren. Wahrscheinlich ging sie samstagmorgens einkaufen oder blieb lange im Bett. Aber Isaac hatte Stinky in Edwards Auto vergessen und vermisste ihn wahrscheinlich schon sehr. Wenn die beiden nicht da waren, würde er das Häschen einfach in den Briefkasten stecken.

Edward fand keinen Parkplatz direkt vor dem Haus und fuhr daher weiter. Doch dann erblickte er plötzlich Charlotte auf der Türschwelle. Vor ihr standen zwei Männer, die ziemlich bedrohlich wirkten.

Er beeilte sich, eine Parklücke zu finden, und eilte dann zurück zum Haus. Seine innere Stimme sagte ihm, dass etwas nicht in Ordnung war.

„Charlotte!“ Beim Näherkommen erkannte er, dass er recht gehabt hatte. Sie trug Freizeitkleidung, ihre Miene war grimmig und entschlossen. „Was ist los?“

Sie starrte ihn an, als käme er von einem anderen Planeten. Einer der beiden Männer drehte sich zu ihm um. Er wirkte gedrungen und grobschlächtig. „Das geht Sie nichts an, Sir. Nur uns und die Lady.“

Charlotte errötete tief. Die Tränen stiegen ihr in die Augen, dann wischte sie sie schnell weg.

Edward erkannte, dass er es mit zwei üblen Gestalten zu tun hatte. Sie trugen billige Anzüge und wirkten ausgesprochen aggressiv.

„Nein, jetzt haben Sie es auch mit mir zu tun“, erwiderte er und stellte sich demonstrativ neben Charlotte. Am liebsten hätte er ihr den Arm um die Taille gelegt, wagte es dann aber doch nicht. „Lassen Sie die Dame in Frieden. Und zwar sofort!“

Die beiden traten einen Schritt zurück. Der Ärger, den Edward spürte, spiegelte sich anscheinend auch in seinem Gesicht wider, denn sie wurden sofort weniger angriffslustig. Das nutzte er zu seinem Vorteil. „Also, was soll das alles?“

„Sind Sie der Ehemann dieser Dame, Sir?“

„Nein, aber ihr Anwalt.“ Plötzlich war er froh, dass er Stinky im Auto gelassen hatte.

Er spürte Charlottes Hand auf seinem Arm. „Nicht, Edward. Bitte.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Er ignorierte sie und sah die Männer streng an. „Wer sind Sie überhaupt? Können Sie sich ausweisen?“

Einer von beiden griff langsam in seine Tasche und zog seinen Ausweis hervor, den er Edward zeigte.

Schuldeneintreiber! Worauf hatte Charlotte sich eingelassen? Doch das konnte er sie ja auch später noch fragen. In diesem Moment erklang das verängstigte Schluchzen eines kleinen Jungen aus dem Haus. Er spürte, wie sie zusammenzuckte. „Gehen Sie rein, Charlotte. Und machen Sie die Tür hinter sich zu.“

Sie sah ihn an – mit roten Wangen, die Augen noch feucht vor Tränen. Dennoch zögerte sie, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihren Sohn zu beschützen, und der Notwendigkeit, mit den beiden Männern fertigzuwerden.

„Bitte, kümmern Sie sich jetzt um Isaac“, sagte Edward drängend. Sie nickte, drehte sich um und ging hinein. Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

Er wandte sich den beiden Männern zu. „Ich nehme an, Sie haben keinen Gerichtsbeschluss, der Ihnen erlaubt, dieses Grundstück zu betreten.“

„Das ist richtig, Sir.“ Doch aus dem Mund des Mannes klang auch das wie eine Drohung.

„Dann muss ich Sie bitten zu gehen. Wir können uns gern auf dem Bürgersteig unterhalten.“

Die beiden Männer warfen sich einen Blick zu. Sie merkten offensichtlich, dass Edward nicht so leicht einzuschüchtern war, und drehten sich widerstrebend um. Er folgte ihnen auf die Straße.

„Es geht hier um unbeglichene Schulden, Sir.“

Edward sah sich um und erkannte, dass Charlotte wieder in der Tür stand. Sie war gerade im Begriff, ihre Sportschuhe anzuziehen.

„Lassen Sie die Dame in Ruhe. Wenn Sie etwas zu sagen haben, sagen Sie es mir.“

„Ich muss aber mit ihr sprechen“, beharrte der Mann.

Charlotte war inzwischen näher gekommen und hatte die letzten Worte gehört. „Sie können mit meinem … Anwalt sprechen. Er vertritt meine rechtlichen Angelegenheiten.“

„Gut, in diesem Fall …“ Der Mitarbeiter der Inkassofirma wandte sich an Edward. „Wir suchen den Ehemann dieser Dame. Man hat uns gesagt, wir könnten ihn hier finden, und er …“

„Er ist aber nicht hier“, unterbrach sie ihn heftig. „Ich habe ihn seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.“

„Nun, davon würden wir uns gern selbst überzeugen“, sagte sein Partner.

„Sie haben kein Recht, das Haus zu betreten. Die Dame hat Ihnen bereits gesagt, dass der Gesuchte nicht hier ist und dass Ihre Anwesenheit nicht erwünscht ist.“ Damit schien für Edward die Sache erledigt. Doch so schnell gaben die beiden sich nicht geschlagen.

„Schön und gut. Aber wissen Sie vielleicht, wo wir ihn finden können?“

Charlotte wandte sich an Edward und gab ihm die Antwort. „Ich habe keine Ahnung.“

Er nickte und legte ihr beschützend die Hand auf den Arm. „Es bleibt Ihnen überlassen, ob Sie antworten wollen oder nicht.“

„Mein Mann und ich leben seit über achtzehn Monate getrennt. Aber ich habe den Namen seines Anwalts.“

„Wären Sie so nett, uns den zu nennen? Bitte?“ Das letzte Wort schien dem Mann nicht leichtzufallen. Er machte erneut einen Schritt nach vorn.

Edward nickte Charlotte ermutigend zu. Sie drehte sich um und eilte ins Haus. Die drei Männer starrten sich feindselig an, es herrschte ungemütliches Schweigen. Kurz danach kehrte sie zurück und hielt einen Zettel mit einem Namen und einer Adresse in der Hand, den sie einem der beiden reichte. „Hier, bitte.“

„So, und jetzt würde ich Sie bitten, zu gehen“, sagte Edward. „Die Dame hat ihren Mann seit Monaten nicht mehr gesehen und weiß nicht, wo er ist. Alles Weitere können Sie von seinem Anwalt erfahren.“

„Na gut“, erwiderte der eine von beiden und schnappte sich den Zettel. „Und Sie wissen wirklich nicht, wo er ist?“, hakte er noch einmal nach.

„Scheint mir nicht sehr wahrscheinlich“, meinte der andere skeptisch. „Schließlich wohnt sein Sohn auch hier. Man sollte doch denken, er würde ihn sehen wollen.“

Edgar merkte, dass er immer zorniger wurde. Er holte tief Luft. „Sie haben Ihre Fragen gestellt und Antwort bekommen. Das muss reichen.“ Er zog sein Handy aus der Tasche. „Ich gebe Ihnen genau zehn Sekunden. Dann werde ich die Polizei rufen.“

Die beiden sahen sich an und grinsten. Er fragte sich insgeheim, wie viele Leute diese Drohung wohl wahr machten. Trotzdem fing er an, die Nummer zu wählen.

„Okay, Kumpel.“ Der größere der beiden Männer, offensichtlich der Anführer, hob ergeben die Hände hoch. „Wir sind schon weg.“

„Das will ich auch hoffen. Dann gehe ich davon aus, dass Sie die Dame in Zukunft nicht mehr belästigen werden.“

Wortlos drehten die Männer sich um und gingen zu ihrem Auto, einem chromglänzenden Geländewagen. Die Geschäfte schienen nicht schlecht zu laufen.

„Gehen Sie schon einmal rein und kümmern sich um Isaac. Ich will nur sichergehen, dass sie wirklich verschwinden.“ In diesem Moment rauschte das große Auto mit lautem Motor an ihnen vorbei.

Edward sah Charlotte an. Ihr Gesicht war knallrot.

„Danke, Edward. Tut mir leid, dass Sie das sehen mussten.“

„Das ist doch nicht Ihre Schuld. Diese Typen hatten kein Recht dazu, sich so aufzuführen.“

Sie schlug die Augen nieder. „Ja, das weiß ich. Es war ein solcher Schock für mich. Die beiden haben sofort versucht, mich einzuschüchtern.“ Sie bebte noch im Nachhinein und war offensichtlich kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Doch dann riss sie sich zusammen, drehte sich um und öffnete die Haustür. „Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar. Ich …“ Sie brach mitten im Satz ab. „So, jetzt muss ich mich aber um meinen Sohn kümmern. Wir sehen uns dann am Montag.“

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und Edward stand plötzlich allein da. Was sollte er jetzt tun? Von hier verschwinden? Das kam nicht infrage.

Er ging wieder zu seinem Auto, holte Stinky und kehrte damit zum Haus zurück.

2. KAPITEL

Isaac schluchzte in Charlottes Armen. Er gab sich alle Mühe, mutig zu sein, aber sein kleiner Körper wurde vom Weinen erschüttert, während er sich an seine Mutter klammerte. Am liebsten hätte sie sich die Männer geschnappt und sie kräftig geohrfeigt.

Doch in diesem Moment machte sich jemand am Briefkasten zu schaffen. Sie zuckte zusammen, und Isaac verstummte. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er auf die Tür.

„Charlotte? Ich bin’s. Ich habe Stinky hier. Deshalb bin ich überhaupt gekommen. Aber er geht nicht durch den Briefkasten.“

Am liebsten hätte sie Edward gesagt, er solle das Häschen auf der Türschwelle absetzen. Das hätte sie auch getan, wenn sie nicht den hoffnungsvollen Blick ihres Sohns gesehen hätte. Es war, als hätte er plötzlich Spiderman persönlich gesehen.

„Ich komme schon“, rief sie daher, nahm Isaacs Hand und führte ihn zur Tür. Dann öffnete sie sie.

Weil sie vorher solche Panik gehabt hatte, war ihr nicht aufgefallen, dass Edwards Augen jetzt viel blauer wirkten als sonst. Auch sein Haar schien dunkler zu sein. Er sah geheimnisvoll, ja fast schon ein wenig gefährlich aus. Doch er war ihr Held – war gekommen, um sie zu retten.

„Hallo, Isaac.“ Er streckte die Hand aus. „Ich habe dir Stinky zurückgebracht.“

Der Kleine sah zu ihm hoch und wischte sich die Nase am Ärmel. „Danke.“ Er sprach sehr leise und verschüchtert, was seine Mutter mitten ins Herz traf.

„Ganz schön stürmischer Morgen, was, mein Kleiner?“ Edward beugte sich zu ihm herunter und reichte ihm sein Spieltier.

Isaac nickte und griff sehnsüchtig danach. Im nächsten Moment hatte er sich auch schon von Charlotte gelöst und fiel Edward um den Hals.

„Hey … hey … sachte, sachte.“ Zuerst wirkte er ein wenig überrumpelt. Doch dann erwiderte er die Umarmung und drückte Isaac fest an sich.

Einen Moment lang wünschte Charlotte sich, ein Teil dieser Umarmung zu sein.

„Weißt du, was?“, fragte Edward den Kleinen und setzte ihn sanft wieder ab. „Jetzt werden wir beide uns um deine Mutter kümmern. Was sagst du dazu?“

Isaac nickte.

„Wie wär’s mit einer schönen Tasse Tee?“

„Ich hätte lieber ein Glas Milch.“

„Gute Idee, ich auch. Aber dann machen wir deiner Mutter einen Tee.“

„Sie trinkt lieber Kaffee.“

„Verstehe.“ Edward sah die beiden nachdenklich an. „Was denkst du, sollten wir vielleicht in ein hübsches Café gehen?“ Sein Blick wanderte von Isaac zu Charlotte. „Was meinen Sie?“

„Ich …“ Sie sehnte sich so sehr danach, in seinen Armen zu liegen und von ihm getröstet zu werden. Doch dann riss sie sich zusammen. „Danke, aber uns geht es gut. Wirklich.“

„Ja, das sehe ich.“ Er streckte die Hand aus und strich ihr so sanft über die Wange, dass sie erschauerte.

„Wir schaffen das schon, Edward“, sagte sie schnell. „Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte.“

„Aber?“

„Aber jetzt möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Bestimmt haben Sie eine Menge zu tun.“

Edward hatte immer etwas zu tun. Entweder las er ein Buch oder dachte über irgendetwas nach. Doch er schüttelte den Kopf. „Nein, keineswegs. Ich habe heute nichts anderes vor. Und von Ihnen zu mir sind es nur fünfzehn Minuten.“ Er sah sie bittend an. „Auf dem Weg dorthin könnten wir uns einen Kaffee holen, und dann können wir reden. Unter vier Augen, meine ich. Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.“

Wenn es allein um sie gegangen wäre, hätte sie sein Angebot zurückgewiesen. Doch schließlich musste Charlotte auch an Isaac denken und daher jede Hilfe annehmen, die sich ihr bot. Außerdem hatte sie das dringende Bedürfnis, Edward zu erklären, dass all das nichts mit ihr zu tun hatte. Ob es ihr nun gefiel oder nicht – sie würde ihren Stolz herunterschlucken und mit ihm Kaffee trinken müssen.

Edward hatte im Flur gewartet, während Charlotte sich schnell umzog und ein bisschen frisch machte. Ihre Augen sahen im Spiegel ein wenig verquollen aus, aber sie wollte ihn nicht zu lange warten lassen und beeilte sich daher mit der Toilette.

Auf dem Weg zu Edgar hatten sie einen kurzen Zwischenstopp in einem Café gemacht. Isaac hatte an Edwards Jacke gezogen, bis dieser ihn auf den Arm nahm. Es sah ganz so aus, als hätte der Kleine volles Vertrauen in seinen neuen Freund. Charlotte hoffte nur, dass er damit recht hatte.

Jetzt bogen sie in eine breite, von Bäumen umsäumte Straße ein und hielten schließlich, nachdem sie die Einfahrt passiert hatten, vor einem zweistöckigen, sehr eleganten Haus.

Hier war es ausgesprochen ruhig. Der Lärm der Hauptstraße war weit weg, man hörte nur das Zwitschern der Vögel. Charlotte übergab Edward die beiden Kaffeebecher und half ihrem Sohn aus dem Auto.

Plötzlich wirkte das Schweigen drückend. Edward ging vor ihnen ins Haus, ohne sie hereinzubitten. Charlotte fühlte sich mit einem Mal sehr unbehaglich und wünschte sich weit fort.

„Äh …“, sagte er unbeholfen, wie ein Mann, der nur selten Gäste hatte. „Hier sind wir nun.“

„Ja.“ Charlotte trat vorsichtig über die Schwelle und hielt Isaacs Hand fest. Auch im Inneren des Hauses war es still. Aber sie betrachtete bewundernd den cremeweißen Flur, die Bilder an den Wänden und die vielen Pflanzen.

„Kommt mit ins Wohnzimmer.“ Edward öffnete eine große Flügeltür und ging voran.

Das Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster und warf ein warmes Licht auf die beiden beigefarbenen Sofas, die mitten im Zimmer standen. Es gab einen großen Flachbildfernseher und eine luxuriöse Stereoanlage. In der anderen Ecke, die hinaus auf den Garten ging, erblickte Charlotte einen Flügel.

„Wunderschön“, sagte sie bewundernd und drückte die Hand ihres Sohns. „Findest du nicht auch, Isaac?“

Aber der Kleine war zu überwältigt, um zu sprechen. Staunend betrachtete er die Regale an den Wänden mit den zahlreichen Büchern.

„Ich möchte dir gern Archie vorstellen“, sagte Edward und zeigte auf die rötlichbraune Katze, die sich auf dem Teppich vor den Fenstern in der Sonne rekelte.

„Ist das ein Löwe?“, fragte Isaac ehrfurchtsvoll.

Edward lachte. „Nein, er ist ganz zahm. Du wirst schon sehen.“ Er ging zu dem Kater hinüber und kitzelte ihn hinterm Ohr, bis er wohlig zu schnurren begann und sich auf den Rücken rollte.

„Willst du ihn mal streicheln?“

Der Kleine kam vorsichtig näher, und Charlotte beobachtete das Geschehen gespannt.

„Denk daran, er ist viel kleiner als du“, erinnerte sie ihn. „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Sie selbst blieb an der Türschwelle stehen, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie im Haus auch willkommen war.

„Glauben Sie, Isaac möchte ein bisschen fernsehen, während wir uns unterhalten?“

„Oh. Ja, ich denke schon. Vielen Dank!“ Charlotte nahm die Fernbedienung in Empfang und fand bald einen Sender mit dem passenden Programm. Sie drehte den Ton ein bisschen herunter, und Isaac ließ sich vor dem Bildschirm nieder.

Edward, der inzwischen in der Küche gewesen war, setzte ihm einen Becher heiße Milch vor und ging dann zu seinem Schrank, aus dem er einen Modellsatz von Molekülen hervorholte.

Charlotte lächelte ihn an. „Wollen Sie das Isaac zum Spielen geben?“

„Warum nicht? Glauben Sie, wir können ihn vor dem Fernsehen allein lassen?“

„Ganz bestimmt. Außerdem hat er ja schon einen neuen Freund gefunden.“ Sie zeigte auf ihren Sohn, neben dem sich jetzt der Kater niedergelassen hatte. Isaac streichelte ihn behutsam.

„Prima. Dann kommen Sie bitte mit.“

Edward trat durch eine Tür am Ende des Raums, neben der der Flügel stand. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass es ihrem Sohn gut ging, folgte sie ihm.

Ihre Gefühle waren sehr gemischt. Sie wusste, dass sie diesem Gespräch nicht entkommen konnte und es eigentlich auch nicht wollte. Edward hatte ein Recht auf die Wahrheit, und sie konnte nur hoffen, dass er sie verstehen würde.

Zu ihrer Überraschung hatte er sie in die Küche geführt. Jetzt saß er am Tisch, mit einer Tasse Kaffee vor sich, die er so konzentriert studierte, als läge darin die Lösung. Sie ließ sich ihm gegenüber am Tisch nieder.

„Woher hat Archie eigentlich seinen Namen? Haben Sie ihn nach Archimedes genannt?“ Sie genehmigte sich einen Schluck Kaffee, der aromatisch und stark war.

Edward sah auf und nickte. „Ja. Woher haben Sie das gewusst? Bin ich so leicht zu durchschauen?“

„Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, Sie sind der unberechenbarste Mensch, der mir je begegnet ist.“ Er lächelte sie an, was Charlotte nicht unberührt ließ. Aber auch das half ihr im Moment nicht viel.

„Also.“ Er senkte den Blick und starrte wieder auf seine Tasse. „Sie sind in Schwierigkeiten, richtig?“

„Ja, das kann man wohl sagen.“ Sie hätte wissen müssen, dass er direkt zum Punkt kommen würde. Edward war nicht der Mann für Small Talk. „Aber es ist nicht so, wie Sie denken.“

Jetzt sah er sie an, mit diesen intensiven blauen Augen, die ihre Wirkung auf sie nie verfehlten. „Ich denke überhaupt nichts.“

„Das ist eine glatte Lüge.“

Der Schatten eines Lächelns umspielte seine Lippen. „Wahrscheinlich haben Sie recht.“

Plötzlich hatte sie den Wunsch, sich zu verteidigen. Sie schämte sich für die Szene, die Edward als Zeuge mitbekommen hatte. „Es handelt sich nicht um meine Schulden.“

„Ist mir klar. Die beiden Männer haben ja schließlich Ihren Mann gesucht.“

„Der bald mein Exmann sein wird. Sehr bald sogar, wenn alles läuft wie geplant.“

Vielleicht hätte sie das etwas neutraler sagen sollen, weniger heftig. So klang es, als ob sie unbedingt ihre Unschuld beteuern wollte. Doch sie spürte instinktiv, dass Edward mit Tatsachen besser umgehen konnte als mit Emotionen.

„Haben Sie Vorsorge für die finanziellen Aspekte einer Scheidung getroffen?“

Charlotte nickte. „Ja, wir werden getrennte Konten und Kreditkarten haben. Das Haus und die Hypothek lauten auf meinen Namen.“

„Dann gibt es nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssen. Wenn Sie eine Trennungsurkunde beantragt haben, sind Sie für seine Schulden nicht mehr verantwortlich.“

„Woher wissen Sie das?“ Sie sah ihn erstaunt an.

„Ich habe ein abgeschlossenes Jurastudium.“

„Aber Sie sind doch Chirurg!“

„Ich … na ja … man hat mir geraten, mit dem Medizinstudium zu warten, bis ich älter bin.“

„Aha.“ Dann stimmte es also, was man sich über ihn erzählte. „Sie müssen ein Genie sein!“

Er schüttelte den Kopf. „Als ich noch ein Junge war, nannte man es Begabung. Inzwischen heißt es wohl hochbegabt.“

Offensichtlich bildete er sich nicht viel darauf ein, was sie ganz erstaunlich fand. Aber Edward ließ sich nicht so leicht ablenken.

„Ich muss kein Genie sein, um zu wissen, dass das noch nicht das Ende Ihrer Geschichte ist.“

„Ach, wirklich?“ Unwillkürlich musste sie lächeln.

„Ja, wirklich. Da können Sie lächeln, soviel Sie wollen. Obwohl Sie das noch hübscher macht.“

Das Kompliment verwirrte Charlotte. Es war ein bisschen viel für sie, hier mit Edward in seiner Küche zu sitzen, als wäre er ihr Freund.

Sie riss sich zusammen und nickte. „Gut, ich werde Ihnen alles erzählen. Mein Mann war … nun ja, ich glaube, man kann sagen, er ist spielsüchtig.“

„Deshalb haben Sie ihn verlassen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe es am Anfang gar nicht gemerkt. Erst als der Gerichtsvollzieher vor unserer Tür stand. Das erste Mal passierte es am Tag nach Isaacs zweitem Geburtstag.“ Sie seufzte tief. „Anfangs habe ich seine Schulden bezahlt. Er hat mir versprochen, mit dem Spielen aufzuhören, und ich habe ihm geglaubt.“

„Aber er hat Sie angelogen?“

„Ja, natürlich hat er damit weitergemacht. Mit Kartenspielen, Internetpoker, einfach allem, was ihm in die Hände fiel. Er hat unsere Kreditkarten bis zum Limit ausgereizt, und ich musste ihm immer wieder aus der Patsche helfen. Am Ende sogar mit dem Geld, das ich von meinen Eltern geerbt hatte, nur damit wir ein Dach über dem Kopf hatten.“ Sie holte tief Luft. Eines war klar – so etwas würde ihr nie wieder passieren. Sie würde auf der Hut sein, allein schon um Isaacs willen.

„Trotzdem hat es nicht gereicht.“ Es lag keine Anklage in seinen Worten. Edward fasste nur die Tatsachen zusammen.

„Völlig richtig. Ich habe stets versucht, alles zusammenzuhalten. Doch dann war er eines Tages verschwunden, vor genau achtzehn Monaten. Ich habe unser Haus verkauft, all seine Schulden bezahlt und mit dem Rest eine Anzahlung auf dieses kleine Häuschen geleistet. Alles nur, damit Isaac und ich noch einmal neu anfangen konnten.“

Er nickte mit regloser Miene.

Charlotte erkannte plötzlich, dass er keineswegs weltfremd war. Er dachte die Dinge nur immer gründlich durch und ließ dabei kein Detail aus den Augen.

„Kennt Ihr Mann Ihren jetzigen Aufenthaltsort?“

„Ja, ich habe ihm gesagt, wo wir sind. Ich hatte gehofft, er würde einmal kommen, um Isaac zu besuchen. Aber bisher ist er nicht aufgetaucht.“

Sie seufzte tief. Es war nicht nötig, Edward zu erzählen, was sie am meisten belastete, denn das hatte nichts mit dem jetzigen Problem zu tun. Aber es war demütigend genug, von den Schuldeneintreibern ihres Mannes verfolgt zu werden.

Sie erwiderte seinen Blick, der zwar forschend, aber nicht anklagend war.

„Und Ihre Scheidung läuft, wie Sie sagten?“

„Ja. Ich habe das vorläufige Scheidungsurteil bereits erhalten und warte jetzt noch auf das endgültige Urteil. Ich kann nur hoffen, dass er mir keine Steine mehr in den Weg legt und am Ende noch Einspruch erhebt.“

„Wieso sollte er das tun?“

„Weil … na ja, ich weiß nicht … Peter ist alles andere als vorhersehbar. Sie müssen wissen, er ist ein schwacher Mann. Er denkt immer nur an das, was für ihn im Moment gut ist, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.“

„Sie trauen ihm anscheinend nicht.“

Das war noch untertrieben. Charlotte hatte dazu auch keinen Anlass. „Nein, überhaupt nicht. Die Männer, die heute Morgen hier erschienen sind, sind nicht die Einzigen, denen er Geld schuldet. Gestern Abend rief mich jemand an, der behauptete, ich müsste noch eine Handyrechnung bezahlen.“

„Stimmt das?“

„Natürlich nicht. Ich habe ja nicht einmal einen Mobilfunkvertrag.“

Sie griff in die Tasche, um ihm ihr Handy zu zeigen, doch er legte ihr die Hand auf den Arm und hielt sie zurück. „Nicht doch. Ich glaube Ihnen ja.“

„Sie vielleicht. Aber was soll ich tun, wenn Peter bis zur endgültigen Scheidung wieder ein Konto in unserem Namen eröffnet? Ich habe einfach nicht mehr das Geld, um seine Schulden zu begleichen.“

Charlotte hatte das Gefühl, als würden Isaac und sie wieder in den Albtraum hineingezogen, dem zu entgehen sie so hart gearbeitet hatte. Es schien unvermeidlich zu sein. Sie spürte plötzlich, wie ihr die Tränen kamen.

„Was haben Sie diesem Mann gesagt?“ Edward klang noch immer ganz ruhig. Er konzentrierte sich allein auf die Fakten.

Sie holte tief Luft. „Ich habe ihm gesagt, dass ich von dieser Rechnung rein gar nichts weiß, und ihn gebeten, mir eine Kopie zu schicken.“

„Großartig! Sobald wir sie haben, können wir Nachforschungen anstellen. Aber bis dahin … gibt es irgendjemanden, bei dem Sie vorübergehend unterkommen könnten?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Meine Eltern sind tot, und ich habe keine Geschwister.“ Charlotte versuchte zu lächeln, fühlte sich jedoch mit einem Mal schrecklich allein. „Wir … ach, das werden wir schon hinkriegen. Ich gehe einfach nicht ans Telefon und werde auch niemandem öffnen.“

Er schüttelte den Kopf. „Kommt nicht infrage. Sie werden hierbleiben.“

Sie sah ihn überrascht an. „Nein, das … also, das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Das könnte ich nie annehmen.“

„Sie müssen aber auch an Ihren Sohn denken. Soweit ich weiß, kommen solche Leute besonders gern sonntags vorbei. Isaac ist alt genug, um zu wissen, was das bedeutet.“

Sie ließ den Kopf hängen und nickte bedrückt. Er hatte sie an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen. „Ich dachte immer, er wäre noch zu klein, um zu begreifen, was vor sich geht. Aber als diese Typen heute Morgen klingelten …“

Isaac hatte genau gewusst, was die Männer wollten, und hatte sie sogar angegriffen. Er hatte versucht, seine Mutter zu beschützen. Charlotte hatte ihn nur mit Mühe bändigen und zurück ins Haus schicken können, während die beiden sich angegrinst hatten.

Jetzt war es Edward, der einen tiefen Seufzer ausstieß. „Hören Sie, Sie müssen sich und Isaac ein paar Tage lang aus der Schusslinie nehmen. Jedenfalls so lange, bis wir alle Fakten beisammenhaben. Ich habe hier mehr als genug Platz. Oben gibt es noch zwei Schlafzimmer, die nie benutzt werden. Und hier sind Sie sicher.“

Er redete nicht lang herum, und sie wusste, dass er recht hatte. Sie musste diesen Albtraum von ihrem Sohn fernhalten, und es gab keinen anderen Ort, an dem sie hätten bleiben können.

„Charlotte.“

Edward beugte sich vor, streckte die Hand aus und hob sanft ihr Kinn. Seine blauen Augen waren völlig klar. Es gab keine Entschuldigungen, keine Möglichkeit, ihn mit irgendwelchen Halbwahrheiten abzuspeisen.

„Wohin könnten Sie denn sonst noch gehen?“

3. KAPITEL

Edward hatte die Situation nur rational betrachten wollen, ohne herzlos zu sein. Aber als Charlotte plötzlich haltlos zu schluchzen begann, wurde ihm klar, dass es nicht so einfach war. Er fühlte sich dem Ganzen nicht gewachsen – weder der weinenden Frau an seinem Küchentisch noch dem wehrlosen Kind auf seinem Sofa. Doch er wusste, dass mehr von ihm erwartet wurde als nur guter Rat.

„Hey.“ Er strich ihr behutsam über die Wange. „Charlotte, bitte nicht.“

Sie ignorierte ihn. Es war ja auch ausgesprochen dumm von ihm gewesen, das überhaupt zu sagen. Schließlich konnte sie tun, was sie wollte. Nur ertrug er es kaum, sie weinen zu sehen, weil es ihn so erschütterte.

„Na gut, weinen Sie ruhig. Aber bitte nicht so laut. Ich will nicht, dass Ihr kleiner Sohn mir Vorwürfe macht, weil ich Sie aufgeregt habe. Was übrigens nicht meine Absicht war.“

Charlotte hob den Kopf. Edward hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie lachen oder weinen würde. Er entschied sich, ruhig abzuwarten. Wahrscheinlich hatte er ja sowieso schon mehr als genug gesagt.

„Ich gebe Ihnen Geld für die Miete.“ Ihre Stimme zitterte noch ein wenig, doch sie schien sich wieder gefangen zu haben.

„Nein, das werde ich nicht annehmen.“ Er schüttelte den Kopf. „Das kommt gar nicht infrage.“

„Ich könnte für Sie putzen.“

„Auf gar keinen Fall! Ich habe eine Putzfrau, die mir bestimmt aufs Dach steigen würde, wenn ich ihr kündige.“

Das war eine so komische Vorstellung, dass Charlotte wider Willen lächeln musste. Ihre Mundwinkel zuckten. „Ich habe mich schon gefragt, ob Sie diese vielen Pflanzen selbst gießen.“

„Wir haben eine Vereinbarung. Sie kümmert sich um Archie und die Pflanzen und lässt alles an seinem Platz. Dafür gehe ich ihr aus dem Weg und bezahle sie pünktlich. Das funktioniert hervorragend.“

„Glaube ich gern. Kocht sie auch für Sie?“

„Nein.“

„Gut, dann mache ich das.“

Edward sah sie zweifelnd an. Mit all diesen Komplikationen hatte er nicht gerechnet. Aber Charlotte schien fest entschlossen zu sein, ihren Beitrag zu leisten.

„Also gut. Abgemacht.“

Sie biss sich auf die Lippen. „Isaac wird Ihnen bestimmt keine Schwierigkeiten machen. Er wird Ihre Sachen nicht anrühren. Dafür werde ich sorgen.“

„Kein Problem. Ich kann alles, was er nicht anfassen soll, hochstellen. Dann kann er sich hier ganz frei bewegen.“

Sie strahlte ihn an. Wie mutig sie ist, dachte Edgar. Er sehnte sich plötzlich danach, noch mehr über sie herauszufinden. Eins stand jetzt schon fest – sie war viel mehr als nur eine ausnehmend hübsche Frau.

„Jedenfalls würde ich mir wünschen, dass Sie sich hier wie zu Hause fühlen“, setzte er hinzu. Er machte sich keine Sorgen, dass die beiden ihn in seiner Routine stören würden. Seine Mutter behauptete immer, dieses Haus wäre viel zu groß für ihn allein. Jetzt sah er ein, dass sie recht hatte.

„Vielen Dank, Edward“, sagte Charlotte warm. „Das ist wirklich sehr großzügig von Ihnen. Es wird bestimmt nur für ein paar Tage sein, bis ich die Angelegenheit geklärt habe.“

„Sie können so lange bleiben, wie Sie wollen.“

Im Gegensatz zu ihr wusste er, dass es mehr als ein paar Tage dauern würde, um alles zu regeln. Bis dahin wollte er nicht, dass die beiden wieder in ihr kleines Häuschen zurückkehrten. Sie hatten schon mehr als genug durchmachen müssen.

Nachdem er Charlotte und ihren Sohn wieder in ihr Haus zurückgebracht hatte, damit sie das Nötigste packen konnten, hatte Edward sie im oberen Stockwerk einquartiert und dann allein gelassen. Sie hatten einen eingespielten Alltag, zu dem auch regelmäßige Mahlzeiten gehörten. Für ihn kam hingegen die Arbeit immer an erster Stelle.

Am Sonntag besuchte er ein Seminar und kam erst am Abend nach Hause. Das Haus war dunkel. Als er die Tür aufmachen wollte, befiel ihn plötzlich der Gedanke, Charlotte könne es sich anders überlegt haben. Möglicherweise fand er ja einen Zettel von ihr vor, auf dem sie ihm ihr Bedauern ausdrückte.

„Oh nein, hoffentlich nicht“, sagte er laut. Doch dann sah er, dass jemand die Kette vorgelegt hatte. Die beiden mussten also da sein. Das erleichterte ihn zwar, aber wie sollte er jetzt in sein eigenes Haus hineinkommen? Klingeln kam nicht infrage, weil er dann bestimmt Isaac aufwecken würde.

Daher blieb nur noch der Seiteneingang, den er nur selten benutzte. Auf dem Weg wäre er fast über Archie gestolpert, der um die Büsche herumstrich.

„Bist du auch ausgesperrt, alter Junge?“, fragte er den Kater. Vielleicht war es ja doch ein wenig übereilt gewesen, Charlotte und ihren Sohn bei sich aufzunehmen. Schließlich ging ihm seine Routine über alles.

Doch dann sah er, dass die Flügeltüren zum Garten weit offen standen. Er würde also nicht einbrechen müssen. Charlotte hatte es sich auf einem Sessel auf der Terrasse gemütlich gemacht.

„Guten Abend!“

Als sie ihn erblickte, lächelte sie ihn an. Sein Ärger schmolz dahin wie Schnee in der Sonne.

„Sie sind es …“ Sie rieb sich die Augen und hatte offensichtlich ein bisschen gedöst.

Er hätte sie gern darauf hingewiesen, dass es keinen Sinn machte, die Vordertür zu verschließen und gleichzeitig die Terrassentüren weit offen stehen zu lassen, sodass jeder Einbrecher gemütlich hereinspazieren konnte. Doch das hätte sie bestimmt als Kritik aufgefasst, und er wollte sie nicht brüskieren.

„Habe ich Sie geweckt?“

„Ich muss eingeschlafen sein.“ Dann fiel ihr etwas ein, und sie sah ihn schuldbewusst an. „Ooohhh … ich habe Sie ausgeschlossen.“

Plötzlich fand selbst er das nicht mehr so schlimm. „Die Kette vorzulegen, ist eigentlich eine gute Vorsichtsmaßnahme.“

„Aber bei offener Tür auf der Terrasse einzuschlafen, wohl kaum.“

Edward zuckte die Achseln. „Warum entspannen Sie sich nicht ein bisschen? Bei mir sind Sie sicher. Hier wird Sie niemand vermuten.“ Er stellte seine Aktentasche ab, holte sich einen Gartenstuhl und nahm neben ihr Platz.

Sie nickte. „Sie haben recht. Das ist ein großes Glück für Isaac und mich.“

„Hatten Sie einen schönen Tag?“

„Ja, danke der Nachfrage. Nach dem Lunch sind wir in den Park gegangen. Dort gibt es einen tollen Spielplatz und eine Cafeteria. Wir haben auch Fußball gespielt.“

Es klang wirklich so, als hätten sie viel Spaß gehabt. Edward fragte sich insgeheim, ob das nicht lustiger war, als stundenlangen Vorträgen zuzuhören. Aber wahrscheinlich waren Charlotte und ihr Sohn sich selbst ja genug. Sie hätten gar nicht gewollt, dass er mitkam.

„Klingt super. Haben Sie auch schon darüber nachgedacht, wie Sie in der anderen Sache vorgehen wollen?“

Sie nickte. „Ich habe mit Paula darüber gesprochen. Sie wird mir ihr Laptop leihen. Ich habe eine Liste von Punkten gemacht, die ich recherchieren muss. Sobald ich das Laptop habe, kann ich damit loslegen.“

„Aber das ist doch nicht nötig“, protestierte er. „Sie können gern meins benutzen.“

„Oh, danke.“ Charlotte wirkte plötzlich etwas verlegen. „Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Einen Kakao zum Beispiel?“

Offensichtlich widerstrebte es ihr, seine Großzügigkeit zu sehr auszunutzen. Alles, was Edward für sie tat, war für sie eine Aufforderung, ihm etwas zurückzugeben. Er wollte sie auf diesen Punkt aufmerksam machen, doch da war sie schon aufgestanden.

„Ein Kakao wäre jetzt prima. Vielen Dank!“

Vielleicht sollte er ihr ja ihren Willen lassen. Das Lächeln, mit dem sie ihn bedachte, bestätigte ihn darin.

Kurz danach kehrte Charlotte mit einem Tablett zurück, auf dem eine Tasse dampfenden Kakaos und eine kleine Schüssel mit selbst gebackenen Plätzchen standen.

„Merci.“ Edward nickte und nahm das Tablett in Empfang. In diesem Moment erschien Archie um die Ecke und rollte sich unter Charlottes Sessel zusammen. „Ich wollte Sie noch um einen Gefallen bitten.“

„Natürlich, sehr gern. Worum geht es?“

„Mein Vater hat eine eigene Kanzlei, und ich dachte, es wäre gut, wenn Sie einen Termin mit ihm machen würden. Er hat ausgezeichnete Mitarbeiter, die ihnen bei Ihrer Recherche sehr gut helfen können. Mit meinem Vater an Ihrer Seite könnten Sie wesentlich mehr erreichen.“

„Aber das kann ich mir doch unmöglich leisten!“

„Es wird Sie nichts kosten. Wenn ich ihn darum bitte, wird er es gratis machen.“

Charlotte zögerte, dann schüttete sie den Kopf. „Nein, das kann ich nicht annehmen. Es wäre nicht fair. Bitte, sagen Sie ihm nichts davon.“

Er seufzte. „Es ist auch nicht fair, dass Sie all Ihre Zeit mit dieser Recherche verbringen müssen. Oder dass Sie unbedingt allein kämpfen wollen, obwohl es Menschen gibt, die Ihnen helfen wollen. Außerdem kann ich mir gut vorstellen, dass es Ihre Arbeit in der Klinik beeinträchtigen würde. Das können Sie doch unmöglich wollen!“

Sie runzelte die Stirn. „Ich würde nie zulassen, dass meine Arbeit darunter leidet.“

„Kann schon sein. Aber können Sie das garantieren? Zu viel Druck ist für jeden schädlich.“

Sie zögerte erneut. „Edward, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

Er sah sie eindringlich an. „Im Grunde ist es ganz einfach. Vertrauen Sie mir!“

Ja, es klang einfach. Doch inzwischen wusste er ja, dass genau das ihr Problem war.

„Es tut mir leid.“ Ohne ihn anzuschauen, stand sie auf und ging hinein.

Edward lehnte sich seufzend im Sessel zurück und starrte in die Dunkelheit. Archie erhob sich, kam zu ihm herüber und ließ sich zu seinen Füßen nieder. Er streichelte ihn gedankenverloren. Seitdem Charlotte und Isaac eingezogen waren, sah er sich plötzlich mit einer Menge Probleme konfrontiert, die ihm völlig neu waren. Hoffentlich war er der Situation gewachsen.

Als Charlotte am nächsten Morgen aufstand, hatte Edward das Haus bereits verlassen. Sie zog sich rasch an und bereitete Isaac für die Schule vor. Ihr war bewusst, dass sie Edward gestern Abend mitten im Gespräch stehen gelassen hatte. Dafür sollte sie eine Antwort parat haben, falls er das Thema noch einmal erwähnte.

„Mum …?“

„Ja, Isaac?“

„Wird alles wieder gut?“

Sie setzte sich zu ihm an den Küchentisch. „Natürlich wird es das. Warum fragst du das?“

Der Junge zuckte die Achseln. „Ich weiß auch nicht.“

Er schien instinktiv zu spüren, dass irgendetwas nicht stimmte.

„Hör zu, mein Liebling. Die beiden Männer, die Sonntagmorgen zu uns gekommen sind – nun, das war ein Irrtum. Sie haben gar nicht nach uns gesucht. Wir werden ein paar Tage bei Edward bleiben, bis ich die Sache aufgeklärt habe. Aber das geht bestimmt ganz schnell. Alles wird wieder in Ordnung kommen.“

„Versprichst du mir das?“

Der Kleine sah sie aus großen Augen vertrauensvoll an. Das machte ihr Mut. Sie hatte plötzlich das Gefühl, es mit allen Widrigkeiten aufnehmen zu können.

„Ja, ich verspreche es dir. Hand aufs Herz!“

Bevor sie mit dem Dienst begann, ging Charlotte in Edwards Büro und hinterließ ihm einen Zettel mit der Bitte, ihn sprechen zu wollen. Er kehrte kurz darauf aus dem OP zurück, fand ihn auf seinem Schreibtisch vor und bat sie herein. Leider waren auch Allie und Paula im Schwesternzimmer, die Charlotte mit neugierigen Blicken verfolgten.

Sie kam gleich zur Sache. „Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen. Für gestern Abend.“

„Ich wüsste nicht, was es da zu entschuldigen gibt. Warum setzen Sie sich nicht?“ Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, doch sie schüttelte den Kopf.

„Das Ganze ist mir ein bisschen peinlich. Sie meinten doch, wir sollten unser Arrangement erst einmal für uns behalten. Aber jetzt werden wir beobachtet.“

Edward sah sie erstaunt an. „Wirklich? Von wem denn?“ Er blickte kurz hinüber zum Schwesternzimmer.

„Bitte, schauen Sie nicht hin!“

Er wandte ihr erneut seine Aufmerksamkeit zu, und Charlotte fragte sich insgeheim, ob es nicht besser gewesen wäre, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen.

„Verstehe. Nun, dann wollen wir doch einmal so tun, als wäre dies der Grund.“ Er blätterte in den Papieren auf seinem Schreibtisch und reichte ihr ein Dokument. „Jetzt können Sie Platz nehmen und so tun, als würden Sie es lesen.“

Charlotte kam seiner Aufforderung nach und warf einen kurzen Blick darauf.

„Haben Sie das geschrieben?“

Er nickte. „Ja, was halten Sie davon?“

„Geben Sie mir ein paar Monate Zeit, um es durchzuarbeiten. Dann kann ich Ihnen meine Meinung sagen.“

Er lachte. „Klingt gut!“ Dann stand er auf, ging um seinen Schreibtisch herum und stellte sich mit dem Rücken zur Glaswand.

„So, worüber wollten Sie jetzt mit mir sprechen?“

Sie holte tief Luft. „Gestern Abend war ich zu stur. Das tut mir leid.“

„Nein, Sie müssen sich nicht entschuldigen. Vielleicht habe ich die Angelegenheit ja falsch angefasst. Bestimmte Sachen sind nun einmal nicht gerade meine Stärke.“

Sie sah ihn verblüfft an. „Was wollen Sie damit sagen?“

Er seufzte. „Nun, vielleicht bin ich manchmal ein bisschen unsensibel.“

„Nein, Edward, das ist doch Unsinn! Sie waren bisher mehr als freundlich zu Isaac und mir. Dafür werde ich Ihnen immer dankbar sein.“

„Das mache ich doch gern.“

„Ja, ich weiß, aber …“ Sie gab sich einen Ruck. „Also, was ich Ihnen sagen wollte … ich habe über alles nachgedacht und eingesehen, dass Ihr Angebot sehr großzügig war und dass ich wirklich nicht alles aus eigener Kraft schaffen kann. Daher würde ich mich freuen, wenn ich einmal mit Ihrem Vater sprechen könnte. Bestimmt kann er mir einen guten Rat geben.“

Edward nickte. „Mein Angebot steht. Ich werde ihn anrufen.“

„Danke, das schätze ich sehr. Bitte, sagen Sie ihm das auch.“

„Mache ich.“ Er zeigte auf das Dokument in Charlottes Schoß. „Sie sollten wenigstens so tun, als würden Sie es sich anschauen.“

Sie nickte, nahm es in die Hand und gab vor, es zu studieren. „Besser?“

„Viel besser.“ Er griff in seine Tasche und beugte sich nach vorn. „Hier ist die Visitenkarte meines Vaters. Ich werde ihn gleich anrufen und ihm sagen, dass Sie sich heute Nachmittag bei ihm melden werden.“

„Großartig, vielen Dank.“ Charlotte nahm die Karte in Empfang und sah ihn argwöhnisch an. „Irgendwie habe ich das Gefühl, als würden Sie sich amüsieren.“

„Was meinen Sie damit?“

„Nun, all diese Heimlichkeiten. So zu tun, als ob. Das scheint Ihnen Spaß zu machen.“

Edward lachte. „Amüsieren ist nicht ganz der richtige Ausdruck. Aber ich glaube auf jeden Fall, dass Sie die richtige Entscheidung getroffen haben.“

„Das denke ich auch.“ Sie steckte die Karte ein. „Müssen Sie heute noch lange arbeiten?“

„Nein. Warum? Brauchen Sie eine Mitfahrgelegenheit?“ Er lächelte sie spitzbübisch an. „Wenn Sie mögen, könnten Sie am Eingang zum Park auf mich warten. Mit Perücke und Sonnenbrille, damit Sie von niemandem erkannt werden.“

„Gute Idee. Ich könnte eine rosa Nelke im Knopfloch tragen.“

„Unbedingt. Passend zur Farbe Ihrer Ohren.“

Charlottes Ohren waren nicht das Einzige an ihr, was glühte, als sie ins Schwesternzimmer zurückging.

„Hey, nicht so schnell!“ Paula hielt sie auf, als sie an ihr vorbeigehen wollte.

„Was ist?“ Innerlich bereitete sie sich auf ein Kreuzverhör vor.

„Was geht denn hier ab? Zwischen dir und Edward North, meine ich?“

„Gar nichts. Er hat mir nur einen Artikel gezeigt, den er für eine Fachzeitung geschrieben hat. Dazu wollte er meine Meinung hören.“

„Interessant!“ Allie sah sie neugierig an. „Dann sorg dafür, dass es nicht bei diesem einen Mal bleibt. Schließlich führt eins zum anderen, wie wir alle wissen.“

„Für solche Sachen habe ich keine Zeit. Isaac ist im Moment der einzige Mann in meinem Leben.“

Aber so leicht ließ Paula sich nicht zum Schweigen bringen.

„Wenn ich es mir recht überlege, bist du genau die Richtige für ihn. Und er sieht wirklich verdammt gut aus.“

„Nicht nur das“, sagte Allie alarmiert. „Achtung, er kommt hier rein!“

Charlotte hatte es vermieden, einen Blick zurückzuwerfen. Doch im nächsten Moment betrat Edward das Schwesternzimmer und kam direkt auf sie zu.

„Charlotte?“

Klang das etwas intim, oder bildete sie sich das nur ein? Die beiden Schwestern warfen sich beredte Blicke zu.

„Ja?“

„Mrs Ashe ist hier, mit ihrer Tochter April. Wenn Sie Zeit haben, würde ich jetzt gern mit ihr sprechen.“

„Natürlich. Kein Problem.“ Sie griff nach den Unterlagen und folgte ihm ins Behandlungszimmer.

Die Siebzehnjährige atmete tief durch, als Edward begann, ihr vorsichtig den Verband vom Gesicht zu nehmen. Sie hatte einen Autounfall gehabt, wobei sie schwere Gesichtsverletzungen erlitten hatte. Vor einer Woche hatte er ihr neue Haut transplantiert, und jetzt wollte er das Ergebnis begutachten. Sein leichtes Nicken und ein kurzer Blick zu Charlotte bewiesen, dass er mit seiner Arbeit zufrieden war.

„Sieht es schrecklich aus?“ April biss sich nervös auf die Unterlippe.

„Nein, im Gegenteil. Natürlich ist Ihr Gesicht noch ein bisschen geschwollen, aber das wird sich geben. Die Narben sind bisher sehr gut verheilt.“

Charlotte legte ihre Hand auf Aprils und spürte, wie sie zitterte. „Wenn Sie sich jetzt im Spiegel betrachten, denken Sie bitte daran, dass der Heilungsprozess erst begonnen hat. Die Operation ist gut verlaufen, wir sind sehr zufrieden. In den kommenden Monaten wird sich Ihr Aussehen immer mehr normalisieren.“

„Danke.“ April lächelte ein wenig gezwungen. „Das weiß ich.“

Sie war zwar noch jung, wirkte aber viel vernünftiger als viele andere Patienten der Hunter Clinic, die von den Ärzten Wunder erwarteten. Charlotte griff nach dem Spiegel, aber Edgar kam ihr zuvor und reichte ihn dem jungen Mädchen.

„Überzeugen Sie sich selbst. Wenn Sie unsere Anweisungen befolgen, werden Sie bald wieder so wie früher aussehen.“

„Ich danke Ihnen.“ April nahm den Spiegel entgegen und holte tief Luft. Dann lächelte sie erleichtert. „Gar nicht so schlecht.“

„Im Gegenteil.“ Charlotte sah sie ermunternd an. „Jetzt zeige ich Ihnen ein paar kleine Massagegriffe. Wenn Sie ordentlich mitarbeiten, sind die Schwellungen bald verschwunden.“

4. KAPITEL

Der Duft, der aus der Küche strömte, war köstlich. Er ließ einem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Edward wunderte sich, warum er schon wieder so hungrig war, obwohl er normalerweise viel später aß und manchmal auch gar nichts zu sich nahm, wenn ihm die Arbeit wichtiger war.

„Weißt du, was es zum Abendessen gibt, Isaac?“, fragte er den Kleinen, der neben ihm auf dem Sofa saß und unruhig hin und her rutschte.

„Ja, Mum hat es gestern schon vorbereitet.“

„Willst du’s mir verraten?“

„Es gibt Lasagne.“

„Oh, großartig! Ich liebe Lasagne.“

„Ich auch. Und ich find’s schön hier.“ Der Kleine dachte eine Minute nach. „Wann gehen wir wieder nach Hause?“

Edward warf einen Blick in Richtung Küche. Von Charlotte war nichts zu sehen. Er ging davon aus, dass sie alles hören konnte. Aber offensichtlich wollte sie ihm nicht aus der Patsche helfen.

„Wann immer ihr wollt.“

„Können wir noch bis nächstes Wochenende bleiben?“

„Natürlich, sehr gern. Was passiert denn am nächsten Wochenende?“

„Dann kommen die Männer wieder.“

„Nein, Isaac …“ Verdammt, wo war Charlotte, wenn er sie brauchte? Bei der Arbeit erschien sie doch auch immer ungerufen. „Deine Mutter hat nichts Schlimmes gemacht. Diese Männer kommen nicht wieder, dafür werde ich schon sorgen.“

„Und wie machst du das?“ Gespannt sah Isaac ihn an.

Edward holte tief Luft und beugte sich zu ihm hinunter. „Das ist mein Geheimnis. Aber wir werden verhindern, dass sie zurückkommen.“ Er streckte die Hand aus. „Versprochen!“

Der Kleine sah ihn verwirrt an.

„Das bedeutet, du musst mir die Hand schütteln. Ich habe dir ein Versprechen gegeben und verpflichte mich damit, es auch zu halten.“

„So?“ Isaac streckte die Hand aus, und Edward drückte sie fest.

„Ja, genau so.“ Das Ganze lief besser, als er zu hoffen gewagt hatte.

Dem Jungen schien es zu gefallen, er streckte die Hand erneut aus. „Ich verspreche dir, ich werde dein Klavier nicht mehr anfassen.“

In diesem Moment erklang ein Geräusch aus der Küche, und Charlotte erschien in der Tür. Edward fragte sich, wie lange sie ihnen schon zugehört haben mochte.

„Bitte entschuldigen Sie. Er hat nur ein paar Noten gespielt, und ich habe seine Fingerabdrücke abgewischt.“

„Bitte, machen Sie sich deswegen keine Sorgen“, erwiderte er und wandte sich wieder dem Kleinen zu. „Ich mache dir einen Vorschlag. Du kannst gern Klavier spielen, musst deine Mutter oder mich aber vorher um Erlaubnis fragen, okay?“

„Okay.“ Isaac rutschte vom Sofa. „Kann ich jetzt ein bisschen spielen?“

„Nein, jetzt essen wir gleich zu Abend“, erwiderte Charlotte fest. „Und vorher wäschst du dir die Hände.“

Isaac zog ein Gesicht, gehorchte ihr aber und verschwand ins Badezimmer. Sie ging in die Küche, um die Lasagne zu holen, und Edward folgte ihr.

„Wie machen Sie das eigentlich?“

„Was denn? All diese Fragen zu beantworten? Ich sage ihm einfach die Wahrheit.“ Sie stellte das Gericht auf den Tisch und fügte niedergeschlagen hinzu: „Meistens jedenfalls. Natürlich möchte ich ihn beschützen. Aber er kommt langsam in ein Alter, wo das nicht mehr so ganz leicht ist.“

Edward fragte sich insgeheim, ob er ihr sagen sollte, dass Isaac denselben Wunsch hatte, nämlich sie zu beschützen. Aber dann entschied er sich dagegen. Er sollte sich besser nicht einmischen.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass Charlotte eine Vase mit Blumen auf den Tisch gestellt hatte. Dadurch wirkte der große Tisch nicht mehr ganz so massiv wie vorher. Sie hatte für ihn am Kopfende gedeckt, und er nahm Platz.

Es war völlig neu für ihn, seine Mahlzeit nicht allein einzunehmen. Charlotte saß zu seiner Rechten und häufte ihm gerade eine große Portion Salat auf seinen Teller. Isaac thronte links von ihm auf einem Kissen. Fast kam es ihm vor, als hätten die beiden ihn aufgenommen und nicht umgekehrt.

„Möchten Sie Wasser?“, fragte Charlotte ihn in diesem Moment.

„Nein, ich hätte lieber ein Glas Wein. Sie auch?“

Sie zögerte einen Moment und nickte dann. „Warum nicht? Ja, danke, gern.“

Edward ging in die Küche, holte von dort eine Flasche Wein und zwei Gläser. Zurück am Tisch, entkorkte er die Flasche und schenkte ihr ein Glas ein.

„Danke, das reicht.“

Sie hatte ihm nur erlaubt, das Glas halb zu füllen, doch damit hatte er kein Problem. Ihm war nur wichtig, dass sie sein Angebot angenommen hatte. Langsam würden sie eine gemeinsame Routine für den Tagesablauf entwickeln.

Isaac beobachtete Edward mit großen Augen. „Kann ich auch etwas haben?“

„Nein, Liebling, das ist nur für Erwachsene“, sagte seine Mutter.

„Bitte!“ Offensichtlich war er daran gewöhnt, alles mit ihr zu teilen.

„Ich habe etwas viel Besseres für dich!“ Edward grinste ihn verschwörerisch an, und der Junge wurde sofort still. Edward ging in die Küche, holte ein Saftglas aus dem Schrank und füllte es mit rotem Traubensaft. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück und stellte es Isaac hin.

„Probier das mal!“

Er nahm wieder Platz und bemerkte dabei, dass Charlotte ihn lächelnd beobachtete. Ihr Lächeln ging ihm durch und durch. Isaac trank einen kleinen Schluck und nickte dann anerkennend, wie er es vorher bei seiner Mutter gesehen hatte. Er war jetzt ein Teil dieser kleinen Dinnerparty.

Komischerweise spürte auch Edward deutlich, dass er dazugehörte. Zusammen zu essen, Charlotte ein Kompliment für ihre Kochkünste zu machen und den beiden dabei zuzuhören, wie sie miteinander scherzten und lachten … all das gefiel ihm ausgesprochen gut.

In diesem Moment klingelte jemand an der Tür.

Erschrocken sprang Isaac auf und hätte bestimmt sein Glas umgeschmissen, wenn Edward ihm nicht die Hand auf den Arm gelegt hätte. Aber seine Gabel fiel lärmend zu Boden.

„Wir brauchen nicht aufzumachen“, sagte Edward beruhigend zu ihm. Der Junge hatte offensichtlich große Angst, was man ihm nicht verübeln konnte.

„Doch, bitte“, sagte Charlotte. „Vielleicht ist es ja wichtig.“

Isaac sah ihn flehend an.

„Ob wichtig oder nicht, wir sind schließlich gerade beim Essen.“

„Aber es könnte doch ein Freund sein. Jemand, den Sie kennen.“

Das war höchst unwahrscheinlich, denn Edward bekam so gut wie nie Besuch.

„In diesem Fall kann man mich ja anrufen.“ Meistens ging er ans Telefon.

Sie lachte. „Sind Sie denn gar nicht neugierig?“

Er zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich ist es nur ein Vertreter, der mir irgendetwas verkaufen will.“

„Das Heim eines Mannes ist seine Burg, richtig?“

„Ja, wahrscheinlich haben Sie recht.“ Er wandte sich wieder dem Jungen zu. „Und das bedeutet, ich muss nicht aufmachen, wenn ich nicht will.“

Autor

Carol Marinelli
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