Julia Best of Band 249

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EIN BABY - UND EIN MILLIONÄR?
Was für ein mysteriöser Mann! Der Multimillionär John Adair gilt als eiskalt und berechnend. Doch als mitten in einem Interview mit der hochschwangeren Sherry plötzlich die Wehen einsetzen, kümmert er sich zärtlich um sie. Sherry muss einfach herausfinden, welches der wahre John ist.

UNVERGESSLICHE STUNDEN MIT DIR
Mutig hat Rick sie aus dem brennenden Haus gerettet – und dabei Joannas Liebe aufs Neue entfacht. Vor Jahren waren sie und der reiche Unternehmersohn ein Paar – bis man sie zwang, ihn aufzugeben. An ein Happy End glaubt sie auch diesmal nicht. Aber da unterschätzt sie Rick …

VERLIEBT IN DEN FALSCHEN MANN
Sinnliche Wünsche wecken Jareds Charme und sein Sex-Appeal in Maren. Doch nach einer Enttäuschung hat sie sich geschworen, nie wieder einem Mann zu vertrauen. Macht sie einen Fehler, als sie ihrer Sehnsucht nach Leidenschaft und Liebe nachgibt?


  • Erscheinungstag 18.02.2022
  • Bandnummer 249
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511650
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marie Ferrarella

JULIA BEST OF BAND 249

1. KAPITEL

„Sagen Sie, haben wir uns nicht schon mal irgendwo gesehen?“

Die neue Redaktionsassistentin hatte Sherry Campbell eine Weile aufdringlich angestarrt, bevor sie mit ihrer Frage endlich herausgeplatzt war. Sie bemerkte noch nicht mal, dass der Hochleistungskopierer der Bedford World News schon längst keine Blätter mehr auswarf und geduldig auf ihren nächsten Knopfdruck wartete.

Aber die Assistentin dachte nicht im Entferntesten ans Kopieren. Sie hielt ihren Blick starr auf Sherry gerichtet, während ihre Stirn sich in tiefe Falten furchte. Angestrengt kramte sie in ihrem Gedächtnis. Verdammt noch mal, woher kenne ich diese Frau? überlegte sie fieberhaft.

Sherry unterdrückte einen genervten Seufzer.

Es war nichts Neues, dass wildfremde Leute durchblicken ließen, Sherry zu kennen. Manchmal ordneten sie das Gesicht sogar richtig ein, aber im Verlauf der Zeit geschah das immer seltener. Früher, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, war es regelmäßig passiert. Und sie konnte nicht von sich behaupten, dass es sie ernsthaft gestört hatte. Damals.

Jetzt starrten die Leute genauso aufdringlich auf ihren dicken Bauch wie damals in ihr Gesicht. Deshalb hatte sie ihre Karriere aufgegeben. Ihre ungeplante Schwangerschaft hatte sie ihren Job als Sprecherin bei einer Nachrichtensendung gekostet. Natürlich hatte man nicht großartig darüber gesprochen, aber sie wusste genau, dass sämtliche Fernsehstudios höllische Angst davor hatten, der allabendliche Anblick einer Schwangeren könnte die öffentliche Meinung von Anstand und Sitte verletzen. Die Verantwortlichen hielten ihren Rausschmiss offenbar für eine Frage von korrektem Verhalten. Als sie ihre Schwangerschaft nicht mehr hatte verbergen können und Ryan Matthews informiert hatte, hatte der Leiter des Nachrichtenressorts sie schnellstens an einen Arbeitsplatz versetzt, an dem sie weniger auffiel als bei den Hauptnachrichten um fünf Uhr nachmittags.

Und noch am selben Tag hatte Matthews die erst kurz zuvor eingestellte Lisa Willows zur neuen Sprecherin ernannt. Nicht genug, dass Sherry jetzt in der Redaktion saß und die Texte schrieb, die Lisa Willows moderierte, Ryan Matthews wollte ihr auch noch einreden, dass sie einen wichtigen Schritt auf der Karriereleiter gemacht hatte. Seine Absichten waren leicht zu durchschauen, und als Sherry ihn damit konfrontierte, erklärte er ihr halbherzig, dass die Öffentlichkeit ihren „ausschweifenden Lebenswandel“ ganz sicher nicht tolerieren würde. Noch nicht mal heutzutage. Die Leute, hatte er behauptet, empfänden eine unverheiratete Schwangere immer noch als empörend, und ganz bestimmt verspürten sie nicht die geringste Lust, sie Abend für Abend in ihrem Wohnzimmer willkommen zu heißen.

Obwohl inzwischen fünf Monate vergangen waren, klangen Matthews Worte ihr noch immer im Ohr. Damals schien es ihren Chef nicht im Geringsten zu beeindrucken, dass der Schreibtisch im Fernsehstudio groß genug gewesen war, um ihren Bauchumfang vor dem Publikum zu verbergen. Und es schien ihn noch weniger zu interessieren, dass sie niemals einen „ausschweifenden Lebenswandel“ gepflegt hatte. Die Schwangerschaft war das Resultat der ersten und einzigen Affäre, in die sie sich in ihrem Leben gestürzt hatte. Als sie ihrem Liebhaber von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte, hatte er sich nicht anders zu helfen gewusst, als ihr die Adresse einer Abtreibungsklinik in die Hand zu drücken. Und Matthews besaß offenbar das Rückgrat eines Gummibaums. Er bog sich immer in die Richtung, aus der der Wind am stärksten blies, und in diesem Fall war das der Aufsichtsrat des Fernsehsenders.

„Schwangere Frauen spielen heutzutage sogar in Fernsehserien mit, ohne dass das Publikum etwas merkt. Warum soll ausgerechnet ich meinen Platz räumen?“, hatte Sherry beharrt, obwohl sie genau gewusst hatte, dass jede Argumentation überflüssig war. Höflich, aber entschieden hatte Matthews ihr mitgeteilt, dass sie ihren neuen Job entweder akzeptieren oder ihre Sachen packen sollte.

Also hatte sie ihre Sachen gepackt.

Nachdem ihre Wut auf Matthews verraucht war, nahm sie ihren Rausschmiss beim Fernsehen als Wink des Schicksals, sich wieder ihrer eigentlichen Leidenschaft zuzuwenden: dem Schreiben. Das bedeutete, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Vor seinem Ruhestand war Connor Campbell ein allseits respektierter und anerkannter Journalist gewesen. Sogar den Pulitzerpreis, die renommierteste Auszeichnung für Journalisten, hatte man ihm verliehen. Nur seinetwegen war sie überhaupt Nachrichtenjournalistin geworden.

Schon immer hatte sie Probleme entschlossen aus dem Weg geräumt. Nachdem sie einen Nachmittag lang ihrer zerstörten Karriere als Nachrichtensprecherin nachgeweint hatte, marschierte sie wieder volle Kraft voraus. Zuerst wandte sie sich an Owen Carmichael, den besten Freund ihres Vaters und ihren Paten, und fragte nach einem Job. Gemeinsam mit ihrem Vater hatte Owen Carmichael seine Laufbahn begonnen, damals, als es noch nicht mal elektrische Schreibmaschinen gegeben hatte. Jetzt war er Chefredakteur der Bedford World News.

Owen war froh gewesen, dass er Sherry einen Job verschaffen konnte, aber sie hatte auf einen interessanteren Auftrag gehofft als die Jahresversammlung des Kaninchenzüchtervereins.

Das alles ging ihr durch den Kopf, als sie am Kopierer stand, ihr Blick auf das Blatt Papier in ihrer Hand fiel und die Redaktionsassistentin sie aus hellblauen Augen neugierig anstarrte.

Sherry verspürte nicht das geringste Bedürfnis, mit der Frau über ihren Job als Nachrichtensprecherin zu plaudern. Oder über den Grund für ihren Rausschmiss. Alles, was über einen höflichen Gruß hinausging, überforderte sie. Außerdem machte die Frau ganz den Eindruck, als würde sie gern tratschen.

„Ach, das passiert mir oft“, erklärte Sherry unbekümmert. „Ich habe eben ein Allerweltsgesicht.“

Die Assistentin schien nicht überzeugt. „Aber …“ Nachdenklich brach sie ab. Plötzlich leuchtete ihre Miene auf. „‚Hallo, hallo aus dem Los Angeles Basin‘.“

Das war die Formel gewesen, mit der Sherry die Zuschauer jeden Abend begrüßt hatte. Besonders originell war der Spruch nicht, aber immerhin hatte er einen hohen Wiedererkennungswert. Vier Jahre lang war sie Moderatorin gewesen, bevor Matthews sie abserviert hatte.

Sherry schüttelte den Kopf. Das hellbraune, leicht rötliche Haar schwang sanft um ihr ovales Gesicht. „Tut mir leid. Ich muss dringend zu Owen. Bin schon viel zu spät dran.“ Sie ließ es absichtlich so klingen, als hätte Owen dringend nach ihr verlangt, obwohl es natürlich genau umgekehrt war. Ihr Besuch bei ihm kam ihr vor wie eine Raubtierdressur. „Ich glaube, die Maschine braucht dringend Futter“, meinte Sherry, zeigte auf den Kopierer und verschwand eilig.

Seit einigen Wochen fiel es ihr ziemlich schwer, sich zu beeilen. Auf dem Weg zu den Fahrstühlen verspürte sie in ihrem Innern einen heftigen Tritt gegen die Rippen. Wahrscheinlich muss ich meine Knochen in der Chirurgie zusammenflicken lassen, sobald der kleine Plagegeist auf der Welt ist, sagte sie zu sich selbst.

„Schläfst du eigentlich nie?“, flüsterte sie leise und horchte in ihren Bauch hinein. Am Morgen hatte sie sich förmlich ins Büro quälen müssen, weil sie die ganze Nacht über kein Auge zugetan hatte. Die Aufträge auf ihrem Schreibtisch passten ihr überhaupt nicht in den Kram. Von Woche zu Woche wurden sie blödsinniger, und jetzt war sie überzeugt, dass der absolute Tiefpunkt erreicht war.

Atemlos hastete Sherry an Rhonda, der Sekretärin des Chefredakteurs, vorbei und stürmte geradewegs in das Büro ihres Paten.

„Owen“, stieß sie aufgebracht hervor, viel theatralischer, als sie eigentlich beabsichtigt hatte, „wir müssen miteinander reden. Bitte.“ Jetzt erst fiel ihr ein, dass sie noch nicht mal die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Owen Carmichael hob kaum den Blick. Endlose Zahlenkolonnen flimmerten über den Bildschirm seines Computers. Die PR-Abteilung der Zeitung hatte verschiedene Umfragen in Auftrag gegeben, und nun lagen die Ergebnisse vor. Er überflog die Zahlen, während er vor dem Schreibtisch stand und sich dabei mit den Handflächen auf der Kante abstützte. Obwohl die Haltung total unbequem war, behauptete er, in dieser Position am besten nachdenken zu können.

„Jetzt nicht, Sherry.“

„Doch. Genau jetzt“, beharrte sie und schmiss die Liste mit den Aufträgen kurzerhand auf seinen Schreibtisch. „Owen, ich bin dir sehr dankbar für den Job“, fuhr sie fort.

Owen musterte sie aufmerksam, bevor er sich wieder dem Bildschirm zuwandte. „Dann mach dich endlich an die Arbeit.“

Okay, dachte sie, offenbar braucht er ein bisschen Nachhilfe. Sie schob das Blatt Papier über den Schreibtisch, bis eine Ecke die gespreizten Finger ihres Paten berührte. „Was zum Teufel ist das hier?“

Er blickte flüchtig auf. „Ein Rechercheauftrag.“

„Nein“, korrigierte Sherry betont langsam. „Das ist Flitterkram. Billiger Flitterkram. Nichts als Schaumschlägerei.“

Owen seufzte auf, löste den Blick von seinem Computer und schaute sie mit ernster Miene an. „In diesem Büro gibt es keinen Luftzug. Es sei denn, man zählt den Wirbel dazu, den übereifrige Jungangestellte verursachen, wenn sie den Mund auf- und zumachen. Sind Frauen in anderen Umständen nicht eigentlich verpflichtet, dauernd müde zu sein? Sherry, warum bist du also nicht müde?“

„Ja, ich bin müde“, gestand sie ein und gab sich alle Mühe, hellwach zu klingen. „Und zwar weil ich es leid bin, immer nur Artikel zu schreiben, die ungelesen im Altpapier landen.“

Achtlos zuckte Owen mit einer Schulter. „Verpass deiner Schreibe einfach den richtigen Biss. Dann wirst du auch gelesen, bevor du im Altpapier landest.“

Sie war nicht in der Stimmung für Owens Witze. „Ich bin eine seriöse Journalistin.“

„Und ich bin ein seriöser Chefredakteur.“ Er unterbrach seine Arbeit am Computer und schaute sie an. „Im Moment kann ich dich in keiner anderen Redaktion unterbringen. Tut mir leid. Aber das nächste Projekt gehört dir. Versprochen. Und nun, Sherry, sei ein braves Mädchen und …“

Jetzt hatte er eindeutig eine Grenze überschritten. Sherry platzte beinahe der Kragen. Sie stützte sich ebenfalls mit gespreizten Händen auf den Schreibtisch und vermied es sorgfältig, den obligatorischen Becher mit starkem, schwarzem, kaltem Kaffee umzustoßen. „Owen, bitte! Ich brauche etwas, woran ich mir die Zähne ausbeißen kann. Eine echte Herausforderung. Keine Reportage über die diesjährige Abschlussfeier der Highschool oder den alljährlichen Wohltätigkeitsbasar.“ Sie beugte sich weiter vor, und aus ihren blauen Augen warf sie ihm einen flehenden Blick zu. „Bitte!“

„Du meinst also, dass du einer echten Herausforderung gewachsen bist?“

„Ja, das bin ich! Und ob!“, stieß sie begeistert hervor. „Ein Undercovereinsatz! Knallharter Enthüllungsjournalismus! Genau das, was ich will.“ Sie straffte den Rücken und strich sich über den dicken Bauch. „Wer würde eine schwangere Frau verdächtigen?“

„Gut. Du suchst die Herausforderung. Du sollst sie haben.“

Er öffnete die Schublade an der Seite seines Schreibtisches, nahm einen grellen, gelben Ordner heraus und überreichte ihn Sherry.

Sie nahm ihn entgegen und bemerkte sofort, dass er praktisch kein Gewicht hatte. Kein Wunder. Er war leer.

„Was soll ich damit?“ Erwartungsvoll zog sie die Augenbrauen nach oben.

„Schreib ihn voll“, verlangte er leise. „Mit einer Story über St. John Adair.“

„Aber …“, stöhnte sie entnervt auf.

Owen konnte sich denken, was sie einzuwenden hatte, und unterbrach sie kurzerhand. „Nicht die alte Geschichte. Eine Biografie.“ Beschwörend streckte er die Hände in die Luft, als würde er eine unsichtbare Zeitung in der Hand halten. „Ich will alles lesen, was du über diesen Mann in Erfahrung bringen kannst. Und noch viel mehr.“

Einen Moment lang hatte sie geglaubt, dass er ihr ein ernstes Angebot machen wollte. Aber stattdessen verlangte er, dass sie ihm eine dieser halbseidenen Geschichten für die Klatschspalte lieferte. Die Enttäuschung schnürte ihr förmlich die Kehle zu. Angewidert warf sie den Ordner auf den Tisch. „Owen, dir geht es nur um Klatsch und Tratsch. Um Boulevardjournalismus.“

„Ach, wirklich?“ Er hob den Ordner auf. „St. John Adair, der berüchtigtste Gangster der Wirtschaftsbranche. Schon der bloße Klang seines Namens katapultiert die Industriebosse aus den Golfklubs in die Arztpraxen, wo sie sich schleunigst Medikamente gegen Magengeschwüre verschreiben lassen. Adair. Der Geschäftshai. Der Mann ohne Biografie. Eine Zeit lang hat er ziemlich zurückgezogen gelebt, aber neuerdings kursiert das Gerücht, dass er wieder auf der Bühne erschienen ist. St. John Adair, der Albtraum eines jeden Megakonzerns.“

„Megakonzerne haben keine Albträume.“

Owens dünne Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Stimmt“, meinte er. „Wozu haben sie Adair. Und wir wissen so gut wie nichts über ihn. Niemand weiß etwas über ihn.“ Er hielt ihr den Ordner entgegen. „Du hast eine Herausforderung gesucht. Hier ist sie. Ich will alles über Adair wissen, was du in Erfahrung bringen kannst. Und noch mehr“, verlangte er. „Ich will wissen, welche Grundschule er besucht hat, wie seine Eltern heißen, ob er überhaupt Eltern hat. Oder ob er vielleicht sogar von den Wölfen in den Wäldern um Los Angeles gesäugt worden ist.“

Mühsam unterdrückte Sherry ein Lächeln. Die Aufgabe überforderte ihre Kräfte, aber sie musste zugeben, dass Owen sie neugierig gemacht hatte. „Du meinst, er ist ein Wolf im Schafspelz.“

„Stimmt.“ Wieder streckte er ihr den Ordner entgegen. „Sieh zu, was du rauskriegen kannst.“

Sherry nahm den Ordner an, ließ ihren Paten aber nicht eine Sekunde lang aus den Augen. „Du meinst es wirklich ernst.“

„Ja. Ich meine es ernst. Noch nie hat ihm irgendein Journalist einen anderen Kommentar entlockt als ‚veni, vidi, vici‘. Ich kam, sah, siegte.“

„Wie Julius Cäsar über seine Eroberungen. Danke, Owen, ich brauche keine Übersetzung.“

Inzwischen war Owen in den angenehmen Plauderton mit ihr verfallen, der ihn bei seinen Mitarbeitern so beliebt machte. „Du kannst die Erste deiner Zunft sein, die mehr über ihn in Erfahrung bringt.“ Er tat so, als würde er sie eindringlich anstarren. „Es sei denn, du fühlst dich überfordert. Dann natürlich …“ Unwillkürlich griff er nach dem Ordner.

Sherry tat ihm den Gefallen, ging auf sein Spielchen ein und schubste ihn zur Seite, damit er nicht nach dem Ordner grabschen konnte. „Nein, es überfordert mich nicht.“

„So gefällst du mir“, lobte er und schenkte ihr ein umwerfendes Lächeln.

In Gedanken tüftelte sie bereits an einem Plan. „Wie lange habe ich Zeit?“

„Je früher du fertig bist, desto besser. Sag Bescheid, wenn es so weit ist.“

Entschlossen schlug Sherry mit den Handflächen auf den Ordner und blitzte Owen an. „Okay. Ich bin dabei.“

„Großartig.“ Er hatte den Blick längst wieder auf den Bildschirm gerichtet. „Und mach die Tür hinter dir zu, wenn du gehst.“ Er hob den Auftragszettel hoch, den sie ihm vorhin auf den Tisch geknallt hatte. „Vergiss nicht, den Zettel an Daly weiterzugeben.“

„Mach ich. Wenn ich Zeit dazu habe.“

Owen nickte zufrieden. „Gut“, meinte er und hob ungeduldig den Blick, als sich das erwartete Geräusch nicht einstellen wollte. „Die Tür?“

Sherry nickte und ließ die Tür leise ins Schloss fallen.

Zufrieden lächelte sie in sich hinein, während sie den Auftragszettel in den gelben Ordner steckte und ihn sich unter den Arm klemmte. Es war zwar nicht ganz die Sache, nach der sie gesucht hatte, aber immerhin. Und sie brauchte dringend eine echte Herausforderung, wenn sie nicht vollends den Verstand verlieren wollte.

Die Stimme der Frau war kristallklar und schneidend. „Nein, es tut mir leid. Mr. Adair ist zu beschäftigt, um Sie zu empfangen. Versuchen Sie es nächsten Monat wieder. Im Moment hat er keinen Termin frei.“

Es klang, als wollte die Frau jeden Augenblick auflegen. „Der Mann muss doch irgendwann mal etwas essen“, warf Sherry hastig dazwischen. „Das wäre vielleicht eine Gelegenheit, ihn zu treffen.“

Die Frau schnaubte hörbar aus. „Mr. Adair ist bereits zum Lunch verabredet. Und zum Dinner. Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass …“

„Dann zum Frühstück“, hielt Sherry unverdrossen dagegen. „Bitte, nur für ein paar Minuten.“

„Es tut mir leid, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen“, erwiderte die Frau unbeeindruckt.

„Aber …“ Sherry stellte fest, dass sie nur noch mit dem Freizeichen sprach.

Seufzend legte sie auf. Du wirst faul und behäbig, schimpfte sie stumm in sich hinein. Wenn du zu jemandem Kontakt aufnehmen willst, dann kümmere dich gefälligst persönlich darum. Und nicht per Telefon. Du kennst doch deinen Job. Verdammt noch mal, wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, dann muss der Prophet eben zum Berg kommen. „Und der Prophet sollte gefälligst mal einen Zahn zulegen“, fuhr sie laut fort.

Obwohl sie seit einigen Tagen gar nicht mehr genau wusste, ob sie nun in der Rolle des Propheten oder des Berges steckte.

Das Meeting war vorüber. Natürlich lag es in seinen Händen, das Meeting jederzeit zu beenden, aber Sin-Jin Adair liebte es, den richtigen Augenblick abzupassen. Autorität ist eine kostbare Waffe, dachte er, man muss sie klug und umsichtig einsetzen. Deshalb hörte er seinen Mitarbeitern, die er in den Firmenübernahmen der vergangenen Jahre an sich gebunden hatte, genauestens zu, auch wenn es ihn viel Zeit kostete. Die besten Leute behielt er, der Rest wurde gefeuert. Das war das Motto seiner Unternehmensführung.

Und dieses Motto stammte von seinem Vater. Nur, dass sein Vater es auf Frauen bezogen hatte. Sin-Jin nicht.

„Gehen Sie heute früher nach Hause?“, fragte Mrs. Farley.

Sin-Jin nickte seiner Sekretärin zu. Wie alle Menschen in seiner Umgebung strotzte Edna Farley geradezu vor Effizienz und Gründlichkeit. Edna und ihn verband eine tiefe Geschichte, und nichts konnte ihre Loyalität zu ihm erschüttern. Bedingungslose Loyalität verlangte er von allen Mitarbeitern, aber er konnte geduldig darauf warten. Es war ihm viel wichtiger, dass die Treue seiner Leute langsam und stetig wuchs. Treue gehörte zu den Dingen, die man nicht kaufen konnte, obwohl er natürlich Topgehälter zahlte, damit seine Angestellten nicht auf die Idee kamen, ihr Glück woanders zu versuchen.

„Nicht so früh, wie ich gern möchte. Machen Sie Schluss für heute, Mrs. Farley.“

„Ja, Sir.“ Die Frau ließ ihren Blick über den Flur schweifen, während er ging. „Und denken Sie an das wichtige Meeting morgen früh. Außerdem wollte Mr. Renfro Sie um acht Uhr anrufen.“

„Gute Nacht, Mrs. Farley.“

Lächelnd stellte er fest, dass der schneidende Tonfall von Mrs. Farley ihm noch im Ohr hing, während er davoneilte. Sie hätte ihn an die Termine nicht zu erinnern brauchen. Seinen Kalender trug er nicht in der Tasche bei sich, sondern er hatte ihn im Kopf. Sein fotografisches Gedächtnis ließ ihn nie im Stich.

Er drückte auf den Fahrstuhlknopf. Als er einstieg, bemerkte er, dass jemand hinter ihm in die Kabine geschlüpft war.

„Oh, Entschuldigung“, sagte eine Frauenstimme, nachdem er einen Stoß in den Rücken verspürt hatte.

Sin-Jin hatte sich umgedreht und wollte gerade etwas erwidern, als er feststellte, dass der unförmige Bauch der Frau für den Zusammenstoß verantwortlich war.

Kugelrund. Sie erwartet ein Kind. Unvermittelt schoss ihm der Gedanke durch den Kopf.

„Schon gut“, meinte er und lächelte kaum merklich.

Unschuldig betrachtete Sherry ihren dicken Bauch und strich mit den Händen über die Wölbung. „Ich kann es kaum erwarten, dass mein kleiner Liebling endlich zur Welt kommt. Dann kann ich ihn in der Karre durch die Gegend schieben, anstatt bei jedem Aufstehen das Gefühl zu haben, dass ich Bleigewichte stemmen muss.“

Weil Schwangerschaft, Kinder und Liebe für Sin-Jin Dinge von einem anderen Planeten waren, konnte er nur nicken. Er brachte kein Wort über die Lippen. Abgesehen davon stellte er fest, dass die Frau trotz ihrer Schwangerschaft äußerst attraktiv war.

Aber warum auch nicht, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Vater hatte ihm zwar beigebracht, dass schwangere Frauen niemals attraktiv sein konnten, aber schließlich hatte der Mann Frauen wie Trophäen gesammelt und sich nicht im Geringsten für Schwangerschaften interessiert. Einige seiner Trophäen hatte er sogar geheiratet. Sin-Jin erinnerte sich dunkel an Nummer sieben.

Oder war es Nummer sechs? Irgendwie muss ich den Überblick verloren haben, dachte er und grinste amüsiert.

Nicht schlecht, dachte Sherry. Der Mann sieht direkt menschlich aus, wenn er lächelt. Dass er attraktiv war, wusste sie bereits. Zwei Stunden lang hatte sie im Internet gesurft und versucht, sich aus ein paar Bruchstücken ein Bild von ihm zu machen. Aber schließlich hatte sie begreifen müssen, dass Owen recht hatte. Über St. John Adair gab es nichts, was nicht mit Business zu tun hatte. Es schien, als würde er in einem schwarzen Loch verschwinden, sobald er eines der imposanten Bürogebäude verließ, die seinen Namen trugen.

Der Mann lächelt also, dachte Sherry, drängte sich kurz entschlossen an Adair vorbei und drückte auf Stopp. Der Fahrstuhl ruckte heftig und blieb zwischen dem achtzehnten und dem siebzehnten Stock abrupt stehen.

Im Bruchteil einer Sekunde war das Lächeln auf seinen Lippen verschwunden. Ist das eine Entführung? schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf. In den letzten vier Jahren waren immerhin zwei Entführungsversuche vereitelt worden. Plötzlich bezweifelte er, dass die Frau tatsächlich schwanger war. Wer weiß, vielleicht ist es nur eine raffinierte Tarnung, überlegte er fieberhaft.

Die Alarmglocken in seinem Kopf schrillten. „Was zum Teufel machen Sie da?“

Sherry hob den Kopf und schenkte ihm ihr reizvollstes Lächeln. „Ich habe mich gerade gefragt, ob Sie wohl so freundlich sind, mir einen Augenblick Ihrer kostbaren Zeit zu opfern, Mr. Adair.“

2. KAPITEL

Im Fahrstuhl herrschte vollkommene Stille. Sin-Jin starrte die Frau an, als ob sie nicht ganz bei Trost war.

„Wer sind Sie?“

Sherry hatte sich vorbereitet. Sie zog ihren Presseausweis aus der Handtasche, den sie vorsichtshalber ganz nach oben gelegt hatte, bevor sie das große St.-Adair-Gebäude betreten hatte, und hielt ihm die Karte unter die Nase. Gespannt beobachtete sie, wie seine Miene sich veränderte. „Sie sind Reporterin?“

Ganz egal, ob er sie mit seinem bösen Blick in die Knie zwingen wollte oder nicht, so leicht ließ sie sich nicht ins Bockshorn jagen. „Investigationsjournalismus“, informierte sie ihn kurz und hoffte, sich mit ihrer Bemerkung den nötigen Respekt zu verschaffen. „Kein Klatsch und Tratsch. Ich recherchiere seriös und gründlich.“

Seine strahlend blauen Augen verengten sich zu schmalen, dunklen Schlitzen. „Na, dann recherchieren Sie mal gründlich. Tun Sie sich keinen Zwang an“, stieß er spöttisch hervor. „Worum geht es denn?“

Entschlossen nahm sie den Fehdehandschuh auf, den er ihr hingeworfen hatte. „Um Sie.“

„Den Teufel werden Sie tun.“ Mit ausgestrecktem Arm langte er an ihr vorbei und schaltete den Fahrstuhl wieder ein. Sofort drückte sie erneut auf die Stopptaste. Erstaunt starrte er sie an. „Lassen Sie das!“ Der Befehl duldete weder Ungehorsam noch Widerspruch.

Unter einer Bedingung, dachte sie und lächelte ihn freundlich an. „Wenn Sie mir versprechen, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten.“

„Ich gebe niemals ein Versprechen ab, wenn ich nicht die Absicht habe, es zu halten.“ Wieder schaltete er den Fahrstuhl ein, und sofort drückte sie auf Stopp. „Schauen Sie, Lady … Mrs. Campbell“, begann er und atmete ärgerlich aus.

„Was den ersten Teil Ihrer kleinen Rede betrifft, da haben Sie recht“, erklärte sie fröhlich, „der zweite Teil stimmt nicht. Warum nennen Sie mich nicht einfach Sherry?“

„Weil, ‚einfach Sherry‘, ich nicht die Absicht habe, nähere Bekanntschaft mit Ihnen zu schließen.“

Er schaltete den Fahrstuhl wieder ein, und sie fuhren ein Stockwerk tiefer, bevor Sherry den Lift wieder zum Stehen brachte. „Wenn Sie so weitermachen, wird das Kabel reißen, und wir stürzen im freien Fall bis ins Erdgeschoss. Mag sein, dass Sie das im Kopf haben, ‚einfach Sherry‘, aber ich habe andere Pläne.“ Sin-Jins Blick fiel auf ihren Bauch. „Sind Sie überhaupt schwanger?“

Überrascht nahm er zur Kenntnis, dass sie nach seiner Hand griff und sie sich ohne Umstände auf den dicken Bauch legte. „Höchstwahrscheinlich.“

Abrupt riss Sin-Jin die Hand fort, als ob er sie auf eine glühende Herdplatte gelegt hatte. Aber er war nicht schnell genug gewesen, denn er hatte die Bewegungen des Babys unter seiner Handfläche gespürt. Das Kind hatte gestrampelt – bestimmt auf ihr Stichwort, dachte er sarkastisch.

Was hat eine schwangere Journalistin hier zu suchen? überlegte er krampfhaft. Warum hat sie sich auf die Lauer gelegt? Unwillkürlich fiel ihm das Meeting ein, das gerade beendet war. „Wenn es um die Fusion mit Marconi geht …“

Sherry unterbrach ihn. „Nein“, erklärte sie, schaute ihm direkt in die Augen und lächelte, so charmant sie nur konnte. „Es geht um Sie.“

Sofort wurde er misstrauisch. „Was ist denn mit mir?“

„Genau das will ich ja herausfinden. Was ist mit Ihnen? Niemand hat eine Ahnung, wer der clevere Geschäftmann ist, der sämtliche Firmen aufkauft.“

Es stand außer Frage, dass seine Arbeit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zog, abgesehen davon, dass er eine Menge gutes Geld damit verdiente. Aber ums Geld war es ihm nie gegangen. Vielleicht lag es daran, dass es ihm schon in seiner Kindheit nie an Geld gemangelt hatte. Er hatte die schönste Kindheit genossen, die man mit Geld nur kaufen konnte. Jeden Wunsch hatte man ihm von den Augen abgelesen, für alles war gesorgt gewesen. Wie leicht hätte seine Erziehung einen Gefühlsroboter aus ihm machen können. Und genau das warfen seine Feinde ihm vor.

Es hatte schon seine Gründe, dass niemand über ihn Bescheid wusste. Er wünschte es so. „Und so wird es auch bleiben“, erklärte er Sherry.

Als er versuchen wollte, den Fahrstuhl wieder in Gang zu setzen, blockierte sie ihm den Weg. „Warum?“

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er vergessen, dass sie in einer kleinen Fahrstuhlkabine zwischen dem achtzehnten und dem siebzehnten Stock festsaßen. Wie ein Jo-Jo, das sich in seinen eigenen Schnüren verfangen hatte. Noch nie hatte er so blaue Augen gesehen wie bei der Frau, die ihm mit ihren aufdringlichen Fragen fast den letzten Nerv raubte. Ob sie ihre wundervollen Augen als Waffe gegen mich einsetzt? fragte er sich insgeheim. Schließlich hat sie das mit ihrer Schwangerschaft auch gemacht.

„Schon mal das Wort ‚Privatsphäre‘ gehört?“, fragte er sie trocken. „Oder fehlt dieser Begriff im Wörterbuch der verehrten vierten Gewalt im Staate?“

„Aua, das tat weh. Es entspricht offenbar der Wahrheit, dass Sie einen Gegner ohne Weiteres in sämtliche Einzelteile zerlegen können. Als ob Sie ihn filetieren wollen. Nur mit Ihrem scharfen Mundwerk.“

„Ja“, erwiderte er kurz angebunden, „richtig.“

Aber anstatt seine Bemerkung als Beleidigung zu empfinden, strahlte sie ihn an, als hätte er ihr gerade einen zehnkarätigen Diamanten geschenkt.

Bestimmt betrachtet sie mich als Herausforderung, dachte er. Damit konnte er umgehen. Auch er liebte die Herausforderung. Je schwieriger etwas zu haben war, desto größer wurde sein Verlangen.

In seinem Hinterkopf formte sich ein Gedanke. Wie schwer war eine Frau zu erobern, die sich im Fahrstuhl an ihn drängte?

Schon im nächsten Augenblick schob Sin-Jin den Gedanken jedoch entschlossen wieder beiseite. Es war nicht zu übersehen, dass sie jemand anders gehörte. Anders als sein Vater legte er es nicht darauf an, die Frauen fremder Männer zu erobern, selbst dann nicht, wenn sie seine Aufmerksamkeit erregt hatten.

Sin-Jin freute sich, dass das Wortgefecht vorüber war, und langte wieder nach dem Fahrstuhlknopf. Erneut fuhr sie ihm dazwischen, aber dieses Mal griff Sin-Jin nach ihrem Handgelenk und hielt sie fest. „Das Spiel ist aus.“

Sherry hob das Kinn. Ihr Blick verriet ihm, dass er sie nicht im Geringsten beeindruckt hatte. Wie der Blitz durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass ihn dieses Spiel erregte.

„Was haben Sie zu verbergen, Mr. Adair?“, wollte Sherry wissen. „Wovor haben Sie Angst?“

Sin-Jin bemerkte, dass er ihr Handgelenk immer noch umklammert hielt. Zögernd ließ er sie los, um gleich wieder zupacken zu können, sobald sie wieder auf Stopp drückte. „Ich bin wegen Mordes angeklagt, und das zu Recht.“

„Dann muss ich nur dafür sorgen, dass Sie mir nicht durch die Finger flutschen. Oder besser gesagt, erst dann, wenn Sie mir Ihre Geschichte erzählt haben.“

Er schob sich an die Wand vor die Schaltertafel, nur für den Fall, dass sie wieder zugreifen wollte. „So verlockend der Deal auch sein mag, ich werde Ihnen meine Geschichte nicht verkaufen. Auch dann nicht, wenn Sie mir hoch und heilig versprechen, anschließend aus meinem Leben zu verschwinden.“

Der Fahrstuhl hielt an. „Wann kann ich mit Ihnen rechnen?“

Die Türen öffneten sich. Am Empfang entdeckte Sin-Jin einen Sicherheitsbeamten. Wenn die Frau weiterhin Schwierigkeiten machte, würde er sie an ihn ausliefern müssen. „Schminken Sie sich Ihr Vorhaben ab“, empfahl Sin-Jin und verschwand, ohne weitere Worte zu verlieren.

Das Baby trat ihr heftig gegen das Zwerchfell, als sie die Verfolgung aufnehmen wollte, und einen Augenblick lang stockte ihr der Atem. Zeit genug für Adair, das Weite zu suchen.

„Vielleicht können Sie jetzt weglaufen, Adair, aber Sie können sich nicht verstecken!“, rief sie ihm nach.

Sin-Jin hielt keine Sekunde inne und schaute auch nicht über die Schulter. „Na, das werden wir ja sehen!“, rief er zurück. Seine Worte hallten durch den Gang, als er durch die Automatiktüren nach draußen stürmte.

Owen hatte recht gehabt. St. Adair war eine echte Herausforderung. Ein Hochgefühl durchflutete ihren ganzen Körper.

„Ganz bestimmt werden wir das sehen, Adair“, murmelte sie und grinste breit. „Das und noch viel mehr.“

Zwei Stunden später war Sherry immer noch vollkommen erledigt. Sie spielte mit dem Gedanken, einfach nach Hause zu gehen und sich in ihr großes Bett zu kuscheln. In den letzten fünf Tagen hatte sie bestimmt nicht mehr als zehn Stunden Schlaf bekommen, weil ihr Baby stundenlang Boxkämpfe in ihrem Bauch ausgetragen hatte.

Aber an diesem Abend fand die wöchentliche Geburtsvorbereitung statt, und sie fehlte nur ungern. Die Gesellschaft von anderen Frauen tat ihr einfach gut. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Rusty, ihr früherer Kameramann und jetziger Coach, da sein würde. Das war die Gelegenheit, ihn über Adair auszufragen. Wenn Rusty Thomas nichts über Adair wusste, dann gab es auch nichts zu wissen.

Außerdem war der errechnete Geburtstermin nur noch ungefähr vier Wochen entfernt. Manchmal verspürte sie einen leichten Anflug von Panik. Sie wollte auf den großen Tag bestens vorbereitet sein.

Sherry fuhr nach Hause, aß schnell etwas zu Abend, zog sich bequemere Kleidung an, klemmte sich ein großes Kissen unter den Arm und machte sich wieder auf den Weg. Eine Viertelstunde später bog sie auf den Parkplatz des Blair Memorial Hospitals ein. Die Kurse wurden in einem Gebäude außerhalb der Klinik abgehalten.

Mit dem Kissen unter dem Arm betrat Sherry den Raum und schaute sich aufmerksam um. Sie suchte nach zwei Frauen, die sie in der vergangenen Woche besser kennengelernt hatte. Als sie Chris Jones und Joanna Prescott entdeckt hatte, ging sie zu ihnen hinüber. Lori O’Neill, die Kursleiterin, hatte die Frauen einander vorgestellt. Instinktiv hatte sie gespürt, dass sie gut zueinander passten, denn sie alle drei waren alleinstehende Mütter.

„Wie war die letzte Woche?“, fragte Lori, sobald Sherry in Hörweite war. Joanna hatte vollstes Verständnis für die Situation der Freundin, die früher als Sprecherin für die Nachrichten im Vorabendprogramm gearbeitet hatte. Sie selbst war Englischlehrerin gewesen und hatte ihren Job aus dem gleichen Grund verloren wie Sherry. Das Ministerium für Erziehung und Familie schien ebenfalls der Meinung zu sein, dass eine unverheiratete schwangere Frau die Grundfesten der abendländischen Moral ins Wanken brachte. Ihre Schüler hatten fest zu ihr gehalten, aber Joanna hatte sich trotzdem zur Kündigung entschlossen, weil sie nicht wollte, dass ihr Baby oder ihre Schüler sich plötzlich im Mittelpunkt eines hässlichen Prozesses wiederfanden.

„Frag lieber nicht“, seufzte Sherry und tat ihr Bestes, sich möglichst würdevoll auf dem Kissen niederzulassen, was keine leichte Aufgabe war.

„Unser Trio ist schon vollständig versammelt, wie ich sehe.“ Lori kam zu den dreien hinüber, legte Sherry freundschaftlich die Hand auf die Schulter und nickte den Begleitern der beiden anderen Frauen zu. „Na, Sherry, wo ist dein Begleiter?“

„Er wird schon noch kommen“, versicherte Sherry und schaute zur Tür. „Pünktlichkeit war noch nie Rustys Stärke.“

„Dann wünsche ich dir, dass dein Baby auch zu spät kommt“, scherzte Lori.

Sie trat von einem Bein aufs andere. Ihr Rücken schmerzte, und das aus gutem Grund. Den anderen Frauen hatte sie es noch nicht verraten, aber sie war ebenfalls in anderen Umständen. Bis zur Geburt sollte es noch fünf Monate dauern. Man konnte also noch nicht viel sehen. Mit ein bisschen Glück gehörte sie zu den Frauen, die sich einfach nur leger kleiden mussten, um ihren Zustand zu verbergen.

Ein Geräusch an der Tür lenkte sie ab. „Oh, da kommen noch welche an.“ Lori machte sich auf den Weg, um die Neuankömmlinge zu begrüßen, drehte sich aber noch mal um. „Gehen wir nach dem Kurs noch ein Eis essen, Ladys?“

Chris und Sherry nickten. „Du kannst ja mal versuchen, mich daran zu hindern“, meinte Joanna lachend. „Den ganzen Tag schon träume ich von einem Berg Erdbeereis.“

„Dann bis später“, versprach Lori und eilte davon.

Sherry schaute auf die Uhr und fragte sich verwundert, wo Rusty nur steckte. Die Frage nach St. Adair geisterte ihr immer noch im Kopf herum, und sie lehnte sich zu Chris hinüber. Chris Jones war blond und lebhaft und ganz bestimmt nicht der Typ Frau, den man sich unter einer FBI-Agentin vorstellte. Aber sie war eine FBI-Agentin. Seit über sechs Jahren schon arbeitete sie dort.

„Chris, was weißt du über St. John Adair?“

„Wenn du wissen willst, ob beim FBI ein Dossier über den Mann existiert, das kann ich dir leider nicht verraten“, erwiderte Chris grinsend.

Sherry überlegte scharf. „Das heißt, es liegt nichts gegen ihn vor.“

„Feindliche Übernahmen an sich sind kein Verbrechen. Es sei denn, man verschwendet einen Gedanken an die Leute, die ihren Arbeitsplatz dadurch verlieren.“ Chris warf einen neugierigen Seitenblick auf ihre Freundin. „Warum fragst du?“

„Der Verleger will, dass ich eine Hintergrundstory über ihn recherchiere. Ich habe den Mann heute in seinem Fahrstuhl in die Ecke gedrängt.“

„Und?“, wollte Joanna wissen.

„Mr. Adair war nicht besonders kooperativ. Er hat mir noch nicht mal seinen Namen, seinen Titel und seine Ausweisnummer genannt. Wenn seine Schießhunde dabei gewesen wären, ich glaube, er hätte mich glatt abknallen lassen.“

Joanna nickte. „Ich habe noch nie etwas über ihn gelesen. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, dann ist er extrem verschlossen.“ Ihr Blick fiel auf Chris. „Wer weiß, was für Leichen er im Keller versteckt.“

„Jedenfalls sind seine Leichen noch nicht wieder aus dem Keller aufgetaucht“, fügte Chris sarkastisch hinzu. „Dem FBI ist nichts bekannt.“ Plötzlich stutzte sie und wies mit dem Kopf zur Tür. „Hey, guck mal, wer da kommt. Dein Begleiter.“

Sherry rückte zur Seite, um für ihn Platz zu machen. Jerome Russell Thomas war der erste Mensch, dem sie von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte, noch vor ihren Eltern, sogar noch vor Drew. Sie waren gemeinsam aus der Redaktion ausgerückt, um ein Statement von einem Richter einzufangen, der angeblich in einen Bestechungsskandal verwickelt war. Plötzlich war ihr speiübel geworden, und sie hatte es gerade noch bis zur Toilette geschafft, bevor sie das Frühstück, das Mittagessen und vielleicht sogar noch die Überreste des Abendessens wieder von sich gegeben hatte.

Als sie zehn Minuten später von der Toilette gekommen war, hatte Rusty vor der Tür auf sie gewartet. Ein einziger Blick in ihr verschwitztes und grünliches Gesicht hatte genügt, und er hatte sie gefragt, wie weit die Schwangerschaft schon gediehen war. Es war zwecklos gewesen, die Unterstellung weit von sich zu weisen. Rusty war freundlich, aber bestimmt bei seiner Annahme geblieben.

„Meine kleine Schwester hat genauso grün ausgesehen“, hatte er behauptet. „Bei ihrem ersten Kind. Sie konnte nichts bei sich behalten. Noch nicht mal ein Glas Wasser. Sie hat praktisch nur von Kartoffelbrei gelebt. Solltest du auch mal versuchen.“

Rusty hatte ihr auch beigestanden, nachdem Drew verschwunden war und als der Sender sie rausgeschmissen hatte.

Es war also nur logisch, dass er als ihr Geburtshelfer einsprang. Zuerst hatte Rusty heftig protestiert, aber Sherry hatte stur darauf bestanden, dass er ihr zur Seite stehen sollte, bis er sich grimmig in sein Schicksal gefügt hatte. Und etwas anderes hatte sie von ihm auch gar nicht erwartet.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme. Auf dem Weg in die Klinik musste ich mich gegen eine Horde weiblicher Verehrerinnen zur Wehr setzen“, erklärte er grinsend.

„Was weißt du über St. John Adair?“

Rusty war daran gewöhnt, dass sie ihm ihre Fragen abrupt und grußlos entgegenschleuderte.

„Das, was andere auch wissen. Dass er einer der reichsten Dreckskerle weit und breit ist. Offen gesagt, ich kann einem Mann nicht vertrauen, der bei vierzig Grad im Schatten einen Anzug trägt und dabei immer noch eine gute Figur macht.“ Rusty verkniff sich ein Grinsen. „Man hält ihn für den Teufel persönlich. Warum fragst du?“

Sherry beobachtete, dass Lori zur Stirnseite des Raumes ging. Sie wollte vermutlich anfangen. „Owen hat mir eine Recherche zugeteilt.“

Rusty betrachtete Sherrys Bauch. „Hätte er sich fürs Erste nicht was Einfacheres für dich aussuchen können?“

Sherry verlagerte das Gewicht. „Was Einfacheres? Damit kann man keine Karriere machen.“

„Kann man auch nicht, wenn man in der Sackgasse landet.“

Jetzt begann Lori mit dem Kurs, und Sherry senkte die Stimme. „Du weißt doch immer alles ganz genau. Dann verrate mir also bitte, wo ich ihn für ein paar Minuten ungestört sprechen kann. Abgesehen von einem Fahrstuhl.“

Rusty überlegte kurz. „Okay. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann. Aber mach dir keine großen Hoffnungen.“

Sherry setzte sich zurecht für die Übungen, die Lori erklärte. „Ich mache alles mit“, meinte sie. „Ich habe sogar schon versucht, ihn im Fahrstuhl zu stellen, aber ich habe kein Sterbenswörtchen aus ihm herausquetschen können.“

„Wenn Adair sogar dir widerstehen kann, dann zeigt das nur, dass er zu keiner menschlichen Regung fähig ist.“

Gerührt lehnte Sherry sich zu ihrem Freund hinüber und küsste ihn auf die Wange. „Danke, Rusty. Das hat gutgetan.“

„Psst.“ Vergeblich versuchte Rusty zu verhindern, dass ihm das Blut in die Wangen schoss, und deutete auf Lori. „Die Kursleiterin spricht. Du willst doch nichts verpassen, oder?“

„Ich hab doch dich. Was soll mir da schon passieren?“, fragte sie ihn lächelnd und brachte ihn so zum Erröten.

3. KAPITEL

„Kinder, ich muss euch was gestehen.“

Lori steckte den langen Eislöffel in den Mund und ließ sich das Sahnehäubchen schmecken, bevor sie die drei Frauen anschaute, die mit ihr in der Eisdiele am Tisch saßen.

„Lass mich raten“, unterbrach Chris trocken. „In Wirklichkeit bist du gar keine Geburtshilfe-Trainerin, sondern eine international gesuchte Spionin.“ Chris konnte sich das Grinsen nicht länger verkneifen und ließ ihren Blick über die erstaunten Gesichter ihrer Freundinnen schweifen. „Tut mir leid. Das ist die pure Gewohnheit. In letzter Zeit habe ich wohl zu viel Arbeit mit nach Hause genommen.“

Joanna nickte. Sie wusste Bescheid. „Sei stets wachsam, stimmt’s?“, platzte sie albern heraus und unterstrich ihre Behauptung mit einem ordentlichen Löffel Schokoladeneis.

Chris bemerkte, wie wohltuend es war, über ihren Job zu lachen. „Das ist wohl die Faustregel, wenn du die Ufos kontrollierst, die sonntagabends vor dem Weißen Haus landen.“

Sherry beugte sich vor. Ihre Freundinnen schweiften schon wieder ab. Normalerweise war das kein Problem, aber im Moment sah alles danach aus, als wollte Lori ihnen ein Geheimnis anvertrauen. „Was willst du uns verraten, Lori?“

Lori ließ den Löffel in der Eiscreme versinken. Nur Sherry bemerkte, dass die Freundin ihr Eis kaum angerührt hatte, während die anderen drei schon fast aufgegessen hatten. In ihrem Hinterkopf regte sich ein Verdacht.

„Also“, begann Lori und atmete hörbar aus, „ich weiß gar nicht, ob es wirklich noch ein großes Geheimnis ist …“ Sie zögerte, obwohl sie wusste, dass es kein Entkommen mehr gab. Spätestens in ein paar Monaten würde sie die Schwangerschaft sowieso nicht mehr verheimlichen können. „Ich denke, dass ich euch enger verbunden bin, als ihr es für möglich haltet.“

Joanna schaute Lori verwirrt an. Langsam dämmerte ihr, was los war, während Chris sofort begriffen hatte. Aber bevor sie etwas sagen konnte, hatte Sherry bereits das Wort ergriffen. „Du bist schwanger.“

Lori presste die Lippen aufeinander und nickte.

„Und du bist der Meinung, dass du mit dem Vater des Kindes nicht zusammenleben wirst.“ Chris musste nicht lange raten, Loris Gesichtsausdruck sprach Bände.

„Nicht mehr.“ Traurig betrachtete Lori ihren Eisbecher. „Mein Mann ist gestorben.“

Chris schaute ihre Freundin entsetzt an. „Lori, das tut mir schrecklich leid.“

„Ja, ich weiß. Mir auch“, erwiderte Lori und presste ihre Hand unwillkürlich auf ihren Bauch. Sie gab sich alle Mühe, nicht niedergeschlagen zu wirken. „Ich werde es schon schaffen.“

„Natürlich.“ Sherry verstand bestens, dass ihre Freundin nicht über das Thema sprechen wollte. Im Augenblick brauchte Lori nichts dringender als die bedingungslose Unterstützung ihrer Freundinnen, jetzt, wo ihr Leben vollkommen aus den Fugen geraten war.

Sherry griff nach Loris Hand und drückte sie fest. „Auf welchem Tabellenplatz stehen denn eigentlich die Los Angeles Dodgers?“, fragte sie, als Lori ihren Blick erwiderte. „Oder bist du kein Baseball-Fan mehr?“

Dankbar griffen die anderen das Stichwort auf. Eine Stunde später alberten sie fröhlich herum und verbannten die ernste Seite des Lebens für den Rest des Nachmittags aus ihren Unterhaltungen.

Das aufdringliche Klingeln riss Sherry abrupt aus ihren süßesten Träumen. Am liebsten hätte sie einen Zipfel ihres Traums festgehalten, um sich später noch mal an ihn erinnern zu können. Aber in dem Moment, in dem sie die Augen aufschlug, gehörte der Traum der Vergangenheit an.

Sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie sich wie von einer warmen Wolke eingehüllt gefühlt hatte, und die Wärme durchflutete ihr Inneres. Es gab einen Mann in ihrem Traum, der sie liebte und sie umsorgte. Ja, daran muss es liegen, schoss es ihr durch den Kopf. Instinktiv wusste sie, dass sie von Drew in seinen besseren Zeiten geträumt hatte, obwohl das Gesicht des Mannes im Traum nicht zu ihm gehört hatte.

Das Telefon! Das entsetzliche Klingeln kam von ihrem Telefon, nicht von ihrem Wecker.

Mit einem tiefen Seufzer tastete Sherry nach dem Hörer. Es kostete sie zwei Versuche, bis sie den Hörer endlich zwischen Ohr und Kissen geklemmt hatte.

„Hoffentlich gibt’s einen guten Grund für den Anruf“, warnte sie.

„Steh auf, und begrüße den Tag, mein Schatz. Du hast mir befohlen, dich anzurufen, wenn’s was Neues gibt.“

Rusty. Es war Rusty.

Sie riss die Augen auf und versuchte krampfhaft, sich zu konzentrieren. „Was gibt’s denn Neues?“

„Nichts Besonderes“, dämpfte er ihre Erwartung.

„Es ist viel zu früh, um mich auf den Arm zu nehmen, Rusty.“ Sherry drehte den Kopf und linste auf den Wecker. Es war gerade erst fünf. Kein Wunder, dass sie todmüde war. „Um diese Uhrzeit? Raus mit der Sprache. Was ist los?“

„Er zieht sich in die Berge zurück. Das Haus gehört einem Mann namens Fletcher. Aber Adair hat sich angewöhnt, sich einen Tag nach einer Übernahme dorthin zurückzuziehen. Um nicht zu sagen, nach einer erfolgreichen Übernahme. Aber jede Übernahme, die Adair plant, ist erfolgreich“, erklärte Rusty. „Der Rückzug in die Berge ist seine ganz persönliche Art, das Ereignis zu feiern.“ Das dunkle Lachen ihres Freundes drang an ihr Ohr. „Ehrlich gesagt, wenn ich so viel Geld hätte wie er, ich würde hier in der Stadt eine gigantische Party steigen lassen. Ach Quatsch, ich würde einfach die ganze Stadt kaufen.“

„Er ist also schüchtern. Aber das wissen wir schon lange. Wo liegt diese Berghütte?“

„Am Fuße der San Bernadino Mountains. Kurz vor Wrightwood.“

Wrightwood war ein unbekannter kleiner Wintersportort. Wer sportlich Skilaufen wollte, der fuhr nach Big Bear auf der anderen Seite von Wrightwood. Big Bear hatte Schnee und Verkehrschaos zu bieten, in Wrightwood gab es Landschaft, Ruhe und Besinnlichkeit. Sherry konnte sich gut vorstellen, warum Adair sich in das kleine Städtchen zurückzog.

Sie wartete einen Augenblick. Selbst in ihrem halb wachen Zustand wusste sie, dass Rusty ihr noch nicht alles verraten hatte.

„Ich habe erfahren, dass Adair an diesem Wochenende dorthinfährt. Um die Wahrheit zu sagen, er ist schon unterwegs.“

Sherry ging davon aus, dass ihr Freund seine Informationen aus einer geheimen Quelle schöpfte. Wenn Adairs Kurzurlaub allgemein bekannt war, dann musste er sich darauf gefasst machen, einen riesigen Medienzirkus in seinem Vorgarten zu begrüßen. Und das wollte er ganz sicher um jeden Preis verhindern.

„Rusty, ich weiß, dass ich mir die Frage verkneifen sollte, aber wie um Himmels willen hast du das nur erfahren?“

„Mrs. Farley führt den Terminkalender ziemlich gewissenhaft.“

Der Name kam ihr irgendwie bekannt vor, aber um fünf Uhr morgens arbeiteten ihre grauen Zellen noch nicht auf Hochtouren. „Und wer ist das?“

„Seine Sekretärin. Schon seit vielen Jahren. Er hat sie von SunCorp. mitgebracht.“ So hatte seine Firma geheißen, bevor er sie in Adair Industries umbenannt hatte. „Soweit ich weiß, vertraut Adair ihr mehr als jedem anderen Menschen.“

„Interessant. Und die Notizen sind jetzt in deinem Besitz?“

„Sherry, ich kenne eine Menge Leute. Es gibt welche, die entfernen sich selten mehr als fünf Schritte von ihrem Computer.“

Hacker, dachte sie unwillkürlich, er hat Hacker eingesetzt. Warum nicht. Wenn es weiterhilft. „Wohin fährt er genau? Hast du eine Adresse?“ Inzwischen war sie hellwach und fingerte in ihrer Nachttischschublade nach Notizblock und Stift. „Okay, leg los.“

Rusty zögerte. „Anstatt dir die Wegbeschreibung per Telefon durchzugeben, könnte ich doch in ein paar Stunden vorbeikommen und dich hinfahren. Was hältst du davon?“

„Du hast schon genug für mich getan, Rusty. Außerdem kann ich ganz gut allein auf mich aufpassen.“

Er hustete verlegen. „Falls es dir entgangen sein sollte, du bist schwanger.“

„Schwanger sein heißt nicht, dass ich kein Lenkrad halten kann, oder dass ich plötzlich vergessen habe, wie man um eine Ecke biegt.“

„Ich habe dich fahren sehen, Campbell.“ Er lachte schroff. „Aber falls du plötzlich doch keine Lust mehr hast, allein zu fahren, du weißt ja, wo du mich finden kannst. In den Armen des schönsten Models weit und breit.“

„Was anderes habe ich nicht erwartet“, bemerkte sie lachend und legte auf.

Seufzend presste Sherry die Fäuste in die Seiten und manövrierte sich in eine Sitzposition.

Adair.

Die Erinnerung an ihn durchfuhr sie wie der Blitz. Das Gesicht des Mannes in ihrem Traum. Eigentlich hatte sie geglaubt, dass es zu Drew gehörte. Aber es war Adairs Gesicht gewesen.

Erschrocken riss sie die Augen auf, bevor sie den Gedanken entschlossen zur Seite schob. Ihr Hirn hatte offenbar zwei Ereignisse in ihrem Leben kurzgeschlossen. Oder sie hatte halluziniert. Was hatte Adair denn schon zu bieten außer einem Haufen Geld? Nichts, antwortete sie sich selbst. Okay. Geld. Und außerdem sieht er gut aus, fügte sie hinzu. Beides bedeutete ihr nicht besonders viel. Der nächste Mann, dem ich mich anvertraue, muss stark, sensibel und fürsorglich sein, dachte sie weiter.

Eine Portion Humor würde auch nicht schaden. Und was das Aussehen anging, sie wusste genau, welche Bedeutung das hatte. Hübsche Gesichter waren typisch für oberflächliche Hohlköpfe. Drew war das beste Beispiel dafür.

Sherry seufzte noch mal tief auf und machte sich auf den Weg ins Bad.

Der Ort gefiel ihm.

Die Zimmer mit Wänden aus massivem Holz. Die spärliche Möblierung. Viel Platz drinnen und draußen. Das Meeting mit den Anwälten hatte den Geschäftsabschluss unter Dach und Fach gebracht, und danach war er die ganze Nacht über gefahren, um so schnell wie möglich anzukommen. Es lohnte sich.

Sin-Jin schaute durch das Panoramafenster auf die Berge und auf den Hubschrauberlandeplatz, wo sein privater Helikopter stand. Heute würde er ihn nicht benötigen. Heute wollte er nichts weiter, als hierbleiben und zur Ruhe kommen.

Kein Zweifel, es hatte etwas Erhabenes an sich, allein in der Wildnis zu leben. Obwohl er gern allein war, wollte er auf seine Bequemlichkeit jedoch nur ungern verzichten. Zugegeben, er hatte überlegt, sich kein Telefon anzuschaffen. Aber am Ende hatte sein Sinn für das Praktische das Verlangen nach Einsamkeit besiegt, und er hatte einen Kompromiss geschlossen. Allerdings kannte nur Mrs. Farley seine Telefonnummer.

Ihr vertraute er blind. Niemals würde sie in sein Privatleben eindringen. Sein Privatleben war ihm heilig. Deshalb hatte er einen gewissen John Fletcher als Besitzer der Berghütte ins Grundbuch eintragen lassen. Niemand konnte ahnen, dass er sich heute hier aufhalten würde.

Mrs. Farley und er kannten sich schon seit einer Ewigkeit. Viel länger, als man im Allgemeinen annahm. Auf jeden Fall kannte er sie schon, bevor er seine Geschäftskarriere begonnen hatte. Anders als sein Onkel hatte Edna Farley sein Leben positiv beeinflusst. Bei ihr hatte er zum ersten Mal im Leben das Gefühl gehabt, dass er wichtig war.

Wer weiß, wie mein Leben ohne sie verlaufen wäre, grübelte er.

Er verdankte ihr viel. Vor Jahren hatte er ihr das zu verstehen gegeben, aber sie hatte nicht mehr von ihm verlangt als einen Job, mit dem sie ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. Es wäre nur recht und billig gewesen, sie mit einer lebenslangen Rente auszustatten, aber sie hatte es vorgezogen, in seiner Nähe zu bleiben und für ihn zu arbeiten. Typisch Edna, dachte er.

Er musste zugeben, dass es ihm gefiel. Obwohl Edna Farley nie mütterliche Gefühle zeigte, ersetzte sie ihm in mancher Hinsicht die Mutter, die seine eigene Mutter nie gewesen war. Beide waren sie es gewohnt, ihre Gefühle vor anderen Menschen zu verbergen. Aber dennoch kümmerte sie sich um ihn. Und er sich um sie.

Plötzlich bellte es in der Ferne. Sin-Jin erschrak, eilte sofort zum Waffenschrank und nahm ein Gewehr heraus. Auf dem Weg zur Tür lud er die Waffe. Greta bellte. Greta war ein Irish Setter, und sie arbeitete besser als sämtliche Alarmanlagen, die er kannte. Außerdem konnte eine Hightech-Alarmanlage sich abends nicht zu seinen Füßen zusammenrollen und ihn aus ihren braunen Augen anschauen. Gretas treuherzige Blicke halfen ihm, aus seinem anstrengenden Alltag auszuspannen.

Sin-Jin öffnete die Tür und schaute sich um. Zirka hundert Meter rechts begannen die Wälder, und von da aus konnte er nichts mehr erkennen.

„Greta, was ist los?“ Er hatte etwas gehört.

Die Hündin bellte lauter, als sie seine Stimme erkannte. Er lauschte aufmerksam, um das Geräusch zu lokalisieren. Entschlossen ging er in die Richtung. Mit der Hand umklammerte er das Gewehr. Er war auf alles gefasst.

Nur nicht auf das, was er plötzlich vor sich sah.

Vor ihm stand wieder diese Frau. Die Reporterin, die ihm vor ein paar Tagen im Fahrstuhl wegen seiner Lebensgeschichte aufgelauert hatte.

Verdammt noch mal, wie hat sie mich nur gefunden? überlegte er fieberhaft.

Mit grimmiger Miene machte er ein paar Schritte auf sie zu. Sie trug einen weißen Parka, der offen stand. Wahrscheinlich war sie schon zu umfangreich, um den Reißverschluss noch zuziehen zu können.

Wie war doch gleich der Name? überlegte er. Campbell. Cheryl? Nein, Sherry!

Mit jedem Schritt wurde er wütender. „Sie dringen hier unbefugt ein!“, rief er ihr zu. „Das ist Privatgelände. Was haben Sie hier zu suchen?“

Sherry schnappte nach Luft. Der Geländewagen, den sie sich von einem Freund ausgeliehen hatte, hatte sich offenbar entschieden, nicht weiter in Adairs Terrain vorzudringen. Schon vor einer halben Meile hatte er den Geist aufgegeben. Wandern war ihr nie schwergefallen, auch nicht mit dem Baby im Bauch, aber die letzte halbe Meile war es bergauf gegangen. Der Hund, der aus dem Nichts aufgetaucht war und sie ankläffte, hatte ihr auch nicht unbedingt weiterhelfen können. Ihr Herz hatte sich vor Schreck fast überschlagen. Zum Glück war der Hund nicht bissig.

„Der Wagen macht Probleme“, brachte sie mühsam hervor.

Von einer Journalistin hätte ich eigentlich eine originellere Ausrede erwartet, dachte er grimmig. „Wer’s glaubt, wird selig“, bemerkte er.

„Dann sehen Sie doch selbst nach“, entgegnete sie aufgebracht. „Eine halbe Meile die Straße bergab.“

Sein Blick fiel auf ihren Bauch. Ihr gesamter Körper schien vor Anstrengung zu zittern. „Spinnen Sie?“, stieß er wütend hervor. Schwangere Frauen sollten sich in der Nähe von Krankenhäusern aufhalten und nicht in den Bergen herumspazieren.

„Kann gut sein.“ Sie blieb stehen, um tief durchzuatmen. Langsam schien der Druck aus ihren Lungen zu weichen. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nur ansatzweise. „Sie sind nicht der Erste, der das von mir wissen will.“ Sherry machte Anstalten, sich die Lippen mit der Zunge zu befeuchten, aber es gelang ihr nicht.

„Ich bemühe Sie nur ungern, aber würden Sie mir vielleicht ein Glas Wasser besorgen?“

”Ja.” Unwillig hielt Sin-Jin inne. Es würde dieser Frau gerade recht geschehen, dachte er, wenn ich sie auf der Stelle zurückschicke. Er bezweifelte ernsthaft, dass ihr Wagen schlapp gemacht hatte. Aber sie war schwanger, und der Schweiß lief ihr über die Stirn, obwohl es sehr kalt war. Warum auch immer sie sich auf den Weg zu ihm gemacht hatte, die Aktion war ganz offensichtlich über ihre Kräfte gegangen. Sin-Jin schaute auf die Hütte. Der Gedanke, sie hineinzulassen, gefiel ihm trotzdem nicht. „Wahrscheinlich wollen Sie das Wasser nicht hier draußen trinken.“

Sherry wurde langsam schwach auf den Beinen. „Wenn Sie nichts dagegen haben, setze ich mich für einen Augenblick“, kündigte sie an und schaute sich um. „Am besten nicht auf den kalten Boden.“

„Sie überraschen mich“, murmelte Sin-Jin in sich hinein. „Na, dann kommen Sie schon.“ Er winkte ihr zu. „Aber wenn Sie sich erholt haben, fahren Sie sofort wieder ab.“

Sie versuchte gar nicht erst, mit ihm Schritt zu halten. Das Gehen war plötzlich sehr anstrengend. „Mein Wagen funktioniert nicht“, erinnerte sie ihn.

„Kein Problem. Ich bin ein guter Mechaniker. Das kriege ich schon hin.“ Sein Tonfall ließ keine Hoffnung aufkommen. Er schaute sich um, um zu überprüfen, ob sie ihn verstanden hatte. Zu seiner Überraschung hatte sie die Lippen verzogen. „Warum lächeln Sie?“

„Weil ich etwas über Sie gelernt habe.“ Sie unterdrückte ein Husten, während sie ihm folgte. „Ich kann mich nicht erinnern, schon mal irgendwo gelesen zu haben, dass Sie Autos reparieren können.“

Sin-Jin schnaubte laut auf und schwieg. Stattdessen betrachtete er Greta, die aufgeregt ein Stück vorangelaufen war, dann die Frau wie ein Wachhund umkreist hatte und jetzt wieder neben ihr hertrabte. Es sah fast so aus, als wollte der Hund die Journalistin in Adairs Hütte treiben.

„Verräterin“, murmelte Sin-Jin grimmig.

4. KAPITEL

Sin-Jin schlug die Tür mit aller Kraft zu, sobald die Fremde in seiner Berghütte war. Irgendwie musste er sich schließlich abreagieren. Der Setter sprang erschrocken auf und schaute ihn vorwurfsvoll an.

Er erwiderte den vorwurfsvollen Blick seines Hundes, entfernte die Munition aus dem Gewehr, stellte es in die Ecke und legte die Patronen auf den Tisch. „Sie können von Glück sagen, dass ich nicht den Sheriff rufe.“

Sherry wandte sich zu ihm. Sie unterdrückte eine Welle des Unbehagens, die schlimmer war als alles, was sie in den vergangenen Schwangerschaftsmonaten erlebt hatte. Und die Monate waren bestimmt nicht einfach gewesen. Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Sein Blick war eiskalt.

„Mr. Adair, Sie verzichten darauf, den Sheriff zu rufen, weil Sie sich nicht lächerlich machen wollen.“ Sie deutete auf die gerahmte Landschaftsfotografie, die auf dem Kaminsims stand. „Ist das Lake Tahoe?“

„Ja.“ Seine Stimme klang ungeduldig. „Und was den Sheriff angeht …“

Plötzlich wurde Sherry schwummerig vor Augen, und sie ließ sich in den nächsten Sessel fallen, ohne lange um Erlaubnis zu bitten. Es kostete sie eine wahnsinnige Anstrengung, ihren Gedanken zu Ende zu bringen. „Nur wenige werden begreifen können, dass Sie sich von einer schwangeren Frau bedroht fühlen.“

Er senkte den Blick und schaute ihr direkt ins Gesicht. Mir scheint, die Frau fühlt sich bei mir ganz wie zu Hause, schoss es ihm durch den Kopf. „Sie jagen mir keine Angst ein, Ms. Campbell, Sie gehen mir auf die Nerven.“

„Warum? Weil ich versuche, mehr über Sie herauszufinden, als man in den Hochglanzbroschüren lesen kann, die Ihr Konzern produziert?“

Sin-Jin ging in die Küche, die direkt neben dem Wohnzimmer lag, und stellte den Wasserhahn an. „Genau. Wir leben in einer Welt, in der alles öffentlich ist. Ich versuche, mir ein wenig Privatsphäre zu erhalten.“ Er füllte ein Glas mit Wasser und ging zurück ins Wohnzimmer. „Früher war das normal“, fügte er hinzu und hielt ihr das Glas hin. „Manchmal wünsche ich mich in die alten Zeiten zurück.“

Unvermittelt begann Sherry zu zittern wie Espenlaub. Mit beiden Händen griff sie nach dem Glas und trank in tiefen Zügen. Sofort fühlte sie sich besser. Was auch immer vor wenigen Sekunden mit ihr los gewesen war, jetzt war es vorüber. Ein Glück, seufzte sie im Stillen, ich bin wieder bei Kräften. Was Adair bestimmt nicht in den Kram passen wird.

Sie verzog die Lippen. „Ja, Sie haben recht. Wir leben öffentlich, wenn man bedenkt, dass die Geheimnisse eines Menschen mit ein paar Eingaben auf der Tastatur eines Computers aufgedeckt werden können. Das Internet ist eine Informationsquelle, die nie versiegt. Und trotzdem. Über Sie findet man nichts.“ Ihre Kehle war trocken. Sie nahm noch einen Schluck Wasser und schwieg, um ihre Worte auf ihn wirken zu lassen. „Man hat fast den Eindruck, dass Sie außerhalb der Geschäftszeiten nicht existieren.“

In Gedanken ließ er die vergangenen Tage Revue passieren. Er hatte kaum Zeit gefunden, nach Hause zu fahren und sich umzuziehen, und er fühlte sich, als hätte er kaum geschlafen. „Ich arbeite auch außerhalb der üblichen Geschäftszeiten.“

„Okay. Aber der Punkt ist doch …“ Sie unterbrach sich und streichelte den Hund mit einer Hand, während sie das Wasserglas mit der anderen hielt und kaum merklich auf dem Sessel nach vorn rutschte. „Wer sind Sie?“

Der Farbe ihrer Wangen nach zu urteilen, schien ihr die warme Luft in der Hütte gutzutun. Sin-Jin fragte sich, wie es möglich war, dass die Frau ihm einerseits auf die Nerven ging und er sich andererseits unglaublich zu ihr hingezogen fühlte. Keine Frage, er musste unbedingt mehr über sie herausfinden.

„Der Punkt ist, dass das Geschäft mich mit Haut und Haar in Anspruch nimmt. Ich lebe für meine Arbeit.“

Der Mann hatte Klasse, das musste sie zugeben. Er würde jeden Anwalt in den Wahnsinn treiben, der versuchte, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen. „Schön formuliert, Mr. Adair. Sie wissen, was es heißt, sich mit Worten Vorteile zu verschaffen.“

Sin-Jin kniff die Augen zusammen. „Wenn Sie recht hätten, säßen Sie nicht hier.“

„Wo wir gerade davon sprechen“, meinte sie und umfasste die Hütte mit einer weiten Handbewegung, „wie leiten Sie Ihre Geschäfte von hier aus?“

Es reichte. Was redest du überhaupt noch mit ihr, schalt er sich insgeheim. „Sie haben genug Fragen gestellt. Ich habe nicht übel Lust, Sie huckepack zu Ihrem Wagen zu tragen und wieder nach Hause zu schicken.“

Sie drehte sich um und schaute ihn direkt an. „Können Sie wirklich Autos reparieren?“

„Weichen Sie nicht aus.“

So kurz vor dem Ziel gibst du nicht auf, mahnte sie sich, obwohl plötzlich wieder ein merkwürdiges Gefühl durch ihren Körper strömte. „Keineswegs. Das ist das Thema. Sie sind das Thema.“ Vielleicht merkte er es gar nicht, aber sie brachte viel über ihn in Erfahrung. „Was können Sie sonst noch?“

Seine Geduld war am Ende. „Ich weiß, wann es Zeit ist zu gehen. Sie offensichtlich nicht.“

Höchste Zeit für eine andere Taktik, stellte sie fest. Neugierig ließ sie ihren Blick durch die Hütte schweifen. „Ihr Freund hat einen guten Geschmack.“

„Was?“ Die Bemerkung war ihm unvermittelt über die Lippen gekommen.

„Ihr Freund“, wiederholte sie betont. „Der Mann, dem die Hütte gehört. John Fletcher. Er hat einen guten Geschmack.“

Sin-Jin lächelte und schaute sich um, als würde er die Einrichtung zum ersten Mal mit den Augen eines anderen Menschen betrachten.

„Ja“, gestand er schließlich ein. „Das hat er.“ Sein Blick fiel auf ihr halb leeres Wasserglas. „Haben Sie ausgetrunken?“

„Noch nicht.“ Zum Beweis nahm sie einen kräftigen Schluck. Plötzlich strömte eine unglaubliche Hitze durch ihren Körper. „Es stimmt, was man sich über das Wasser aus den Bergen erzählt“, meinte sie, und als er sie irritiert anschaute, fügte sie hinzu: „Ich trinke gern Leitungswasser, aber dieses hier schmeckt irgendwie anders.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust, beugte sich vor und nahm sie genauestens in Augenschein. „Wann halten Sie eigentlich mal den Mund?“

„Sie können mich jederzeit unterbrechen“, grinste sie von einem Ohr zum anderen. Für den Bruchteil einer Sekunde war es ihr gelungen, seinen Schutzpanzer zu durchbrechen. Er war kurz davor, sich ihr ein wenig zu öffnen.

„Ich …“ Abrupt hielt er inne und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Ms. Campbell, aber ich bin nicht bereit, Ihnen mein Leben anzuvertrauen.“

Und dennoch war sie nicht bereit, sich mit leeren Händen auf den Rückweg zu machen. Irgendeine Information war besser als keine, und ein Puzzleteilchen würde sich zum anderen fügen, bis das ganze Bild vor ihr lag. „Gut, dann erzählen Sie mir von John Fletcher. Seit wann sind Sie mit ihm befreundet? Wo haben Sie ihn kennengelernt? Sind Sie mit ihm zusammen zur Schule gegangen?“

„Ich lege Wert auf meine Privatsphäre. Genau wie John.“ Plötzlich wirkte er vollkommen verschlossen. „Lassen wir es dabei bewenden.“

Sherry entschied sich, die Sache noch ein bisschen weiter zu treiben, obwohl sie sich ausrechnen konnte, was er auf ihre Frage antworten würde. „Dann haben Sie keine Beziehung mit diesem John Fletcher?“

„Nein.“

„Und dann sind Sie auch nicht schwul?“, fügte sie in aller Unschuld hinzu.

Verdammt noch mal, fluchte er innerlich, muss ich mir das wirklich bieten lassen, nur weil es keine Frauen in meinem Leben gibt? „Natürlich bin ich nicht schwul!“, rief er empört aus. „Wie hätte ich Sie sonst attraktiv finden können?“

Das traf sie vollkommen überraschend. Seit Monaten schon fühlte sie sich alles andere als attraktiv. Schwangere Elefantenkühe waren nicht attraktiv, es sei denn, sie liefen einem anderen Elefanten über den Weg. Einem verzweifelten Elefanten.

„Sie finden mich attraktiv?“

„Ja“, bestätigte er heftig und senkte dann hastig die Stimme. „Auf ziemlich beunruhigende Art. Und wenn Sie endlich ausgetrunken haben …“ Entschlossen nahm er ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf den Tisch. „Es wird höchste Zeit, dass Sie mir zeigen, wo Ihr Wagen liegen geblieben ist.“

Sin-Jin fasste Sherry am Arm, um ihr aufzuhelfen, und er wunderte sich, wie sehr sie sich ihm widersetzte.

Eine Viertelsekunde, bevor er ihr das Wasserglas abgenommen hatte, hatte sie etwas Schreckliches gespürt. Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. „Ich glaube, das geht nicht.“

„Und warum nicht?“

Obwohl die Hütte ziemlich geräumig war, hatte sie den Eindruck, dass die Wände auf sie einstürzten. Vor allem wollte der grauenhafte Schmerz in der Mitte ihres Körpers nicht nachlassen. „Weil ich glaube, dass meine Fruchtblase gerade eben geplatzt ist.“

Einen Moment lang war er sehr enttäuscht. Sie ist Journalistin, dachte er, kann sie sich nicht mal was Besseres ausdenken? „Ms. Campbell, ich bin nicht von vorgestern.“

Selbst das Atmen fiel ihr schwer. „Ich … glaube nicht … dass es … darum geht … wann Sie geboren … worden sind … mein Baby … will heute … auf die Welt … kommen.“

Beinahe hatte sie ihn überzeugen können, dass wirklich etwas nicht stimmte. Aber so leicht wollte er sich nicht aufs Kreuz legen lassen. Mit eisiger Miene schaute er sie an. „Das passt ja.“

„Nicht … wirklich.“ Es würde ihr wesentlich besser passen, wenn jemand anders ihr Baby auf die Welt gebracht hätte.

Ihre stockende Redeweise ließ ihn aufhorchen. Langsam zweifelte er daran, dass sie nur Theater spielte. „Sie meinen es wirklich ernst.“

Sie atmete tief durch und versuchte angestrengt, sich daran zu erinnern, was Lori ihr beigebracht hatte. Acht Wochen Geburtsvorbereitung schienen mit einem Schlag wie weggeblasen. „Ja.“

„Ausgerechnet zu Ihrem Geburtstermin machen Sie sich auf den Weg zu mir in die Berge?“

„Nein … einen Monat … früher.“

Okay, dachte er erleichtert, dann müssen wir uns ja keine Sorgen machen. Er griff wieder nach ihrer Hand und wollte ihr helfen aufzustehen. „Dann können wir ja …“

Sie zuckte zusammen und fiel zurück in den Sessel. Mehr als fünf Zentimeter hatte sie sich nicht aus dem Sessel erheben können. Außerdem war sie sicher, eine Wehe gespürt zu haben. Eine heftige. „Offenbar … gibt … es … da … keine Garantien.“

Weil er ihr nicht auf die Beine helfen konnte, ließ Sin-Jin sich neben dem Sessel nieder. Vielleicht hat sie doch recht, dachte er einen Moment lang. Kein Mensch kann seine Gesichtsfarbe willentlich verändern. Noch nicht mal die besten Schauspieler. Und sie war tatsächlich sehr blass.

„Was genau fühlen Sie jetzt?“, wollte er wissen.

Ihr fehlten die Worte. „Dinge … die … ich jetzt lieber … nicht … fühlen möchte.“ An ihrem Blick konnte er sehen, dass sie langsam panisch wurde. Offenbar hatte sie nicht begriffen, dass er ihr immer noch nicht ganz traute. Sherry presste die Lippen aufeinander und gab ihr Bestes, um ihm ihre Lage zu verdeutlichen. „Ich fühle mich … wie eine Zahnpasta… tube … aus der … der letzte Rest … rausgequetscht wird.“

Er lachte kurz auf. „Wenn Sie so schreiben, wie Sie reden, dann sollten Sie den Beruf wechseln.“

Noch während er sprach, drückte sie seine Hand so fest, dass es schmerzte. Langsam fragte er sich wirklich, ob er sie nicht zu Unrecht verdächtigte. Verfrühte Wehen waren ja nichts Unbekanntes.

Da war schon die nächste Wehe. „Ich werde bei … Gelegenheit … drüber … nachdenken … gibt’s hier … in der Nähe … einen Arzt?“

„Zwanzig Meilen von hier entfernt gibt es eine Klinik.“

Ihr Griff um seine Hand wurde stärker. Warum linderte das nicht den Schmerz? „Nein … in der Nähe … habe ich … gesagt.“

Er empfand Mitleid. Wie immer, wenn er sah, dass ein Mensch Schmerzen hatte. „Sie werden panisch.“

Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. „Was erwarten … Sie?“

Sin-Jin begriff durchaus, was sie gerade durchmachte. „Wenn es wirklich die Wehen sind, dann liegt noch ein langer Weg vor Ihnen, bevor das Kind auf der Welt ist.“

Was versteht er davon, dachte sie unwillkürlich. Es fühlte sich an, als ob das Baby sich seinen Weg ins Leben mit Klauen und Zähnen zu bahnen versuchte. „Sie sind … nicht zufällig … Tierarzt?“

Tief in seinem Innern fragte er sich immer noch, ob sie ihm die Sache nicht doch vorspielte, um so viel wie möglich über ihn in Erfahrung zu bringen. Er verstand ein bisschen was von Medizin, aber das musste sie nicht unbedingt wissen. Jedenfalls jetzt noch nicht.

„Nein. Aber kennen Sie denn nicht die Horrorstorys von Frauen, die drei Tage und länger in den Wehen gelegen haben?“

„Ich erlebe … gerade … meine eigene … Horrorstory … bringe … ein Kind … zur Welt … ohne Arzt.“

Er schaute ihr die direkt in die Augen. „Sie bringen kein Kind zur Welt“, erwiderte er mit fester Stimme.

„Ich kenne … meinen … Körper ganz … genau“, schnappte sie nach Luft. „Er … stößt … das fremde Wesen … aus … in diesem … Fall … ein Babyyy!

Er zuckte zusammen, als sie sich plötzlich krampfartig nach vorn gebeugt und ihm die letzte Silbe ins Ohr geschrien hatte. Sin-Jin beobachtete, dass die Schweißperlen auf ihrer Stirn dichter wurden. Nachdenklich schaute er sich um. „Okay. Dann sollten wir festhalten, dass die Wehen bei Ihnen verfrüht eingesetzt haben.“

Es war ein Gefühl, als ob man sie an Armen und Beinen gepackt hätte und auseinanderreißen wollte. Wie soll ich das nur aushalten? überlegte sie panisch.

„Ich will … nicht streiten … will nur … dass es vorbei ist.“ Sie umklammerte seine Hand noch fester und versuchte, sämtliche Kräfte zu sammeln. „Sind Sie … sicher … dass Sie … keine Hilfe … rufen können?“

Sin-Jin hatte sich entschieden. Sie spielte kein Theater. Aber war die Lage wirklich so ernst, wie sie es glaubte?

„Kommen Sie“, ermunterte er sie und fasste sie am Arm, „ich fahre Sie in die Klinik.“

Obwohl er sie tatkräftig unterstützte, versagten Sherrys Knie ihren Dienst. Kaum hatte sie sich erhoben, ging sie zu Boden. „Keine … Zeit … mehr.“

„Sie scherzen nicht.“ Das war keine Frage, sondern eine resignierte Feststellung.

Sherry begriff, was er andeuten wollte, und im Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass er recht haben möge. „Ich … brauche … die Story … nicht … so dringend.“

„Okay, ich glaub’s Ihnen.“ Sin-Jin kniete immer noch neben dem Sofa auf dem Boden. Er zog die Decke herunter, die auf der Armlehne lag, und breitete sie auf dem Boden aus, während er sie abstützte. „Wir sollten versuchen, Sie aus Ihrer Jacke herauszukriegen.“ So vorsichtig wie möglich streifte er ihr den schweißnassen Parka vom Oberkörper. Das war der endgültige Beweis, dass sie ihn nicht hinters Licht führen wollte. So konnte niemand schwitzen, der nicht wirklich in Not war. Er griff nach einem Sofakissen und legte es an die Stelle, wo er ihren Kopf platzieren wollte.

Sie lehnte sich gegen ihn. „Was … machen … Sie … da?“

Sanft strich er ihr das Haar aus der Stirn, bevor er versuchte, sie auf die Decke zu manövrieren. „Nichts. Sie müssen sich um nichts kümmern. Ich fange nur den Ball auf, den Sie mir zuwerfen werden.“

Sherry hechelte, als eine Wehe sie übermannte, und entspannte sich schließlich wieder. „Sie … spielen … Football?“

„Ich habe gespielt“, korrigierte Sin-Jin und erhob sich. Erschrocken riss Sherry die Augen auf und griff nach seinem Arm. „Ich gehe mir nur die Hände waschen.“

Sie ließ ihn keine Sekunde aus den Augen, während er in die Küche ging. Immerhin lag ihr Schicksal in den Händen eines Mannes, von dem die Welt so gut wie nichts wusste. Wenn man davon absah, dass er rücksichtslos vorging, wo immer er es für notwendig hielt. Keine verlockende Aussicht. „Wissen Sie … was … Sie zu … tun haben?“

Eilig wusch er sich die Hände. „Sicher besser als Sie“, meinte er, trocknete sich ab und kam zu ihr zurück.

„Woher?“

„Hören Sie eigentlich nie auf zu recherchieren?“, fragte er kopfschüttelnd.

Die Wehe ließ nach. Sie hatte Zeit, tief durchzuatmen, aber auch das heftige Atmen wirbelte ihre Gedanken durcheinander. Schon flutete die nächste Wehe durch ihren Körper, heftiger, schmerzhafter und schneller als je zuvor. „Im Moment … bin ich … eine verängstigte … Frau … die ein … Kind zur Welt … bringt … hundert Meilen … entfernt von jeder … Zivilisation … mit einem Mann … den man den Hai … der Wirtschaft … nennt.“

Weil er Mitleid hatte, gewährte er ihr einen kurzen Einblick in seine Privatsphäre. „Ich habe ein wenig Ahnung von Medizin.“

„Wie wenig?“

Er hatte Medizin studiert, bevor er seine eigentliche Berufung entdeckt hatte. „Genug.“

Sherry wälzte sich auf die Decke. „Okay … ich vertraue … Ihnen.“

„Bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig“, murmelte er in sich hinein.

Plötzlich empfand sie nichts als helle Panik. Was, wenn etwas schiefging? Schließlich brachte sie ein Kind zur Welt. Und woher sollte der Hai wissen, was ein Geburtshelfer zu tun hatte? „Sind Sie … sicher … dass es … zu spät ist … für die Klinik?“

Er kniete sich neben sie und schaute sie beruhigend an. „Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit. Ich könnte Sie in den Flieger …“

Sie kniff die Augen zusammen. „In den Flieger?“

„Mein Hubschrauber.“ Mit einem Kopfnicken deutete er auf die Rückseite der Hütte. „Auf dem Landeplatz nicht weit vom Haus entfernt.“

Das war kein normaler Mann mehr, das war eine Art Held. Sie versuchte, seinen Blick festzuhalten, aber der Schweiß tropfte ihr in die Augen und trübte den Blick. „Sie können … fliegen?“

Autor

Marie Ferrarella

Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...

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