Julia Collection Band 135

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Die Diamantinseln: Seit zweihundert Jahren wurden die drei einst unabhängigen Inselreiche von einer Familie regiert. Nun ist der letzte Monarch ohne legitimen Erben gestorben – und die neuen Herrscher müssen auf ihre Inseln zurückkehren, wo sie nicht nur von ihrem Volk, sondern auch von der Liebe sehnsüchtig erwartet werden..

DIE GELIEBTE DES GRIECHISCHEN FÜRSTEN
Seinen zärtlichen Blicken kann sie nicht widerstehen: Lily gibt sich den Küssen von Fürst Alexandros hin. Wie gerne würde sie ihr weiteres Leben mit dem charmanten Griechen teilen, doch Lily weiß, dass das unmöglich ist. Sie hütet ein Geheimnis, das einem gemeinsamen Glück im Wege steht …

IM INSELREICH DER LIEBE
Wer soll das kleine Inselreich Argyros regieren? Der Prinz der Herzen ist Nikos, doch offiziell gehört die Krone Prinzessin Athena. Deshalb muss Nikos Athena aus New York zurückholen. Als er die schöne Prinzessin wiedersieht, erwachen sofort Erinnerungen an ihre verbotene Affäre ...

SEHNSÜCHTIGE TRÄUME AM MITTELMEER
Als Nanny gilt Elsas ganze Zuneigung der kleinen Kronprinzessin Zoe. Nur heimlich träumt sie von der Liebe zu Prinz Stefanos. Der jedoch kein Interesse hat, auf die Insel zurückzukehren. Dabei wird der Regent dringend gebraucht: von seinem Volk, der elternlosen Zoe - und ganz besonders von ihr …


  • Erscheinungstag 19.07.2019
  • Bandnummer 135
  • ISBN / Artikelnummer 9783733713386
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marion Lennox

JULIA COLLECTION BAND 135

1. KAPITEL

„Aufwachen, Lily!“

Zwei Ärzte und vier Krankenschwestern standen um das Bett herum. Die Operation war höchst riskant gewesen. Hätte es eine andere Chance für Lily gegeben, wäre der gefährliche Eingriff niemals durchgeführt worden.

Anschließend hatte man die Patientin in ein künstliches Koma versetzt, um ihrem Gehirn Zeit zur Erholung zu geben. Sie würde leben – doch wie?

Die jüngste Krankenschwester der kleinen französischen Privatklinik betrachtete die Patientin besorgt. Sie hatte miterlebt, wie Lily vor etwa einem Monat bewusstlos eingeliefert worden war. Ihr Leben hatte am seidenen Faden gehangen. Es gab Gerüchte, sie gehöre einem Königshaus an, doch niemand wusste Genaueres.

Als Krankenschwester hätte sie sachlich und neutral sein müssen. Doch Lilys Schicksal ließ keinen der Anwesenden kalt.

„Lily, aufwachen“, wiederholte der Chirurg und drückte die Hand seiner Patientin. „Die Operation ist vorbei, und sie war ein voller Erfolg. Sie werden wieder völlig gesund.“

Endlich begannen Lilys Lider zu flattern. Dann schlug sie die Augen auf.

Sie waren dunkelbraun, verwirrt und wirkten viel zu groß für ihr Gesicht.

„Na also.“ Der Arzt lächelte. „Hallo, Lily.“

„H…hallo“, flüsterte sie kaum hörbar, als habe sie das Sprechen verlernt.

„Wie viele Finger halte ich hoch?“

„Drei“, antwortete sie gleichgültig.

„Wunderbar.“ Die Stimme des Chirurgen klang triumphierend. „Sie waren krank, schwer krank. Aber wir haben Sie operiert und konnten den Tumor komplett entfernen. Sie haben nichts mehr zu befürchten.“

Lilys Blick schweifte durch den Raum und blieb an jedem der Anwesenden hängen. Sie registrierte die Arzt- und Schwesternkittel, die ermunternden Blicke.

Und plötzlich, als wäre ihr etwas ungeheuer Wichtiges eingefallen, weiteten sich ihre Augen erschrocken.

„Haben Sie Schmerzen?“, fragte der Chirurg. „Wo tut es weh, Lily?“

„Mir tut nichts weh. Aber …“ Langsam, als müsse sie jede Bewegung neu einüben, legte sie sich die Hand auf den Bauch.

„Wo ist mein Baby?“

2. KAPITEL

„Ich, Alexandros Konstantinos Mykonis, schwöre, dass ich die Vereinigten Inseln von Diamas, genannt Diamanteninseln, stellvertretend für meinen neu geborenen Cousin Michales regieren werde, bis dieser das fünfundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat.“

Alex sah umwerfend attraktiv aus in seiner schwarzen Galauniform. Auf seiner Brust prangten zahlreiche Orden, und der eindrucksvolle Degen an seiner Seite trug das königliche Wappen im goldenen Griff. Die perfekt sitzende Hose mit den karmesinroten Einsätzen entlang der Seitennähte brachte seine langen, muskulösen Beine hervorragend zur Geltung. Seine schwarzen Schuhe waren so blank poliert, dass man sich hätte darin spiegeln können.

Wenn man nah genug herangekommen wäre. So wie damals.

Von ihrem Platz ganz hinten in der Kathedrale konnte Lily Alex’ Gesicht kaum erkennen. Doch sie erinnerte sich nur zu gut an die markanten Züge, die sie einst aus nächster Nähe gesehen hatte. Die nahezu schwarzen Augen, um die sich beim Lachen feine Fältchen bildeten und die manchmal so ernst dreinblickten, als trüge ihr Besitzer die Verantwortung für die ganze Welt auf seinen Schultern.

Es war so wunderbar gewesen, ihn zum Lächeln zu bringen. So wie auch er sie zum Lachen und ihr Herz zum Schmelzen gebracht hatte. So hatte sie es zumindest empfunden. Aber Liebe brauchte Vertrauen, und jemandem zu vertrauen war töricht. Das wusste sie inzwischen. Leider hatte sie es auf die harte Tour lernen müssen.

Wie betäubt von allem, was sie in den letzten Tagen erfahren hatte, folgte sie dem Geschehen und versuchte verzweifelt zu verstehen, wie es so weit hatte kommen können.

Der Ring, der Handschuh, das Zepter mit der Taube wurden Alex feierlich überreicht, und er nahm die Krönungsinsignien mit äußerster Würde entgegen. Seit Generationen verlief die Zeremonie in der immer gleichen Weise. Alex wirkte gelassen, selbstsicher und unnahbar.

Bei ihrer letzten Begegnung hatte er sich mit mutwillig blitzenden Augen über sie gebeugt, nachdem sie sich geliebt hatten. Seine Jeans und sein Hemd hatten zerknittert auf dem Boden vor dem Bett gelegen.

Alexandros Mykonis. Erfolgreicher, international bekannter Landschaftsarchitekt. Ihr Exliebhaber.

Der neue Regent der Diamanteninseln.

Der Vater ihres Babys.

„Sieht er nicht fantastisch aus?“, murmelte die neben ihr stehende Frau – eine Reporterin, wie aus dem Presseausweis, den sie an einer Kordel um den Hals trug, hervorging. Als Alex sich nun hinkniete, um den Segen zu empfangen, seufzte sie tief auf.

„Das kann man wohl sagen“, antwortete Lily flüsternd.

Der Festakt nahm seinen Fortgang. Alle Augen waren auf den Prinzen gerichtet.

Als der Segen erteilt war, erhob Alex sich. Während er anschließend die Urkunde zur Amtsübernahme unterzeichnete, setzte Orgelmusik ein, und der Chor stimmte einen Jubelgesang an.

„Ich wette, es gibt keine Frau hier, die nicht scharf auf ihn wäre“, raunte die Reporterin, als er geendet hatte.

Lily zögerte. Es wäre angemessener, den Mund zu halten, dachte sie. Allerdings war sie in der Absicht hierhergekommen, ihr Baby zurückzuholen. Und um das zu bewerkstelligen, brauchte sie Informationen. „Ja, es ist ein Wunder, dass er noch nicht verheiratet ist.“

„Er hat nicht vor zu heiraten“, wusste die Reporterin zu berichten und seufzte erneut.

„Warum?“ Doch bevor die Journalistin antworten konnte, wurde ihre Aufmerksamkeit wieder von den Vorgängen am Altar in Anspruch genommen.

Der Erzbischof im prächtigen weiß-goldenen Ornat übergab die unterzeichneten Dokumente einem älteren Priester. Der nahm sie ein wenig tatterig und sehr nervös in Empfang und ließ sie dabei aus den Händen gleiten.

„Das ist Pater Antonio“, kommentierte die Reporterin, während der alte Herr mit Schrecken auf die Papierbögen zu seinen Füßen blickte. „Er ist schon seit ewigen Zeiten Seelsorger hier auf der Insel. Der Erzbischof wollte ihn nicht an der Zeremonie teilnehmen lassen, aber Prinz Alexandros bestand darauf.“

Der unglückliche Priester ging ungelenk in die Hocke und versuchte, die verstreuten Blätter wieder einzusammeln. Mit unbeteiligter Miene und ohne einen Finger zu rühren, stand der Erzbischof daneben. Die übrigen Würdenträger folgten seinem Beispiel.

Es war Alex, der zur Tat schritt. Ohne Rücksicht auf das Protokoll trat er zu Pater Antonio, bückte sich und half ihm beim Einsammeln der Papiere. Dann stützte er ihn beim Aufstehen.

Dem Priester stand die Verzweiflung über seine Ungeschicklichkeit ins Gesicht geschrieben, doch Alex legte ihm die Hände auf die Schultern und küsste ihn auf beide Wangen – eine Geste der Zuneigung und des Respekts, die die Würde des alten Herrn umgehend wiederherstellte.

„Danke, Pater.“ Alex’ tiefe Stimme trug durch das ganze Kirchenschiff. „Seit ich denken kann, kümmern Sie sich um die Bewohner dieser Insel. Sie haben mich getauft, Sie haben meine Eltern beerdigt, und auch heute stehen Sie an meiner Seite. Dafür bin ich Ihnen zutiefst verbunden.“

Er lächelte, und nahezu alle Frauen in der Kathedrale seufzten auf.

„Sehen Sie, dafür lieben ihn die Inselbewohner“, flüsterte die Reporterin gerührt. „Und es wäre allen lieber gewesen, wenn er den Thron bestiegen hätte. Doch dann wurde dieses Kind geboren. Wer konnte auch ahnen, dass der König in seinem Alter noch …? Seine Ehe mit Mia war eine Farce, und er wollte nur deshalb einen Nachkommen, um zu verhindern, dass Alex der nächste Regent wird.“

Lily hörte nicht mehr zu. Dieses Lächeln … diese Liebenswürdigkeit …

Ich hatte ganz vergessen, warum ich mich in ihn verliebt habe, dachte sie und blinzelte die Tränen fort.

Sie durfte nicht gefühlsduselig werden. Sie musste sehen, dass sie ihr Ziel erreichte, ohne den Kopf zu verlieren.

Es schien unmöglich, aber sie musste es wagen.

„Ohne Michales wäre Alex jetzt rechtmäßiger Regent?“ Sie versuchte, gleichmütig zu klingen.

Der Blick der Journalistin hing immer noch hingerissen an Alex. Sie nickte. „So ist es. Alex ist König Giorgos’ Neffe. Da Giorgos keine Nachkommen hatte, war er der Thronfolger. Bis dann vor Kurzem dieses Baby zur Welt kam. Alex’ Eltern starben früh. Da er der einzige Erbe des Königs war, zog dieser ihn im Schloss auf. Es kann keine glückliche Kindheit gewesen sein, und jeder weiß, dass Alex alles, was mit dem Königshof zu tun hat, zuwider ist. Jetzt sitzt er allerdings in der Falle. Er muss als Prinzregent die Regierungsverantwortung übernehmen, ohne wirkliche Macht zu haben.“

Plötzlich wandte die Reporterin ihre Aufmerksamkeit Lily zu und sah sie scharf an. „Sind wir uns nicht schon einmal begegnet?“, fragte sie. „Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.“

Verflixt, wenn sie doch nur geschwiegen hätte! „Ich glaube nicht.“ Lily zupfte an dem Tuch, das sie sich um den Kopf gebunden hatte, und gab vor, das Geschehen am Altar zu verfolgen.

„Doch, ich bin ganz sicher, dass ich Sie kenne.“ Die Frau starrte sie immer noch an.

„Unmöglich“, erwiderte Lily kurz angebunden. „Ich bin erst heute Morgen angekommen.“

„Sind Sie eine Verwandte? Eine Freundin? Oder jemand Offizielles?“ Sie musterte Lilys Kleidung, die wenig passend war für ein so feierliches Ereignis. Lily hatte ihr Bestes getan, doch ihr Bestes war ein schlichter schwarzer Rock mit einer Jacke, die um ihren schmal gewordenen Oberkörper schlabberte. Das einzig schicke Accessoire, das sie besaß, war ihr Schal. Ein edler Seidenschal in Rosa, Blau und zartem Gelb, gemustert wie ein impressionistisches Gemälde.

Sie wusste selbst, dass sie schäbig wirkte neben den übrigen Besuchern der Kathedrale, die aus der ganzen Welt angereist waren. Dass man sie allerdings mit ihrer älteren Schwester in Verbindung bringen würde …

„Sie sehen aus wie die Königin.“ Lily bot ihre ganze Selbstbeherrschung auf, um nicht zusammenzuzucken.

„Das kann nicht sein.“

„Sie sind nicht mit ihr verwandt?“

Lily rang sich ein Lächeln ab. „Wie kommen Sie nur darauf? Königin Mia ist so glamourös.“

„Aber sie hat ihr Baby im Stich gelassen“, flüsterte die Frau von der Presse empört über den jüngsten Skandal. „Können Sie sich das vorstellen? Der König stirbt, und Mia setzt sich mit einem der reichsten Männer der Welt ab. Und ihr Kind lässt sie einfach zurück.“

Mein Kind. Es ist mein Kind!

Die Frau starrte sie noch immer an. Lily musste sie irgendwie auf eine falsche Fährte lenken. „Ich bin in einer offiziellen Funktion hier“, sagte sie mit fester Stimme, um klarzumachen, dass sie keine weiteren Fragen duldete.

Sie befühlte die goldumrandete Einladung in ihrer Jackentasche. Als sie nach ihrer Ankunft auf der Insel erfahren hatte, dass ihre Schwester Hals über Kopf abgereist war, hatte sie befürchtet, von den Feierlichkeiten ausgeschlossen zu werden. Doch zu ihrem Erstaunen stand ihr Name nach wie vor auf der Gästeliste. Alex hatte ihre Existenz vermutlich schon längst vergessen. Ihre Papiere waren in Ordnung, und als sie die Einladung vorzeigte, hatte es keine Probleme gegeben.

Ha! Überall lauerten Probleme. Was sollte sie nur tun?

In diesem Moment ertönte ein Fanfarenstoß. Die Menge erhob sich und applaudierte. Prinzregent Alexandros schritt in königlicher Haltung den Mittelgang entlang.

Lächelnd sah er nach rechts und links, suchte bewusst den Augenkontakt mit den Menschen. Als sein Blick Lilys begegnete, stutzte er, ein kurzes Erkennen huschte über seine Züge.

Das Lächeln erstarb.

Lily schloss die Augen.

Als sie sie wieder öffnete, war er bereits weitergegangen, und nur die Reporterin musterte sie neugierig.

„Er kennt Sie“, sagte sie atemlos.

„Wir sind uns einmal kurz begegnet.“

„Entschuldigen Sie, aber er sah aus, als ob er Sie hasst.“

„So ein Unsinn“, stieß Lily hervor. „Wieso sollte er denn? Wenn Sie mich jetzt bitte vorbeilassen würden …“

Sie wandte sich ab und folgte der langsamen Prozession hinaus in den morgendlichen Sonnenschein. Niemand sah ihr an, wie elend sie sich fühlte.

Sie war gekommen, um ihr Baby zu sich zu holen. Doch sie wäre am liebsten davongelaufen.

Was zum Teufel will sie hier?

Alex hatte so viele Hände geschüttelt, dass ihm der Arm schmerzte. Nur mit enormer Willenskraft schaffte er es, unentwegt zu lächeln. Würde dieser Tag denn nie zu Ende gehen?

Und was hatte Lily auf der Insel verloren?

Ihre Liebesaffäre war schnell vorüber gewesen. Zwei wunderbare Tage hatte er geglaubt, die Frau seines Lebens gefunden zu haben. Eine Frau, die anders war als die anderen. Doch dann hatte sie ihn ohne Abschied verlassen und im Morgengrauen, noch bevor er aufgewacht war, die Fähre nach Athen genommen.

Das hatte ihn nicht davon abgehalten, nach ihr zu suchen. An der gesamten Ostküste der Vereinigten Staaten hatte er nach Mias Schwester geforscht, von der er nur wusste, dass sie Schiffbauerin war.

Ihren Beruf hatte er ihr zunächst nicht abgekauft. Auf seine Frage hin hatte Mia nur die Schultern gezuckt. „Unsere Eltern haben sich getrennt, als wir noch Kinder waren. Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen, und Lily wollte bei Vater bleiben. Ich habe sie seit damals kaum gesehen. Es geht mich nichts an, was sie treibt, und dir sollte es auch egal sein.“

Das war es ihm aber nicht. Und schließlich gelang es ihm, ihren Arbeitgeber aufzuspüren. Einen älteren Griechen, Bootsbauer an der Küste von Maine. Der hatte Alex eingehend gemustert und sich dann entschieden, ihm reinen Wein einzuschenken.

„Ja, Lily arbeitet für mich. Außer mir und meiner Frau weiß hier aber niemand, dass sie die Schwester der Königin ist. Sie wollte nicht, dass es bekannt wird. Wo sie sich zurzeit aufhält? Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Vor einem Monat ist sie abgereist, sagte, sie sei krank. Sie litt öfter unter starken Kopfschmerzen, und die wurden immer schlimmer. Wir haben ihr geraten, sich gründlich zu erholen und wiederzukommen, wenn es ihr besser geht. Wir halten die Wohnung über der Werkstatt für sie frei, aber wann sie zurückkehrt, das wissen die Götter.“

So war Alex’ Suche erfolglos geblieben, und ein bohrendes Verlustgefühl hatte sich – wieder einmal – in ihm ausgebreitet. Genau wie damals, als sein Vater gestorben war und Giorgos ihn von seiner Mutter getrennt hatte. Als Heranwachsender hatte er die Grausamkeiten des Königs erdulden müssen und sich geschworen, der königlichen Familie künftig aus dem Weg zu gehen.

Ausgerechnet die Schwester der Königin hatte seine Abwehrmechanismen unterlaufen. Welche Ironie.

Sie hatten sich geliebt, geredet und gelacht bis spät in die Nacht hinein, während er sie in den Armen gehalten und ihren Herzschlag gespürt hatte. Ihre Körper waren verschmolzen, als wäre einer ein Teil des anderen, und er hatte geglaubt, dass Lily sich ebenso in ihn verliebt hätte wie er sich in sie. Aber anscheinend war es für sie nur eine Affäre gewesen. Vielleicht sammelte sie Männer wie Trophäen, genau wie ihre Schwester.

Das kommt davon, wenn man seine Schwüre bricht, hatte er sich höhnisch vorgehalten.

Dann hatte sie angerufen.

Er war erst kurz zuvor in Manhattan eingetroffen und hatte versucht, sein Leben wieder in normale Bahnen zu lenken. Als ihr Anruf kam, hatte er gerade ein unangenehmes Telefongespräch beendet. Immer noch verärgert darüber, dass Lily einfach verschwunden war, hatte er einen dummen Witz gerissen.

Gut, es war eine geschmacklose Bemerkung gewesen. Aber sie hatte ihm nicht einmal die Gelegenheit gegeben, sich dafür zu entschuldigen. Sie hatte einfach aufgelegt. Und sich nie wieder gemeldet.

Was wollte sie also heute hier?

Lässig und ungezwungen, wie es seine Art war, unterhielt er sich mit seinen Gästen, fand die richtigen Worte und hielt doch die ganze Zeit Ausschau nach ihr – einer Frau in einem tristen schwarzen Kostüm mit einem schreiend bunten Schal.

„He, Alex, lass dich ansehen.“ Vor ihm stand Nikos mit Stefanos im Schlepptau. Als Kinder waren sie die besten Freunde gewesen. Stefanos stammte von der Insel Khryseis, Nikos kam von Argyros.

„Wenn wir erwachsen sind, regieren wir die Inseln“, hatten sie sich damals geschworen. Selbst als Teenager war das noch ihr Traum gewesen. Und nicht ganz ohne Grund, denn ursprünglich hatte es drei Fürstentümer gegeben: Sappheiros, Khryseis und Argyros. Vor etwa zweihundert Jahren hatte der Fürst von Sappheiros die Nachbarinseln erobert, die Verfassung geändert und sich selbst zum König über das gewaltsam vereinigte Reich ernannt. Solange es in seiner Familie direkte männliche Nachkommen gäbe, so lange würden die Inseln von diesem Herrscher regiert.

Seitdem wurden die Diamanteninseln vom jeweiligen König ausgeblutet. Der Letzte in der Reihe war Giorgos gewesen, eine Karikatur von einem Monarchen. Da er sich nicht für Frauen interessierte, sah es lange so aus, als würde es keinen direkten Nachkommen geben. Die Inselbewohner hielten den Atem an.

Alex, Nikos und Stefanos hielten den Atem an.

Alex würde als Giorgos’ Neffe und legitimer Nachfolger Regent von Sappheiros werden. Stefanos stand kurz davor, die Insel Khryseis zu regieren, und Nikos würde Fürst von Argyros. Drei entschlossene Männer mit einem gemeinsamen Ziel. Wenn der König starb und die Inseln ihre Unabhängigkeit zurückerhielten, wollten sie die Wirtschaft wiederaufbauen und eine demokratische Verfassung einführen.

Doch dann war alles anders gekommen. Giorgos hatte die vierzig Jahre jüngere Mia geheiratet, und sie hatten einen Sohn bekommen. Damit bestand das alte Recht fort. Alex würde als Prinzregent nur bis zur Volljährigkeit des Neugeborenen die Regierungsgeschäfte übernehmen.

Jetzt sitze ich in der Falle, dachte Alex, während er nach Lily Ausschau hielt. Die Begrüßung seiner Freunde hatte ihn zwar kurz abgelenkt, aber er wurde die Wut und die Enttäuschung darüber, wie sich die Dinge entwickelt hatten, einfach nicht los. Nun musste er also für das Kind des verhassten Königs die Verantwortung übernehmen, ohne wirkliche Macht zu haben, ohne wirklich etwas verändern zu können. Und seine Freunde … hinter der stets fröhlichen Fassade spürte er ihre Verzweiflung. Wie immer versteckten sie ihre Gefühle hinter einer Maske von Humor, Gelassenheit und Draufgängertum.

„Seht ihn euch an!“, rief Stefanos aus und schlug Alex auf die Schulter. „Eine Quaste mehr, und du sähest aus wie ein Weihnachtsbaum.“

„Dir fehlen nur noch die Kerzen“, stimmte Nikos lachend zu. „He …“

„Mias Schwester ist hier“, fiel Alex ihm ins Wort. „Lily.“

Die Neckereien fanden ein abruptes Ende. Wir sind die besten Freunde, ging es Alex durch den Kopf. Wie viel Gutes hätten wir bewirken können, wenn dieses Baby nicht geboren worden wäre!

Nikos und Stefanos kannten Lily. Sie wussten, wie heftig er sich in sie verliebt hatte. Vielleicht standen ihm seine Gefühle in diesem Augenblick ins Gesicht geschrieben. Er konnte es nicht ändern.

„Was zum Teufel …?“, entfuhr es Nikos, und er blickte in die Runde. „Ich sehe sie nirgends.“

„Sie spielt die unauffällige graue Maus – schwarzer Rock, schwarze Jacke und ein Tuch um den Kopf. Wahrscheinlich glaubt sie, dass man sie so nicht erkennt.“

„Die hat vielleicht Nerven“, meinte Stefanos. „Wenn das auffliegt. Das Volk würde Mia am liebsten lynchen.“

„Lily ist nicht Mia.“

„Sie hat dich damals um den kleinen Finger gewickelt.“ Nikos lächelte, doch seine Augen blickten ernst und voller Anteilnahme.

„Ja, mich hatte es schwer erwischt.“ Alex versuchte, seine Stimme unbeteiligt klingen zu lassen. „Ich bin hereingelegt worden, ebenso wie Giorgos.“

„Mia hat ihn nicht hereingelegt. Sie hat ihn geheiratet und ein Kind von ihm bekommen.“

„Sie hat ihn nur wegen des Geldes und der Macht geheiratet.“

„Und du hast dich in die Schwester verliebt.“

„Es war nur ein kurzes Abenteuer. Was zum Teufel will sie hier?“

„Frag sie.“

„Es wird mir nichts anderes übrig bleiben“, sagte Alex mit einem Seufzer. „Wenn sie glaubt, sie könne so tun, als gehöre sie zur königlichen Familie …“

„Dann wirst du ihr die Leviten lesen?“

„Darauf kannst du wetten.“ Alex seufzte erneut. „Und dann wird sie abreisen.“

Die Geburt eines Thronfolgers, der Tod des Königs und eine verwitwete Königin, die ihr Baby verlassen hatte … Es dauerte eine Weile, bis Lily im Besitz all dieser Informationen war.

Sie hatte sich unter die Gäste gemischt, zugehört, diskrete Fragen gestellt und war schockiert. Und sie wusste inzwischen, dass die Inselbewohner beinahe ebenso entsetzt waren wie sie. Die Erregung schlug hohe Wellen. Eine weitere schlechte Nachricht würde genügen, um die Monarchie zu stürzen.

Mir kann das egal sein, dachte sie, während sie weiter aufmerksam lauschte und die Neuigkeiten verarbeitete. Sie gehörte schließlich nicht zur königlichen Familie. Sie wollte nur ihr Baby zurückhaben.

Sie brauchte nicht lange, um das Kinderzimmer zu finden. Eine einfache, mit fester Stimme vorgebrachte Frage an das Hausmädchen hatte genügt. Leise schlüpfte sie, ohne um Erlaubnis zu bitten, in den Raum.

Michales schlief. Er lag in seinem Kinderbettchen, in eine weiche Decke gehüllt, und nuckelte am Daumen. Erstaunlich dichte schwarze Locken bedeckten sein Köpfchen. Gelegentlich bewegten sich die Lider mit den langen Wimpern im Schlaf.

Er war wunderschön.

Er gehörte ihr.

Michales, benannt nach Lilys Vater Michael. Das einzige Versprechen, das Mia gehalten hatte.

In den letzten Wochen war Lily sich nicht sicher gewesen, was sie bei der Begegnung mit ihrem Kind empfinden würde. Jetzt, da sie auf ihren schlafenden Sohn hinabblickte, wusste sie es. Zorn? Das Gefühl, hintergangen worden zu sein? Beides, aber vor allem verspürte sie unendliche Liebe. Er war perfekt, wie sie staunend bemerkte. Sie konnte den Blick nicht von dem schlafenden Baby abwenden.

Ihr Sohn. Ihr Baby. Michales.

„Was machst du hier?“

Alex’ Stimme ließ sie erschrocken zusammenzucken. Alles an ihm machte sie nervös. Er ist wie ein Panther, der sich unbemerkt an seine Beute heranschleicht, dachte sie, als sie herumfuhr. Mit unbewegtem Gesicht stand er in der Tür.

Vor zwölf Monaten hatte sie ihn unwiderstehlich gefunden. Leidenschaftlich … ja sogar zärtlich.

Jetzt stand ihm die Wut ins Gesicht geschrieben. Er sah völlig anders aus als der Alex, den sie in Erinnerung hatte.

„Ich wollte meine Schwester besuchen“, stieß sie hervor.

„Wie du siehst, ist Mia nicht mehr hier. Und ihr Baby hat sie zurückgelassen. Sie hat alles zurückgelassen und ist mit einem Mann auf und davon, der so viel Geld hat, dass er ihr jeden Wunsch erfüllen kann. Willst du etwa behaupten, nichts davon gewusst zu haben?“

„Ich habe es nicht gewusst.“ Lily nahm ihren ganzen Mut zusammen und suchte nach der Einladung in ihrer Tasche. Der zornige Ausdruck in Alex’ Miene hätte eine furchtlosere Frau, als sie es war, eingeschüchtert. „Sie hat mir eine Einladung geschickt. Ich bin heute Morgen angekommen und habe dann erst erfahren, dass sie …“

„Abgehauen ist“, beendete er den Satz für sie. „Mit dem Sohn eines Scheichs. Anscheinend hatte sie es seit dem Tod ihres Mannes geplant. Vielleicht auch schon früher. Wer weiß?“

„Das tut mir leid.“

Dir tut es leid?“ Alex starrte sie an, fast so, als wäre sie Mia. Wir sehen uns ähnlich, dachte Lily. Er sieht nicht mich, und was er von meiner Schwester hält, steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Ein lastendes Schweigen breitete sich aus.

Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Nur widerwillig hatte er sich zum vierzigsten Thronjubiläum des Königs eingefunden. Und Lily, ohne von den Festlichkeiten zu wissen, schockiert von den Prognosen der Ärzte, war zu ihrer Schwester gereist. In der Hoffnung, dass Mia ihr beistehen würde.

Doch Mia hatte sich nicht im Geringsten für Lilys Zustand interessiert. „Lily, bitte! Dies ist ein wichtiger Abend. Wir geben ein riesiges Fest. Hier hast du ein Kleid. Amüsier dich. Ich habe jetzt nicht die Zeit, mir deine Probleme anzuhören.“

Wie betäubt war Lily zu der Feier erschienen und hatte versucht, nicht an ihre Zukunft zu denken. Doch dann war Alex aufgetaucht und hatte sie lächelnd gefragt, ob sie tanzen wolle.

Sie blickte auf Michales, das Kind ihrer Liebe, den alle für Königin Mias Sohn und den zukünftigen König hielten.

Nein, dachte sie benommen. Mia hat alle belogen. Der wahre Erbe ist Alex. Fantastisch aussehend, mit königlicher Haltung, würde er dieser Aufgabe mit Leichtigkeit gerecht.

„Hast du mit Mia gesprochen?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Deswegen bin ich eigentlich gekommen. Aber ich habe erfahren, dass sie fort ist …“

„… und ein Fiasko hinterlassen hat“, fuhr Alex sie an. „Dieses Kind ist der Thronfolger. Ich werde seine Rolle übernehmen, aber ohne wirkliche Befugnisse. Und du spazierst hier einfach so herein. Dazu hast du kein Recht.“

„Ich habe eine Einladung erhalten. Sie gibt mir das Recht, hier zu sein.“ Lily erwiderte seinen Blick, so ruhig sie konnte. Äußerlich gelassen, innerlich verzweifelt.

Es musste ihr gelingen, zu ihm durchzudringen. Sie war nicht ihre Schwester. Das musste er doch einsehen. „Alex, als wir uns das letzte Mal gesehen haben …“, begann sie, doch sein eiskalter Blick ließ sie verstummen.

„Vergiss es“, herrschte er sie an. „Ich weiß nicht, was für ein Spiel du treibst …“

„Ich treibe kein Spiel! Ich …“

„Egal.“ Seine Stimme war schneidend. „Was jetzt zählt, ist die Zukunft der Inseln, und dabei spielst du keine Rolle. Es geht um Größeres. Die Einwohner sind aufgebracht. Giorgos und Mia haben nur in ihre eigene Tasche gewirtschaftet. Und ich habe dieses Baby am Hals und kann nichts unternehmen.“

Ich habe dieses Baby am Hals …

Sie hatte nicht gewusst, wie sehr er sie verletzen konnte. Etwas in ihrem Inneren starb in diesem Augenblick.

Er war Michales’ Vater. Ich habe dieses Baby am Hals …

Jetzt war alles egal. Sie würde ihr Kind mitnehmen.

„Und was soll nun geschehen?“, fragte sie leise.

„Ich muss aus diesem Schlamassel das Beste machen.“ Er klang so müde, als hätte er schon viel zu oft darüber geredet.

„Aber was wird aus Michales?“

„Man wird sich um ihn kümmern. Bitte geh, Lily. Ich habe schon genug Probleme.“

Gütiger Himmel …

Wie konnte sie ihm irgendetwas erklären, wenn er sie so abweisend ansah? Würde er sie überhaupt anhören? Und was, wenn sie ihm die Wahrheit sagte und er sie trotzdem fortschickte?

Sie hatte nicht den Mut, das Risiko einzugehen.

Verwirrt blickte sie auf das schlafende Baby hinab. Dass ein solch winziges, perfektes Wesen entstanden war, weil sie diesen Mann geliebt hatte …

Im Augenblick erschien es ihr unvorstellbar. Nichts an Alex war sanft. Seine Stimme klang hart. „Fahr nach Hause, Lily“, sagte er drohend. „Wenn die Inselbewohner herausbekommen, dass du Mias Schwester bist, kannst du von Glück sagen, wenn du ungeschoren von hier fortkommst.“

„Man kann mir doch nicht ihr Verhalten vorwerfen!“

„Ihr seid verwandt.“

„Ich kenne sie kaum“, flüsterte Lily und strich mit dem Finger sanft über die Wange des Babys. Ein Sturm von widerstreitenden Gefühlen tobte in ihr. „Alexandros …“

„Ich glaube, du verstehst nicht. Es gibt nichts zu besprechen. Du musst gehen.“ Alex’ Miene war undurchdringlich.

Den Mann, den sie einst zu lieben geglaubt hatte, gab es nicht mehr.

Aber es ging nicht um ihre Beziehung. Es ging um ihr Kind. Die Leidenschaft, die sie damals für Alex empfunden hatte, spielte dabei keine Rolle.

„Ich möchte mit darüber entscheiden, wie Michales aufwächst.“ Nun war es heraus. Vielleicht konnte sie ihm irgendwann sogar die Wahrheit sagen. Nur nicht jetzt. Nicht heute. Dafür fühlte sie sich zu schwach und zu zerrissen.

„Das muss deine Schwester entscheiden“, stellte Alex klar. „Falls sie sich auf ihre Mutterpflichten besinnt, kannst du natürlich die Rolle der Tante übernehmen. Rede mit ihr. Bring sie zur Vernunft, damit sie sich um ihr Kind kümmert.“

„Und in der Zwischenzeit wirst du die Vaterrolle übernehmen?“

„Machst du Witze?“ Alex schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich habe den Vater dieses Jungen nicht gemocht, und seine Mutter kann ich nicht ausstehen. Ich werde dafür sorgen, dass er von einem vertrauenswürdigen und verlässlichen Kindermädchen großgezogen wird, aber bestimmt nicht von mir.“

„Dann wird er so einsam aufwachsen wie du?“

„Woher zum Teufel willst du wissen, wie ich aufgewachsen bin?“

„Du hast es mir erzählt“, sagte sie ausdruckslos, als er sie anstarrte.

„Anscheinend habe ich das“, räumte er schließlich ein. „In jener Nacht. Ich kann mich kaum noch daran erinnern.“

Mehr brauchte sie nicht zu hören. Diese eine Nacht hatte ihr Leben für immer verändert. Und er erinnerte sich nicht einmal daran.

„Was willst du eigentlich?“, fragte er. „Wir haben miteinander geschlafen. Am nächsten Morgen hast du dich ohne ein Wort des Abschieds davongeschlichen. Warum bist du hier? Hast du nicht bekommen, was du wolltest?“ Sein Seufzen verriet, wie sehr er der ganzen Angelegenheit müde war. Und wie müde Lilys. „Ich werde dafür sorgen, dass du über die Fortschritte des Kleinen auf dem Laufenden gehalten wirst. Auch wenn deine Schwester nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Mehr kann ich nicht tun.“

„Er ist aber dein …“

Es kam ihr nicht über die Lippen. Eine Hausangestellte tauchte an der Tür auf. Als sie Lily mit nervösem Blick ansah, huschte ein Erkennen über ihre Züge.

„Eure Hoheit werden im Salon erwartet“, sagte die junge Frau zu Alex, ließ Lily dabei aber nicht aus den Augen. „Ich erinnere mich an Sie“, sagte sie schließlich. „Sie sind die Schwester der Königin.“

„Ich weiß, dass ich bereits erwartet werde“, erwiderte Alex grimmig. „Ich habe mich nur noch von Miss McLachlan verabschiedet.“

„Verlassen Sie uns, Miss?“ Das Hausmädchen wirkte verwirrt.

„Es sieht so aus.“ Lily unterdrückte die Tränen. „Aber ich möchte noch ein bisschen bei Michales bleiben. Nur ganz kurz.“

„Das geht in Ordnung.“ Alex blieb ungerührt. „Lass dir Zeit. Du kannst ihn die ganze Nacht in den Armen wiegen, wenn du möchtest. Versuch, wiedergutzumachen, was seine Mutter ihm angetan hat. Aber bleib den Gästen fern. Und morgen früh reist du ab. Auf Wiedersehen, Lily. Verlass meine Insel. Du kannst mit deiner Schwester zurückkehren oder gar nicht.“

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging aus dem Zimmer. Lily sah ihm nach und fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.

„Hat man Ihnen den Brief gegeben?“, fragte die Hausangestellte nach einer Weile vorsichtig.

„Welchen Brief?“

„Die Königin … Ihre Schwester ist erst gestern abgereist.“ Unwillkürlich sprach die junge Frau leiser. Sie schien den Skandal noch nicht recht fassen zu können. „Sie sagte mir, dass Sie kommen würden.“ Damit ging sie zum Kamin und nahm ein Kuvert vom Sims. „Ich habe versprochen, ihn zu übergeben. Oh, was kann sie sich nur dabei gedacht haben, ihr Kind einfach so zu verlassen?“

Lily senkte den Blick. Sie hatte keine Antwort parat. Als sie hochsah, war das Hausmädchen gegangen. Sie betrachtete den Brief, den die Angestellte ihr in die Hand gedrückt hatte.

Was hast du nur getan, Mia? Du lieber Himmel, was für ein Chaos.

Ungeduldig riss Lily den Umschlag auf und begann zu lesen. Der Brief war typisch für Mia, direkt und emotionslos.

Liebe Lily,

ich habe dein Baby nie gewollt. Aber weil Giorgos unter allen Umständen zu verhindern suchte, dass Alexandros auf den Thron kommt, beschloss er, ein Kind zu adoptieren und es als sein eigenes auszugeben. Er hatte schon alles in die Wege geleitet, bis hin zur Bestechung der Ärzte. Als du mir dann erzähltest, dass du schwanger bist und zu krank, um für das Kind zu sorgen, erschien mir das wie ein Wink des Schicksals.

Doch nun ist Giorgos tot, und ich eigne mich nicht zur Witwe. Ich brächte es nicht über mich, Alex für den Rest meines Lebens um Geld zu bitten. Ben ist reich und wunderbar, und ich gehe mit ihm fort. Jetzt, da du erfolgreich operiert worden bist, kannst du dich wieder selbst um dein Kind kümmern.

Mia

Lily starrte auf den Brief, bis die Schrift vor ihren Augen verschwamm. Dann ließ sie das Blatt sinken und blickte zu ihrem Baby hinab. Was hatte Alex gesagt? Lass dir Zeit.

Die Tür ging auf, und das Hausmädchen erschien erneut. „Entschuldigen Sie“, sagte es. „Michales muss jetzt seine Flasche bekommen.“

„Aber er schläft.“

„Er wurde vor vier Stunden zum letzten Mal gefüttert“, erklärte die Angestellte steif. „Wir halten uns an die Anweisungen.“

„Ich verstehe.“ Lily versuchte, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. Dann dachte sie: Nein, nein, nein.

„Sie haben gehört, was der Prinz gesagt hat“, versuchte sie es erneut, während sich ihre Gedanken überschlugen. „Ich darf mich um Michales kümmern, bis ich abreise. Bringen Sie mir alles, was er bis morgen früh braucht, und lassen Sie uns dann bitte allein.“

„Aber wir arbeiten im Schichtdienst. Alle acht Stunden wechselt die Betreuung. Sie können sich nicht allein um ihn kümmern.“

„Natürlich kann ich das.“

„Die Vorschriften …“

„Gelten ab morgen“, erklärte Lily fest. „Heute übernehme ich die Verantwortung. Ich gebe ihm die Flasche und bringe ihn an die frische Luft. Heute Nacht schlafe ich hier. Können Sie Ihren Kolleginnen sagen, dass ich sie bis morgen früh nicht brauche?“

„Das wird ihnen nicht gefallen“, meinte die junge Frau zweifelnd.

„Sie werden tun, was man ihnen befiehlt“, sagte Lily und blickte aus dem Fenster zur Küste hinab, wo ihr gemietetes Boot sanft schaukelnd vor Anker lag.

Würde sie sich trauen?

Hatte sie denn überhaupt eine Wahl?

Das Boot war nicht groß genug für die Reise, die sie antreten wollte. Sie würde Unterstützung brauchen. Vielleicht war der Zeitpunkt gekommen, einen Gefallen einzufordern. Was hatte Mia geschrieben? Ben ist reich …

Ihre Schwester stand in ihrer Schuld. Lily würde sie daran erinnern.

„Sie haben gehört, was der Prinz sagte“, fuhr sie fort. „Morgen muss ich abreisen. Dann ist das Kinderzimmer wieder Ihr Reich. Aber heute gehört Michales mir.“

Es war schon weit nach Mitternacht, als Alex zu Bett ging und bis zum Morgengrauen wach lag. An die Decke starrend, suchte er nach Antworten.

Und versuchte, nicht an Lily zu denken.

Sein Leben war kompliziert genug. Es musste doch einen Ausweg geben.

Es gab keinen. Er saß in der Falle. Diese überkommene Monarchie verhinderte den Fortschritt des Landes.

Und Lily war hier.

Er hatte genug Probleme. Und doch sah er immer wieder ihr blasses Gesicht mit den großen Augen vor sich. Sie war so schmal geworden. Und wie sie zusammengezuckt war, als er gesagt hatte, er könne sich nicht mehr an ihre gemeinsame Nacht erinnern.

Vielleicht war er zu brutal gewesen, als er sie fortschickte.

Nein, er hatte keine Wahl gehabt. Die Inselbewohner hassten ihre Schwester. Sie würden Lily nicht tolerieren.

Er konnte seinem Volk keinen Vorwurf machen. Die Menschen hatten auf eine bessere Zukunft gehofft. Dann war der Erbe geboren worden, und ihre Träume hatten sich zerschlagen. Und um das Fass zum Überlaufen zu bringen, war nun auch noch die Königin von heute auf morgen verschwunden. Alex wusste, dass er alle Hände voll zu tun haben würde, um einen Aufstand abzuwenden.

Es klopfte an der Tür. Er hasste es, wenn die Dienstboten ihn störten. Im Grunde hasste er es, überhaupt Dienstboten um sich zu haben. Doch er würde sich daran gewöhnen müssen.

„Ja?“

„Entschuldigen Sie, Hoheit …“ Es war eines der Kindermädchen. Mit vor Schreck geweiteten Augen trat sie ein, um die schlimme Nachricht zu überbringen.

„Was gibt’s?“

„Das Baby ist verschwunden“, stieß die junge Frau hervor. „Ich war gerade im Kinderzimmer. Michales ist fort. Seine Tante Lily ebenfalls. Der Gärtner sagt, ihr Boot ankert nicht mehr in der Bucht. Sie hat Michales mitgenommen. Sie hat den Kronprinzen entführt.“

3. KAPITEL

Alex brauchte ganze sechs Wochen, um Lily zu finden.

Offiziell ließ er verlautbaren, Lily würde sich um ihren Neffen kümmern, bis Mia zu einer Entscheidung gekommen sei. Aber das war eine Lüge. In Wirklichkeit hatte er ein zu strengster Geheimhaltung verpflichtetes Team zusammengestellt, das rund um die Uhr arbeitete. Seine Mitarbeiter stellten diskrete Nachforschungen an und setzten eine weltweite Suche in Gang.

Endlich brachten die Ermittlungen eine in den Vereinigten Staaten amtlich gemeldete Geburt zutage:

Michales McLachlan, fünf Monate alt, Sohn von Lily McLachlan. Grund für die verspätete Registrierung: Auslandsaufenthalt zum Zeitpunkt der Geburt und anschließende Krankheit. Vater nicht angegeben.

Sie hatte Michales als ihr Kind eintragen lassen und ihn damit zu einem Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika gemacht. Glaubte sie, damit durchzukommen? Alex war wie vor den Kopf geschlagen, aufgebracht und über die Maßen verwirrt.

Er musste einschreiten. Was ging nur in Lily vor? Wo hielt sie sich auf? Wo versteckte sie das Baby?

Mia und ihr neuer Lebensgefährte genossen das Leben in Dubai.

Lily und Michales waren unauffindbar.

Dann kam ein Anruf von einem seiner Ermittler.

„Fragen Sie mich nicht, wie ich es herausgefunden habe, aber sie kehrt auf einem Schiff in die Vereinigten Staaten zurück“, wusste der Mann zu berichten. „Die Nahid gehört zu einem Unternehmen, das sich im Besitz von Ben Merhdad, dem Lebensgefährten von Königin Mia, befindet. Das Schiff legt am Samstag in Maine an.“

Und so erwartete er sie nun am Hafen in Begleitung zweier seiner Männer und eines Beamten von der Einwanderungsbehörde, der über die Sachlage informiert worden war. Es würde das ganze Verfahren vereinfachen, wenn Michales gar nicht erst amerikanischen Boden beträte.

Zwei Minuten vor der offiziellen Ankunftszeit fuhr eine luxuriöse Jacht gemächlich in den Hafen ein.

Zu seinem Erstaunen unternahm Lily keinen Versuch, sich zu verbergen. In verblichenen Jeans und einem einfachen weißen T-Shirt stand sie an Deck. Wieder trug sie einen auffälligen bunten Seidenschal um den Kopf. Hinreißend.

Das Baby hielt sie auf dem Arm.

Er hörte, wie die Männern neben ihm verblüfft nach Luft schnappten. „Sie versteckt ihn nicht einmal“, sagte einer.

„Das Kind ist als ihr Sohn gemeldet.“ Der Stimme des Beamten war ein leises Unbehagen anzumerken. „Sie denkt, sie kommt damit durch.“

„Was hat sie nur vor?“, murmelte Alex wütend.

Jetzt hatte sie ihn gesehen. Unglaublich. Mit einem fröhlichen Lächeln winkte sie ihm zu. Überhaupt wirkte sie wie eine Frau, die gerade von einer erholsamen Kreuzfahrt zurückkehrte.

Sie sah … entzückend aus.

Er hätte sich für diesen Gedanken ohrfeigen können. Lily McLachlan war keinen Deut besser als ihre Schwester. Entzückend ist sie nur an der Oberfläche, rief er sich ins Gedächtnis. In ihrem Inneren ist sie egoistisch und geldgierig.

Seine körperliche Reaktion auf sie war völlig fehl am Platze.

Er musste diese Farce so schnell wie möglich beenden.

Lily wirkte nicht im Geringsten besorgt. Anscheinend gab es keine weiteren Passagiere. Ruhig und gelassen stand sie an Deck, während die Jacht vertäut wurde, jemand von der Besatzung zwei Reistaschen nach oben brachte und Alex sich in Bewegung setzte und an Bord ging.

„Hallo“, begrüßte sie ihn und schenkte ihm ein reizendes Lächeln, so als würde sie nach einem Ausflug von einem Freund abgeholt. „Ich dachte mir schon, dass wir uns hier treffen. Gute Detektivarbeit.“

„Hast du den Verstand verloren?“

„Keineswegs. Wie kommst du darauf?“

„Du hast einfach das Baby mitgenommen.“

Jetzt wurde ihr Lächeln ein wenig dünner und schmallippiger. „Nicht das Baby, sondern mein Baby.“

„Deines?“ Er holte tief Luft.

„Michales gehört mir.“ Sie wandte sich der Schiffscrew zu, und ihr Lächeln kehrte zurück. „Danke, Leute, ihr wart fantastisch. Richtet auch Ben meinen herzlichsten Dank aus. Ab hier komme ich allein zurecht.“

„Wir haben einen Wagen und Personenschutz angefordert.“ Einer der Mannschaft, Alex nahm an, dass es sich um den Kapitän handelte, deutete zum Hafen. Die Limousine war Alex zuvor nicht aufgefallen. Ein uniformierter Chauffeur stand neben dem Auto, hinter ihm warteten zwei Männer in dunklen Anzügen.

„Brauche ich Personenschutz?“ Lilys Frage schien an die Welt im Allgemeinen gerichtet zu sein. „Ich glaube nicht.“ Erneut wandte sie sich mit einem strahlenden Lächeln Alex zu. „Es liegt bei Ihnen, Hoheit. Benötige ich Bodyguards, um meinen Sohn zu schützen?“

„Er ist nicht dein Sohn.“

„Natürlich ist er das.“

„Miss McLachlan“, griff nun der Einwanderungsbeamte ein. Alex hatte die Situation bei der Behörde erläutert und um Diskretion gebeten. Der anwesende Beamte hatte die Befugnis, dem Gesetz entsprechend zu handeln. Er machte eine entschlossene Miene. „Seiner Hoheit zufolge handelt es sich bei dem Baby um den Kronprinzen der Diamanteninseln. Es ist der Sohn von König Giorgos und Königin Mia.“

„Das ist nicht richtig“, antwortete Lily. „Michales ist mein Sohn. Die Geburtsurkunde bestätigt es. Er ist US-Bürger.“

„Das behaupten Sie“, erwiderte der Beamte unbeeindruckt. „Aber Sie können hier nicht einfach mit einem Kind einreisen und erklären, es sei Ihres. Die Geburtsurkunde allein ist kein Beweis.“

„Nein“, sagte sie leise, „aber das hier ist einer.“ Sie reichte ihm eine Brieftasche, die in Michales’ Decke gesteckt hatte. „Darin finden Sie die offizielle medizinische Bestätigung, dass ich vor weniger als sechs Monaten ein Kind zur Welt gebracht habe. Sie ist unanfechtbar. Die französischen Behörden haben sehr sorgfältig gearbeitet, als ich ihnen erklärte, um was es geht. Zusätzlich finden Sie darin DNA-Proben von meinem Sohn und mir. Falls notwendig, können die Tests hier wiederholt werden, und Sie werden dasselbe Ergebnis erhalten. Michales wurde vom König der Diamanteninseln als sein Sohn ausgegeben. Giorgos wollte damit verhindern, dass Prinz Alexandros der nächste König wird. Aber Michales ist mein Sohn, und ich werde ihn behalten.“

Wenn es doch nur schon vorbei wäre! Lange würde sie nicht mehr durchhalten. Es kostete sie ihre ganze Kraft, diese Prozedur zu überstehen. Ihr war schon ganz übel. Und wie Alex sie ansah …

Nein. Konzentrier dich auf den Beamten. Ihn musst du überzeugen.

Lily sah dem Mann fest in die Augen. An Alex durfte sie jetzt nicht denken. „Brauchen Sie noch etwas von mir? Michales bekommt in weniger als einer Stunde seine nächste Mahlzeit, und bis dahin möchte ich zu Hause sein. Wenn die Herren mich entschuldigen, ich möchte jetzt aufbrechen.“

Mit gerunzelter Stirn sah der Beamte die Papiere durch. „Die Unterlagen sind echt, und das Labor, das die DNA-Untersuchungen durchgeführt hat, genießt einen hervorragenden Ruf“, sagte er schließlich.

„Darauf habe ich Wert gelegt. Aber ich bin gerne bereit, die Tests hier wiederholen zu lassen.“

„Wir werden uns mit Ihnen in Verbindung setzen“, beschied der Beamte in deutlich respektvollerem Tonfall als zuvor. „In Anbetracht der Behauptungen dieses Herrn“, er machte eine Kopfbewegung zu Alex hin, doch Lily weigerte sich, seinem Blick zu folgen, „ist es gut möglich, dass wir die Ergebnisse nachprüfen müssen. Doch zunächst einmal sind die Papiere in Ordnung. Willkommen zu Hause.“

„Danke.“ Es war vorüber. Gott sei Dank. Sie wollte einen Schritt auf die Gangway zu machen.

Alex versperrte ihr den Weg.

An Land waren die beiden Männer ebenso rasch hinter dem wartenden Wagen hervorgetreten und kamen mit entschlossenen Schritten näher. Der gute alte Ben, dachte Lily. Das muss ich ihm wirklich hoch anrechnen. Sie hatte den neuen Freund ihrer Schwester nicht kennengelernt, doch die Ankündigung, den beiden das Baby aufzuhalsen, war wirksamer gewesen als eine Zauberformel, auch wenn Lily niemals ernst gemacht hätte.

„Solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, gilt Michales als dein Sohn“, hatte sie Mia erklärt. „Ich werde ihn zu dir bringen, wenn du mir nicht hilfst.“

Mehr war nicht notwendig gewesen. Ben hatte ihr das nötige Geld zur Verfügung gestellt. Und vielleicht brauchte sie auch weiterhin seine Unterstützung. Zwar hoffte sie, dass Alex keine Gewalt anwenden würde, um sich des Babys zu bemächtigen. Aber wirklich sicher konnte sie nicht sein, so wütend, wie er aussah.

„Lass mich durch, Alex“, sagte sie, als er ihr die Hände auf die Schultern legte, um sie festzuhalten.

„Sag mir, was für ein Spiel du treibst!“

„Ich möchte nur mein Kind für mich haben.“

„Was redest du da? Er ist der Sohn von Mia und Giorgos.“

„Ich habe doch gerade erklärt, dass das eine Lüge war.“ Lily atmete tief durch. Okay. Irgendwann musste er es erfahren. Am besten, sie brachte es gleich hinter sich. „Überleg doch mal, warum sie gelogen haben“, sagte sie leise. „Dann wirst du die Zusammenhänge verstehen.“

Er spürte Zorn in sich aufwallen. „Willst du sagen, ihr habt alle drei gelogen? Und dass du mit ihnen unter einer Decke gesteckt hast?“

„Ich war … krank.“

„Du meinst, du bist dafür bezahlt worden“, fuhr er sie an und blickte sich auf der Jacht um, als wäre sie verseucht. „Ich kenne deine Familienverhältnisse. Du besitzt keinen Cent.“

„Werd jetzt bitte nicht persönlich.“

„Was soll das Theater?“ Er betrachtete das Baby in ihren Armen. In eine cremefarbene weiche Decke gehüllt schlief Michales, als ginge ihn das Ganze überhaupt nichts an. „Natürlich ist er Mias Kind“, stieß er hervor. „Er sieht ihr sogar ähnlich und Giorgos ebenfalls.“

„Nein, das tut er nicht“, widersprach Lily so leise, dass nur Alex sie hören konnte.

„Und ob!“

„Vielleicht ein wenig“, räumte sie ein. „Weil Mia mir ähnlich sieht. Und Giorgos hatte ähnlich markante Züge wie du. Rechne nach, Alex. Dann weißt du, was los ist.“

Und mit einem feinen Lächeln, das sie ihre ganze restliche Kraft kostete, ging sie an ihm vorbei.

Einen Augenblick später saß sie in der Limousine. Ihr Gepäck war im Kofferraum verstaut, und der Wagen fuhr ab.

Alex unternahm keinen Versuch, ihr zu folgen. Er stand an Deck der Jacht in der warmen Sonne und starrte ihr nach.

Geschafft, dachte sie innerlich zitternd. Ihr Sohn gehörte nun ihr.

Sie konnte ihr altes Leben wieder aufnehmen.

Tagelang hielt Lily förmlich den Atem an. Auch wenn sie nicht glaubte, dass Alex versuchen würde, Michales mit Gewalt an sich zu bringen, so konnte sie doch nicht ganz sicher sein.

Aber alles blieb ruhig. Sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Immerhin hatte sie nun Zeit für ihren Sohn, und ihre Liebe zu ihm wuchs von Tag zu Tag.

„Ich weiß, du bist Besseres gewöhnt“, flüsterte sie ihm zu, als sie ihre Wohnung betraten. Vom Fenster aus überblickte man die Werft. Ihr Chef und seine Mitarbeiter beplankten direkt unter ihrem Fenster ein Ruderboot.

Bald würde sie wieder bei ihnen sein. Der Gedanke beruhigte sie. Spiros wollte, dass sie weiterhin für ihn arbeitete, und das entsprach genau ihren Vorstellungen. Wenn sie das Fenster offen ließ, konnte sie Michales hören, wenn er weinte. Und Spiros’ Frau hatte ihr schon ihre Hilfe zugesichert.

Es würde funktionieren.

Unterdessen saß sie auf der verblichenen Tagesdecke ihres durchgelegenen Bettes und schmuste mit ihrem Sohn.

Sie konnte ihn zum Glucksen bringen, und sie fühlte sich gesund genug, um ihr Beisammensein zu genießen. Das Leben mit seinen vielen Möglichkeiten lag vor ihr. War ein größeres Glück überhaupt denkbar?

Das einzige Wölkchen am Himmel? Alex würde kommen. Sie wusste, die Sache war noch nicht ausgestanden.

Alex – ach, wenn doch nicht alles so kompliziert wäre!

Sie konnte die Situation nicht ändern. Also versuchte sie, positiv zu denken und sich keine Sorgen zu machen. Es gab kein Zurück. Alex mochte der Vater ihres Kindes sein. Aber in erster Linie gehörte Michales ihr.

Alex brauchte fast eine Woche, bis er die Wahrheit erkannte. Und selbst dann konnte er es kaum fassen. Was sollte er nun tun? Er konnte nicht einfach abreisen und den Inselbewohnern mitteilen, dass sie alle hereingelegt worden waren.

Denn er wusste inzwischen, dass Lily nicht gelogen hatte.

Er hatte Nachforschungen anstellen lassen. An den DNA-Tests gab es nichts zu rütteln.

Michales war ihr Kind.

Und … seines? Konnte das wahr sein?

Er erinnerte sich an den kleinen Jungen, der auf dem Arm seiner Mutter geschlafen hatte. Dunkle Wimpern, dicke schwarze Locken. Er hatte sogar im Schlaf gelächelt.

Er ist mein Sohn.

Es überstieg seine Vorstellungskraft.

Die rechtlichen Auswirkungen waren gewaltig.

Er hatte sich Beistand geholt. Die besten Juristen für Verfassungsrecht und die gewieftesten politischen Berater, die er auftreiben konnte. Sie hatten die Verfassung der Diamenteninseln durchforstet, hin und her überlegt, ihn auf Fakten aufmerksam gemacht, die er lieber nicht gewusst hätte.

Die Lage schien ausweglos. Er hätte alles dafür gegeben, die vergangenen Monate rückgängig machen und ohne die Existenz dieses Kindes regieren zu können.

Mein Sohn.

Je länger er über die Lüge nachdachte, die man ihm aufgetischt hatte, desto zorniger wurde er. Dass Giorgos und Mia das Volk hinterhältig getäuscht hatten … Dass Lily mitgespielt hatte …

War es vielleicht sogar Teil der Intrige gewesen, dass Lily ihn verführte? Es ließ sich nicht ausschließen, dass die drei es so geplant hatten. Mia war erst verschwunden, als sie festgestellt hatte, dass sie nach Giorgos’ Tod über kein eigenes Vermögen verfügte.

Erst dann hatte Lily ihren Sohn zurückhaben wollen. Und was hatte es mit der Krankheit auf sich, unter der sie angeblich gelitten hatte? Vor sechs Wochen bei seiner Krönung war sie kerngesund gewesen.

Nachforschungen bei den Ärzten, die ihre Atteste unterzeichnet hatten, waren auf eisiges Schweigen gestoßen. Man hatte sich auf die ärztliche Schweigepflicht berufen. Schweigepflicht, wenn es um die Zukunft seines Volkes ging! Notfalls würde er mit Bestechung an die nötigen Informationen gelangen.

Aber so weit war er noch nicht. Zuerst würde er sie selbst fragen.

Ein ums andere Mal hatte er mit den fähigsten Juristen diskutiert, mit politischen Sachverständigen, mit Stefanos und Nikos.

Und wenn sie ihm dann die einzige Lösung aufzeigten, wie er die Inseln mit Sicherheit in eine bessere Zukunft führen könnte, wurde ihm übel.

Schließlich flog er nach Amerika und fuhr zu der Werft in Maine, die Lily bei den Behörden als ihren Wohnsitz angegeben hatte. Zu der Wohnung über der Werkstatt, die er bereits kannte.

Er kam allein, nahm den Hintereingang, damit niemand ihn sah, und hoffte, dass Lily die Bodyguards inzwischen weggeschickt hatte.

Als er an ihre Tür klopfte, war er sicher, dass die Adresse nicht stimmte. Niemals würde sie hier wohnen. Mias Schwester doch nicht.

Keiner öffnete. Alex drehte den Türknauf in der Erwartung, dass abgeschlossen sei.

Die Tür ging auf.

Die Wohnung bestand aus einem einfach möblierten Zimmer. Ein Doppelbett, groß und durchgelegen, darüber eine Patchworkdecke, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Ein winziger Tisch mit einem einzigen Küchenstuhl, ein abgenutzter Sessel, ein kleiner Fernseher. In der Ecke hinter einem Vorhang eine Stange, die als Kleiderschrank diente.

Vor dem offenen Fenster stand ein Kinderbett. Mit … Mit …

Michales?

Und niemand, der das Kind beaufsichtigte?

Was für eine Mutter ließ ihr Baby allein? Jeder konnte hier hereinmarschieren und den Jungen mitnehmen.

Sie ist genau wie Mia.

Denk nicht daran, konzentrier dich auf das, was du herausfinden willst!

Er musste mehr über sie erfahren.

Man sah dem Raum an, dass die Bewohnerin nicht viel Geld hatte. Trotzdem wirkte er nicht schäbig. Karierte Vorhänge umrahmten das offene Fenster, durch das das Sonnenlicht hereinfiel und die Geräusche der Werft ins Zimmer drangen. Auf der Fensterbank standen Tontöpfe mit bunten Petunien.

Die Atmosphäre war … anheimelnd. Und sie stand im größtmöglichen Gegensatz zu einem königlichen Palast.

Wo steckte Lily?

Michales … sein Sohn … schlief tief und fest.

Er hätte ihn aus seinem Bettchen heben und mitnehmen können. Einfach so.

Aber was wollte er mit einem Baby?

Absichtlich warf er keinen Blick in das Kinderbett, als er zum Fenster ging und hinaussah. Da war Lily.

Direkt unter ihm, im Rumpf eines halb fertigen Bootes. Die rohen, unbehandelten Holzleisten bogen sich wie Rippen um sie. Der stämmige Mann, den er vor zwölf Monaten hier angetroffen hatte – Lilys Boss? –, holte weitere Leisten aus einem dampfenden Bottich und schleppte sie herbei.

Zu seiner Verwunderung war es Lily, die die Anweisungen gab. Sie trug einen Arbeitsoverall, feste Schuhe und Lederhandschuhe, die ihr bis zu den Ellbogen reichten. Ihre Haare hatte sie unter einer Baseballkappe festgesteckt. Sie nahm Spiros die Leisten ab, und ihre Instruktionen klangen kurz und präzise.

Alle waren mit höchster Konzentration bei der Sache. Die nächste Holzleiste wurde angehoben, an die richtige Stelle gehalten, hin und her geschoben, bis sie passte. Die Männer halfen mit ihrer Körperkraft, doch Lily hatte das Sagen.

Fasziniert sah er zu. Erst als die neu hinzugefügte Leiste eine weitere Rippe im Skelett des Bootsrumpfes bildete, trat sie zurück und begutachtete das Werk.

„Fantastisch“, rief sie aus. „Zehn von hundertsechzig geschafft. Bis zum Abendessen sind wir fertig.“

Alle lachten und stöhnten dann auf.

Sie lachte mit, gehörte zum Team. Die Männer behandelten sie mit Respekt.

„Ich muss nach oben zu Michales“, sagte sie. „Er braucht was zu essen. Kriegt ihr die nächste ohne mich hin?“ Sie blickte zum Fenster hoch.

Und sah ihn.

Er dachte, sie würde erschrecken. Vielleicht sogar Angst zeigen. Stattdessen hoben sich ihre Augenbrauen kaum wahrnehmbar. Sie nickte ihm kurz zu wie einem flüchtigen Bekannten. Dann wandte sie sich ab und ging zu Spiros hinüber.

Spiros hob gerade eine Leiste aus dem Bottich. Er betrachtete sie skeptisch, dann fluchte er und warf sie beiseite.

„Die taugt nichts. In der Mitte ist eine Schwachstelle, die bricht eher, als dass sie sich biegt. Und bei den anderen ist es dasselbe. Genug. Geh und füttere deinen Kleinen. Ich schicke die Männer neues Holz holen.“ Er lächelte sie voller Zuneigung an. „Lass mein Patenkind nicht warten.“ Dann blickte auch er zum Fenster hoch. Sein Lächeln erstarb, und er unterzog Alex einer argwöhnischen Musterung. Was hatte Lily ihm erzählt?

Nichts Gutes, wie es schien.

„Na, wen haben wir denn da?“, sagte er schließlich mit einem drohenden Unterton. „Sieht so aus, als wäre unerwünschter Besuch eingetroffen.“

Alles an dem Mann wirkte sprungbereit. Wäre er Lilys Vater gewesen, die Botschaft hätte unmissverständlicher nicht sein können: Lass die Finger von Lily, oder du kriegst es mit mir zu tun.

Mit uns. Das ganze Team sah nun zu Alex hoch. Er befand sich auf feindlichem Gebiet.

Plötzlich vernahm er ein leises Geräusch hinter sich. Als er sich umdrehte, stand eine Frau mittleren Alters in der Tür. Mit vor der Brust verschränkten Armen verharrte sie ebenso bewegungslos und drohend wie die Männer unten in der Werft.

Vielleicht war es doch nicht ohne Weiteres möglich, einfach hereinzumarschieren und Michales mitzunehmen.

„Was wollen Sie?“, rief Spiros vom Hof hinauf. „Was zum Teufel haben Sie in Lilys Wohnung zu suchen?“

„Ist schon gut, Spiros“, beschwichtigte Lily ihn. „Ich wusste, dass er kommt. Trotzdem hätte ich die Tür abschließen sollen.“

„Keine Sorge“, rief die Frau nach unten. „Ich bin hier.“ Sie trat zum Kinderbett und stellte sich demonstrativ zwischen Alex und das Baby.

Entnervt blickte er wieder nach unten in den Werfthof, von wo Lily ihm einen misstrauischen Blick zuwarf. Sie ist zu dünn, dachte er. Der Overall schlabberte um ihren Körper. Ihre herrlichen Locken steckten unter einer Baseballkappe, die sie verkehrt herum trug. Auf einer Wange prangte ein Schmutzfleck.

Sie sah aus wie fünfzehn.

Doch der Eindruck hielt nicht lange. „Ich hoffe, er ist hier, um die Unterhaltszahlungen zu regeln“, sagte sie zu Spiros.

„Er ist der Vater des Kindes?“

„Ja. Das ist Alexandros Mykonis, Prinzregent von Sappheiros.“

Wenn er Ehrerbietung erwartet hatte, so wurde er enttäuscht. Spiros’ Unmut schien sich zu verdoppeln. Zu verdreifachen. Und die Frau vor dem Kinderbett schnappte entrüstet nach Luft.

„Und wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt?“, schrie Spiros herauf. „Alexandros von Sappheiros. Lily einfach so mit einem Kind sitzen zu lassen. Was bilden Sie sich eigentlich ein?“

Die Situation war absurd. Er musste sich das nicht gefallen lassen.

Er würde jetzt nach unten gehen.

Nein, besser doch nicht, so wütend wie diese Leute alle sind, beschloss er nach kurzem Überlegen. Von ihr oben konnte er vernünftiger mit ihnen reden. Besonders wenn er der Furie beim Kinderbett den Rücken kehrte.

„Ich habe Lily gesucht“, erklärte er dem Bootsbauer und versuchte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. „Das wissen Sie.“

„Einmal waren Sie hier“, schnauzte Spiros hinauf. „Ein einziges Mal! Wenn Lily meine Liebste wäre, hätte ich alles auf den Kopf gestellt, um sie …“

„Ich bin nicht seine Liebste!“, fauchte Lily.

„Er ist der Vater deines Kindes“, ging Spiros jetzt auf sie los. „Natürlich bist du seine Liebste!“

„Die Zeiten ändern sich“, sagte sie sanft. „Und das weißt du auch, Spiros. Ich muss mit ihm reden.“

„Dann redet.“ Er warf einen streitlustigen Blick nach oben. „Aber lass das Fenster offen und ruf, wenn du uns brauchst.“ Mit einem entrüsteten Schnauben und einem letzten warnenden Blick auf Alex wandte er sich ab.

4. KAPITEL

Alex fühlte sich unbehaglich. Er hätte Lilys Wohnung nicht ungefragt betreten sollen. Das ging gegen seine Prinzipien.

Spiros’ Worte verstärkten sein Unbehagen noch.

Lily einfach so mit einem Kind sitzen zu lassen …

Aber woher hätte er es denn wissen sollen?

Er hörte schwere Schritte auf der Treppe. Lilys Arbeitsschuhe. Die Tür ging auf. Er drehte sich zu ihr um. Ohne ihn zu beachten, ging sie zum Kinderbett.

Michales schlief noch.

Alex wartete. Auch jetzt vermied er es, das Baby anzusehen. Er konnte nicht. Es war einfach zu viel.

Lily hingegen … Lily konnte er ansehen. Sie verrichtete schwere körperliche Arbeit. Sie baute Boote. Er hatte es gewusst, aber nicht glauben können.

Mias Schwester?

Als sie sich vergewissert hatte, dass es ihrem Sohn an nichts fehlte, wandte sie sich an die Frau, die noch immer neben dem Kinderbett stand.

„Danke, Eleni“, sagte sie. „Ich komme allein zurecht.“

Die Frau maß Alex mit einem kalten Blick und verließ das Zimmer. Erst als die Tür ins Schloss gefallen war, wandte Lily ihm ihre Aufmerksamkeit zu. „Mit welchem Recht betrittst du meine Wohnung?“, fragte sie kühl.

„Dasselbe könnte ich dich fragen“, gab er zurück. „Du hast meinen Palast betreten und den Kronprinzen entführt.“

„Er ist nicht der Kronprinz, das weißt du ganz genau.“ Sie zog sich die Baseballkappe tiefer in die Stirn. Diese Diskussion war wirklich … lächerlich.

„Jedenfalls hattest du kein Recht …“ Weiter kam er nicht. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte ihn an wie eine Löwin, die ihr Junges verteidigt.

„Ich habe das Recht. Du wirst ihn nicht bekommen.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn haben will.“

„Nein“, sagte sie, und dann nachdenklich: „Nein, das hast du nicht.“ Ihre Angriffslust wich Unsicherheit. „Ich weiß nicht …“

„Du weißt nicht, was du willst? Mir geht es ebenso. Möchtest du mir nicht einfach erzählen, was hier los ist?“

„Warum sollte ich?“

„Zunächst einmal, weil du behauptest, ich sei der Vater von Michales. Stimmt das?“

„Ja.“ Es klang gleichgültig, so als spielte es keine Rolle.

Aber das tat es. Er hatte sich die ganze Woche auf diesen Augenblick der Wahrheit vorbereitet. Trotzdem wurde ihm elend, als er sie jetzt aus ihrem Mund vernahm.

„Du hast ihn also an Giorgos und Mia verkauft.“

„Niemals. Er ist mein Kind, und wenn du glaubst, du kannst ihn einfach mitnehmen …“

„Ich bin nicht gekommen, um ihn mitzunehmen. Aber ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was geschehen ist“, fuhr er sie an. „Sag es mir. Du schuldest mir eine Erklärung.“

„Ich schulde dir gar nichts.“ Zornig blitzte sie ihn an. Dann schloss sie kurz die Augen. „Okay“, gab sie dann nach. „Auch wenn du es nicht verdienst. Ich habe dich kennengelernt, mit dir geschlafen und bin schwanger geworden. Aber ich konnte mich nicht um Michales kümmern, deshalb hat Mia ihn zu sich genommen. Sie und Giorgos gaben ihn als ihren Sohn aus. Ich dachte, sie würden ihn adoptieren. Das haben sie nicht getan, was es mir sehr erleichterte, Michales zurückzubekommen.“

„Heißt das, du hast dich nicht darum gekümmert, was sie mit deinem Kind machen?“

„Genau“, erwiderte sie ausdruckslos, ohne jeden Versuch, sich zu verteidigen. „Ich war krank während der Schwangerschaft, und ich habe Mia vertraut. Das war dumm von mir. Du kannst es glauben oder nicht, es ist die Wahrheit.“

Er glaubte ihr nicht. Was sie sagte, ergab überhaupt keinen Sinn. „Mia hat, lange bevor Michales geboren wurde, bekannt gegeben, dass sie ein Kind erwartet.“

„Tatsächlich?“ Es schien Lily nicht zu interessieren.

Er versuchte sich einen Reim auf die Geschichte zu machen. „Sie hielt sich Monate vor der Geburt in einer exklusiven Privatklinik im Ausland auf. Hat sie das getan, um Michales als ihren Sohn ausgeben zu können?“

„Ich weiß es nicht. Es ist mir egal.“

Was bildet sie sich ein? „Lily, mir reicht es jetzt!“, explodierte er. „Wie konntest du nur bei einer solchen Intrige mitmachen?“

„Muss ich es dir erklären?“

Hinter ihr im Bett begann Michales zu quengeln.

Michales. Mein Sohn.

Er wusste es seit einer Woche. Doch er würde ein Jahr brauchen, um die Neuigkeit zu verarbeiten. Wenn das denn reichte.

Seine Gefühle fuhren Achterbahn. Vor ihm stand Lily, aggressiv und abweisend. Aber unter der Oberfläche …

Er spürte plötzlich wieder, warum er sich in sie verliebt hatte. Trotz ihrer unzugänglichen Art wirkte sie … verletzlich. Und sehr, sehr begehrenswert. Selbst im Overall und mit einer dämlichen Kappe. Selbst mit Sicherheitsschuhen.

In ihrer Gegenwart fühlte er sich …

Ja, genau diese Gefühle haben dir den ganzen Schlamassel eingebrockt, ging es ihm durch den Kopf. Halte dich lieber an Tatsachen.

Die Tatsache, dass sie ihm ihre Schwangerschaft verschwiegen hatte.

„Habe ich das verdient?“, fragte er leise in die Stille hinein. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du ein Kind von mir erwartest?“

„Ich habe es versucht.“ Sie klang müde. „Ich habe dich angerufen. Drei Wochen nachdem wir …“

„Sex hatten?“, vervollständigte er brutal, und sie zuckte zusammen.

„Wenn du meinst“, brachte sie hervor. „Vielleicht beschreibt das unser Verhältnis am besten: primitiver, schäbiger Sex.“

Es war mehr gewesen. Sie wussten es beide. Das machte die Situation so schwierig.

„Ich habe nach dir gesucht“, sagte er.

„Das nehme ich dir nicht ab. Du hättest Mia nur nach meiner Adresse fragen müssen.“

„Genau das habe ich getan. Sie weigerte sich, sie mir zu geben, und forderte mich auf, dich in Ruhe zu lassen. Aber ich fand heraus, wo ich dich finden würde, und kam hierher, Spiros hat es dir berichtet. Und dann hast du angerufen.“

„Ja.“ Ihre Stimme klang kalt. „Erinnerst du dich nicht mehr, was du gesagt hast?“

„Nein. Ich …“

„Dann kann ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. So ein Gespräch vergisst man nicht. Ich habe lange gebraucht, um den Mut aufzubringen, dich anzurufen. Und dann kam dieser Satz: ‚Lily. Schön, von dir zu hören. Du willst mir doch hoffentlich keine Vaterschaftsklage anhängen, oder‘?“

Regungslos stand er da.

Er hatte es gesagt. Gütiger Himmel, das hatte er wirklich zu ihr gesagt.

Nur allzu deutlich sah er die Situation plötzlich wieder vor sich.

Er war unverheiratet, vermögend und von hohem Adel. Es hatte immer wieder Versuche gegeben, ihn festzunageln.

An jenem Vormittag, als Lilys Anruf gekommen war, hatte er gerade die Mutter eines Hollywood-Sternchens abgewimmelt. Giftig hatte sie ihm vorgehalten, ihre Tochter in Schwierigkeiten gebracht zu haben, und gefordert: „Entweder Sie heiraten sie, oder Sie werden Millionen zahlen.“

Er hatte nicht mit der Tochter geschlafen. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, ihr je begegnet zu sein. Aber offensichtlich war sie schwanger und hatte ihn als Vater genannt.

So etwas kam vor.

Ein paar Minuten später war Lily am Apparat gewesen. Mit ihr hatte er geschlafen. Er war wütend, weil sie davongelaufen war, frustriert, weil sie unauffindbar schien. Und so hatte er ihr diese unbedachten Worte an den Kopf geworfen …

Du willst mir doch hoffentlich keine Vaterschaftsklage anhängen, oder?

Was hatte sie erwidert? Er versuchte, sich zu erinnern. „Weißt du was? Du kannst mir gestohlen bleiben!“ Dann hatte sie aufgelegt.

Er hatte sich mies gefühlt, überlegt, ob er den Anruf zurückverfolgen sollte. Dann hatte er an Mia gedacht und wie sehr er sie verabscheute. Lily war ihre Schwester. Er wollte sich ihr gegenüber nicht verletzlich zeigen. Außerdem hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte.

An diesem Punkt beschloss er, nicht mehr nach ihr zu suchen.

„Du hättest dich noch einmal melden können“, sagte er. Ihr Gesichtsausdruck wurde hart.

Über ein Jahr lang hatte er sich eingeredet, sie sei nicht besser als ihre Schwester. Aber sie war nicht wie Mia.

Und nun? Sie wollte ihn loswerden, mit oder ohne Unterhaltszahlungen. Sie hatte deutlich gemacht, dass er ihr gleichgültig war.

Unvermittelt sah er sie wieder vor sich, wie sie bei jener ersten Begegnung im Palast ausgesehen hatte – in dem schlichten schwarzen Abendkleid, kaum geschminkt und mit ihren unvergleichlichen Locken.

Er hatte eine süffisante Bemerkung über den prunkvollen königlichen Ballsaal gemacht, und sie hatte ihm lachend beigepflichtet. „Nicht dass ich Glitzerkram nicht toll fände“, hatte sie hinzugefügt. „Aber diese Kronleuchter sind eine herbe Enttäuschung. In Pink würden sie mir besser gefallen. Klarglas ist so altmodisch wie Karottenhosen und Schulterpolster.“ Dann hatte sie ihn von Kopf bis Fuß gemustert und herausfordernd hinzugefügt: „Und Smokings.“

Er war hingerissen gewesen.

Aber jetzt war von ihrem Humor nichts zu bemerken. Ihr Blick war eisig.

„Ich schulde dir keine Erklärungen. Du bist hier nicht der König.“

„Ich bin nirgendwo König.“

„Dann eben Prinzregent.“

„Auch das anscheinend nicht“, erwiderte er. „Wenn Michales nicht der Sohn von Giorgos ist …“ Er suchte nach Worten, um ihr zu erklären, was sich herausgestellt hatte. „Wenn wir die Sache regeln können, ohne dass es zu einem Aufstand kommt, werden die Diamanteninseln wieder in drei unabhängige Fürstentümer aufgeteilt.“

„Und wird das gehen?“ Es klang nicht besonders interessiert.

„Vielleicht. Allerdings müsste ich Michales mit nach Sappheiros nehmen.“

„Ausgeschlossen!“ Ihre Augen funkelten kampflustig.

„Er muss als mein leiblicher Sohn anerkannt werden.“

Das verwirrte sie. „Wie bitte?“

„Kannst du dir nicht vorstellen, was für einen Aufruhr es geben wird, wenn er einfach so, von einem Tag auf den anderen, verschwindet? Die Inselbewohner haben ihn ins Herz geschlossen. Und du nimmst ihn einfach mit. Du kannst ihn nicht behalten.“

„Er ist mein Sohn!“

„Die Bevölkerung glaubt, ein Anrecht auf ihn zu haben.“

„Er gehört mir, und er bleibt bei mir!“

Wie aufs Stichwort fing Michales an zu weinen. Lily hob ihn aus dem Bett und strich ihm zärtlich durch die Haare.

Als Alex sah, wie sie den kleinen Jungen streichelte, geschah etwas mit ihm, das er nicht benennen konnte.

Er war voller Zorn hierhergekommen, entschlossen, eine Lösung in seinem Sinne zu finden. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass Lily eine solche Wirkung auf ihn haben würde. Es war über ein Jahr her, dass er mit ihr geschlafen hatte. Er erinnerte sich an jede Einzelheit, und sie löste immer noch dasselbe Verlangen in ihm aus.

Er setzte erneut an. „Ich weiß, es ist schwer für dich, aber bitte hör mir zu. Die Inselbewohner haben viel durchmachen müssen. Sie müssen erfahren, dass ich der Vater von Michales bin. Das Land steht kurz vor einer Rebellion. Wir können sie abwenden, indem wir den Menschen Stabilität, eine gute Regierung und Hoffnung für die Zukunft geben.“

Lily starrte ihn über Michales’ Kopf hinweg an. Vermutlich ahnte sie bereits, worauf er hinauswollte, denn das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Mein Land steht vor dem Ruin“, fuhr er eindringlich fort. Er durfte sich von ihrer Angst nicht aus dem Konzept bringen lassen. „Die Menschen müssen Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten gewinnen. Sie müssen an mich glauben. Lily, ich habe die ganze Woche darüber nachgedacht. Ich habe die besten Anwälte und Berater hinzugezogen. Alle kamen zu demselben Schluss.“

„Und der lautet?“

„Wir müssen heiraten.“

5. KAPITEL

Einen Augenblick lang fürchtete Alex, Lily würde ohnmächtig werden. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, und sie starrte ihn ungläubig an. Instinktiv griff er nach dem Baby.

Sie schien wie betäubt und ließ es geschehen. Zum ersten Mal hatte er seinen Sohn auf dem Arm. Er wusste nicht, wie er ihn halten sollte, wie es nun weitergehen würde.

„Ich glaube, das hätte ich besser machen können“, bemerkte er trocken. „Vielleicht sollte ich vor dir niederknien.“

„Lieber nicht.“ Langsam kehrte die Farbe in ihre Wangen zurück, und sie warf ihm einen wütenden Blick zu. Gut, dachte er. Mit Ärger konnte er umgehen.

„Du solltest jetzt gehen“, sagte sie. „Ich muss mich hier um ein paar handfeste Dinge kümmern, während du deine Luftschlösser baust.“

Auf seinem Arm fing Michales an zu strampeln. Dann sah das Kind ihn an und lächelte. Ein breites, zahnloses Lächeln, und plötzlich hatte Alex ein Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.

Er setzte das Baby auf den kleinen Teppich vor dem Fenster und blickte Lily an. „Das sind keine Luftschlösser.“

Sie schüttelte den Kopf. „Alex, bitte geh!“

„Ich kann nicht.“ Instinktiv griff er nach ihren Händen. Sie waren kalt. Zu kalt. Aber sie entzog sie ihm nicht.

Versuch es noch einmal, sagte er sich. Bleib ruhig und gelassen.

„Es ist eine politische Entscheidung“, erklärte er ihr. „Wenn wir nichts unternehmen und Michales hier bei dir bleibt, werden die Inselbewohner mich als Thronräuber ansehen. Wenn wir allerdings heiraten …“

Nun machte sie sich von ihm los. Sie sah völlig verstört aus.

Er musste eine Sprache finden, die sie besser verstand.

„Ich habe einen Scheck dabei“, fuhr er fort. „Die Summe ist größer, als du dir vorstellen kannst. Nenn es Unterhaltszahlung, wenn du willst. Das Geld gehört dir, sobald du mich heiratest.“ Als er ihren ungläubigen Blick sah, redete er weiter. „Nimm es nicht persönlich. Sieh es als ein Geschäft an. Wir heiraten, veranstalten eine richtige Hochzeit, sodass alle sehen, dass wir zusammengehören. Du bleibst mindestens ein Jahr auf Sappheiros, damit unsere Ehe nicht annulliert werden kann. Danach tun wir so, als würden wir uns auseinanderleben. Wenn die Insel politisch stabil ist, können wir uns scheiden lassen. Dann bist du reich und frei.“

Bevor sie reagieren konnte, zog er einen Scheck hervor und drückte ihn ihr in die Hand.

Sie nahm ihn wortlos entgegen. Dann las sie die Summe und schnappte nach Luft.

Alles kommt ins Lot, dachte Alex erleichtert. Das Geld überzeugt sie.

„Soll das ein Scherz sein?“, fragte sie fassungslos.

„Oh nein. Meine Berater und ich haben alle Möglichkeiten erörtert und sind zu dem Schluss gelangt, dass dies die einzige Lösung ist.“

Sie sah ihn an, als hätte sie einen Irren vor sich.

„Das ist noch nicht alles“, fuhr er fort. „Ich weiß, dass Spiros und seine Leute dir sehr nahestehen. Ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann. Ich finanziere seinen Umzug nach Sappheiros und sorge für europaweite Werbung für sein Unternehmen. Ich habe Nachforschungen anstellen lassen und weiß, dass er die Firma kaum noch über Wasser halten kann und dass er Heimweh hat. Er und seine Frau wollen in einem Land leben, in dem man ihre Muttersprache spricht. Du musst dem Ganzen nur noch zustimmen.“

Lily schwieg. Blickte immer noch ungläubig auf den Scheck.

Sie war schockiert. Sie war …

Wunderschön.

Reiß dich zusammen! Es handelt sich um ein geschäftliches Angebot, nicht mehr und nicht weniger. Seine Anwälte hatten es ausgearbeitet und der Summe noch eine Null hinzugefügt. „Dazu kann sie nicht Nein sagen“, hatten sie ihm versichert.

Alex würde das gesamte Vermögen von Giorgos erben. Seine Berater hatten vorgeschlagen, einen Teil davon zu verwenden, um der Insel wirtschaftlich auf die Beine zu helfen. Die geplante Vernunftehe war nur der erste Schritt des umfangreichen Stabilisierungsprogramms, ebenso wie Michales’ ständige Anwesenheit in seiner Heimat. Also würde er Lily bezahlen, um seine Ziele zu erreichen …

„Verschwinde“, sagte sie in seine Gedanken hinein.

Er rührte sich nicht.

„Raus!“ Ihr Atem ging stoßweise, und ihre Augen schossen Blitze. „Wie kannst du es wagen?“

„Der Frau meines Sohnes einen Heiratsantrag zu machen?“

„Er ist nicht dein Sohn.“

„Du hast behauptet …“

„Dass du sein leiblicher Vater bist, ja. Aber du benutzt ihn doch nur. Genauso wie mich. Du schnüffelst herum, erfährst von Spiros’ Schwierigkeiten und benutzt ihn ebenfalls. Verschwinde und komm nie wieder!“

„Lily, du siehst, wie hoch die Summe auf dem Scheck ist“, beeilte er sich zu sagen. „Du kannst dieses Angebot nicht ausschlagen.“

„Glaubst du?“ Sie zerriss den Scheck vor seinen Augen. Immer weiter, bis lauter winzige Schnipsel auf dem Boden lagen. Dann bückte sie sich, hob Michales hoch und marschierte zur Tür. „Raus!“

„Du benimmst dich lächerlich. Wenn du mehr willst …“

„Du bist es, der sich lächerlich aufführt“, fuhr sie ihn an. „Siehst du nicht, dass ich alles habe, was ich brauche? Aber das können Menschen wie Mia und du nicht verstehen. Ich arbeite in einem Beruf, den ich liebe, und ich kann mich um meinen Sohn kümmern. Die Zukunft steht mir offen, und ich bin frei. Warum sollte ich das alles aufgeben und mich in einen goldenen Käfig sperren lassen?“

„Und Spiros?“

„Ihm gefällt es hier.“

„Mit Sicherheit nicht. Sein Geschäft steht kurz vor der Pleite. Frag ihn doch.“

„Das geht dich gar nichts an. Und nun verschwinde endlich.“ Sie hielt ihm die Tür auf.

„Ich kann nicht.“ Er überlegte fieberhaft, wie er ihr begreiflich machen konnte, um was es ging. „Lily, du musst einwilligen. Die Insel steht vor dem Ruin. Wenn ich die Nachfolge nicht regeln kann, gehen alle Rechte, die bis jetzt der König innehatte, an private Unternehmen. Die machen aus Sappheiros einen exklusiven Ferienort für Reiche, und mein eigenes Volk bleibt arm. Und auf den anderen beiden Inseln wird sich das Gleiche abspielen.“

Alex sah, wie es in ihr arbeitete. Zum ersten Mal zögerte sie.

Er wartete.

Hatte er es falsch angefangen? Konnte es sein, dass diese Frau, im Gegensatz zu ihrer Schwester, ein Herz besaß?

Sie hatte ihr Kind weggegeben, und er war davon ausgegangen, sie habe Geld dafür erhalten. Aber nun …

Sie sah so blass und mitgenommen aus. Und plötzlich kam er sich schäbig vor. Er benahm sich genauso wie Mia und Giorgos. Er kaufte ihr Kind. Er kaufte sie.

„Geh jetzt“, flüsterte sie erneut, und dieses Mal nickte er.

„Ich gehe. Aber …“ Er zögerte, doch er musste es sagen. „Ich weiß, dass ich dich damit überfahre. Es geht alles zu schnell, und ich würde es nicht tun, wenn es nicht so wichtig wäre. Ich habe dich falsch eingeschätzt. Es tut mir leid. Bitte glaub mir.“

„Wie nett von dir.“ Es sollte ironisch klingen, doch ihre Stimme zitterte.

Sie schwankte kaum merklich.

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
Mehr erfahren