Julia Exklusiv Band 338

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GEHEIME VERMÄCHTNISSE von CAROL MARINELLI
Santo Correttis Charme lässt alle Frauenherzen schmelzen. Nur seine verführerische Assistentin bleibt kühl. Erst als sie kündigt, gesteht Ella ihm ihre Gefühle. Doch sie zu lieben ist wie ein Tanz auf dem Vulkan. Denn um Ella zu erobern, muss er ein dunkles Familiengeheimnis offenbaren …

VERTRAUTES VERLANGEN von MAISEY YATES
Eduardo stand auf dem Gipfel des Erfolgs, dann ließ ein Unfall ihn alles verlieren – sogar seine Erinnerungen. Jetzt findet er endlich die Traumfrau wieder, mit der er sechs glückliche Monate verbrachte. Und er ist zu allem entschlossen, um Hannah dieses Mal zu halten …

MEIN FLIRT MIT DEM MILLIONÄR von MIRANDA LEE
Heiraten, Kinder: nichts für den überzeugten Junggesellen Jack Stone! Doch als er die Innenarchitektin Vivienne beauftragt, sein Luxusanwesen neu zu gestalten, gerät seine Überzeugung jäh ins Wanken …


  • Erscheinungstag 18.06.2021
  • Bandnummer 338
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501286
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carol Marinelli, Maisey Yates, Miranda Lee

JULIA EXKLUSIV BAND 338

PROLOG

„Bitte!“

Ella hätte nicht sagen können, wie oft sie das in ihrem Leben schon gehört hatte, doch dieses eine Mal würde ihr für immer im Gedächtnis bleiben.

„Bitte, Ella, geh nicht.“

Unschlüssig stand sie am Abflugschalter vom Sydney International Airport. Pass und Bordkarte bereits in der Hand, schaute sie in die flehenden Augen ihrer Mutter. Sie waren dunkelbernsteinfarben mit goldenen Pünktchen, wie ihre eigenen.

Durfte sie der zarten Frau wirklich zumuten, allein mit ihrem Ehemann zurechtzukommen? Aber wie hätte Ella bleiben können, nach dem, was zwischen ihr und ihrem Vater vorgefallen war?

„Du hast doch so ein schönes Heim …“, versuchte ihre Mutter es weiter.

„Nein!“ Sie durfte nicht schwach werden. „Das Apartment habe ich nur gekauft, weil ich geglaubt habe, du würdest ihn endlich verlassen und mit mir dort einziehen. Aber du bist wieder schwach geworden.“

„Ich kann es einfach nicht.“

„Unsinn!“, erwiderte Ella mit fester Stimme. „Ich habe dir jede nur mögliche Hilfestellung gegeben, doch du weigerst dich immer noch.“

„Er ist mein Mann …“

„Und ich bin deine Tochter.“ In Ellas goldenen Augen flammte unterdrückte Wut auf. „Er hat mich brutal geschlagen, Mum!“

„Weil du ihn verärgert und herausgefordert hast und mich überreden wolltest, ihn zu verlassen.“ Obwohl ihre sizilianische Mutter bereits seit dreißig Jahren als Frau eines Australiers hier lebte, war ihr Englisch immer noch ziemlich dürftig.

Ella wusste, dass sie über dieses leidige Thema noch stundenlang diskutieren konnten. Führen würde es zu nichts. Außerdem wurde die Zeit knapp. Also sagte sie, was sie sich zu sagen vorgenommen hatte, und gab ihrer Mutter eine letzte Chance.

„Komm mit mir.“ Sie reichte ihr das Ticket, das sie heimlich besorgt hatte.

„Wie? Ich …“

„Deinen Pass habe ich auch eingesteckt.“ Ella zog ihn aus der Tasche und gab ihn ihrer Mutter, in der Hoffnung, sie würde endlich begreifen, wie ernst es ihr war. Und dass sie alles genau durchdacht und geplant hatte. „Komm mit mir nach Sizilien. Deine Schwestern würden dich mit offenen Armen empfangen. Du könntest dir ein neues Leben aufbauen …“ Sie sah, wie ihre Mutter mit sich rang.

Gabriella vermisste ihre Heimat schmerzlich und sprach ständig von ihren Schwestern. Wenn sie nur den Mut aufbringen würde, sich zu trennen, war ihre Tochter bereit, ihr in jeder erdenklichen Weise zu helfen und zur Seite zu stehen.

„Es … es geht nicht.“

Ihre Mutter war nicht zu überzeugen, und damit musste Ella dieses schmerzliche Thema abschließen. „Tut mir leid, dann muss ich jetzt gehen.“

„Ich wünsch dir eine schöne Reise.“

„Ich fahre nicht in Urlaub, Mum.“ Sie wollte, dass ihre Mutter endlich begriff, wie ernst die Situation war, und dass sie nicht nur für ein paar Wochen unterwegs sein würde. „Ich werde mir eine Arbeit suchen und zukünftig in Europa leben.“

„Aber du hast gesagt, du willst dir Sizilien ansehen.“

„Kann sein, dass ich auch dafür Zeit finde.“ Ella wusste es wirklich nicht. „Aber das steht in den Sternen. Ich hatte ja gehofft, mit dir zusammen dorthin zu fahren. Jetzt werde ich wohl erst mal in Rom bleiben.“

„Solltest du doch noch nach Sizilien kommen, dann grüß deine Tanten von mir“, sagte Gabriella rau. „Erzähl ihnen …“

„Erzähl ihnen nicht, willst du wohl sagen“, unterbrach Ella sie müde. Ihre Mutter würde allein dafür, dass sie mit zum Flughafen gefahren war, zu Hause Ärger bekommen. Da erwartete sie doch wohl nicht, dass sie ihren Tanten vormachte, wie fantastisch ihr Leben hier in Australien war. „Soll ich etwa für dich lügen?“

„Warum tust du mir das an?“, drehte Gabriella den Spieß um, wie immer, wenn Ella ihr widersprach oder sie sich in die Enge getrieben fühlte.

Vielleicht bin ich ihr sogar ähnlicher, als mir lieb ist, dachte Ella voller Unbehagen, da ihr Ähnliches durch den Kopf ging.

Warum tust du mir das an, Mum? Warum hast du nicht protestiert, als du mit ansehen musstest, wie mein eigener Vater mich geschlagen hat? Warum hast du nicht den Mut, alles hinter dir zu lassen?

Natürlich sagte sie das nicht laut. Seit jenem Tag hielt Ella ihre Gefühle und Gedanken streng unter Verschluss und teilte sie mit niemandem. Nicht einmal mit ihrer Mutter. „Ich muss gehen.“ Sie schaute zur Anzeigetafel hoch und schluckte mühsam. „Mum …“, versuchte sie es ein letztes Mal. „Bitte komm mit mir …“

„Lebwohl, Kind.“ Gabriella weinte, als sie das sagte, ihre Tochter nicht.

Sie hatte keine Tränen mehr seit dem schrecklichen Tag vor zwei Monaten. Stattdessen umarmte sie stumm ihre schluchzende Mutter. Kurz darauf stieg sie in den Flieger, schaute auf den leeren Platz an ihrer Seite und versuchte, ihr Schuldgefühl zu unterdrücken. Doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass es nichts mehr gab, was sie sonst noch hätte versuchen können.

In den siebenundzwanzig Jahren, die sie auf der Welt war, hatte Ella den größten Teil ihrer Zeit damit zugebracht, ihre Mutter aus dem Schussfeld ihres Vaters zu halten. Das hatte sogar ihre Berufswahl beeinflusst. Um schnell auf eigenen Beinen zu stehen, suchte Ella sich möglichst lukrative Jobs und verbannte ihre hochfliegenden Träume in den Hinterkopf.

Als Junior-Assistent in den unterschiedlichsten Branchen arbeitete sie sich mit Fleiß und Zielstrebigkeit in die Chefetagen hoch und wurde schließlich Privatsekretärin eines Kommunalpolitikers. Zwei Jahre blieb sie in Canberra, mit den Gedanken stets bei dem Elend zu Hause, bis sie genügend Geld zusammen hatte, um in der Nähe von Sydney eine Eigentumswohnung zu kaufen. In der Hoffnung, ihre Mutter würde zu ihr ziehen, wechselte sie sogar in einen schlechter bezahlten Job, nur um schließlich einsehen zu müssen, dass all ihre Mühen vergebens waren.

Sie konnte ihrer Mutter nicht helfen. Nicht gegen deren Willen.

Zuletzt blieb ihr nur noch, einen radikalen Schnitt zu machen, wenn sie nicht selbst untergehen wollte. So packte Ella ihre Koffer und startete mit vorzüglichen Referenzen und leidlichen Italienischkenntnissen im Gepäck in ein neues Leben.

Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, für ein paar Wochen oder Monate eine Auszeit zu nehmen, um sich von dem Schock des Erlebten zu erholen. Stattdessen richtete sie ihren Fokus darauf, baldmöglichst eine neue Arbeit zu finden, was sich als weit komplizierter herausstellte als angenommen.

Es war Januar, und Ella tauschte den heißen australischen Sommer gegen Italiens nasskalten Winter ein. Trotzdem erschien ihr Rom bunter, betriebsamer und chaotischer als alles, was sie zuvor gesehen hatte. Straßenhändler und Bettler stürzten sich auf sie, sobald sie vors Hotel trat, doch davon ließ sie sich nicht abschrecken.

Begeistert eroberte sie Roms enge Gassen und weite Plätze, stand staunend vor dem Petersdom, dem Kolosseum, gelangte über die Spanische Treppe zur Piazza di Spagna, besichtigte die Sixtinische Kapelle und das Vatikanmuseum. Und sie warf eine Münze in den Trevibrunnen, wie ihre Mutter es ihr aufgetragen hatte. Allerdings mit wenig Hoffnung, da sie nicht glaubte, dass ihre Mum sich je aus ihrer qualvollen Ehe befreien würde.

Ella tat ihr Bestes, um sich von den schweren Gedanken an Zuhause abzulenken, doch selbst während der Zugfahrt zur Ostia Antiqua und der Besichtigung der alten Hafenanlage holte sie die Vergangenheit ein. Während sie fröstelnd am Strand entlangspazierte, fragte sie sich, wann der Schmerz, die Trauer und das schlechte Gewissen endlich nachlassen würden.

Je eher ich eine Arbeit finde, die mich ablenkt, umso besser …

„Sie haben eine Menge Berufserfahrung für jemand Ihren Alters“, wurde ihr regelmäßig bescheinigt, „aber …“

Wohin sie kam und bei wem auch immer sie sich vorstellte, es war stets dasselbe. Ihre Vita und Bewerbungsunterlagen beeindruckten, doch selbst wenn sie in der Lage war, die Bewerbungsgespräche auf Italienisch zu führen, hieß es im Ergebnis, dass ihre Sprachkenntnisse einfach nicht für die Jobs reichten, die ihr vorschwebten.

„Sie verstehen unsere Sprache offenbar viel besser, als Sie sie sprechen“, bedauerte Claudia, die reizende Angestellte einer Vermittlungsagentur. „Gibt es denn eine Branche, die Sie besonders interessiert?“

Ella wollte schon resigniert den Kopf schütteln, doch dann gab sie sich einen Ruck. Warum nicht nach den Sternen greifen, wenn sie ohnehin nichts zu verlieren hatte? „Die Filmindustrie.“

„Wir vermitteln keine Schauspieler.“

„Nein, nein … was mir vorschwebt, ist die Arbeit hinter den Kameras. Als Regisseurin.“ Das war es, was sie schon immer hatte werden wollen.

Claudia runzelte die Stirn, starrte auf den PC-Monitor und schüttelte bedauernd den Kopf. „Tut mir leid“, sagte sie. Doch als Ella sich bedankte und verabschieden wollte, hielt die hübsche Brünette sie zurück. „Warten Sie, ich habe hier einen Klienten … Corretti Media, sie sitzen in Sizilien, Palermo.“

„Ich habe schon von dem Unternehmen gehört.“ Es gab kaum etwas in der weltweiten Filmindustrie, was Ellas jahrelanger, sehnsüchtiger Recherche entgangen wäre.

„Firmenchef ist Alessandro Corretti …“, las Claudia vom Bildschirm ab, „… sein Bruder Santo fungiert als Produzent.“

„An den Namen erinnere ich mich“, stellte Ella erfreut fest, behielt aber für sich, was ihr sonst noch in diesem Zusammenhang einfiel. Nämlich, dass Santo Corretti offenbar mehr Aufsehen mit Skandalen und seinem Ruf als notorischer Playboy erregte als mit seinen Filmproduktionen. Doch auch Claudia schien informiert zu sein.

„Wie es aussieht, hat dieser Mann einen ziemlichen Verschleiß an persönlichen Assistentinnen!“, stellte sie mit rollenden Augen fest. „Ja, Santo sucht tatsächlich nach einer neuen PA. Von Ihnen würden unter anderem Flexibilität und Mobilität erwartet, weil die Drehorte ständig wechseln. Daneben sollten Sie über ausreichend … Toleranz verfügen, da er so etwas wie ein Garant für Ärger und Skandale ist und einen ziemlich schlechten Ruf genießt, was den Umgang mit Frauen betrifft.“

Ella begegnete Claudias zweifelnder Miene mit festem Blick. Vor ihrem inneren Auge taten sich die exotischsten Szenerien auf, und mit ihnen die Chance, unschätzbare Erfahrungen für ihren Traumjob zu sammeln. Zumindest wäre es ein erster Schritt auf dem Weg dorthin …

„Vielleicht würde er über Ihre fehlenden Sprachkenntnisse eher hinwegsehen, wenn ich ihm sagen könnte, dass Sie bereits Erfahrung in der Filmbranche besitzen.“

„Mein Italienisch wird schnell besser werden“, versprach Ella selbstbewusster, als sie sich fühlte.

Immer noch schien Claudia nicht restlos überzeugt. „Dann wäre da noch das Optische …“

Diesmal fühlte sich Ella ernsthaft angegriffen. Sie hatte nach langer Überlegung ein exquisites graues Businesskostüm gewählt, das sogar fürs australische Parlament gereicht hatte. Okay, inzwischen waren drei oder vier Jahre ins Land gegangen, und das politische Parkett war nicht unbedingt mit einem internationalen Catwalk zu vergleichen …

„Santo Corretti erwartet makelloses Aussehen und Auftreten.“

Ella zwang sich zu einem Lächeln. „Das wird er bekommen … beides.“

„Un momento, per favore.“

Es fiel Ella schwer, ihre Aufregung während des darauf folgenden Telefonats im Zaum zu halten. Zum ersten Mal wollte sie einen Job wirklich haben und spürte, wie sie errötete, als Claudia sich mit prüfendem Blick vorbeugte und dann bestätigte, dass die Bewerberin außerordentlich attraktiv sei.

Ob ihre bernsteinfarbenen Augen und das honigblonde lange Haar tatsächlich als eine Art Visitenkarte gelten konnten? Denn so lautete die Beschreibung der Arbeitsvermittlerin. Die Antwort war offenbar nein, weil Claudia bedauernd mit den Schultern zuckte, nachdem sie aufgelegt hatte.

„Tut mir leid, das war seine gegenwärtige PA. Obwohl sie entschlossen scheint, ihren Job aufzugeben, will sie es ihm offenbar nicht zu leicht machen, wie sie sich ausdrückt. Dieser Santo Corretti scheint ja wirklich … speziell zu sein.“

„Trotzdem, vielen Dank für Ihre Mühe.“

Ella versuchte, nicht allzu enttäuscht zu sein und gönnte sich einen Espresso, nachdem sie die Agentur verlassen hatte. Durchs Fenster des kleinen Cafés starrte sie freudlos auf das geschäftige Treiben außerhalb, von dem sie sich auf einmal furchtbar ausgeschlossen fühlte. Schon ein flüchtiger Blick auf die eleganten Römerinnen machte ihr bewusst, wie hoch der Anspruch sein musste, den Santo Corretti an seine PA legte.

Egal! Ich bin ja nicht einmal sicher, ob ich überhaupt in Sizilien arbeiten und auf den Spuren der Vergangenheit meiner Mutter wandeln will …

Oder doch?

Plötzlich fühlte sie ihr Herz ganz oben im Hals schlagen. Nein, so leicht würde sie sich nicht entmutigen lassen. Anstatt gleich die nächste Agentur auf der Suche nach einem anderen Job zu entern, schlenderte Ella an den aufregend dekorierten Schaufenstern der angesagtesten Designer-Boutiquen entlang und überlegte, was für einen Stil Santo Corretti wohl von seiner PA erwartete.

Und genau das fragte sie kurz darauf eine perfekt gestylte Verkäuferin. Sie nannte zwar nicht seinen Namen, sondern sagte nur, sie habe ein wichtiges Einstellungsgespräch in der Filmbranche vor sich. Wie sich herausstellte, hatte sie mit der Wahl der Boutique einen wahren Glücksgriff getan, da sie nicht nur bezüglich ihrer Garderobe gut beraten, sondern ihr auch gleich noch ein angesagter Friseur und ein Kosmetikstudio empfohlen wurden.

Als Ella am frühen Nachmittag in ihrem Hotel auscheckte, schimmerte ihr langes, lockiges Haar wie flüssiges Gold und wurde als glänzende Flut im Nacken mit einer schlichten Spange zusammengehalten. Ein raffiniert unauffälliges Make-up ließ sie frisch und kompetent wirken, wozu auch die sorgfältig manikürten und lackierten Fingernägel passten.

Auf dem Weg zum Flughafen dachte sie an die Insel, die sie nur von verblichenen Fotos kannte, die ihre Mutter wie einen Schatz hortete. Trotz ihrer Begeisterung angesichts der majestätischen, schneebedeckten Berge, der schillernden azurblauen See und der reizvollen Küstenlinie mit den pittoresken Dörfern und antiken Stätten war Ella nicht sicher, ob sie sich dieser Herausforderung gewachsen fühlte. Bisher war ihre mutigste Entscheidung im Leben die gewesen, Australien zu verlassen und damit ihr altes Leben aufzugeben.

Als sie in Palermo aus dem Flieger stieg und ihr Gesicht der blassen Wintersonne entgegenhielt, sagte sie sich, dass dies der erste Schritt in ihr neues Leben sein könnte. Ein Leben, das sie vielleicht sogar ihrem heimlichen Traum näher brachte.

Oder sich als riesiger Fehler erwies. Sie würde es schnell herausfinden.

Ella schob das Kinn vor und stieg in ein weißes Taxi. „Corretti Media“, sagte sie lässig und hielt den Atem an, aus Furcht, der Fahrer könnte sie nach der Adresse fragen oder behaupten, keine Firma dieses Namens zu kennen. Doch sie hatte Glück. Er nickte nur und fädelte den Wagen in den fließenden Verkehr ein. Währenddessen zog Ella einen Schminkspiegel hervor, kontrollierte ihr Make-up, richtete die Frisur und lächelte ihrem Spiegelbild aufmunternd zu.

Die neuen, perlweiß schimmernden Kronen waren noch etwas ungewohnt. Niemand würde je erahnen, wie hoch der Preis gewesen war, den sie dafür hatte zahlen müssen … und das nicht in Geld.

Ella ließ den Spiegel zuschnappen und verbannte jeden Gedanken an ihren Vater in den Hinterkopf.

Als das Taxi vor dem Corretti Media Tower anhielt, entstieg ihm eine sehr entschlossene junge Frau, die den Fahrer entlohnte und ohne zu zögern das hohe Gebäude betrat. Mit selbstsicherem Lächeln und einem gut vorbereiteten Satz in flüssigem Italienisch informierte sie die Rezeptionistin, dass sie wegen der freien Stelle als persönliche Assistentin des Produzenten gekommen sei.

„Un attimo, Signorina.“ Die Empfangsdame griff nach dem Hörer, und kurz darauf betrat Ella den gläsernen Lift, der sie in gefühlter Überschallgeschwindigkeit nach oben entführte. Dort wurde sie von einer ausgesprochen attraktiven, tränenüberströmten jungen Frau empfangen, die ihr einen ledergebundenen Terminkalender und einen Wagenschlüssel in die Hand drückte.

„Buona fortuna!“, wünschte sie ihrer Nachfolgerin mit bebender Stimme und zischte etwas in Richtung der offenstehenden Bürotür, das Ella sogar verstand. „La prima volta che m’inganni la colpa è tua, ma la seconda volta la colpa è mia!“

Ella hatte es ab und zu von ihrer Mutter gehört: Legst du mich einmal herein, bist du der Schuft, hintergehst du mich ein zweites Mal, Schande über mich!

„Ich nehme an, das ist ein Nein?“

Die tiefe Stimme ließ Ella aufhorchen. Als der Sprecher sich zu ihnen gesellte, konnte sie sogar die Bereitschaft der Unglücklichen verstehen, ihm eine zweite Chance einzuräumen. Eine dritte würde er wohl nicht bekommen, da seine PA mit einem erstickten Schluchzen in Richtung Lift floh und Ella einfach ihrem Schicksal überließ.

Grünbraune Augen begegneten bernsteinfarbenen. Um seine perfekt geschnittenen Lippen spielte der Hauch eines Lächelns, und auf der schmalen, unrasierten Wange prangte der deutlich sichtbare Abdruck einer Frauenhand.

„Sind Sie wegen eines Bewerbungsgesprächs hier?“, fragte er auf Italienisch.

Als Ella nickte und sich ihm ebenfalls auf Italienisch vorstellte, dirigierte er sie mit dem Kinn in Richtung seines Büros. Sie folgte ihm bereitwillig.

Er selbst brauchte sich nicht vorzustellen.

1. KAPITEL

Santo schreckte aus dem Schlaf hoch. Sein Herz raste, und als er die Hand ausstreckte, ertastete er nicht den erwarteten warmen und wohltuenden Frauenkörper. Mühsam hob er die schweren Lider. Anstatt in seinem Bett mit einer willigen Geliebten an der Seite, lag er auf einem fremden, extrem unbequemen Sofa.

Was war in der letzten Nacht geschehen?

Sein Hirn fühlte sich dumpf und umnebelt an. Statt eines klaren Bilds lieferte es ihm nur unzureichende Erinnerungsfetzen und blitzlichtartige Impulse, die ihn irritierten und verunsicherten. Auf dem Boden lag eine leere Whiskyflasche. Santo stieg über sie hinweg, um ins Badezimmer zu gelangen. Als er an sich heruntersah, stellte er fest, dass er immer noch den Hochzeitsanzug trug, allerdings fehlte die Krawatte, und das Hemd war am Hals offen und total zerknautscht.

Mechanisch überprüfte Santo die Innentaschen seines Jacketts und dachte dabei an Ella, seine PA, die diese Kontrolle mehrfach von ihm verlangt hatte, bevor er aufgebrochen war, um seinem Bruder bei dessen Hochzeit als Trauzeuge zur Seite zu stehen. Die Ringe waren noch da.

Santo benetzte sein Gesicht mit kaltem Wasser und begutachtete mit düsterem Blick die zahlreichen Blessuren auf Wangen und Stirn. Die verräterischen Liebesbisse an seinem Hals beunruhigten ihn weit weniger als das verfärbte Auge und die aufgeplatzte Lippe. Und dann kehrte die Erinnerung schlagartig zurück.

Alessandro!

Hastig eilte er ins Zimmer und griff zum Telefon, um einen Wagen zu bestellen. Doch da die offenkundig unerfahrene Nachtschicht an der Hotelrezeption taktlos fragte, wohin er zu fahren wünsche, legte er gleich wieder auf und trat ans Fenster. Von seinem luxuriösen Aussichtspunkt konnte er die Paparazzi draußen lauern sehen.

Überrascht stellte Santo fest, dass er die Vorstellung momentan nicht ertrug, ihnen oder seinem Bruder ganz allein gegenüberzutreten.

„Können Sie mich abholen?“

Trotz der unchristlichen Stunde hatte Ella automatisch zum Hörer gegriffen und das Gespräch mit geschlossenen Augen entgegengenommen. Nach vier Monaten als Santos PA war sie es gewohnt, zu jeder Tages- und Nachtzeit angerufen zu werden. Allerdings hatte sich ihr Boss noch nie so schrecklich angehört wie an diesem frühen Morgen. Seine tiefe Stimme war immer noch unglaublich sexy, obwohl sie belegt klang und deutlich seine innere Anspannung verriet.

Schrecklich und unglaublich sexy waren durchaus zutreffende Beschreibungen für Santo Corretti, dachte Ella, hob die Lider und sah zur Uhr hinüber.

„Es ist kurz vor sechs“, stellte sie kühl fest, „und Sonntag.“

Was eigentlich Grund genug sein müsste, das Telefonat zu beenden und sich noch einmal auf die Seite zu drehen. Doch Schlaf würde sie ohnehin nicht mehr finden, zumal sie die ganze Nacht mit seinem Anruf gerechnet hatte. Darum hatte sie auch die weichen Lockenwickler im Haar und die passende Garderobe auf dem Stuhl neben dem Bett, bereit zum Hineinschlüpfen.

Wie ganz Sizilien hatte Ella das Hochzeitsdrama gestern Nachmittag life im Fernsehen verfolgen können und die halbe Nacht sämtliche Nachrichtensendungen gesehen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Selbst ihre Mutter in Australien, die aus Heimweh und Nostalgie regelmäßig italienische Sendungen und Nachrichten einschaltete, würde inzwischen wissen, dass die in ganz Italien allseits beachtete Hochzeit von Santos Bruder Alessandro in letzter Minute geplatzt war.

Und zwar in der sprichwörtlich letzten Minute, in der seine Braut Alessia Battaglia ihn vor dem Altar stehen lassen hatte und durch den Mittelgang der Kirche entflohen war.

Jetzt wartete die Weltöffentlichkeit darauf, wie zwei der mächtigsten und berüchtigsten Familien Siziliens auf diesen Eklat reagieren würden.

Daher hatte Ella geahnt, dass Santo ihre Dienste möglicherweise noch vor Montagmorgen benötigte. „Heute ist mein einziger freier Tag“, fühlte sie sich trotzdem bemüßigt, ihren Boss zu erinnern. Natürlich war sie als seine PA nicht zur Hochzeit eingeladen worden. Stattdessen musste sie dafür sorgen, dass Santo nüchtern und perfekt gekleidet rechtzeitig vor der Kirche auftauchte und wie gewohnt eine hinreißende Figur machte.

„Ich muss Alessandro vom Polizeipräsidium abholen. Er ist letzte Nacht verhaftet worden.“

Resigniert schloss Ella die Augen. Sie fragte lieber nicht nach Details. Doch insgeheim überlegte sie, was noch alles passiert sein mochte. Während der Fernsehübertragung hatte sie stumm ein Glas Sekt in Richtung Bildschirm erhoben, als Santo vor der Kirche aus dem Wagen gestiegen war. Da hatte er noch mit seinem Bruder geplaudert und gescherzt.

Die beiden könnten Zwillinge sein, und wer auch immer für ihre überwältigende Attraktivität verantwortlich war, verdiente auf alle Fälle einen zweiten Toast. Beide Männer waren hochgewachsen und breitschultrig. Beide trugen das lackschwarze Haar kurz geschnitten und ließen die Frauenwelt mit ihrem trägen Schlafzimmerblick aus braungrünen Augen nur so dahinschmelzen.

Doch es gab auch Unterschiede.

Zwei Jahre trennten die Brüder. Als Erstgeborener des verstorbenen Patriarchen Carlo Corretti trat Alessandro dominanter und rücksichtsloser auf, während Santo sich in der Rolle des lebenslustigen Genießers und Herzensbrechers gefiel. Was ihre zynische, sorglose Arroganz betraf, standen sie einander allerdings in nichts nach.

„Nun machen Sie sich schon auf den Weg und holen mich ab“, forderte Santo, als wollte er diese Tatsache bestätigen.

Ella seufzte und tröstete sich damit, die ewig wiederkehrenden Dramen und Skandale der Correttis bereits in wenigen Wochen für immer hinter sich lassen zu können, falls sie den Job bekam, für den sie sich beworben hatte. Santos PA zu spielen, hätte nicht weiter von der Vorstellung ihres Traumjobs entfernt sein können.

„Und nicht vergessen …“, warnte ihr Boss, „… die Presse lauert überall.“

Was so viel hieß wie: Denken Sie daran, sich adäquat zu kleiden und zu präsentieren. Denn selbst in Krisenzeiten legte Santo größten Wert auf das äußere Erscheinungsbild.

„Am besten, Sie nehmen sich ein Taxi, um meinen Wagen abzuholen und fahren ihn dann vor den Hinterausgang des Hotels. Schicken Sie mir eine SMS, wenn Sie da sind.“

„Ich hasse es, Ihren Wagen zu fahren“, protestierte Ella, bekam aber keine Antwort. Nachdem er sein Anliegen losgeworden war, hatte er vermutlich einfach aufgelegt, weil er wie selbstverständlich davon ausging, dass sie funktionierte wie ein Uhrwerk. „Und ich hasse Sie …“, zischte Ella entnervt und riss die Augen auf, als sie wider Erwarten Santos Stimme hörte.

„Unsinn, Sie lieben mich“, kam es arrogant zurück. „Und jetzt beeilen Sie sich.“

„Ich liebe es, Sonntagmorgens lange im Bett zu liegen und …“

Stille. Diesmal hatte er wirklich aufgelegt.

Nur noch ein paar Wochen! sagte Ella sich grimmig und orderte ein Taxi. Die Frau in der Vermittlung hörte sich so verschlafen an, wie sie sich fühlte. Sie teilte Ella mit, es könnte eine halbe Stunde dauern, bis ein Wagen käme, was ihr durchaus passte.

Nach einer erfrischenden Dusche und dem Anziehen trat sie vor den Spiegel und schnitt eine Grimasse. Wenn Santo tatsächlich glaubte, sie würde am frühen Morgen in vollem Make-up auftauchen, hatte er sich getäuscht. Zur Grimasse kam ein Stirnrunzeln hinzu, als ihr einfiel, dass er immer noch ihr Boss war und verlangen konnte, dass sie seinen Wünschen Folge leistete.

Also schminkte sie sich, bürstete ihr Haar, bis es glänzte, und fasste es im Nacken lose zusammen. Dann schlüpfte sie in einen grauen Bleistiftrock, den sie mit einer elfenbeinfarbenen Seidenbluse und schlichten grauen Pumps kombinierte.

Ein Gutes hatte ihr Job wenigstens – den großzügigen Zuschuss für ihre Arbeitsgarderobe. Das war aber auch schon das einzige Highlight, zumal sie eines ganz sicher nicht war: ein Fashion-Victim!

Als das Taxi hupte, warf Ella einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und schnappte sich ihre Santo-Bag, wie sie die großräumige Ledertasche samt passendem Notfall-Equipment nannte, um ihrem Boss aus jeder möglichen Klemme zu helfen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass auch seine Ersatzwagenschlüssel in der Tasche waren, verließ sie ihr winziges Mietapartment.

Überrascht blinzelte sie in die ersten Sonnenstrahlen und genoss für einen kurzen Moment mit allen Sinnen das farbenfrohe Flair von Palermo an diesem warmen Morgen im Wonnemonat Mai. Das türkisfarbene Wasser des Mittelmeers glitzerte verlockend, während die Stadt noch in tiefem Schlaf zu liegen schien. Zweifellos hatte ganz Sizilien eine unruhige letzte Nacht verbracht und wartete gespannt auf neue Details über den aktuellen Corretti-Skandal.

„Buongiorno.“ Ella nannte dem Taxifahrer die Adresse des Hotels, in dem Santo auf sie wartete und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, um den Frühnachrichten im Radio zu lauschen. Natürlich war die geplatzte Hochzeit die Story nach den Kurzmeldungen über internationale Verwicklungen. Und ebenso natürlich war ihr Fahrer nur zu erpicht darauf, seinen Senf zum lokalen Skandal beisteuern zu können.

„Als wenn eine Hochzeit die Kluft zwischen den Correttis und Battaglias überbrücken könnte!“, lachte er verächtlich und gab weiterhin seine Meinung zum Besten, in schöner Unkenntnis darüber, wer sein Fahrgast war und dass er Ella direkt zu einem der skandalösen Correttis chauffierte.

Selbstverständlich klärte sie den Mann nicht über ihren Job auf. Davon abgesehen hätte sie ihm wohl auch nichts berichten können, was er nicht schon wusste. Santo verhielt sich ihr gegenüber immer äußerst bedeckt, sobald es um seine Familie ging. Wenn er in ihrer Gegenwart mit einem Familienmitglied telefonieren musste, sprach er in einem Dialekt und so schnell, dass Ella ihm nicht folgen konnte.

„Herrscht denn schon immer Feindschaft zwischen den beiden Familien?“, fragte sie ihren Chauffeur.

„Von jeher. Daran wird auch Salvatore Correttis Tod nichts ändern. Wie denn auch, wenn sich auf beiden Seiten sogar die einzelnen Familienmitglieder untereinander bekämpfen?“

Was das betraf, konnte Ella sogar mitreden. Trotz Santos Zurückhaltung bei diesem Thema, geriet sie immer mal wieder unfreiwillig zwischen die Fronten der verfeindeten Corretti-Cousins. Jeder versuchte, den anderen auszustechen. Und das nicht nur auf Geschäftsebene, sondern auch was heiße Frauen, rasante Autos und schnelle Pferde betraf.

Ella hatte die ständigen Konkurrenzkämpfe und dunklen Geheimnisse gründlich satt. Trotzdem musste sie noch eine Weile durchhalten. Wenn Santo sie doch nur als Regieassistentin an einem seiner Filme mitarbeiten lassen würde! Ständig bedrängte sie ihn, und ständig vertröstete er sie.

„Presto“, lautete seine ewig gleiche Antwort, die er ihr jedes Mal auch noch überflüssigerweise übersetzte. „Bald.“

Nun, bald werde ich weg sein …

Ella bat den Fahrer, kurz zu halten, um zwei Becher Kaffee zu besorgen. Beim Hotel angekommen, wies sie ihn an, in die Tiefgarage zu fahren und sie dort aussteigen zu lassen. Das Hotel war von sensationslüsternen Reportern umzingelt und das Aufgebot an Security so hoch, dass sie froh war, ihren Firmenausweis vorzeigen zu können. Sie passierte problemlos die Wachposten, bezahlte das Taxi und erklärte dem aufgeregten Hoteldiener, dass sie selbst den Wagen fahren würde, um ihren Boss einzusammeln.

Als sie hinter das Steuer des luxuriösen Sportwagens schlüpfte, streifte sie nicht nur der Geruch von teurem Leder, sondern auch der vertraute Duft von Santos extravagantem Rasierwasser. Bevor sie den Wagen anließ, schickte sie ihm eine SMS. Der hochgezüchtete Bolide reagierte auf die leiseste Berührung des Gaspedals, und Sekunden später scheuchte das Röhren des Motors die lungernden Paparazzi auf und ließ sie zum Hinterausgang des Hotels eilen.

Ella versuchte das Blitzlichtgewitter zu ignorieren und hielt mit zusammengekniffenen Augen Ausschau nach ihrem Boss. „Komm schon, Santo …“, murmelte sie angespannt und hoffte nur, dass er nach ihrem Anruf nicht wieder eingeschlafen war und die SMS möglicherweise gar nicht erhalten hatte. Doch dann entdeckte sie ihn im Schatten einer Betonsäule und presste die Lippen zusammen, sobald sie seinen Zustand erkannte. Was für ein Fest für die Presse!

Mit unsicheren Schritten steuerte er auf den Wagen zu. Er trug immer noch den Anzug vom gestrigen Abend, doch der teure Stoff und das feine Hemd waren zerknittert und verschmutzt. Ebenso wie sein blasses unrasiertes Gesicht, das zudem noch ein paar hässliche Schrammen aufwies.

„Buongiorno“, sagte Ella laut und akzentuiert, als er sich neben sie in den Ledersitz fallen ließ.

„Guten Morgen, Ella.“

Es gehörte zu dem kleinen Spiel, das sie jeden Tag seit ihrer ersten Begegnung abzogen. Entschlossen, ihn gleich zu Beginn mit ihrer Kompetenz und ihren Sprachkenntnissen zu überzeugen, hatte sie sich Santo Corretti in ihrem besten Italienisch vorgestellt, während er ihr jedes Mal in flüssigem Englisch antwortete. Natürlich in der Absicht, ihr seine Überlegenheit zu demonstrieren.

Wie sich schnell herausstellte, reichten Ellas Sprachkenntnisse tatsächlich nicht für den Job aus, sodass sie ausschließlich in Englisch kommunizierten, sobald sie unter sich waren – bis auf dieses kleine Geplänkel jeden Morgen.

„Ich dachte, Sie wollten, dass wir einen guten Eindruck machen“, konnte sich Ella nicht verkneifen zu sagen. Doch sie erntete nur ein Stirnrunzeln. „Haben Sie nicht gesagt, dass überall Presseleute sind?“

„So ist es ja auch, oder?“, knurrte Santo. „Es war nur als Warnung für Sie gedacht.“

„Hier.“ Sie reichte ihm einen Becher Kaffee.

„Sie hätten auch einen für Alessandro mitbringen sollen.“

„Habe ich“, kam es trocken zurück.

„Dann fahren Sie endlich los.“

Das tat Ella so abrupt, dass der Wagen einen Satz machte. „Warum muss dieses Ding auch Gänge zum Schalten haben!“, meuterte sie, da sie an Automatikgetriebe gewöhnt war, was für Santo nicht als echtes Autofahren galt. Doch heute ging er nicht auf ihre Herausforderung ein, sondern starrte weiter grimmig vor sich hin und stöhnte unterdrückt auf, als sie aus der Tiefgarage ins helle Sonnenlicht fuhren.

Ella griff in ihre Santo Bag. „Hier …“ Sie reichte ihrem Boss eine Sonnenbrille, mit der er seine Blessuren wenigstens teilweise kaschieren konnte.

„Na los!“, drängte Santo, als Ella zögerte, aus Angst, womöglich einen der aufdringlichen Paparazzi zu überfahren.

Zähneknirschend bahnte sie sich einen Weg durch die Meute. „Ich hasse es, in diesem Land Auto zu fahren!“, schimpfte sie und dachte sehnsüchtig an ihre kleine Vespa, mit der sie viel besser zurechtkam. In Australien fuhr man nicht nur auf der anderen Straßenseite, sondern bemühte sich wenigstens darum, die Verkehrsregeln einzuhalten, die in Sizilien überhaupt keine Funktion zu haben schienen.

Trotzdem waren es weder das Autofahren noch ihr gestörter freier Tag, die Ella ernsthaft zu schaffen machten. Was immer für die Blessuren in seinem Gesicht verantwortlich sein mochte, erklärte auf keinen Fall die dunklen Verfärbungen an seinem Hals. Woher die stammten, konnte sie sich lebhaft vorstellen!

Maledizione! fluchte sie lautlos in sich hinein. Selbst mitten in einem Familienskandal konnte Santo nicht die Hände von den Frauen lassen. Wer mochte wohl dieses Mal die Glückliche gewesen sein? Nach Details fragen konnte sie ihn schlecht. Womöglich stellte sich dann noch heraus, dass er sich wider besseres Wissen mit Taylor Carmichael eingelassen hatte, der hinreißenden Hollywoodikone und Heldin seiner derzeitigen Filmproduktion.

Die Dreharbeiten sollten Montag beginnen, und darum tat Santo sein Bestes, um die kapriziöse Diva daran zu hindern, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Damit er sie im Auge behalten konnte, hatte er darauf bestanden, dass sie an der Hochzeit teilnahm. Das verschaffte ihm außerdem die Gelegenheit, gleichzeitig ein wenig Werbung für sein aktuelles Filmprojekt zu machen.

Doch eingedenk der zweifelhaften Reputation, die sowohl er als auch die Filmdiva in der Öffentlichkeit genossen, lag Ella vielleicht gar nicht so falsch mit ihrer Vermutung über den Ursprung der Verfärbungen an Santos Hals.

Nur mit Mühe gelang es ihr, ein frustriertes Seufzen zu unterdrücken. Es war wirklich höchste Zeit, ihre Zelte in Palermo abzubrechen. Wenn die Sache mit dem neuen Job in Rom nicht klappen sollte, konnte sie immer noch nach London oder Frankreich gehen.

Oder sogar nach Hause?

Santo dirigierte sie zu einer Bank, in der Hoffnung, seinen Bruder mit dem nötigen Bargeld in der Tasche leichter aus dem Gefängnis freizubekommen. Während er zum Geldautomaten ging, lehnte Ella sich mit geschlossenen Augen gegen die Kopfstütze. Der Gedanke, wieder nach Australien zurückzukehren, behagte ihr gar nicht. In wenigen Tagen hatte ihre Mutter Geburtstag, und sie rechnete unter Garantie mit ihrem Anruf. Ein plötzlicher Panikanfall ließ sie die Augen aufreißen und nach Luft ringen. Nein, ich bin auf keinen Fall schon so weit, auch nur mit dem Gedanken an eine Heimkehr zu spielen.

Als sie sah, wie Santo unbeholfen mit dem Geldautomaten kämpfte, stieg sie seufzend aus und kam ihm zu Hilfe.

„Was würde ich nur ohne Sie tun?“, fragte ihr Boss, während sie seine Geheimnummer eintippte. Ella spürte, wie heiße Röte in ihre Wangen stieg, und warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Doch hinter seinen Worten schien sich keine Anspielung zu verstecken. Woher sollte Santo auch wissen, was sie in die Wege geleitet hatte? Und wer würde in ihrer Lage nicht nach einem neuen Job Ausschau halten? Sie hatte es jedenfalls satt, immer wieder für ihren Boss die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Und jetzt kam auch noch sein Bruder dazu, wie es schien.

Außerdem war sie es leid, Santos umfangreiches privates Adressbuch zu verwalten: Schmuck oder Blumen an die Adressen seiner jeweiligen Geliebten zu schicken, in teuren Restaurants Tische für intime Candle-Light-Dinner zu reservieren oder romantische Wochenenden am Meer zu organisieren. Hinterher musste sie zu allem Überfluss auch noch regelmäßig Trost spenden und aufgebrachte Gemüter kühlen, wenn das Unvermeidliche eintrat.

„Wie war’s mit Taylor?“, entschlüpfte es ihr gegen ihren Willen.

„Kein Kommentar“, gab Santo kurz angebunden zurück und lächelte flüchtig, als er Ellas geschürzte Lippen sah. „So lautet mein heutiges Motto gegenüber der Presse“, rettete er sich auf sicheres Eis. „Was natürlich auch für Sie gilt, sollten Sie zwischen die Fronten geraten.“

Als sie beim Polizeipräsidium ankamen und weit und breit kein Reporter zu sehen war, atmete Ella erleichtert auf. Zum Glück schien bisher nichts von Alessandros Verhaftung durchgesickert zu sein.

„Wie er sich wohl fühlen mag?“, überlegte sie laut.

„Verkatert.“ Santo gähnte herzhaft. „Auf jeden Fall ist er besser ohne sie dran.“

Damit stieg er aus und überraschte Ella, die sich auf mindestens eine halbe Stunde Wartezeit eingestellt hatte, indem er sich abrupt umdrehte und sie fragte, ob sie mit reinkommen wolle.

„Aber …“

„Weiblichem Charme gegenüber zeigt sich la Polizia sicher aufgeschlossener.“

„Ich finde das nicht nur abstoßend und beleidigend, sondern …“

„Wie so vieles andere auch, meine gestrenge, prüde Moralistin.“

Mit schmalen Lippen schnappte sie sich den Kaffee für Alessandro und folgte ihrem Boss ins Präsidium. Immer wieder spielte er auf ihre – in seinen Augen veralteten – Moralvorstellungen an. Und nicht zum ersten Mal kassierte sie einen versteckten Seitenhieb dafür, dass sie offenbar als einzige seiner vielen PAs nie mit Santo im Bett gewesen war. Diesen Punkt hatte Ella gleich im Einstellungsgespräch geklärt. Zu seiner Ehrenrettung musste sie zugeben, dass ihr Boss sie bislang nie belästigt hatte, abgesehen von winzigen Anspielungen hier und da. Offenbar wurmte es ihn, dass sie seinem berüchtigten Charme gegenüber völlig immun war.

Obwohl das nicht ganz stimmte. Immerhin war sie keine Heilige!

Santo Corretti war ein Bild von einem Mann, umwerfend sexy, aber leider auch ein unverbesserlicher Herzensbrecher. Eine Nacht mit ihm mochte vielleicht das Paradies sein – besonders, wenn er sie so über die Schulter anlächelte wie jetzt –, doch allein der Gedanke an den Morgen danach reichte, um sie schlagartig zu ernüchtern.

Die nächsten Minuten empfand Ella wie ein improvisiertes Theaterstück mit unzähligen Worten und Gesten aller beteiligten Protagonisten. Viele Hände wurden geschüttelt, wobei diverse Scheine den Besitzer wechselten, und dann erschien Alessandro als tragischer Held auf der Bühne. Auch er trug etliche Blessuren, allerdings hauptsächlich an den Handknöcheln. Sein makelloser Hochzeitsanzug war ebenfalls verschmutzt und zerrissen, sein düsterer Blick der eines gefangenen Raubtiers.

„Hier.“ Ella hielt ihm den inzwischen kalten Kaffee hin, den er in einem Zug herunterstürzte. Wie sein Bruder stöhnte auch Alessandro gepeinigt auf, als sie ins helle Sonnenlicht traten, und auch er erhielt eine Sonnenbrille von Ella.

Als Santos perfekte PA hatte sie selbstverständlich alles doppelt parat.

„Danke.“ Er setzte die Brille auf und betrachtete Santos geschwollenes Auge und die aufgeplatzte Lippe. „Wer ist denn dafür verantwortlich?“, wollte er wissen.

Ella hielt automatisch den Atem an. Schon die ganze Zeit über kämpfte sie gegen ihre Neugier, doch was jetzt kam, schockierte sie zutiefst.

„Du, Bruderherz“, lautete die trockene Antwort.

Sekundenlang standen sie alle wie festgefroren da, dann wandte Alessandro sich wortlos ab.

„Du erinnerst dich nicht?“, fragte Santo, als sie im Wagen saßen und sein Bruder Ella gebeten hatte, ihn nach Hause zu fahren.

„Ich versuche, es dabei zu belassen“, erwiderte Alessandro knapp.

Sie sprachen Italienisch, doch Ella gelang es, sich alles zusammenzureimen.

„Ich habe die ganze Nacht versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen“, warf Santo seinem Bruder vor.

„Offensichtlich nicht die ganze Nacht“, spottete dieser mit bezeichnendem Blick auf seinen Hals. „Hast du dich mit einem Vampir eingelassen?“

Doch darauf ging Santo zu Ellas Enttäuschung nicht ein. „Ich habe bestimmt fünfzig Mal versucht, dich anzurufen.“

„Und neunundvierzig Mal habe ich es vorgezogen, nicht zu antworten.“ Alessandro verfiel in dumpfes Schweigen, was Ella ihm nicht verübeln konnte, da Santo während ihres Gesprächs endlose Textnachrichten auf seinem Handy checkte und deren ständig wiederkehrende Klingeltöne tunlichst ignorierte.

Ella fuhr auf dem kürzesten Weg zum Corretti Media Tower, in dem Alessandro ein luxuriöses Penthouse bewohnte. Doch vor dem Gebäude hatten sich etliche Reporter versammelt, in der Hoffnung, ein Bild von dem verlassenen Bräutigam zu schießen. „Am besten, Sie legen sich flach hin“, empfahl sie. „Ich habe einen Mantel für Sie mit und versuche es am Hinterausgang.“

Alessandro jedoch weigerte sich, in Deckung zu gehen und verlangte, direkt vor dem Hauptportal auszusteigen. Mit steinerner Miene ertrug er das Blitzlichtgewitter und die provokanten Fragen, die ihm die Paparazzi entgegenschrien.

„Ich begleite dich“, entschied Santo spontan.

„Ich brauche kein Kindermädchen.“

Aber Santo ließ sich nicht bremsen. Sobald der Wagen zum Stehen kam, stiegen beide Brüder aus, und dann brach ein unglaublicher Tumult los. Ella wusste, dass die Correttis durchaus skandalerprobt waren, doch als die Fragen immer dreister und persönlicher wurden, sah sie, wie Alessandro die geschundenen Hände zu Fäusten ballte. Auch Santo schien zu merken, dass der Geduldsfaden seines Bruders zu reißen drohte. Er griff nach seinem Arm und drängte ihn auf den Rücksitz des Sportwagens, bevor er sich wieder neben Ella auf den Beifahrersitz fallen ließ.

„Los, einmal um die nächste Ecke, bis wir außer Reichweite dieser Schmeißfliegen sind. Dann werde ich fahren.“ Offenbar sagte ihm Ellas gemäßigtes Tempo wenig zu, denn kaum waren sie zwei Straßen weit gekommen, da drängte er sie erneut, ihm das Steuer zu überlassen.

„Kein Problem“, erwiderte sie ruhig und lenkte den Wagen an den Straßenrand. „Aber dann steige ich aus, da ich Ihre Whiskyfahne immer noch bis hierher riechen kann.“

Zum ersten Mal hatte er keine zynische Retourkutsche für sie parat, sondern bedeutete ihr nur mit einer unwilligen Geste weiterzufahren. Ella wendete bei der ersten Gelegenheit und fuhr wieder in Richtung Stadtmitte.

„Wir könnten doch in Ihr Hotel fahren“, schlug sie Santo vor, aber davon wollte Alessandro nichts hören.

„Nein, dort werden wir auch in die verdammte Pressemeute geraten.“

„Und was ist, wenn wir zu mir fahren?“ Ella konnte nur zu gut nachvollziehen, dass der verschmähte Bräutigam ein paar Tage Ruhe brauchte, um seine Wunden zu lecken. „Es ist nur eine kleine, wenig komfortable Hotel-Pension, aber …“ Sie brach ab, als sie merkte, dass ihr niemand zuhörte.

Die Brüder unterhielten sich in schnellem Italienisch. Und auch wenn sie nichts verstand, hörte es sich nach einem Streit an.

„Fahren Sie ihn zum Hafen nach Cala Marina“, sagte Santo schließlich gepresst und dirigierte sie in die angegebene Richtung. „Alessandro will auf seine Jacht.“

Ella fuhr in die angegebene Richtung, doch trotz aller guten Vorsätze und der Überzeugung, dass sie das alles nichts anging, gelang es ihr nicht, den Mund zu halten. „Sind Sie sicher?“ Sie bereute ihre Frage, sobald sie sah, wie sich Santos Gesicht verschloss.

„Ich lasse mich nicht noch einmal daran erinnern, dass ich nur der jüngere Bruder bin“, knurrte er und zerrte an seinem Hemdkragen, als wäre dieser ihm plötzlich zu eng geworden. Der Rest der Fahrt verlief in angespanntem Schweigen, das der verhinderte Bräutigam schließlich brach.

„Dov’è Alessia?“

Ella hielt den Atem an, als Alessandro nach dem Verbleib seiner geflohenen Braut fragte. Santos Reaktion entlockte ihr dann aber doch einen kleinen Protestlaut.

„Puttana!“, zischte er, was, wie sie sehr wohl wusste, eine Bezeichnung für ein leichtes Mädchen war.

Sein Bruder reagierte weniger schockiert als beharrlich. „Wo ist sie?“

Mit weiterhin angehaltenem Atem erfuhr Ella, dass Alessia Battaglia offenbar mit Matteo, einem Cousin der Corretti-Brüder durchgebrannt war. Alessandros Reaktion auf diese Nachricht war für seine Exbraut nicht schmeichelhafter als Santos, doch wenigstens hatte er genug Anstand, um sich dafür bei Ella zu entschuldigen.

Santo blickte seinem Bruder hinterher, als dieser sich in Richtung Bootssteg trollte, dann sprang er spontan aus dem Wagen und folgte ihm. Wahrscheinlich, um ihn zu überreden, doch mit ihnen zurückzukommen, vermutete Ella. Dabei schien es ihm völlig egal zu sein, dass sein Bruder ihn erst vor wenigen Stunden niedergeschlagen hatte. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es wohl war, Geschwister zu haben. Jemand, der auf der gleichen Ebene stand wie man selbst. Jemand, der dafür sorgte, dass man nicht ganz allein mit den Unzulänglichkeiten der Eltern klarkommen musste …

Aber was immer Santo auch anführen mochte, es schien keine Wirkung auf Alessandro zu zeigen. Irgendwann zuckte er mit den Schultern, wandte sich um und kehrte zum Wagen zurück. Doch anstatt genervt mit den Augen zu rollen, wie Ella es erwartet hatte, war sein Blick starr und das Gesicht aschgrau. Als er sich neben sie setzte, verspürte sie unerwartet tiefes Mitleid mit ihrem sonst so smarten Boss.

Einen Moment saßen sie einfach nur ruhig da und schauten zu, wie Alessandro an Bord seiner Jacht kletterte.

„Glauben Sie, er kommt allein zurecht?“, fragte Ella.

„Warum sollte er nicht?“ Das war eindeutig eine Zurückweisung. „Wir fahren.“

Sie nahm ihm seine vorgespielte Sorglosigkeit nicht ab, aber so war Santo. Er widmete sich dem Chaos um sich herum nur so lange wie unbedingt notwendig, dann stürzte er sich aufs nächste Abenteuer und überließ es dem Fußvolk, die Scherben aufzusammeln.

Darum erschien es Ella auch nur natürlich, im Hotel anzurufen, den Service anzuweisen, seine Suite aufzuräumen, ein heißes Bad einzulassen, die Morgenzeitungen aufs Zimmer zu liefern und ein kräftiges Frühstück bereitzuhalten. „Vorausgesetzt, dass sich niemand dadurch gestört fühlt“, konnte sie sich als Bemerkung dann doch nicht verkneifen, als sie ihr Handy einsteckte.

Santo tat erst gar nicht so, als hätte er die Andeutung nicht verstanden. „Sie ist längst weg.“

„Also nur eine Dame?“, murmelte Ella maliziös und sah ihren Boss aus den Augenwinkeln flüchtig lächeln, ehe er wieder düster aus dem Fenster starrte.

Die Presse hielt immer noch Stellung vor dem Hotel, doch auch Santo weigerte sich, in Deckung zu gehen. Er saß einfach nur stoisch da und ließ das grelle Blitzlichtgewitter über sich ergehen. Er nahm sogar die Sonnenbrille ab und steckte sie ein, bevor er den Wagen verließ. Mit einem vernichtenden Blick in Richtung der Journaille ging er forschen Schrittes und hoch erhobenen Hauptes an der Reporterfront vorbei in Richtung Lift, wo Ella ihn schließlich einholte.

Doch kaum hatten sich die Türen hinter ihnen geschlossen, ließ er sich erschöpft gegen die Spiegelwand sinken, fuhr sich mit der Hand über die Augen und stöhnte, als er die Schwellung berührte.

Schlagartig galt Ellas Besorgnis nicht mehr dem verlassenen Bräutigam, sondern seinem jüngeren Bruder. Santo war leichenblass und schien ziemlich unsicher auf den Beinen zu sein.

„Sind Sie sonst noch irgendwo verletzt?“

Ohne die Hand von den Augen zu nehmen, schüttelte er den Kopf.

„Waren Sie bewusstlos?“

„Unglücklicherweise nicht.“ Jetzt traf sie ein Blick, der ihr durch alle Glieder fuhr. Auch das mühsame Lächeln schien so gar nicht zu dem Mann zu passen, als den sie ihn bisher kennengelernt hatte. Es war, als wären alle Arroganz und Selbstgefälligkeit von ihm abgefallen und ließen Ella dahinter zum ersten Mal sein wahres Ich sehen.

Sie war fasziniert und bis ins Innerste berührt. Und sie konnte nicht aufhören, ihn anzustarren.

„Was ist heute Nacht geschehen?“, fragte sie rau, obwohl sie sich geschworen hatte, es nicht zu tun.

„Warum?“

„Ich bin nur … ich mach mir einfach Sorgen.“

„Darauf würde ich wetten!“ Er glaubte ihr nicht, so viel war klar. Einen Moment war sie verunsichert, dann sprang sie ganz natürlich ein, als er – wie meistens – seine Checkkarte nicht fand, um die Tür zur Suite zu öffnen.

Business as usual! Alles war wieder wie immer …

Das Frühstück und alles andere geriet zur Nebensache angesichts der Morgenzeitungen, die das Zimmermädchen fürsorglich auf einem Tisch hinterlassen hatte. Während sie die Schlagzeilen überflog, dachte Ella, dass es für Alessandro bestimmt besser war, abgeschottet auf der Luxusjacht seinen Schmerz zu kurieren. Denn die Fotos und Berichte fielen ziemlich schonungslos und brutal aus.

„Oh!“, rief sie bei einem besonders entlarvenden Schnappschuss von Taylor Carmichael.

„Sie sind nicht wirklich überrascht, oder?“, fragte ihr Boss zynisch.

Wenn, dann hauptsächlich, weil es sich bei dem dazugehörigen Mann nicht um Santo handelte. Wie konnte er nur so ruhig und desinteressiert tun? Immerhin handelte es sich um die Hauptdarstellerin seines aktuellen Films, um die es in den letzten Wochen ein unglaubliches Spektakel gegeben hatte. Morgen war Drehstart, und Taylors Comeback nach einer geheimnisvollen Auszeit gab ohnehin schon Anlass zu den wildesten Gerüchten seitens der Presse. Eine schlechte Publicity zu diesem Zeitpunkt konnte leicht zu einem echten Risikofaktor für das geplante Filmprojekt geraten.

Aber mit Businessproblemen wollte Ella sich nicht vor morgen beschäftigen. Jetzt ging es um weit Wichtigeres. „Nehmen Sie ein Entspannungsbad. Ich bestelle inzwischen das Frühstück.“

„Ich will kein Frühstück, sondern einfach nur ins Bett fallen. Danke für Ihre Hilfe.“

„Aber essen müssen Sie irgend…“ Sie brach ab. Schließlich war sie nicht seine Mutter, oder? Nicht, dass diese sich um derartige Dinge kümmern würde. Carmela Correttis einziges Interesse galt der neuesten Mode und der Maniküre ihrer perfekten Fingernägel. „Okay, also nur die Wanne. Ich jedenfalls sterbe vor Hunger.“

„Tun Sie sich keinen Zwang an.“ Damit verschwand Santo im Bad.

Wenige Minuten später erschien eine Servicekraft und servierte ihr ein fürstliches Frühstück. „Danke“, sagte Ella lächelnd, schenkte sich Kaffee ein und versuchte, nicht daran zu denken, mit wem ihr Boss letzte Nacht zusammen gewesen war. Schließlich ging es sie nichts an. Um sich abzulenken, blätterte sie erneut die Morgenzeitungen durch.

Die Correttis waren wirklich eine der aufregendsten und kompliziertesten Familien, die man sich vorstellen konnte. Eine Weile widmete sich Ella bereitwillig dem Klatsch und Tratsch um die missglückte Hochzeit.

Irgendwann sah sie zur Uhr neben dem Bett und erschrak. Ob Santo in der Wanne eingeschlafen war? Zu hören war jedenfalls nichts. Ella klopfte.

„Frühstück ist da“, rief sie.

Nichts.

„Santo, antworten Sie mir …“ Sie klopfte erneut. Immer noch keine Reaktion. Ihr Magen zog sich vor Sorge und Unbehagen zusammen, während sie an der Tür lauschte. „Wenn Sie jetzt nicht antworten, komme ich rein …“, drohte sie.

Totenstille.

Zaghaft drückte sie die Klinke herunter, zum Glück war nicht abgeschlossen. Doch sobald sie die Tür aufgeschoben hatte, bereute sie es. Es gab bestimmte Dinge, die wollte man einfach nicht sehen. Immerhin wusste Ella jetzt, warum er ihr nicht geantwortet hatte.

Santos körperliche Intimsphäre wurde glücklicherweise durch das Schaumbad gewahrt. Was Ella erschütterte, war jedoch etwas anderes. Der dunkle Kopf lag auf dem Wannenrand, die Augen waren geschlossen, die Lippen fest zusammengepresst und die breiten Schultern zuckten. Santo Corretti, der Mann, den außer Geschäften und Frauen nichts und niemand interessierte und der auf alles eine Antwort wusste, weinte.

2. KAPITEL

Ich weine nie!

Nicht an ein einziges Mal konnte Santo sich erinnern. Weder als sein Vater zur gleichen Zeit starb wie sein Onkel noch beim Tod seines Großvaters. Es war, als wäre er schon mit dem Bewusstsein zur Welt gekommen, dass Tränen seiner Mutter ein Graus waren und sein Vater jedes Zeichen von Schwäche mit unnachgiebiger Härte ahnden würde.

Ein derart unmännliches Verhalten gehörte einfach nicht zu einem Corretti.

Also hatte er sich seinen Weg durchs Leben allein mit gutem Aussehen, Verstand, Witz und Charme erkämpft. Doch heute ließen ihn seine hervorragenden Tugenden im Stich.

„Verschwinden Sie!“, befahl er mit schwankender Stimme.

„Das kann ich nicht.“ Ohne darüber nachzudenken, dass dies nun wirklich nicht zu ihrem Job gehörte, setzte Ella sich zu ihm auf den Wannenrand. In diesem Zustand durfte sie ihren Boss unmöglich allein lassen. Er sah schrecklich ramponiert aus, wobei ihre Sorge nicht den äußerlichen Blessuren galt. Es war seine psychische Verfassung, die sie schockierte. Santo Corretti wirkte … gebrochen.

Wie oft hatte sie sich in den vergangenen Wochen gefragt, ob er überhaupt zu tieferen Gefühlen fähig war. Jetzt wusste sie es.

„Glauben Sie wirklich, er kommt allein zurecht?“, fragte er rau.

Für den Bruchteil einer Sekunde stutzte Ella, dann atmete sie auf. „Sie sprechen von Alessandro! Natürlich kommt er zurecht, er braucht nur etwas Zeit.“

Nach einer Pause nickte Santo und öffnete die Augen. Wenn er nur nicht so verdammt attraktiv wäre! Diese neue, verletzliche Seite an ihm zu sehen, machte auch sie völlig schwach, wie sie beunruhigt feststellte.

„Es geht nicht nur um Alessandro …“ Es fiel ihm offenbar schwer, darüber zu reden. „Es ist das ganze Drum und Dran. Sie hätten das furchtbare Debakel miterleben müssen, um zu verstehen …“

„Sie können mir ja davon erzählen.“

„Weil Sie Anteil nehmen und Mitleid haben?“ Er lachte hart auf, als er Ellas Stirnrunzeln bemerkte. „Es geht um Familiengeschichten, und es steht mir nicht zu, darüber zu reden.“

Ella wusste alles über Familiengeheimnisse – und auch, dass es Dinge gab, die man besser verschwieg. Schließlich hatte sie ihr Leben lang den Mund gehalten. Drängen würde sie Santo bestimmt nicht, obwohl sie vor Neugier und Sorge fast verging. Was mochte nur in der letzten Nacht geschehen sein?

Sie schaute sich im Bad um und wunderte sich, wie man einen relativ kleinen Raum in so kurzer Zeit derart verwüsten konnte. Seine Kleidung lag auf dem Boden verstreut. Der Wasserhahn, an dem er sich offenbar die Zähne geputzt hatte, lief immer noch, und die Tube mit der Zahnpasta war natürlich auch nicht zugedreht.

„Es herrscht ein absolutes Chaos.“

Sie wusste sehr gut, dass er damit nicht die Unordnung im Bad meinte. „Wie in den meisten Familien.“

Ihre Blicke trafen sich, doch anstatt auszuweichen wie gewöhnlich, hielt Ella ihm stand. Normalerweise ertrug sie es nicht, dass jemand versuchte, in ihre Gedanken und ihre Seele einzudringen. Doch der Schmerz und die Trauer in seinen wundervollen Augen schienen ihm das Recht zu geben. Einen Moment lang befürchtete sie sogar, selbst in Tränen auszubrechen, zum ersten Mal seit jenem schrecklichen Tag. Sie war nur einen Herzschlag davon entfernt, sich Santo gegenüber zu öffnen, doch in letzter Sekunde siegte ihr Selbsterhaltungstrieb, und sie blickte zur Seite.

„So“, sagte sie energisch. „Sie haben lange genug gebadet. Das Wasser ist viel zu kalt.“ Ohne sich Rechenschaft über ihr Tun abzugeben, senkte sie die Hand ins Schaumbad und tastete nach dem Badewannenstöpsel, wobei sie Santos Knöchel streifte. Mit einem Ruck zog sie den Stöpsel heraus und legte ihn auf den Badewannenrand. Anschließend erhob sie sich, drehte den Wasserhahn am Waschbecken zu und zog ein flauschiges Badehandtuch aus einem Regal, bevor sie womöglich mehr zu sehen bekam, als ihr guttun würde.

„Ich sehe nicht hin“, versprach sie und hielt das Handtuch ausgebreitet vor sich, als versuchte sie, ein kleines Kind zu überreden, endlich aus der Wanne zu steigen. Dabei war dies ganz sicher keine Situation für alberne Scherze.

Santo schien überlegen zu müssen, wie er reagieren sollte. Am Ende nahm er ihr das Tuch aus der Hand, entstieg der Wanne und schlang sich das Frotteelaken um die schmalen Hüften, während Ella die Lider sittsam gesenkt hielt. Dann marschierte er an ihr und dem wartenden Frühstück vorbei und ließ sich auf die Bettkante fallen.

„Tut mir leid“, knurrte er, ohne zu spezifizieren, wofür er sich entschuldigte.

„Vergessen Sie’s. Es ist nie passiert.“ Seinem misstrauischen Blick begegnete sie ruhig und gelassen. Sie mochten sich zwischendurch mitunter necken, aber dies hier würde sie niemals gegen ihn verwenden.

„Danke …“, murmelte er rau und fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Geben Sie mir mein Handy.“

Fast erleichtert, wieder den vertrauten Befehlston zu hören, erfüllte sie seinen Wunsch und zog sich dann zurück.

Santo sah ihr nach und konnte es immer noch nicht glauben. Es war, als wäre ein Damm gebrochen, den er für absolut sicher gehalten hatte. Verstörende Gefühle und Erinnerungen überfluteten ihn unaufhaltsam, und er hatte keine Ahnung, wie er sie wieder unter Verschluss bringen sollte.

Dass gestern Abend streng gehütete Familiengeheimnisse gnadenlos aufgedeckt worden waren, machte ihn ganz krank. Und zum ersten Mal hatte auch noch sein Allheilmittel versagt!

Heiße fordernde Lippen auf seinem Hals zu spüren, hatte ihn nur angewidert, und als er die verführerische Sirene frustriert von sich geschoben hatte, war sie für ihn nicht mehr gewesen als eine weitere namenlose Blondine, deren Nähe er plötzlich nicht mehr ertrug. Also schickte er sie kurzerhand weg und vertrieb sich den Rest der Nacht mit einer Flasche Whisky, während er vergeblich versuchte, seinen Bruder zu erreichen.

Santo überlegte, ob es wenigstens einen Bereich in seinem Leben gab, der nicht im Chaos zu versinken drohte. Doch selbst sein geplantes Filmprojekt war dank Taylors skandalösem Benehmen von letzter Nacht gefährdet. Woran sollte er sich jetzt noch halten?

Als Ella zurückkam, hob er den Blick. Ella, seine vernünftige, reservierte PA, die immer alles zu verstehen schien und zu richten wusste. Und über die er gestern etwas herausgefunden hatte, von dem er bisher nichts gewusst hatte. Ungehalten befreite er sich von dem feuchten Badetuch und legte sich unter die Bettdecke.

„Sie wollen mich also verlassen?“, fragte er kalt.

Heiße Röte bedeckte Ellas Wangen, was nicht daran lag, dass sie ihren Boss flüchtig nackt gesehen hatte, sondern an ihrer heimlichen Jobsuche, von der Santo offensichtlich gehört hatte. Schuldbewusst erinnerte sie sich daran, wie freundlich er gewesen war, als sie ihm von dem angeblichen Arztbesuch in Rom erzählt hatte. Er hatte sogar den Flug und eine Übernachtung im 5-Sterne-Hotel bezahlt, was ihren Betrug noch schlimmer machte.

Aber zumindest verstand sie jetzt die verbalen Spitzen von heute Morgen. Wie peinlich! Da ermunterte sie ihn noch, ihr von seiner Familie zu erzählen, während er bereits wusste, dass sie kündigen wollte.

Entschlossen, endlich aufrichtig zu sein, setzte sie sich auf die Bettkante und faltete die Hände im Schoß. „Ich bin mir noch nicht sicher, ob …“

„Aber einen Arzt haben Sie in Rom nicht aufgesucht, oder?“

Ihre Röte vertiefte sich.

„Tja, Ella, so ist das in der Filmbranche“, spöttelte Santo. „Jeder kennt jeden, und geredet wird viel.“

„Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich den Job bekommen werde“, packte sie den Stier bei den Hörnern.

„Für mich hörte es sich aber so an. Luigi hat mich jedenfalls gestern angerufen und nach Ihren Referenzen gefragt. Sie vergeben mir, wenn ich mich mit Glückwünschen zurückhalte?“

So gern Ella mehr Details gehört hätte, verbot es sich von selbst, ihren Boss danach zu fragen. Besser, sie schraubte ihre Hoffnungen nicht zu hoch, bis Luigi sich persönlich bei ihr gemeldet hatte. Vielleicht würde auch nicht mehr als eine zweite Einladung zum Bewerbungsgespräch dabei herauskommen.

„Können wir irgendwann später darüber reden?“, versuchte sie das Thema zu beenden.

„Wir reden jetzt darüber“, erwiderte Santo mit festem Blick. „Ich weiß, dass Sie unbedingt in der Filmbranche aktiv mitwirken wollen, aber der Regisseur, den ich für den geplanten Film angeheuert habe, bringt sein eigenes Team mit.“ Er holte tief Luft und gab sich einen Ruck. Die Erkenntnis, dass er Ella nicht so einfach gehen lassen wollte, verwirrte ihn maßlos. „Bei meinem nächsten Film kann ich vielleicht …“

„Aber mir geht es um diesen Film, Santo!“, platzte sie heraus. „Ich liebe das Drehbuch und sehe alles schon vor mir.“

„Dieses spezielle Projekt ist mir außerordentlich wichtig. Besonders jetzt.“

„Wie jetzt?“

„Es muss reichen, wenn ich Ihnen sage, dass ich momentan einfach kein Risiko eingehen kann.“

„Außer dem Risiko, Taylor Carmichael zu engagieren?“, argumentierte sie hitzig.

„Dafür zahle ich bereits“, murmelte er düster. „Aber ich verspreche, Sie bei der nächsten Produktion zu berücksichtigen.“

„Es geht nicht allein darum.“ Ella schloss für einen Moment die Augen. Als Santo Correttis PA musste sie eine Menge mehr bewältigen als in jedem anderen Job bisher. „Ich habe kaum noch Zeit für mich und …“ Entschlossen wandte sie sich ihm zu und suchte seinen Blick. „Für Sie zu arbeiten, ist wahrhaftig eine Vollzeitbeschäftigung.“

„Das mit heute ist eine Ausnahme. Normalerweise rufe ich nicht am Wochenende …“

„Das Wochenende beginnt spätestens am Freitag um Mitternacht, falls Ihnen das noch niemand gesagt hat. Und doch, Sie tun es, ziemlich oft sogar.“

Immerhin ist es ihr Job, mich zu unterstützen, versuchte Santo sich selbst zu überzeugen, obwohl er wusste, dass er den Bogen diesmal wirklich überspannt hatte. Die Angst und das Unbehagen, die ihn vor der Hochzeit befallen hatten, gestand er sich nur höchst ungern ein. Zwei mächtige verfeindete Familien, die erst in der Kirche und dann bei der anschließenden Feier aufeinanderprallen würden. Wenn das kein Grund zur Nervosität war!

Den gestrigen Tag bis zur Feier in Ellas Gesellschaft zu verbringen, hatte etwas Beruhigendes gehabt. Und heute, als es darum ging, seinem Bruder nach der letzten Nacht wieder gegenüberzutreten, war ihre Unterstützung unerlässlich gewesen. Hatte sie da nicht so etwas wie Lob und Dank verdient?

„Sie sind für mich unersetzlich geworden, Ella.“

„Nein“, erwiderte sie und schüttelte heftig den Kopf. Auf keinen Fall wollte sie schwach werden. Santo war sehr gut darin, immer genau das Richtige zu sagen, wenn er in irgendeiner Sache seinen Kopf durchsetzen wollte. „Das ist niemand.“

„Mag sein“, gab er brummelnd zu, „aber wir sind doch gut miteinander ausgekommen.“

Sie blieb hart. „Nicht immer.“

„Aber Spaß hatten wir!“, beharrte er wie ein trotziges Kind.

Ella sah in das zerschundene Gesicht des Mannes, der sie so leicht zum Lachen brachte wie sonst niemand. Was für eine Heldentat das war, konnte er natürlich nicht ahnen. Woher hätte er auch wissen sollen, wie verletzt und verstört sie gewesen war, als sie sich das erste Mal begegnet waren, und dass sie ihr strahlendes Bewerbungslächeln einem brutalen Übergriff ihres Vaters verdankte. Darüber konnte sie nicht reden, mit niemandem.

Gedankenverloren nahm sie ein Croissant von dem Teller, den sie demonstrativ auf dem Nachttisch platziert hatte, obwohl Santo es kategorisch ablehnte zu frühstücken. Sie brach ein Stück ab und steckte es sich in den Mund.

„Und ich hoffte schon, Sie würden versuchen, mich zu füttern …“

Wie schön, dass er langsam seinen Humor wiederfindet, dachte Ella. „Keine Chance.“ Lächelnd beobachtete sie, wie er die Handy-Mailbox checkte. „Irgendwelche neuen Nachrichten?“

„Nichts.“

Die Besorgnis in seinem Blick war nicht zu übersehen. „Ich wusste gar nicht, dass Alessandro und Sie sich so nahestehen“, stellte sie mehr für sich fest.

„Wir sind Brüder“, kam es lakonisch zurück. „Haben Sie Geschwister?“

„Nein, es gibt nur mich.“

Ihr Ton besagte, dass sie dieses Thema nicht vertiefen wollte. Aber vielleicht war es genau das, was Santo plötzlich reizte. „Sie sprechen nie von Ihrer Familie.“

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir uns nur wenig unterhalten.“ Es war höchste Zeit zu gehen. „Kann ich noch etwas für Sie tun?“, fragte sie abschließend.

„Das wissen Sie doch …“

Da war er wieder: Santo Corretti, der notorische Playboy und Schwerenöter! „Versuchen Sie, ein wenig zu schlafen“, riet Ella, erhob sich von der Bettkante und zog die Vorhänge zu. Dabei spürte sie Santos Blicke wie heiße Nadeln im Rücken.

Unten auf der Straße hielten die Paparazzi immer noch eisern die Stellung. So leicht würden sie das Hotel nicht verlassen und der Meute entkommen können.

„Okay.“ Sie wandte sich in Richtung Bett. „Ich lasse Ihnen bis zwei Uhr Ruhe.“

„Sie gehen nicht weg?“

„Nein, ich werde nebenan bleiben und eine Weile arbeiten.“

„Kommen Sie wenigstens zwischendurch meinen Puls fühlen?“

„Ganz sicher nicht, aber ich werde Ihre Anrufe entgegennehmen, damit Sie ungestört bleiben. Möchten Sie, dass ich irgendeinen Kommentar abgebe?“

„Darum kümmere ich mich später selbst.“

Als sie die Hand nach seinem Handy ausstreckte, das auf dem Nachttisch lag, spürte Ella einen kräftigen Griff um ihr Handgelenk. „Lassen Sie das hier.“

„Warum? Schließlich werde ich dafür bezahlt, mich um Ihre Anrufe zu kümmern. Sollte sich Alessandro melden, gebe ich Ihnen umgehend Bescheid. Das verspreche ich.“ Plötzlich bereute sie es, die schweren Vorhänge geschlossen zu haben. In dem luxuriösen Schlafraum war es viel zu schummerig und intim.

Ella spürte ihr Herz ganz weit oben im Hals schlagen.

„Müssen Sie wirklich gehen?“ Santos Stimme klang rau und seltsam verletzlich.

„Santo, bitte …“ Sie wollte jetzt nicht über einen möglichen Jobwechsel mit ihm debattieren. „Ich muss an meine Karriere denken und …“

„Das meinte ich zwar nicht, aber sollten sie tatsächlich zu Luigi wechseln, würde ich Sie natürlich schrecklich vermissen.“

Ihr Lächeln war schwach. „Vielleicht für ein paar Tage.“

„Wir könnten Ihre Stellung hier ausbauen und um einige Aspekte bereichern“, ließ er nicht locker. „Erinnern Sie sich noch daran, was Sie mir erzählt haben?“

Obwohl sie ahnte, worauf das hinauslaufen würde, stellte sie sich ahnungslos. „Nein.“

„Dass Sie Job und Privates grundsätzlich streng getrennt halten?“

Ihr Puls erreichte schwindelerregende Höhen. „Stimmt, und das ist nach wie vor so.“

Es war an ihrem zweiten Arbeitstag gewesen. Santo hatte sie spontan zum Dinner eingeladen, um etwas mehr über sie zu erfahren und die anstehenden Termine für die nächsten Wochen zu besprechen, wie er überzeugend erklärte. Sie hatten Seite an Seite gesessen, die Köpfe über den Terminkalender gebeugt, als sie seine Hand auf ihrer Wange gespürt hatte.

Sie hatte wirklich ihr Bestes getan, um ihre widerspenstige Lockenmähne in einen strengen Knoten zu zwingen, doch eine vorwitzige blonde Strähne hatte sich aus der Frisur gelöst, und genau die wickelte sich ihr Boss offensichtlich fasziniert um einen Finger.

„Nicht!“

Erfrischenderweise hatte er weder brüskiert reagiert noch sich entschuldigt, sondern die Hand einfach zurückgezogen. „Warum?“, wollte er dann wissen. Es klang aufrichtig neugierig und eine Spur verblüfft. Derartige Reaktionen war er von ihren Geschlechtsgenossinnen zweifellos nicht gewohnt.

„Darauf muss ich nicht antworten. Aber sollten Sie so etwas noch einmal probieren, haben Sie umgehend meine Kündigung auf dem Schreibtisch.“

Ehrlicherweise musste Ella sich eingestehen, dass sie diese Worte inzwischen x-mal bereut hatte.

„Wenn Sie tatsächlich immer noch daran festhalten, haben wir ein Problem …“

Seine tiefe raue Stimme holte sie in die Gegenwart zurück und jagte ihr heiße Schauer über den Rücken. Obwohl es ein Anachronismus zu sein schien, an Santo Corretti und Moral in einem Atemzug zu denken, musste sie zugeben, dass er ihr harsches Statement klaglos akzeptiert hatte – abgesehen von einigen Plänkeleien und charmanten Flirtversuchen, gegen die sie auch keinen Einwand erhob.

Seine Finger hatte er fortan jedenfalls bei sich behalten … bis zu diesem Moment.

Santo strich ganz sacht über ihren nackten Unterarm und ließ Ella alle Zeit der Welt, ihn zurückzuziehen.

Doch das brachte sie nicht fertig, im Gegenteil. Sie wollte mehr!

Dieses Eingeständnis war zwar keine Überraschung, jagte ihr aber trotzdem auch dieses Mal einen gehörigen Schreck ein … und reizte ihre Neugierde. Wie es wohl sein mochte, von ihm geküsst zu werden?

Fasziniert beobachtete Santo das lebhafte Mienenspiel seiner spröden PA. Die letzte Nacht war höllisch gewesen und hatte ihn völlig ausgelaugt. Und die Grenzen, die Ella bei ihrem Arbeitsantritt abgesteckt hatte, schienen unüberwindlich. Darum wollte er lieber nichts überstürzen. Doch trotz Erschöpfung und Benommenheit hatte Santo plötzlich das untrügliche Gefühl, dass ihre Festung ins Wanken geriet.

Nur nicht so hastig! mahnte er sich zur Geduld, sonst schlage ich das scheue Wild doch noch in die Flucht.

„Santo, ich …“ Sie vergaß, was sie hatte sagen wollen, als er einen Finger auf ihre Lippen legte. Bedächtig, fast zärtlich, fuhr er die sanft geschwungenen Konturen nach, und Ella glaubte, vor Aufregung und Wonne vergehen zu müssen. Sie hatte so viel über diesen Mann gehört und öfter von ihm geträumt, als sie je zugeben würde. Aber nie hätte sie erwartet, ihn so sensibel und zurückhaltend zu erleben. Irgendwie fühlte sie sich selbst dadurch mutiger und selbstsicherer, und als Santo sanft ihre Lippen öffnete, nahm sie seine Fingerkuppe spielerisch zwischen die Zähne.

Mehr Aufforderung brauchte er nicht.

Das Nächste, was Ella spürte, war sein fester, fordernder Mund auf ihrem. Bereitwillig kam sie ihm entgegen. Nichts war fremd, so als hätten sie sich schon hundert Mal geküsst. Jeder schien zu wissen, was der andere wollte. Darum zuckte sie auch nicht zurück, als sie seine Hand auf ihrer Brust fühlte, sondern drängte sich ihm hungrig entgegen.

Dass er unter der dünnen Bettdecke nackt war, machte das Ganze noch aufregender, hielt Ella aber gleichzeitig die unglaubliche Intimität der Situation vor Augen. Halbherzig versuchte sie, sich zurückzuziehen, doch das ließ Santo nicht zu. Seine Libido schrie nach Erfüllung und sein verletzter Stolz nach Genugtuung. Zu lange hatte er sich von seiner prüden PA abgewiesen gefühlt.

„Tu mir das nicht an …“, murmelte er heiser, schlug die Decke zurück und zog Ella mit einem Ruck auf sich.

Kein Zweifel, sein Verlangen stand ihrem in nichts nach! Ungeduldig schob Santo ihren Rock hoch, umfasste die knackigen Pobacken und bewegte rhythmisch und fast aggressiv die schmalen Hüften.

Ella stockte der Atem. Was nicht mehr als ein heißer Kuss hatte werden sollen, drohte ihre sichere Welt aus den Angeln zu heben. Dass ihrem Boss der Ruf anhaftete, ein notorischer Verführer zu sein, war für sie natürlich kein Geheimnis, allerdings konnte sie erst jetzt aus erster Hand bestätigen, wie heiß er wirklich war!

Mit fiebrigen Händen erforschte er jede verlockend weibliche Kurve, die Ella ihm viel zu lange vorenthalten hatte. Heute würde er endlich für die Hölle entschädigt, die sie seinem männlichen Ego bereitet hatte. Darum wollte er jede einzelne Sekunde gründlich auskosten und tat alles, um Ella mit Händen, Lippen und Zunge zum Gipfel der Ekstase zu treiben. Denn wenn er erst in ihr war, konnte er sich unter Garantie nicht zurückhalten. Dafür hatte er einfach zu lange auf sie warten müssen.

„Santo …“ Sie war ebenso atemlos wie er. „Versuch ein wenig zu schlafen …“

Hatte er sich gerade verhört? Zu spät begriff er, dass Ella ihr heißes Liebesspiel unterbrochen und sich ihm entzogen hatte. Er wollte nach ihr greifen, doch sie stand bereits neben dem Bett, schob den schmalen Bleistiftrock herunter und strich ihn glatt.

Autor

Maisey Yates
Schon von klein auf wusste Maisey Yates ganz genau, was sie einmal werden wollte: Autorin.
Sobald sie mit einem Stift umgehen und ihre erste Worte zu Papier bringen konnte, wurde sie von der Leidenschaft fürs Schreiben gepackt und bis heute nicht mehr losgelassen.

Von da an konnte nichts und niemand...
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