Julia Extra Band 551

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DIE GEHEIMNISVOLLE SPANIERIN von CAROL MARINELLI

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  • Erscheinungstag 23.04.2024
  • Bandnummer 551
  • ISBN / Artikelnummer 9783751525633
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carol Marinelli, Dani Collins, Jennifer Faye, Heidi Rice

JULIA EXTRA BAND 551

PROLOG

„Carmen, esto no ha terminado …“

Carmen, das hier ist noch nicht vorbei.

Der gezügelte Ärger in Sebastián Romeros Stimme würde vermutlich den meisten Menschen Angst einjagen, aber Carmen empfand nur tiefe Erschöpfung.

Die drei Romero-Geschwister standen in den frisch verwaisten Pferdeställen.

Als Carmens Brüder gehört hatten, dass ihre Schwester die Pferde weggebracht hatte, hatten sie sofort alles stehen und liegen lassen, um im Konvoi von der luxuriösen Sherry-Bodega der Familie im Herzen von Jerez zu dem Anwesen aufzubrechen, das schon bald zum Objekt eines bitteren Rechtsstreits werden sollte.

Carmens Brüder trugen schicke Anzüge und Sonnenbrillen. Sie waren beide dreißig Zentimeter größer als ihre Schwester, die eine Reithose und trotz der warmen Frühlingssonne einen Pullover trug.

„Papá hat immer gesagt, dass er dir die Hazienda vererben will“, beharrte Sebastián. Er wollte, dass sie blieb und kämpfte. „Maria kam erst ins Spiel, als er im Sterben lag.“

Keiner der Romero-Geschwister nannte Maria Mutter oder Mamá. Sie hatten die vertrauliche Anrede einer nach dem anderen fallen lassen – schon allein aus Selbstschutz.

Alejandro schaltete sich ebenfalls ein: „Wenn du jetzt gehst, servierst du ihr die Hazienda quasi auf dem Silbertablett!“

Carmen hob eine Hand. „Seid endlich still!“ Ihr Vater war erst vor einem halben Jahr gestorben, und die Erwähnung seines Todes riss die Wunde jedes Mal von Neuem wieder auf. „Es ist doch nur für drei Monate, und ich habe schon vor Papás Tod angekündigt, eine Auszeit zu brauchen.“

Alejandro nickte seinem älteren Bruder zu. „Das hat sie tatsächlich.“

Carmen entzog sich seiner Berührung, als er ihr einen Arm um die Schultern legte. Sie konnte förmlich spüren, wie er erschrak, weil sie so dünn geworden war.

„Carmen …“ Er schloss die Augen, um seine nächsten Worte mit Bedacht zu wählen. „Wenn du die Pferde anderswo unterbringst, machst du es ihr viel zu leicht.“

„Dann soll ich sie also hierlassen, damit Maria sie genauso vernachlässigen kann wie uns?“

Die Romero-Geschwister waren zu gleichen Teilen Erben der berühmten Sherry-Bodega und zahlreicher Immobilien im In- und Ausland. Doch abgesehen von einigen oberflächlichen Ähnlichkeiten wie dem rabenschwarzen Haar und dem hitzigen Temperament waren sie komplett unterschiedlich. Niemand wusste, ob es an den Genen lag oder der Sozialisation, aber die Aufs und Abs ihrer Kindheit hatten drei sehr einzigartige Persönlichkeiten geformt.

Sebastián, zehn Jahre älter als Carmen, war ein knallharter Geschäftsmann. Als Privatmensch war er seit seiner Hochzeit mit seiner Frau Anna zwar etwas milder geworden, aber beruflich war er genauso unsentimental wie eh und je. Für ihn war Maria de Luca nichts weiter als ein lästiger Störfaktor. Seit José Romeros Tod würde er sie am liebsten komplett aus dem Leben der Romeros löschen, unter anderem, indem er ihr Foto von dem Etikett des berühmten Sherrys entfernen ließ, den sie produzierten.

Alejandro, jeweils fünf Jahre zwischen Sebastián und Carmen geboren, war kompromissbereiter. Er respektierte die letzten Wünsche ihres Vaters weitestgehend und hatte auch nichts dagegen, dass Maria das Gesicht der Marke blieb. Was die Hazienda anging, war er jedoch bereit zu kämpfen. Seiner Meinung nach stand sie seiner Schwester zu.

Die Anwälte der Romeros standen schon in den Startlöchern, um das Testament José Romeros anzufechten.

Es fehlte nur noch Carmens Zustimmung …

Mit ihren sechsundzwanzig Jahren war sie das Küken der Familie. Was ihren Hass auf Maria anging, war sie sich mit Sebastián immer einig gewesen, aber seit dem Tod ihres Vaters war bei ihr irgendwie die Luft raus.

„Carmen!“, sagte Sebastián eindringlich. „Du solltest bleiben und kämpfen, nicht weglaufen.“

„Ich laufe nicht weg.“ Carmens Stimme klang immer ein wenig heiser, aber heute Morgen war sie noch rauer als sonst. „Ich brauche einfach mal eine Auszeit.“

„Aber warum ausgerechnet in den USA?“, hakte Alejandro nach.

„Weil es das Land der Freiheit ist“, antwortete sie schlicht. „Und ich will gerade frei sein.“

„Und warum Los Angeles?“

„Vielleicht werde ich ja Filmstar oder Model oder …“, sie unterdrückte einen seltenen Anflug von Verlegenheit, „… Tänzerin.“

„Carmen, du hasst Glamour!“

Stimmt, aber abgesehen von ihren Brüdern wusste das niemand.

Wenn es sein musste, konnte sie sich durchaus für die Öffentlichkeit stylen, aber am liebsten trug sie Reitersachen und an besonders heißen Tagen ein Bikinioberteil und Shorts.

„Außerdem verabscheust du tanzen“, fügte Sebastián hinzu. „Und nimmst von niemandem Anweisungen entgegen.“

Carmen funkelte ihren Bruder genervt an. „Weißt du eigentlich, wie viel Disziplin reiten erfordert?“

„Ich meine abgesehen vom Reiten.“

„Das mit der Schauspielerei war nur ein Witz! Ich werde in einem Café oder Restaurant arbeiten.“

„Aber warum?“, fragte Sebastián verwirrt. „Du bist doch nicht auf das Geld angewiesen.“

„Vielleicht muss ich mir einfach mal beweisen, dass ich auch allein klarkommen kann.“

„Carmen …“ Er betrachtete ihre gepflegten Hände – obwohl sie praktisch in den Pferdeställen lebte, trug sie dort grundsätzlich Handschuhe. „Ich habe dich nie auch nur eine Kaffeetasse in die Küche bringen sehen, geschweige denn abwaschen. Abgesehen davon wirst du bestimmt keinen Vormittag ohne Pferde überstehen.“

„Ich kann mich schon gar nicht mehr an einen Vormittag ohne Pferde erinnern“, sagte sie seufzend. „Und an keinen einzigen Moment, an dem ich keine Romero war.“

„Soll heißen?“

Carmens vollständiger Name war Carmen Romero de Luca, aber in Spanien verzichtete sie auf ihren zweiten Nachnamen und arbeitete unter dem Namen Carmen Romero. Sie war eine brillante Dressurreiterin, die die berühmten tanzenden Pferde Andalusiens ritt.

Und die einzige Tochter José Romeros.

Die Menschen hielten sie daher für hochnäsig und verwöhnt – nicht ganz zu Unrecht.

Dabei war Carmen tief im Innern oft einsam und verängstigt, unter anderem auch wegen ihrer negativen Erfahrungen mit Männern.

Bei ihrem letzten Freund hatte sie zufällig mit angehört, wie er sich jemanden gegenüber darüber beklagt hatte, wie anstrengend und bedürftig sie sei. Entsetzt hatte sie eine Hand vor den Mund geschlagen. Ihre Mutter hatte ihr nämlich mal das Gleiche vorgeworfen, und sie konnten sich unmöglich beide irren, oder?

Damit war ihr Rufmord jedoch noch nicht vorbei gewesen. Der Mann, an den sie ihre Unschuld hatte verlieren wollen, hatte seinem Freund nämlich auch erzählt, dass sie so nach Pferd stank, dass er sich jedes Mal die Nase zuhalten musste, wenn er sie küsste.

„Schließ einfach die Augen und denk an all das Romero-Geld“, hatte der Freund gewitzelt.

Aber im Grunde war nicht ihr Ex-Freund derjenige gewesen, der ihr das Herz gebrochen hatte – das hatte ihre Mutter nämlich schon lange vor ihm erledigt. Inzwischen war Carmen schon fast so weit zu glauben, dass es sicherer wäre, ihr gebrochenes Herz mit ins Grab zu nehmen, statt noch mal das Risiko einzugehen, es zu verschenken.

Sie betrachtete ihre beiden Brüder. Sie hatten die gleichen dunklen Augen wie sie, das gleiche schwarze Haar und die gleiche olivbraune Haut. Sie hatten die gleiche DNA. Doch obwohl sie alle aus demselben kaputten Elternhaus stammten, waren die beiden im Gegensatz zu ihr so selbstsicher, so voller Selbstvertrauen …

Carmen hingegen tat nur so als ob.

Und obwohl sie tatsächlich verwöhnt war – schließlich war sie das Lieblingskind ihres Vaters gewesen –, würde sie all ihren Reichtum sofort gegen ihren Seelenfrieden eintauschen.

Sie musste endlich ihren eigenen Weg gehen, sich selbst ihren Lebensunterhalt verdienen – auf eigenen Füßen stehen, statt vom Reichtum ihrer Familie zu profitieren oder sich auf dem Rücken eines Pferds zu verstecken.

„In Amerika werde ich mich Carmen de Luca nennen“, sagte sie zu ihren Brüdern.

„Was, du willst ihren Namen benutzen?“, fragte Sebastián irritiert. „Du hasst Maria!“

„Mag sein, aber ihr Name gibt mir die Chance, frei zu sein.“

„Ich dachte, du liebst deine Pferde“, wandte Alejandro ein.

Das hatte sie auch immer gedacht, aber war das wirklich so?

Ihr Vater hatte sie in ihrer Pferdeliebe immer unterstützt. Niemand wusste, dass ihr Wunsch zu reiten anfangs nur ein Akt der Rebellion gewesen war. Ihr einziger noch dazu …

Sie war noch ganz klein gewesen, als sie mit angehört hatte, wie ihr papá mit ihrer mamá telefonierte. Ihr Herzschlag hatte sich vor freudiger Erregung beschleunigt, weil sie über sie sprachen …

„Flamencostunden?“, fragte Papá. „Sie ist erst vier!“

Carmen huschte zum Studio ihrer Mutter und öffnete die Tür. Der Raum dahinter war genauso verlassen wie Marias Kinder, aber Carmen schlich sich trotzdem öfter hinein. Überall waren Tücher, Kastagnetten und Schuhe mit beschlagenen Absätzen und Sohlenspitzen.

Manchmal schlang Carmen sich eins der bunten Tücher um die Schultern, schlüpfte mit den kleinen Füßchen in ein Paar Schuhe, steckte sich eine Seidenrose ins lange, dunkle Haar und lächelte ihrem rundlichen Körper in der verspiegelten Wand zu. Einmal hatte sie sich sogar die Lippen und Wangen rot geschminkt und eine hübsche Kette um den Hals geschlungen …

Sebastián, der damals schon ein Teenager gewesen war, hatte ihr später den Lippenstift vom Gesicht gewaschen.

„Ich will tanzen wie Mamá“, hatte sie verkündet.

Denn Mamá war eine berühmte Flamencotänzerin. Carmen hatte sie selbst tanzen sehen – und das nicht nur auf den Fotos, die an den Wänden des Studios und in der Bar der Bodega hingen, sondern im Fernsehen. Dort hatte ihre Mutter mit ihrer klangvollen Stimme auch Interviews gegeben. Einmal hatte sie dabei sogar gesagt, wie sehr es ihr das Herz brach, von ihren Kindern getrennt zu sein.

Der Mann hatte sie daraufhin gefragt, ob sie eines Tages mit ihrer Tochter auftreten würde. Mamá hatte nicht geantwortet, sondern stattdessen über die Hingabe gesprochen, die das Flamencotanzen erforderte. Trotzdem hatte Carmen sofort davon geträumt, neben ihrer berühmten, schönen Mamá auf der Bühne zu stehen …

Sie würde eine kleine Maria de Luca sein, und Mamá würde liebevoll einen Arm um sie schlingen.

Und jetzt würde Mamá kommen, um sie zu unterrichten!

Carmens Herz klopfte voller Vorfreude, als sie hörte, wie Papá auflegte.

„Mamá hat sich die Fotos von dir angesehen, die ich ihr geschickt habe. Sie findet, du bist zu …“ Er verstummte, bevor er hinzufügte: „Sie will, dass du Flamencounterricht nimmst.“

„Au ja!“ Aufgeregt hüpfte Carmen auf und ab. „Wann? Wann kann ich anfangen?“

„Bald. Ich werde Eva anrufen.“

„Eva?“ Carmen blinzelte überrascht. Eva war die Tänzerin, die den Kindern in Carmens teurem Privatkindergarten Unterricht gab. „Aber Mamá ist viel besser als Eva!“

In diesem Moment war ihr der schreckliche Verdacht gekommen, dass ihre Mamá vielleicht doch nicht zu ihr zurückkehren würde.

Ja, Carmen war tatsächlich anstrengend und bedürftig, denn an jenem Abend rief sie nach ihrer Mutter, wieder und wieder. Sie wollte weder ihren Vater noch ihre Brüder noch Paula, ihre Nanny.

„¡Quiero mi mamá!“

Ich will meine Mummy!

Als Carmen endlich akzeptiert hatte, dass ihre mamá nicht zurückkehren würde – niemals wieder –, hatte sie sich im Studio ihr langes schwarzes Haar abgeschnitten. Und am Tag ihrer ersten Flamencostunde hatte sie sich geweigert, ihr Zimmer zu verlassen.

„Carmen …“, hatte ihr Papá geseufzt, erschöpft von den Mätzchen seiner melodramatischen Tochter. „Mamá will, dass du dich mehr bewegst.“

„Ich will aber nicht Flamenco tanzen wie Maria!“ Das war das erste Mal gewesen, dass Carmen ihre Mutter so genannt hatte. „Ich will reiten!“

Schon mit fünf hatte sie ihren ersten Preis gewonnen. Ihr Vater hatte über die vermeintliche Unerschrockenheit seiner Tochter gelacht, obwohl Carmen bei dem Turnier in Wirklichkeit vor Angst fast gestorben wäre.

Sogar jetzt noch hatte sie manchmal Angst, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ.

Ihr Papá war so stolz auf sie gewesen, dass er keine Kosten gescheut hatte, ihre Reitkünste zu fördern, hatte aber ansonsten zu sehr um seine abwesende Frau getrauert, um wirklich für Carmen da zu sein.

Alejandro war derjenige gewesen, der ihr irgendwann geraten hatte, jegliche Hoffnung auf Marias Rückkehr fahren zu lassen, und Sebastián hatte mit ihr gesprochen, nachdem sie ihre Periode bekommen hatte. Im Grunde hatten ihre Brüder sie besser großgezogen als ihre Eltern.

Und jetzt wollten sie, dass sie kämpfte.

„Papá war nicht mehr bei klarem Verstand, als er sein letztes Testament gemacht hat“, sagte Alejandro, als Carmen ihre Brüder zu ihren Autos zurückbegleitete.

„Das war er nie, wenn es um Maria ging“, wandte Carmen achselzuckend sein.

„Mag sein“, stimmte Alejandro zu. „Aber er hat immer gesagt, dass das hier dein Zuhause ist.“

Das stimmte.

Bei diesem Streit ging es nicht um Geld. Die Hazienda machte letztlich nur einen Bruchteil des Gesamtvermögens der Familie aus.

„Außerdem war es auch unser Zuhause“, fügte Alejandro hinzu, als sie in der Einfahrt ankamen.

Carmen fiel sein schmerzerfüllter Blick auf. Sie war anscheinend nicht die Einzige, die in ihrer Kindheit gelitten hatte.

„Maria hat sich nicht die Bohne für Papá interessiert, bis sie erfuhr, dass er im Sterben lag!“, sagte Sebastián. „Fünfundzwanzig Jahre lang hatte sie keinen Fuß mehr in dieses Haus gesetzt.“ Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, als ihm auffiel, dass Carmen seinem Blick auswich. „Verschweigst du mir etwa etwas?“

„Natürlich nicht!“, protestierte sie.

„Wirklich nicht? Wenn wir das Testament anfechten, kommt sowieso alles ans Tageslicht.“ Sebastián fixierte seine Schwester streng, aber sie wich seinem Blick immer noch aus. „Wie du willst“, sagte er seufzend. „Ich kann ja nachvollziehen, dass du einen Tapetenwechsel brauchst, aber du solltest nichts überstürzen. Lass mich erst mal mit Dante reden.“

Materiell fehlte es den Romeros wirklich an nichts. Capitán Dante war der Kapitän von Sebastiáns Luxusjacht.

„Ich werde ihn bitten, eine Abschiedsfeier für dich zu organisieren. Anna und Emily würden dich vor deiner Abreise gern noch mal sehen.“

„Natürlich.“ Nickend küsste Carmen ihn auf eine Wange und sah ihm hinterher, als er zu seinem Wagen ging. Hoffentlich würde Alejandro auch bald aufbrechen.

Er musterte sie besorgt. „Carmen, was ist los?“

Sie seufzte tief. „Nichts. Ich vermisse Papá einfach.“

„Ich weiß.“

„Ich habe irgendwie das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben.“

Ihr papá hatte immer betont, wie gern er sie eines Tages zum Altar führen würde, aber die Männer, die er für sie im Auge gehabt hatten, hatten ihr nie zugesagt, und wenn sie sich doch mal mit einem getroffen hatte, war das Ganze jedes Mal gründlich in die Hose gegangen. Anscheinend hatte sie ein Problem mit Nähe. Sie hatte solche Angst vor einer Zurückweisung, dass sie gar nicht erst jemanden an sich heranließ.

Vor allem bereute sie die endlosen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater nach dessen Diagnose. Sie hatte absolut kein Verständnis dafür gehabt, dass er ihre Mutter wieder zurückgenommen und sie dann auch noch so hartnäckig in Schutz genommen hatte. Und jetzt wollten ihre Brüder in ihrem Namen sein Testament anfechten …

„Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt kämpfen will“, gestand sie. Ihre Wut auf ihre Mutter war seit dem Tod ihres Vaters komplett verpufft. „Vielleicht hat sie sich ja doch geändert …“

„Carmen!“, fiel Alejandro ihr ungeduldig ins Wort. „Du machst einen Fehler.“

„Wahrscheinlich. Aber vielleicht will sie ja wirklich wieder hier leben, bei ihrer Familie …“ Sie verstummte beim Anblick seines grimmigen Gesichtsausdrucks.

„Lass dich bloß nicht von ihr weichklopfen“, warnte Alejandro.

Seine Worte versetzten ihr einen Stich. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sich vieles verändert. Wahrscheinlich hatte Alejandro recht, und sie wurde wirklich zu weichherzig. Deshalb hatte sie ihren Flug nach L.A. auch schon gebucht, ohne ihren Brüdern davon zu erzählen.

Noch heute Abend würde sie abreisen. Es würde daher keine tränenreiche Abschiedsfeier auf der Jacht geben.

Je eher sie hier wegkam, desto besser.

Alejandro und Emily wollten bald mit ihrer kleinen Tochter Josefa nach England reisen. Was war, wenn sie beschlossen, dort zu bleiben?

Sebastián und Anna planten gerade eine längere Reise auf ihrer Jacht, um seine Adoption von Annas Tochter Willow zu feiern.

Carmens Vater war tot …

Und Maria konnte jederzeit wieder zu ihrer geliebten Flamencokarriere zurückkehren und Carmen im Stich lassen, genauso wie vor all den Jahren.

Letztlich konnte sie sich auf niemanden verlassen.

So waren die Menschen eben. Sie ließen sie alle im Stich.

Sie hatte es so satt zu kämpfen! Sie wollte das nicht mehr, weder für ein Haus noch Land … noch um Liebe. Sie war zu erschöpft dafür. Ihre Trauer saß noch zu tief. Alejandro hatte recht, sie wurde wirklich zu weichherzig.

Aber heute Abend war endgültig Schluss damit, denn diesmal war sie diejenige, die ging. Von jetzt an würde sie das einfach immer so machen!

1. KAPITEL

Elias Henley war bei mehr Filmpreisverleihungen gewesen als die meisten Filmstars. Sein volles braunes Haar war auch für diesen Anlass perfekt geschnitten, sein markantes Kinn glatt rasiert, und sein Smoking saß tadellos. Optisch sah er aus wie ein typischer Hollywood-Frauenschwarm. Jemand, der so attraktiv war, musste ja schließlich berühmt sein, oder?

Ein paar Leute, die ihn nicht einordnen konnten, beobachteten ihn tuschelnd, und wer ihn kannte, behandelte ihn mit einer gewissen Ehrerbietung. Sein Namiki-Füller könnte genauso gut mit flüssigem vierundzwanzigkarätigem Gold gefüllt sein, so viel war seine Unterschrift wert.

Doch trotz seines guten Aussehens und seiner Eleganz wirkte er hier etwas fehl am Platz. Sein schönes Gesicht war nämlich nie unterm Messer gewesen, und auch sein Haar – sogar die silbrigen Strähnen darin – war Natur pur. Die Farbkombination verlieh ihm etwas Distinguiertes, und seine Geheimratsecken machten ihn sogar noch sexyer. Um seine Augen vertieften sich Fältchen, und seine Stirn runzelte sich sogar, wenn er emotional wurde …

So wie in diesem Moment zum Beispiel.

„Hey, Elias!“

Ein Filmproduzent steuerte auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln und Small Talk zu machen. Oder vielmehr machte Elias Small Talk. Der Mann wollte nämlich nur wissen, ob die Finanzierung seines neuen Projekts schon Fortschritte machte, und konnte seine Ungeduld kaum verbergen.

„Ich habe gerade mit Ihrem Vater über …“

„Wie haben Sie ihn in diesem Getümmel nur gefunden?“, lenkte Elias geschickt ab und sah sich suchend um. „Ah, da ist er ja.“

Wie immer bei solchen Events war Elias Henley ganz in seinem Element, während seine Frau Eleanor lächelnd und nickend neben ihm stand. Auch heute würde die Filmfinanzierungsgesellschaft von Elias’ verstorbenem Großvater garantiert nicht nur gewürdigt, sondern auch mit Preisen überhäuft werden. Vorerst gab es jedoch erst mal Champagner – eine gute Gelegenheit, um Beziehungen zu knüpfen. Elias hasste solche Events.

Normalerweise überließ er die Reden bei solchen Anlässen immer seinem Vater, der ein brillanter Redner war. Diesmal kam Elias jedoch nicht darum herum. Er musste nämlich zum fünften Mal den Empfänger eines Preises bekannt geben, der nach seinem verstorbenen Zwillingsbruder benannt worden war – ein vollfinanziertes Stipendium für ein Studium an jenem kalifornischen College, an dem viele von Elias’ erfolgreichen Familienmitgliedern studiert hatten.

Elias würde sich bei den Gästen für ihre Spenden bedanken und ihnen versichern, wie sehr dieses Stipendium das Leben des glücklichen Empfängers zum Positiven verändern würde. Anschließend würde er sich bei Seraphina, der Witwe seines Bruders, für ihre Mitarbeit an diesem Preis bedanken, den sie zusammen mit seiner Mutter ins Leben gerufen hatte. Ihm graute schon davor.

Sein Gesichtsausdruck gab nichts preis, als er dem Produzenten zuhörte, der nicht müde wurde zu betonen, wie großartig das Drehbuch war, das Elias gerade auf seine Erfolgsaussicht hin prüfte.

„Es wird garantiert ein Hit“, fügte der Produzent in dem Glauben hinzu, dass Elias nur darauf wartete, das zu hören.

Leider stieß er bei ihm damit auf taube Ohren. Elias hatte cineastische Erfolgsgarantien nämlich gründlich satt. „Sie hören von mir“, unterbrach er den Redefluss des Mannes mit einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass dieses Gespräch für ihn beendet war. Der Produzent trollte sich wieder.

„Mann, warst du unhöflich!“, beschwerte sich seine Begleiterin Wanda, die Elias immer zu solchen Anlässen mitnahm. „Ich hätte mich sehr gern noch mit ihm unterhalten. Du hättest mich wenigstens vorstellen können! Wo liegt eigentlich dein Problem?“

Wo soll ich nur anfangen? fragte sich Elias, als sein Blick auf Seraphina und ihren Mann Vincent fiel, die gerade mit seinen Eltern plauderten.

Nach all den Jahren sollte er ihr eigentlich nur das Beste wünschen.

Aber das tat er nicht.

Als er eine leichte Wölbung unter ihrem goldfarbenen Kleid bemerkte, fiel ihm ein, dass Vincents Team ihm vor zwei Wochen gratuliert und mit ihm angestoßen hatte. Elias und Vincent waren inzwischen Mitglieder gegnerischer Poloteams, waren jedoch noch gute Freunde.

Elias richtete den Blick auf seine Mutter, die wie immer äußerst elegant aussah und unaufhörlich lächelte. Er merkte ihr ihre innere Anspannung trotzdem an. Falls er mit seinem Verdacht recht hatte, konnte er nur hoffen, dass Seraphina und Vincent die gute Neuigkeit nicht ausgerechnet heute verkünden würden. Er würde sie seiner Mutter lieber unter vier Augen mitteilen.

Während er höflich mit weiteren Gästen plauderte, wurde er innerlich immer rastloser. Er mochte wie ein Filmstar aussehen, würde jedoch viel lieber reiten – entweder Frauen oder Pferde.

Trotz seines Verschleißes an Liebhaberinnen würde er sich nicht gerade als Playboy bezeichnen. Mit seinen fünfunddreißig Jahren war er nämlich schon lange kein Boy mehr, und schon gar nicht war er ein Player. Sogar Polospielen nahm er äußerst ernst. Sein Team war noch ziemlich neu, hatte aber schon einige beeindruckende Erfolge verbuchen können …

„Elias?“

Stirnrunzelnd drehte er sich um, als er Seraphinas Stimme hinter sich hörte. Wanda nutzte die Gelegenheit, sich auf die Suche nach dem Produzenten zu machen, dem Elias vorhin die kalte Schulter gezeigt hatte.

„Ganz allein heute?“, fragte Seraphina, während sie von einer Kellnerin ein Glas Champagner entgegennahm.

Vielleicht war sie ja doch nicht schwanger …

Elias sah ihr in die kalten blauen Augen und das hübsche Porzellanpuppengesicht, das er verabscheute. „Scher dich zum Teufel!“

Sie ignorierte seine Worte einfach. „Ich habe dich schrecklich vermisst“, sagte sie rasch. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denken …“

„Muss ich etwa noch deutlicher werden?“, fiel er ihr leise, aber mit einem so drohenden Unterton in der Stimme ins Wort, dass sie rasch davoneilte.

„Sorry, Darling …“

Wanda war wieder zurück. Als sie Anstalten machte, ihm seine Krawatte zurechtzuzupfen, wich er instinktiv zurück und wandte den Kopf ab. Er hasste überflüssige Berührungen!

Wanda ließ die Hände wieder sinken und nahm ein Glas von einem Tablett, das die Kellnerin ihr hinhielt. „Wären wir ein richtiges Paar, würde man öffentliche Zuneigungsbekundungen von uns erwarten“, sagte sie gedehnt.

„Wären wir ein richtiges Paar, wüsstest du, wie sehr ich gespielte Zuneigungsbekundungen verabscheue …“ Elias vergaß seine Irritation schlagartig, als er die Andeutung eines Lächelns auf den vollen Lippen der Kellnerin sah. Nicht, dass es ihm peinlich war, dass sie das Gespräch wahrscheinlich mit angehört hatte. Das hier war schließlich L.A., da war vieles nur schöner Schein.

Elias Henley hatte nämlich keine Beziehungen.

Seine Frauengeschichten waren alle nur oberflächlich, und das aus gutem Grund – er traute niemandem und legte keinen Wert auf Nähe.

Von seinem Arrangement mit Wanda profitierten sie beide: Er brauchte in der Öffentlichkeit eine schöne Frau an seiner Seite, und sie nutzte seine guten Kontakte, um ihre Schauspielkarriere voranzutreiben.

Und was Sex anging – der war für ihn nichts weiter als ein Grundbedürfnis. Er befriedigte es nur nicht mit Wanda.

Die Kellnerin lächelte immer noch stumm in sich hinein, was Elias dann doch etwas überraschte, denn wenn das Personal einen bei solchen Events belauschte, dann nie so offensichtlich.

Er sah ihr direkt in die mandelförmigen dunklen Augen.

Weder errötete sie noch senkte sie den Blick oder huschte schuldbewusst davon. „Möchten Sie auch ein Glas Champagner?“ Sie hatte eine heisere Stimme und einen starken spanischen Akzent.

Er schüttelte den Kopf. Es gab hier so viele Kellner mit Tabletts, dass es völlig überflüssig war, ihm extra einen Drink anzubieten. Wenn er Champagner wollte, brauchte er nur die Hand auszustrecken. „Nein danke.“ Er drehte sich wieder zu Wanda um, der die Kellnerin zu seiner Überraschung noch gar nicht aufgefallen zu sein schien. Weder ihr belustigtes Lächeln noch ihr Herumlungern …

Er verdrängte die junge Frau und den völlig bedeutungslosen Blickwechsel mit ihr – ein flüchtiger Moment, den er sowieso in wenigen Sekunden wieder vergessen haben würde.

Er konnte ihn jedoch nicht vergessen. Es war ihm fast so vorgekommen, als hielte die junge Frau genauso wenig von solchen Events wie er.

Er hatte auch immer noch ihre heisere Stimme mit dem spanischen Akzent im Ohr, als Wanda ihn fragte, ob er sich schon auf seine Rede vorbereitet hatte.

„Nicht nötig“, antwortete er achselzuckend. „Sie ist seit fünf Jahren gleich.“

Beim ersten Mal – acht Monate nach dem Tod seines Zwillingsbruders – wäre Elias gern vom Scheinwerferlicht geblendet gewesen, um nicht seine immer noch von Joels plötzlichem und tragischem Tod schwer gebeutelte Familie sehen zu müssen. Es war das erste Mal gewesen, dass ein Familienmitglied in der Öffentlichkeit darüber gesprochen hatte.

Elias’ Hals war wie zugeschnürt gewesen. So, als würden sich ihm zwei Hände um den Hals legen und immer fester zudrücken … Elias Henley, der sonst nur beim Reiten ins Schwitzen kam, war kalter Schweiß den Rücken runtergeflossen.

Er hasste sein Leben als Repräsentant der Firma. Im Grunde hatte er es schon immer gehasst, auch vor dem Tod seines Bruders. Er hatte nie Lust gehabt, in die Welt der Filmfinanzierung einzusteigen, weil er sich schon immer viel mehr für Polo und Pferde interessiert hatte. Aber er hatte sein Los bereitwillig akzeptiert, bis …

Elias griff nach einem Glas Wasser statt Champagner, um einen klaren Kopf zu behalten und den plötzlichen Kloß in seinem Hals hinunterzuspülen. Seltsamerweise empfand er fast so etwas wie Enttäuschung, als er sah, dass die Kellnerin weg war.

Es war nicht die Rede, die ihm Kopfzerbrechen bereitete. Oh nein, seine schlechte Laune hatte ganz andere Ursachen.

„Dein Vater kommt“, warnte Wanda ihn.

William Henleys Dauerlächeln erstarb, als er bei seinem Sohn ankam. „Hast du kurz Zeit, Elias? Ich habe vorhin mit dem Vorstand der Stiftung geredet. Wenn wir das Stipendium weiterhin voll finanzieren wollen …“

„Mir ist das Problem bewusst.“

Mit der finanziellen Situation der Stiftung stand es leider nicht zum Besten. Elias hatte deswegen sogar schon persönlich eine großzügige anonyme Spende gemacht – und das keineswegs uneigennützig. Er wollte nicht, dass seine Mutter erfuhr, dass das Interesse der Spender nachließ.

„Die Leute wollen etwas anderes von dir hören als die immer gleiche oberflächliche Rede. Sag ihnen doch, wie sehr du Joel vermisst oder …“

„Die PR-Abteilung hat mich schon instruiert“, fiel Elias seinem Vater ins Wort.

„Wenn du nicht über dich selbst reden willst, rede doch über Joels Hochzeit. Erzähl den Leuten, wie glücklich Joel und Seraphina waren.“

„Das wäre ihrem jetzigen Ehemann gegenüber nicht gerade fair, oder?“

William Henley seufzte ungeduldig. „Dann sprich über die letzten fünf Jahre. Wie du mit deiner Trauer umgegangen bist. Woher du die Kraft zum Weitermachen genommen hast.“ William verstummte für einen Moment, bevor er sein Ass aus dem Ärmel zog: „Du weißt doch, wie viel dieser Preis deiner Mutter bedeutet.“

„Klar weiß ich das.“

Frustriert schloss sein Vater die Augen. „Gib ihnen wenigstens etwas, um Himmels willen! Wäre es wirklich so schlimm für dich, wenigstens ein bisschen Emotionen zu zeigen?“

Als er davonging, schaltete Wanda sich ein. „Täusch doch einfach Emotionen vor. Ich kann dir zeigen, wie man das macht.“

Elias presste verärgert die Lippen zusammen. Er brauchte keine Emotionen vorzutäuschen, denn er hatte durchaus welche. Er behielt sie nur lieber für sich. Das machte er schon seit fünf Jahren so. Wenn er seine Emotionen nämlich erst mal rausließ … Wenn er wagte, die Büchse der Pandora zu öffnen …

Wollt ihr das wirklich? dachte er, als er seinen Vater zu seiner Mutter zurückkehren sah. Ich glaube nicht.

Der Sektempfang war inzwischen vorbei, und die Gäste gingen zu ihren Plätzen. Die Preisverleihung würde nach dem Essen stattfinden. Dieser Abend zog sich immer endlos lange hin, aber danach hatte Elias wenigstens wieder für ein Jahr Ruhe.

Er dachte an Domitian, einen schwierigen Hengst, den er kürzlich gekauft hatte. Das Tier würde ihren abendlichen Ausritt am Strand genauso vermissen wie Elias. Blake, Elias’ Stallmanager, hatte nämlich heute frei, und außer ihnen beiden traute sich niemand an das Pferd heran.

Wanda riss ihn aus seinen Gedanken. „Weißt du, was ich immer mache, wenn ich traurig wirken will?“

Er schüttelte den Kopf. Als Wanda ihm lang und breit von ihren schauspielerischen Tricks erzählte, schweiften seine Gedanken schon wieder ab. Hoffentlich war dieser Abend bald vorbei. Er war heilfroh, als die Desserts gebracht wurden.

Und da war auch wieder die geheimnisvolle Kellnerin.

Diesmal lächelte sie nicht. Ihre Schürze war verrutscht, und sie trug nur zwei kleine Tabletts, während die anderen Kellner drei oder vier hatten. Ihr Haar löste sich aus ihrem Pferdeschwanz, und ihr Gesicht wirkte erhitzt.

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Nein, das tat er nicht, und weil er sich deswegen schuldig fühlte, drehte er sich zu Wanda um und versuchte, sich wieder auf sie zu konzentrieren.

So viele Preise …

Die von Henley Finance finanzierten Filme sahnten kräftig ab, so wie fast jedes Jahr. Der Erfolg der von Elias’ Großvater gegründeten Firma war immer noch ungebrochen.

„Sieh doch nur, Elias. Willst du wirklich bei uns aufhören?“, fragte sein Vater und zeigte auf die Trophäen auf dem Tisch.

Elias biss die Zähne zusammen. Sein Gespräch über seinen möglichen Austritt aus der Firma erst mit seinem Vater und dann mit seiner Mutter war eigentlich privat gewesen.

„Du willst aufhören?“, fragte Seraphina überrascht.

William schnaubte verächtlich. „Und das nur wegen dieser verdammten Polopferde!“

„Vincents Team ist damit ziemlich erfolgreich.“ Seraphina drückte ihrem Mann einen Arm. „Er gewinnt bestimmt den diesjährigen Cup.“ Sie lächelte Elias verschmitzt zu, der jedoch nicht reagierte. „Wer weiß, vielleicht kommt ihr ja beide ins Finale.“

„Elias?“, schaltete seine Mutter sich stirnrunzelnd ein. „Seraphina redet gerade mit dir.“

„Ich glaube, ich muss auf die Bühne“, sagte er, als er zu seiner Erleichterung den Saaldiener auf sich zukommen sah. „Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet?“

Kurz darauf bedankte er sich bei sämtlichen Sponsoren, Spendern und allen Menschen, die diesen Preis ermöglichten, bevor er kurz den Auswahlprozess und die Voraussetzungen für die Bewerbung für das Stipendium schilderte.

Ihm fiel auf, dass sein Vater die Hand seiner Mutter hielt. Vor Joels Tod war sie eine gefragte Innenarchitektin gewesen. Zuletzt hatte sie Elias’ Ranchhaus in Malibu eingerichtet. Seitdem hatte sie seine wiederholten Bitten um Hilfe bei der Modernisierung der Unterkunft für seine Pferdepfleger abgelehnt und ihre Energie stattdessen in dieses Stipendium gesteckt, um die Erinnerung an ihren Sohn wachzuhalten.

Nachdem Elias die übliche Einleitung hinter sich gebracht hatte, ließ er den Blick über das inzwischen ziemlich gelangweilt aussehende Publikum gleiten. Sein Vater hatte recht, das öffentliche Interesse an dem Stipendium ließ sichtlich nach. Er musste unbedingt vermeiden, dass seiner Mutter schon wieder das Herz gebrochen wurde.

Wahrscheinlich sollte er sich mehr Mühe geben.

„Nach Joels Tod“, fuhr er mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme fort, „hatte ich das Gefühl, auch mein Leben sei vorbei.“ Er befeuchtete sich die trockenen Lippen mit der Zungenspitze. Es fiel ihm schon schwer genug, mit seiner Familie über seinen Verlust zu reden, aber in Gegenwart dieser Menschen hier, die ihm völlig egal waren … „Also zog ich aus L.A. weg, um Abstand zu bekommen.“

Während er sein Publikum betrachtete, wurde ihm bewusst, dass es nicht reichen würde, seine Emotionen nur anzuschneiden. Vielleicht sollte er doch den Rat seines Vaters beherzigen.

„Man hat mich oft gefragt, wie ich mit meiner Trauer fertigwerde. Joel und ich waren nämlich nicht nur beste Freunde, sondern haben auch zusammengearbeitet, sind gemeinsam ausgegangen, haben Sport gemacht … Zumindest, bis er sich in die neue Assistentin meiner Mutter verliebte …“

Elias zwang sich zu einem Lächeln, um zu signalisieren, dass er gerade einen gutmütigen Scherz machte, und richtete den Blick auf die ach so liebliche Witwe seines Bruders, die die andere Hand seiner Mutter hielt. „Ein paar Monate vor Joels Tod heiratete er sie.“ Er konnte sich nicht dazu überwinden, Seraphinas Namen auszusprechen. „Er war so glücklich mit …“

Er verstummte abrupt. Schluckend versuchte er fortzufahren – dem Publikum das zu geben, was es seinem Vater zufolge hören wollte –, aber sein Mund war plötzlich staubtrocken … wie ausgedörrt. Die Wahrheit – das Geheimnis, das außer ihm nur noch ein anderer Mensch kannte – belastete ihn so, dass er es kaum noch aushielt.

Denn Joel war vor seinem Tod keineswegs glücklich gewesen.

Während Elias am Rednerpult stand und versuchte, den Gästen seinen Verlust begreiflich zu machen, empfand er wieder den gleichen Abscheu und Ekel, den er zwei Wochen vor dem Tod seines Bruders empfunden hatte.

Er konnte immer noch nicht fassen, dass Seraphina versucht hatte, ihn zu küssen.

Er hatte sie weggestoßen und sie als etwas bezeichnet, als das kein Gentleman eine Lady bezeichnen sollte.

Aber sie war keine Lady.

„Ich will dich, Elias“, hatte sie geschluchzt, während sie schon wieder versucht hatte, ihn an sich zu ziehen und zu küssen. „Ich habe immer nur dich gewollt … Joel braucht nichts davon zu erfahren.“

„Du widerst mich an!“

Und das tat sie immer noch. Aber es gab niemanden, mit dem er darüber reden konnte … oder doch?

Seine Gesprächspause dauerte nun schon viel zu lange. Die Leute fingen bereits an, verlegen zu hüsteln.

Elias richtete den Blick auf seinen Vater.

Du willst also Emotionen? Was würdest du dazu sagen, wenn ich den Leuten hier erzähle, in welchem Zustand Joel war, bevor er starb? Dass er mich weinend fragte, ob er verrückt sei oder seine neue Frau ihm wirklich die kalte Schulter zeige? Wenn ich allen erzähle, wie schrecklich es für mich war, meinen Zwillingsbruder belügen und ihm sagen zu müssen, dass er sich das alles bestimmt nur einbildet? Und wie erleichtert ich war, als Joel plötzlich lachte?

„Du hast recht“, hatte er gesagt. „Die Flitterwochen mussten ja schließlich mal enden. Du erzählst es niemandem weiter, oder?“

„Natürlich nicht.“

„Danke.“

„Das wird schon wieder“, hatte Elias aufmunternd zu seinem Bruder gesagt.

Aber nichts war wieder geworden. Denn Joels Zeit war abgelaufen gewesen.

In dem Moment hatte Elias ihn erschrocken aufschreien und dann ein lautes Hupen und das Quietschen von Bremsen gehört. Die Erinnerung daran war so lebhaft, dass er wieder das erhitzte Gummi zu riechen glaubte … den Rauch, der vom Autowrack aufstieg. Er biss in seiner Nase und brannte in seinen Augen. „Mein Bruder rief mich unmittelbar vor seinem Tod an.“

Das war etwas, das bisher nur die engsten Familienangehörigen wussten. Er sah Seraphina direkt an, als er das sagte, und sie hatte tatsächlich die Nerven, seinen Blick so seelenruhig zu erwidern, als hätte sie keine Ahnung, worauf er hinauswollte.

Im Grunde ist gar nichts passiert, dachte er.

Aber nur, weil er es verhindert hatte.

Wäre es nach Seraphina gegangen …

„Joel wollte mich nämlich etwas fragen“, fuhr er fort. „Er wollte wissen, warum seine neue Frau …“

Seraphina blinzelte rasch. Vielleicht wurde ihr gerade klar, wie unbeherrscht der sonst immer so gemäßigte und emotionslose Elias Henley auf einmal war.

„Er wollte wissen …“

„De Luca!“

Carmen blendete die langweiligen Reden einfach aus, unter anderem, weil sie gerade alle Hände voll zu tun hatte, während sie wie ein unsichtbarer Geist wirken musste. Das hier war schon ihr dritter Job seit ihrer Ankunft in Amerika, und sie wollte ihn unbedingt behalten. Sie musste ihn behalten, wenn sie nicht doch auf das Geld ihrer Familie zurückgreifen wollte. Wenn man sie und das andere Personal hier nur nicht so schlecht behandeln würde! Das tyrannische Verhalten des Managers ärgerte sie maßlos.

Ungeduldig nickte er in Richtung eines Tisches, an dem eine Frau mehr Wein verlangte. Carmen ging mit einem Kühler hin.

Die Frau schüttelte den Kopf, als Carmen bei ihr ankam. „Ich wollte Mineralwasser.“

„Natürlich“, sagte Carmen und holte die erforderliche Flasche.

Während sie das Glas der Frau füllte, fiel ihr auf, dass der derzeitige Redner plötzlich aufhörte zu reden, und wendete den Kopf Richtung Pult. Sie erkannte den Mann von vorhin sofort wieder. Er sah einfach zu gut aus, um ihn zu vergessen.

Irgendwie hatte er sie mit seiner ehrlichen Ansage an seine Begleiterin zum Lächeln gebracht, aber jetzt schien er Probleme zu haben.

Carmen war an diese Art Veranstaltungen mehr als gewöhnt. Normalerweise gehörte sie nur zu den Gästen, statt zu bedienen. Trotzdem fiel ihr genauso wie den anderen im Raum auf, dass sein Schweigen viel zu lange dauerte.

Das dunkle Haar des Mannes glänzte im Scheinwerferlicht, das seine schönen Gesichtszüge betonte. Sein Anzug stand ihm außergewöhnlich gut, doch trotz des exzellenten Schnitts schien er ihn als etwas zu eng zu empfinden. Carmen beobachtete, wie er eine Hand hob, um seine Krawatte zu lockern.

Was macht ihn nur so nervös? fragte sie sich. Hatte er vielleicht einen wichtigen Namen vergessen?

Erst auf den zweiten Blick sah sie, dass er nicht nervös war. Er erinnerte sie ein bisschen an Sebastián am Tag der Beerdigung ihres Vaters, bei der er mühsam versucht hatte, höflich zu bleiben, obwohl er innerlich vor Ärger fast geplatzt war.

Sie kannte diesen Blick.

Der Redner hatte sichtlich Probleme, seinen Zorn zu zügeln. Flach atmend umklammerte er das Rednerpult und funkelte das Publikum an.

2. KAPITEL

Drei Dinge hielten Elias davon ab, endgültig die Beherrschung zu verlieren. Erstens, dass er seinem Bruder bei der Identifizierung von dessen Leiche hoch und heilig versprochen hatte, nie jemandem von der Untreue seiner Frau zu erzählen. Zweitens die Tatsache, dass er seine Familie – vor allem seine Mutter – unbedingt vor weiterem Leid schützen wollte.

Und drittens ein Zwischenfall, der Elias eine willkommene Ausrede für sein sich immer länger ausdehnendes Schweigen gab.

„Hey!“, rief die Frau empört, als ihr Glas überfloss, die Tischdecke durchnässte und vom Tisch zu tropfen begann.

„Oh Gott, das tut mir leid!“, entschuldigte Carmen sich erschrocken.

Die Frau sprang so heftig auf, dass ihr Stuhl umkippte. „Ich bin völlig durchnässt!“, rief sie mitten in die peinliche Stille hinein.

„Ma’am, ich …“ Carmen holte tief Luft, um die Ruhe zu bewahren. Ging sie sonst auch so unhöflich mit Kellnerinnen um? Nein, sie mochte verwöhnt und schwierig sein, aber vor allem ihren Familienangehörigen gegenüber.

Sie verkniff sich den Hinweis, dass das Kleid der Frau höchstens ein paar Tropfen abbekommen hatte. „Es tut mir leid, Ma’am.“

Der Manager kam angerannt, dicht gefolgt von mehreren mit Lappen ausgerüsteten Kellnern, aber Carmen hatte nur Augen für den Redner, der die Sprache inzwischen wiedergefunden zu haben schien.

Als der kleine Aufruhr vorbei war, entschuldigte er sich für die Unterbrechung und fuhr fort: „Also, Joel wollte von mir wissen, womit er nur so viel Glück verdient hatte …“

„De Luca!“, zischte der Manager Carmen zu. „In die Küche, und zwar sofort!

Als sie ihm folgte, hatte sie das unangenehme Gefühl, alle wussten genau, dass man sie jetzt feuern würde. Errötend bahnte sie sich ihren Weg durch die Tische hindurch. An der Schwingtür zum Personalbereich angekommen hörte sie, wie der Mann am Pult zum Schluss seiner Rede kam.

„Nach Joels Tod hat man mich oft gefragt, wie ich mit meiner Trauer zurechtkomme …“

Obwohl Carmen es kaum erwarten konnte, dem Saal zu entfliehen, blieb sie unwillkürlich stehen, um seine Antwort zu hören.

Ihre eigene Trauer war nämlich unerträglich. Der Schmerz wollte einfach nicht nachlassen.

Bitte, Mr. Gutaussehend, dachte sie. Sag, dass es irgendwann besser wird. Verrat mir, wie ich diesen Schmerz in meiner Seele lindern kann …

„… doch auch fünf Jahre später habe ich noch keine Antwort darauf …“

Seine Worte brachten ihr leider auch keinen Trost. Absolut keinen.

Sie ging weiter durch die Schwingtür, um sich ihrer Kündigung zu stellen.

„De Luca!“

Ihr Chef war wirklich schlimm.

Richtig schrecklich sogar.

„Was zum Teufel haben Sie sich nur dabei gedacht?“, brüllte er sie an. „Gar nichts vermutlich, wie ich annehme!“

„Es war ein Versehen“, protestierte sie. „Und ich habe mich sofort dafür entschuldigt.“

„Seit Sie für uns arbeiten, passiert jeden Abend irgendeine Katastrophe!“

„Ich habe doch nur etwas Wasser verschüttet. Wo ist eigentlich Ihr Problem?“

„Das kann ich Ihnen verraten!“

Also machte er es, so wie bisher jeden Abend. Carmen biss sich auf die Zunge. Die Versuchung, die Schürze ihres albernen Outfits abzureißen, sie ihm vor die Füße zu werfen und ihm zu sagen, dass er sich seinen Scheißjob sonst wohin stecken konnte, wurde immer größer. So wie schon bei ihrem letzten Job. Und dem davor.

Bisher hatte sie nie einen Hehl aus ihrer Verachtung für ihre Chefs gemacht, indem sie ihnen deutlich gesagt hatte, was sie von ihnen hielt. Ihr hitziges Temperament kam ihr auch diesmal wieder in die Quere, aber sie riss sich zusammen. Heute würde sie die Klappe halten. „Es tut mir schrecklich leid.“

„Das reicht mir aber nicht!“ Er setzte noch eins drauf, indem er ihr mitteilte, dass er ihr Gehalt kürzen würde. Anscheinend hielt er sie für eine illegale Einwanderin und nutzte das schamlos aus.

Carmen empfand es als Riesenskandal, wie schlecht die Aushilfskräfte hier behandelt wurden. Ihr fiel auf, dass der Juniorchef der Tirade des Managers mit gesenktem Kopf lauschte. Sie wusste, dass er sie gern verteidigen würde, aber er hatte eine Familie zu ernähren. Danach fiel ihr Blick auf eine ihrer Kolleginnen, Joni, die sich immer größte Mühe gab, keine Fehler zu machen, um ihren Job zu behalten.

Nicht nur Carmens Temperament kam ihr in diesem Moment in die Quere, sondern auch ihr tief sitzender Abscheu gegen jede Art von Ungerechtigkeit.

„Soll ich Ihnen mal verraten, warum Ihnen das Personal scharenweise davonläuft?“

Carmen wäre in der Welt des Dressurreitens nie so weit gekommen, wenn sie immer nur kuschen würde. Also würde sie auch jetzt ihre Meinung sagen, das war sie sich und den anderen schuldig. „Sie sind eine echte Schande! Alles, was Sie können, ist schimpfen und herumkommandieren! Außerdem behalten Sie einfach Gehälter ein und stehlen unser Trinkgeld!“

„Jetzt machen Sie mal halblang …“

„Nein, das mache ich nicht!“, beharrte Carmen kopfschüttelnd. „Ich würde nie so mit meinem Personal umgehen wie Sie – und vor allem achte ich auf angemessene Bezahlung! Sie haben doch schon allein in dieser einen Woche Tausende Dollar Trinkgeld für sich eingesteckt!“

Als sie dem Mann den genauen Betrag nannte, blinzelte er erschrocken.

„Wie viele Leute arbeiten hier heute?“, fragte sie in die Runde.

Niemand antwortete.

„Na schön …“ Carmen überschlug den Betrag im Kopf. „Ich schätze mal, Sie sind jedem hier ungefähr hundertzehn Dollar schuldig, genauso dem Personal, das heute nicht hier ist.“

„Raus!“, brüllte der Manager.

„Sie wissen anscheinend nicht, mit wem Sie es zu tun haben! Ich gehe nirgendwohin, ehe Sie Ihre Leute nicht bezahlt haben! Und wenn Sie sich weiterhin weigern, werde ich Sie anzeigen!“ Carmen kam immer mehr in Fahrt, während sie sämtliche zuständigen Behörden aufzählte und den Namen der Rechtsanwaltskanzlei in L.A. nannte, die ihre Familie immer im Falle von Rechtsstreitigkeiten in den Staaten engagierte und die ihr auch ihre Arbeitserlaubnis besorgt hatte.

„Ich ruf da jetzt sofort an und die Polizei gleich danach!“ Sie zog ihr Handy aus ihrer Tasche und rief die Kontaktdaten der Kanzlei auf, um zu demonstrieren, dass sie ihre Drohung ernst meinte. „Die Entscheidung liegt also bei Ihnen!“

Der Manager besprach sich mit dem inzwischen ebenfalls hinzugeeilten Hotelchef und gab schließlich nach. Während er das Trinkgeld an die Angestellten auszahlte, blieb Carmen mit vor der Brust verschränkten Armen stehen, um sich zu vergewissern, dass alles mit rechten Dingen zuging.

Erst danach nahm sie ihre Schürze ab und warf sie dem Manager vor die Füße. „So, und jetzt nehmen Sie Ihren beschissenen Job und Ihr scheiß Verhalten und schieben es sich in den Arsch! Wenn ich noch mal Beschwerden über Sie höre, mache ich Ernst.“

Joni hatte Tränen in den Augen, als sie Carmen auf dem Weg zum Hintereingang folgte.

„Danke! Du hast ja keine Ahnung, wie viel uns das bedeutet!“

Carmen bekam allmählich einen Eindruck. „Ruf mich an, wenn so etwas je wieder vorkommt. Ich werde deinen Namen auch für mich behalten, versprochen.“ Sie umarmte Joni zum Abschied.

Als sie in die kühle Nachtluft hinaustrat, war sie jedoch eher niedergeschlagen als stolz. Sie hatte es schon wieder nicht geschafft, ihren Job zu behalten. Wie sollte sie so nur je auf eigenen Beinen stehen?

Eigentlich hatte sie gehofft, dass ihre Zeit in L.A. ihr neue Perspektiven aufzeigen würde – sie irgendwie von ihren Wunden heilen oder zumindest aufheitern –, aber stattdessen fühlte sie sich einsamer als je zuvor und sogar noch orientierungsloser als an dem Abend, an dem sie ins Flugzeug gestiegen war.

Der Manager hatte in mancherlei Hinsicht nicht ganz unrecht, wie sie sich widerstrebend eingestehen musste. Sie war wirklich eine schreckliche Kellnerin.

Sie überquerte den Sunset Strip und warf einen Blick zurück auf das Hotel, in dem sie gerade gescheitert war … und musste zwei Mal hinsehen, bevor sie ihren Augen traute.

Er!

Der Redner von vorhin lehnte ein Stück abseits von der Eingangstür gegen die Mauer und starrte ins Leere.

Seine gebeugte Körperhaltung ließ ihren Atem stocken. Er sah aus, als sei dieser Abend für ihn genauso schrecklich wie für sie. Schlimmer noch vielleicht sogar.

Er hatte seine lange Pause vorhin mit ihrem Malheur erklärt, aber Carmen wusste, dass es sich in Wirklichkeit etwas anders abgespielt hatte.

Ihr Missgeschick war nicht der Grund für sein Schweigen gewesen.

Aber ganz wirkungslos war es trotzdem nicht geblieben.

In diesem Moment hob der Mann den Kopf. Und sofort kam sie sich nicht mehr wie ein unsichtbarer Geist vor, denn er sah sie direkt an.

Wahrscheinlich sollte sie wegblicken, aber stattdessen hob sie eine Hand und tippte sich mit der Kante ihres Zeigefingers an die Stirn – eine spanische Geste, die signalisierte, dass es einem bis hier oben stand. Wahrscheinlich dachte er jetzt, dass sie ihm salutierte oder etwas ähnlich Schräges …

Er lächelte ihr jedoch zu. Anscheinend hatte er ihre nonverbale Botschaft verstanden, denn er kopierte ihre Geste – auch ihm stand es offensichtlich bis hier.

Sie beobachtete, wie er sich von der Wand löste und sein Jackett straffte, bevor er sicheren Schrittes ins Hotel zurückkehrte. Carmen ging weiter zur Bushaltestelle. Natürlich könnte sie sich ein Taxi nehmen, aber die Ausgabe widerstrebte ihr irgendwie …

Ich werde es ja wohl noch schaffen, drei Monate ohne das Vermögen meiner Familie auszukommen, oder? fragte sie sich, als sie eine Ewigkeit später in ihre kleine, seelenlose Wohnung zurückkehrte, für die sie wöchentlich Miete bezahlte. Am liebsten würde sie sich etwas zu essen bestellen, doch da sie sich das nicht leisten konnte, füllte sie stattdessen eine Schale mit Müsli.

Während sie aß, scrollte sie rastlos durch die Jobinserate auf ihrem Handy. Morgen würde sie wieder diverse Restaurants abklappern müssen und …

Plötzlich sprang ihr eine Anzeige ins Auge. Stallmanager gesucht …

Interessiert las sie sich die Stellenbeschreibung durch. So eine Position war allerdings kein Aushilfsjob, sondern etwas Längerfristiges und kam daher für sie nicht infrage. Außerdem, war sie nicht extra hergekommen, um Pause von Pferden zu machen?

Wenn ihr Aufenthalt ihr jedoch eins gezeigt hatte, dann, dass sie ihre Pferde schrecklich vermisste. Sie legte ihren Löffel weg und scrollte durch die nächsten Jobangebote.

Pferdepfleger … Aushilfsjob … Ab sofort … Polo-Erfahrung erwünscht …

Mit Polo hatte sie zwar keine Erfahrung, aber der Stall lag ganz in der Nähe in Malibu, also las Carmen weiter.

Früher Arbeitsbeginn … Während der Polo-Saison alle zwei Wochen einen Tag frei …

Carmen musste lächeln, denn mit Frühaufstehen hatte sie absolut kein Problem. Außerdem wusste sie genau, was zwischen den Zeilen verlangt wurde: die Liebe zu Pferden.

Und sie liebte Pferde. Wirklich. Nach ihrer erfolgreichen Reiterkarriere sollte sie das eigentlich längst wissen, aber insgeheim hatte sie immer befürchtet, dass sie nur aus Rache an ihrer Mutter ritt. Aber sie liebte Pferde tatsächlich, und wie!

Ein Job als Pferdepflegerin wäre für sie total entspannt. Sie bräuchte noch nicht mal die unglaublich hohe Kunst des Pferdeballetts zu beherrschen und hätte keinerlei Führungsverantwortung. Sie könnte total locker und ohne jeden Stress vor sich hin arbeiten …

Zum ersten Mal seit Papás Tod empfand sie so etwas wie Vorfreude.

Und dann war der Job auch noch in Malibu! Die Hügel, das Meer, Pferde … Wenn sie dort nicht zu sich fand, wo dann?

Carmen de Luca, Pferdepflegerin …

Tja, warum eigentlich nicht?

„Und Sie haben wirklich keinerlei Erfahrung mit Polo?“, fragte der Stallmanager namens Blake sie am nächsten Morgen.

„Nein“, antwortete Carmen kopfschüttelnd, während sie ihm durch den beeindruckend gepflegten Stall folgte. „Aber ich habe mit tanzenden Pferden gearbeitet.“

„Tanzende Pferde?“ Blake lachte kurz, fast verächtlich. Wahrscheinlich dachte er, dass sie als Spanierin den falschen Begriff benutzt hatte. „Sie meinen Dressurreiten?“

„Na ja, das auch, aber …“ Sie zuckte die Achseln, als ihr einfiel, dass sie vielleicht nicht das ganze Ausmaß ihrer Fähigkeiten oder Erfahrungen enthüllen sollte. „Gewissermaßen.“

„Das nützt Ihnen hier leider nichts“, sagte Blake. „Wir brauchen jemanden, der am Turniertag die Pferde betreut. Wir haben zum Beispiel ein paar Stuten, die bald fohlen werden und …“ Er verstummte und rief einem der Pferdepfleger zu, keine Pferde rauszulassen.

„Domitian ist gerade draußen“, erklärte er ihr. „Wir haben einen neuen Hengst, der uns ganz schön Probleme macht. Normalerweise wird er erst später am Vormittag bewegt, aber Elias wollte, dass er sich schon mal verausgabt, weil ihn gleich der Tierarzt untersuchen soll.“ Er musterte sie skeptisch. „Wie viel wiegen Sie eigentlich … fünfundvierzig Kilo?“

Wahrscheinlich war die Reiterwelt die einzige, in der man damit davonkam, jemanden bei einem Vorstellungsgespräch nach seinem Gewicht zu fragen, aber als Carmen einen Reiter auf einem dampfenden schwarzen Hengst auf den Hof galoppieren sah, musste sie zugeben, dass Blakes Frage wahrscheinlich berechtigt war.

„Hey, Elias, wie war er drauf?“

„Drei Mal darfst du raten“, kam die mürrische Antwort.

Die Stimme des Reiters ließ Carmen aufhorchen. Sie riss den Blick von dem wunderschönen Tier los und richtete ihn auf sein Gesicht. Das war ja der Mann von gestern Abend! Der Redner aus dem Hotel! Gott sei Dank war er gerade zu beschäftigt damit, den Hengst zu bändigen, um sie zu beachten.

Elias hieß er also.

Irgendwie hatte sie das dumpfe Gefühl, dass er der Eigentümer dieser Ranch war …

„Dom ist ziemlich bösartig“, erklärte Blake ihr. „Abgesehen von mir ist Laura die Einzige, die ihn füttert. Elias, dieses Mädchen hier stellt sich gerade für den Job als Pferdepflegerin vor. Sie hat keine Polo-Erfahrung und bringt wahrscheinlich nicht mehr als fünfundvierzig Kilo auf die Waage.“

„Ich bin kein Mädchen“, korrigierte sie ihn. Sie war daran gewöhnt, sich gegen Männer zu behaupten. „Außerdem wiege ich fünfzig Kilo.“

Blake grinste gutmütig.

Elias nicht. Sein Unterkiefer war so starr wie aus Granit.

„Ich hätte auch keine Bedenken, diesen Hengst zu füttern“, fügte Carmen hinzu und sah Elias dabei an, der jedoch nicht antwortete – oder zumindest nicht ihr.

„Lass uns ihn abkühlen“, sagte er zu Blake, der Domitians Zügel hielt, während Elias geschmeidig abstieg.

Domitian – oder Dom – wirkte ohne Reiter aggressiver, wie Carmen auffiel. Elias und Blake nahmen den Hengst zwischen sie und brachten das unwillige Pferd in den Stall, wo Elias ihn festhielt, während Blake ihn mit einem Schlauch abspritzte. Carmen kam sich etwas nutzlos vor, als sie die beiden Männer beim Abtrocknen des Pferds beobachtete.

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte sie.

„Am besten halten Sie sich einfach von ihm fern“, rief Elias ihr über eine Schulter zu.

Sie musste an ihren eigenen Stall denken und an ihre Vormittage in der berühmten Reitschule in Jerez, die eine so große Rolle in ihrem Leben gespielt hatte. Um diese Uhrzeit würde sie gerade ausreiten oder wäre schon zurückgekehrt und würde mit ihren Kollegen und Freunden einen wohlverdienten Kaffee trinken, bevor sie trainierte oder für die berühmten Vorführungen probte. Manchmal unterrichtete sie auch – keine Anfänger, sondern Reiter, die von überallher kamen, um von den Meistern der Kunst des Pferdeballetts zu lernen.

Sechs Wochen lang hatte sie sich eingeredet, dass sie nichts davon vermisste, aber jetzt fragte sie sich plötzlich, wie sie nur so lange ohne Pferde durchgehalten hatte.

Wie gern sie mit Domitian arbeiten würde …

„Elias?“, hörte sie plötzlich eine weibliche Stimme hinter sich, die zu einer grauhaarigen Frau mittleren Alters gehörte. Sie streckte den Kopf aus einer Tür, hinter der sich anscheinend das Büro befand. „Dein Vater ist gerade in einer Videokonferenz und will, dass du auch dabei bist.“

„Sag ihm, ich bin beschäftigt!“

„Das habe ich schon. Er hat gesagt, sie warten solange auf dich.“

„Na toll“, grummelte er genervt.

Die Frau richtete den Blick auf Carmen. „Geben Sie ihm das hier“, sagte sie und warf ihr ein Bündel zu. Als Carmen es auffing, sah sie, dass es sich um ein in ein Handtuch gehülltes Hemd handelte. Ein Businesshemd anscheinend …

Sollte sie es dem Mann namens Elias geben?

Er schenkte ihr immer noch keine Beachtung, während er Domitian in seine Box brachte.

„Soll ich ihn füttern?“, bot Carmen an.

Er streifte sie mit einem flüchtigen Blick. „Sie dürfen da auf keinen Fall ohne Blakes oder meine Erlaubnis rein.“

Carmen zuckte nur die Achseln. „Hier.“ Sie warf ihm das Bündel zu, und er fing es auf.

„Danke.“

Für den Bruchteil einer Sekunde spürte sie seinen Blick. Ihr fiel wieder ein, dass er sich auch gestern bei ihr bedankt hatte – etwas, das nur die wenigsten Gäste gemacht hatten. Ob er sich doch noch an sie erinnerte?

Obwohl er völlig verschwitzt und immer noch etwas außer Atem war, wirkte er wesentlich entspannter als gestern. Carmen fand außerdem, dass er viel besser aussah, falls das überhaupt möglich war. Seine eng anliegende Reiterhose betonte lange, muskulöse Beine und einen festen Knackpo.

Carmen wollte gerade wieder den Blick von ihm abwenden, als er sich sein durchnässtes Oberteil abstreifte. Sie hatte schon oft mit Sportlern zusammengearbeitet und war daher an den Anblick durchtrainierter Körper gewöhnt. Normalerweise ließ so etwas sie völlig kalt. Sie hatte sich daher schon öfter gefragt, ob sie eigentlich noch ganz normal war.

Beim Anblick von Elias’ honigbraunem Oberkörper mit dem dunklen Brusthaar stockte ihr jedoch plötzlich der Atem … und als er sich den flachen Bauch und dann den Rücken abtrocknete, wurde ihr ganz heiß.

Himmel, war er umwerfend!

Eigentlich sah er nicht anders aus als andere Männer, und trotzdem hatte sein Anblick eine Wirkung auf sie, die sie sich nicht erklären konnte. Warum sah der Leberfleck an seiner linken Schulter aus, als hätte ihn ein Künstler gemalt? Warum beschleunigte der Anblick seines dunkel gelockten Brusthaars ihren Herzschlag? Und warum fragte sie sich beim Anblick der teuren Uhr an seinem Handgelenk nicht, was sie wohl gekostet haben mochte, sondern stellte sich stattdessen vor, wie er sie abnahm?

Carmen war so etwas nicht gewohnt. Ganz und gar nicht! Ihre Reaktion war für sie daher so verstörend, dass sie froh über ihre etwas zu großen Secondhandstiefel war, weil ihre Zehen so wenigstens genug Platz hatten, um sich zu krümmen.

Autor

Carol Marinelli
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