Julia Royal Band 4

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TRAUMHOCHZEIT AM MITTELMEER von MARION LENNOX
Prinz Raoul wird heiraten! Die Bewohner des Mittelmeerfürstentums Azuri jubeln. Einzig seine bezaubernde Braut Jessica scheint unglücklich - für sie ist es nur eine Vernunftehe. Dabei sehnt Raoul sich nach viel mehr. Kann er ihr Herz für sich gewinnen?

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Als sie den attraktiven Prinzen Jean-Luc de Casquets trifft, verliebt sich Sarah Hals über Kopf. Doch der Adlige will nur ihre Hilfe, um eine passende Ehefrau zu finden. Dabei wünscht sich Sarah nichts sehnlicher, als selbst seine Prinzessin zu werden …

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  • Erscheinungstag 05.02.2021
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500715
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marion Lennox, Lisa Kaye Laurel, Mindy Neff

JULIA ROYAL BAND XX

1. KAPITEL

Sie fuhr doch auf der richtigen Straßenseite … oder? Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, als sie ihren Wagen über die legendäre Gebirgsstraße von Azuri lenkte.

In Serpentinen wand sich diese Straße um schneebedeckte Berge, an deren Klippen Hunderte Meter weiter unten das tosende Meer brandete. Nach jeder Biegung bot sich ihr ein Postkartenpanorama, eines zauberhafter als das andere: mittelalterliche Burgen, malerische Fischerdörfer, saftige Weiden, auf denen Steinböcke und Alpakas grasten.

Nach einer weiteren Kurve konnte sie flüchtig einen Blick auf den Palast der Fürstenfamilie von Azuri werfen. Das Schloss aus weiß glänzendem Marmor war mit prachtvollen Türmen, Kanzeln und Zinnen versehen und thronte hoch oben auf einem Felsen über dem Meer. Es sah aus wie ein Schloss aus einem Märchenbuch.

Vor zwei Jahren wäre Jessica Devlin bei diesem Anblick in helle Verzückung geraten. Doch jetzt konzentrierte sie sich ganz auf das Treffen mit ihrem nächsten Lieferanten – und zwang sich, nicht über den leeren Beifahrersitz neben ihr nachzudenken. Außerdem musste sie sich auch auf die Fahrbahn konzentrieren, um nicht auf die Gegenspur zu geraten.

Die Straße schlängelte sich um die Felsen herum bergauf, die Kurven waren schlecht einsehbar. Die Serpentinen machten sie nervös. Vorsichtig fuhr sie um die nächste Felsnase und bemerkte flüchtig einen blauen Sportwagen, der ihr zwei Biegungen weiter mit offenem Verdeck entgegenkam. Er fuhr schnell. Und er schien auf der falschen Seite zu fahren. Auf ihrer Seite.

Sie trat auf die Bremse und steuerte ihren Wagen haarscharf am Rande der Klippen entlang. Auch die nächste Kurve konnte sie nicht einsehen. Was, wenn das entgegenkommende Fahrzeug tatsächlich auf der falschen Seite fuhr? Ach, das hatte sie sich bestimmt nur eingebildet. Warum sollte sie Angst haben vor dem blauen Wagen, der nun wieder außer Sichtweite war. Wahrscheinlich fuhr der Fahrer so schnell, weil er die Straße aus der Gegenrichtung besser überblicken konnte als sie. Ich bin einfach viel zu vorsichtig, schalt sie sich. Dennoch konnte sie sich ihre Angst nicht ganz ausreden. Zu viel hatte sie in ihrem Leben durchgemacht, um darauf vertrauen zu können, dass ihr das Schlimmste erspart bliebe. Abrupt hielt sie ihren Wagen an, als das Cabrio um die nächste Kurve schoss. Es fuhr schnell, viel zu schnell. Und es fuhr tatsächlich auf ihrer Seite.

Sie stand mit ihrem Fahrzeug so nah am Abgrund, es gab kein Entrinnen. „Nein!“ Hilflos schlug sie die Hände vors Gesicht. „Nein!“

Keiner hörte ihren Schrei.

Eigentlich hätte heute sein Hochzeitstag sein sollen. Doch stattdessen begingen sie an diesem Tag ein Begräbnis.

„Glaubst du, sie hat es mit Absicht getan?“ Lionel, Herzog von Azuri, blickte voller Widerwillen auf den fahnengeschmückten Sarg. Eigentlich sollte er seinen Großneffen in seinem Kummer trösten, doch keinem der beiden Männer war nach aufrichtiger Anteilnahme zumute. Die vergangenen Wochen waren bereits so von Schmerz geprägt gewesen, dass sie dieses Ereignis nicht mehr aus der Fassung brachte.

„Sich absichtlich umgebracht?“ Raoul, Lionels Großneffe, versuchte erst gar nicht, seine Worte zu beschönigen. Er war wütend. „Sarah? Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“ Diesen Gedanken hielt er für ebenso absurd wie die Tatsache, dass er hier, beim Begräbnis seiner Verlobten, den trauernden Liebenden gab. Diese Rolle spielte er nur, weil die Etikette es verlangte.

Als seine Verlobte bestattet wurde, waren aller Augen auf Raoul gerichtet, der noch sechs Tage lang Prinzregent von Azuri sein würde. Auch wenn er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, so empfand Raoul nur Abscheu.

„Es geschah ihr recht“, zischte er seinem Großonkel aufgebracht ins Ohr. „Sie war betrunken, Lionel, und nur, weil die Frau, in deren Wagen sie gerast ist, wohl eine äußerst vorsichtige Fahrerin war, ist sie nicht auch noch mit in den Tod gerissen worden.“

„Aber warum fuhr sie in angetrunkenem Zustand?“ Lionel war sichtlich verwirrt.

„Sie hatte ihre Freundinnen zum Lunch ins Schloss geladen und mit ihnen die bevorstehende Hochzeit gefeiert. Danach beschloss sie, nach Vesey hinunterzufahren, um ihren heimlichen Geliebten zu treffen. Ihren heimlichen Geliebten! Sechs Tage vor der Hochzeit, und das im Rampenlicht der Öffentlichkeit! Weißt du eigentlich, wie hoch ihr Alkoholspiegel war?“

„Raoul, bitte mach ein verzweifeltes Gesicht!“, ermahnte ihn sein Großonkel. „Alle Kameras sind auf dich gerichtet.“

„Ich leide stoisch“, rechtfertigte sich Raoul zynisch. „So zumindest steht es in sämtlichen Zeitungen. Und auch, dass der Unfall passierte, als sie auf dem Weg zu ihrem heimlichen Geliebten war.“

„Meine Güte, Raoul …“

„Verlangst du im Ernst, dass ich Mitleid mit ihr habe?“, fragte Raoul. „Du weißt, dass ich ihr den Tod nicht gewünscht habe, aber heiraten wollte ich sie niemals. Auch wenn sie eine entfernte Cousine von mir war, so kannte ich sie kaum. Das mit der Heirat war deine Idee. Eine von vielen anderen dummen Ideen …“

„Ich dachte, sie wäre eine gute Partie“, verteidigte sich Lionel, und da die Kameras jetzt ihn ins Visier nahmen, setzte er schnell eine kummervolle Miene auf. „Sarah wurde für das Herrscherhaus erzogen. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde. Und sie verstand es, mit den Medien umzugehen.“

„Ja, und zwar so gut, dass sie ihren Liebhaber geheim halten konnte. Wie lange hätte unsere Ehe wohl gedauert, bis es die Medien herausgefunden hätten?“

Lionel zögerte. „Ich glaube, Sarah dachte, ihre Affäre sei dir egal.“

„Ja, mir schon. Aber die Öffentlichkeit sieht das anders.“

„Die hat damit kein Problem. Vernunftehen gab es in Königshäusern immer, und jeder in diesem Land möchte, dass du heiratest.“ Lionel schnitt eine Grimasse. „Jeder, außer deinem Cousin Marcel. Warum hast du die Hochzeit nur so lange hinausgeschoben? Raoul, das versetzt uns jetzt in eine schreckliche Lage.“

„Mich nicht!“, widersprach Raoul grimmig. „Ich habe genug getan. Ich verschwinde!“

„Was soll das heißen? Willst du deinen Neffen – und dein Land – verlassen?“ Lionel warf einen nervösen Blick auf Sarahs Familie, die gerade darüber zu streiten schien, wessen Grabschmuck der vorbildlichere war. „Willst du sie deinem Bruder überlassen, einer weiteren Marionette der Regierung! Einzig und allein diese Heirat hätte uns retten können.“ Angewidert verzog er das Gesicht. „Sieh nur, Sarahs Verwandte benehmen sich wie die Geier.“

„Sie sind Geier. Sie wollten diese Heirat nur aus finanziellen Gründen.“ Raoul blickte zu Sarahs Eltern, die beinahe seine Schwiegereltern geworden wären, und ihm war anzusehen, wie froh er war, seinem Schicksal entronnen zu sein. „Alles, was Sarah wollte, war Geld, Macht und Ansehen. Dafür hätte sie dieses Fürstentum skrupellos betrogen.“

„Aber nicht so sehr wie unser Premierminister und Marcel“, bemerkte Lionel sarkastisch. „Nun gut, es war ein Fehler. Doch jetzt …“

Finster starrte Raoul auf den Sarg. „Ich habe getan, was ich konnte. Jetzt bist du an der Reihe. Mach deinen Einfluss auf Marcel geltend.“

Für einen Augenblick vergaß Lionel, seine Leidensmiene beizubehalten, und antwortete entrüstet: „Ich? Du scherzt wohl! Ich bin siebenundsiebzig, Raoul, und Marcel hat vierzig Jahre lang nicht auf mich gehört. Du weißt, er und seine Frau wollen den Jungen nicht. Sicher, jeder, der die Thronfolge antritt, muss verheiratet sein. Aber verheiratet oder nicht, Marcel und Marguerite taugen als Eltern genauso wenig, wie dein Bruder und seine Frau es getan haben. Verzeih mir, Raoul.“

„Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast ja recht, Jean-Paul war ein korrupter Idiot, genauso wie mein Vater.“

„Moment mal, dein Vater war immerhin mein Neffe.“

„Du weißt, wie unmöglich er sich benommen hat“, brauste Raoul auf. „Genauso wie der Rest der Fürstenfamilie – mein Bruder Jean-Paul, seine Frau Cherie und meine Cousine Sarah. Nun sind sie alle tot, die einen sind an einer Überdosis Heroin gestorben, die andere, weil sie sturzbetrunken zu ihrem heimlichen Liebhaber gefahren ist. Und jetzt, nach Sarahs Tod, wird Marcel das Fürstentum regieren. Gott helfe diesem Land! Gott helfe dem Kronprinzen! Ich kann nichts mehr tun, Lionel, ich steige aus.“

„Deine Mutter …“

„Ihr zuliebe habe ich der Heirat mit Sarah zugestimmt. Sie wollte unbedingt das Kind in ihrer Obhut haben.“ Er hielt kurz inne. „Für sie kann ich jetzt nichts mehr tun. Sie wird Edouard nun nicht bekommen.“

„Nein.“ Nachdenklich drehte sich Lionel nach den Würdenträgern um, die mit Sarahs Familie tuschelten. „Es sieht so aus, als würde Marcel ihn zu sich nehmen, und du weißt, Marcel ist der Regierung hörig. Sie werden alles daransetzen, dass deine Mutter Edouard nicht mehr sehen darf.“

„Das kann ich nicht mehr verhindern“, bemerkte Raoul hart. „Ich habe mein Bestes getan.“

„Dich für Sarah zu entscheiden, war nicht das Beste.“

„Lionel …“

„Schon gut, ich habe dir bei dieser Wahl auf die Sprünge geholfen. Ich gebe zu, sie war nicht die Beste, aber du hast uns ja kaum Zeit gegeben. Jetzt bleiben uns nur noch sechs Tage …“

„Um eine neue Braut für mich zu finden? Du möchtest also noch immer, dass ich die Thronfolge antrete? Das glaubst du doch wohl selbst nicht, dass ich da wieder mitmache!“

„Hätte sie sich doch erst eine Woche nach der Hochzeit umgebracht anstatt eine zuvor …“ Lionel seufzte tief auf. „Wir sind wirklich in einer sehr prekären Lage, mein Junge.“

„Tja …“ Raoul legte seinem Großonkel eine Hand auf die Schulter und spielte nun wieder den Trauernden, der Kraft und Trost beim Älteren suchte. Dann gab er sich einen Ruck. „Genug! Ich werfe jetzt meine Blumen auf den Sarg hinunter.“

„Willst du das wirklich?“

„Nein, ich tue es, weil es von mir erwartet wird“, sagte er grimmig. „Ich muss jetzt meinen Mann stehen. Ich werde Blumen auf Sarahs Sarg werfen und mir den Kopf darüber zerbrechen, ob es nicht doch noch eine Möglichkeit gibt, dass Mutter Edouard bekommt. Und dann gehe ich als Arzt zurück nach Afrika. Dorthin gehöre ich nämlich. Diese Geschäfte hier sind nichts für mich. Darauf kann ich verzichten.“

An den beiden ersten Tagen nach dem Unfall war Jessica nicht ansprechbar. Aufgrund der schweren Gehirnerschütterung, des Schocks und der starken Schmerzmittel, die ihr wegen der ausgerenkten Schulter verabreicht wurden, lag sie in einem tiefen Schlaf.

Nachdem sie aufgewacht war, stellte man ihr behutsam Fragen. Zuerst auf Englisch, dann in der Landessprache, da sie die melodiöse Mischung aus Französisch und Italienisch, die man auf Azuri sprach, beherrschte.

Sie wurde nach ihrem Namen gefragt.

Die Antwort fiel ihr leicht. „Jessica Devlin.“

Dann wollten sie wissen, ob es stimme, dass sie Australierin sei – das jedenfalls stand in ihrem Reisepass. „Ja, ich bin Australierin.“

Wen sollte man über ihren Zustand informieren? „Niemanden. Sollte ich sterbenskrank sein, dann meine Cousine Cordelia – aber wirklich nur dann!“

Dann ließ man sie wieder in Ruhe.

Eine elegant gekleidete Dame mit silbergrauem Haar sah immer wieder, von Mal zu Mal mit sorgenvollerem Blick, nach ihr. Ebenso wie ein grauhaariger alter Mann, der ihr auf Anweisung der Dame Essen und Trinken auf einem Tablett ans Bett brachte. Auch er machte ein bekümmertes Gesicht. Und außerdem waren da noch zwei Krankenschwestern – die eine versorgte sie tagsüber, die andere nachts – und ein Arzt, der ihr die Hand tätschelte und sagte: „Es wird Ihnen bald besser gehen, meine Liebe. Sie sind jung und stark.“

Natürlich. Sie war jung und stark …

Der Arzt stellte ihr die schwierigste Frage. Als er allein mit ihr war, nahm er ihre Hand. „Meine Liebe, was ist mit Ihrem Kind, Ihrer Familie? In Ihrem Auto fanden sich zwar keinerlei Hinweise auf irgendwelche weiteren Personen. Sie tragen auch keinen Ehering, aber ich habe Sie untersucht und Zeichen dafür gesehen, dass Sie ein Kind geboren haben. War es auch im Wagen?“ Er hatte diese Frage mit regloser Miene gestellt, als wäre er auf das Schlimmste gefasst. „Könnte es sein, dass noch jemand die Klippen hinuntergestürzt ist?“

Sie kämpfte mit der Antwort. Ihr war klar, sie musste diesem freundlichen älteren Arzt die Wahrheit sagen. Er musste nicht mehr das Schlimmste befürchten, das war längst eingetreten.

„Ich habe nur …, ich hatte nur dieses eine Kind. Es ist in Australien gestorben, bevor ich hierhergekommen bin.“

Er schwieg, dann sagte er leise: „Wie schrecklich! Das tut mir aufrichtig leid für Sie.“

Sie hielt die Augen geschlossen, und er bedrängte sie nicht weiter mit Fragen. Auch alle anderen waren rücksichtsvoll und ließen sie ruhen in dem feudalen Bett mit einem Baldachin aus purpurrotem Samt und goldenen Quasten und einer Matratze, auf der sie wie auf einer Wolke schlief. Seit Dominics Tod habe ich nie mehr gut geschlafen, dachte sie traurig in den seltenen Momenten, in denen sie wach war. Es war, als holte ihr Körper sich jetzt, was ihm so lange geraubt worden war: Schlaf.

Sechs Tage und sechs Nächte musste sie geschlafen haben. Oder waren es sieben? Als Jessica die Augen wieder aufschlug, sah sie sich zum ersten Mal bewusst um. Bisher hatte sie nur das riesige Himmelbett wahrgenommen. Doch jetzt, als das Sonnenlicht durch die großen, mit edlen Vorhängen geschmückten Flügelfenster flutete, staunte sie: Sie lag nicht in einem Krankenhaus, sondern in einem prunkvollen Raum mit wunderbarem Ausblick. Die Pflegerinnen waren fort, nur die ältere Dame saß am Fenster und starrte in den Morgenhimmel. Weinte sie?

„Sind Sie traurig?“, fragte Jessica leise.

Die Dame drehte sich zu ihr um. „Oh, meine Liebe, Sie sollten das nicht fragen.“

Verwundert blickte Jessica sie an. Sie war zwar aufgewacht, konnte aber noch keinen klaren Gedanken fassen. Sie fühlte sich wie in einem Traum, in dem Zeit keine Rolle spielte. „Wo bin ich?“

„Im Fürstenpalast von Azuri.“

„Wie …?“ Sie grübelte. Azuri …, ja, richtig, sie war auf Azuri. Dieses kleine Land war weltweit berühmt wegen seiner Weber, und sie war hierher gereist, um auserlesene Stoffe und Garne zu kaufen. Sie dachte weiter nach und erinnerte sich an den Ratschlag, den ihr ihre Cousine Cordelia gegeben hatte. „Fahr nach Azuri, Jessica, und suche dir dort neue Lieferanten. Das bringt dich auf andere Gedanken und lässt dich deinen Schmerz vergessen.“

Als ob sie ihren Schmerz vergessen könnte! Dominic … Doch jetzt war nicht der richtige Augenblick, an ihn zu denken. „Und warum bin ich im Palast und nicht in einem Krankenhaus?“

Wieder huschte ein Schatten von Traurigkeit über das Gesicht der Frau. „Können Sie sich an den Unfall erinnern?“

„Ja …“, begann Jessica stockend.

„Es war Sarahs Auto“, sagte die Dame. „Comtesse Sarah war die Verlobte meines Sohnes.“

Jessica schluckte. War die Verlobte, hatte die Dame gesagt. Sie fasste sich ein Herz und stellte die schreckliche Frage. „Kam sie bei dem Unfall ums Leben?“

Zu Jessicas Entsetzen nickte die Frau. „Ja, sie war auf der Stelle tot. Sie raste mit ihrem Auto in Ihres, und nur, weil Sie vor dem Zusammenprall Ihren Wagen zum Stehen gebracht haben, sind Sie noch am Leben. Sarah jedoch stürzte über die Klippen ins Meer.“

Verzweifelt schloss Jessica die Augen. Der Tod folgte ihr überall hin. Dominic, und nun Comtesse Sarah … Sie durfte sich jetzt nicht in ihrem Schmerz verlieren und über den Tod nachgrübeln. Es würde sie nur verrückt machen.

„Und warum bin ich im Fürstenpalast?“, hakte sie noch einmal nach.

Die Dame sah sie sorgenvoll an. „Dies ist mein Zuhause. Und auch das meines Sohnes und meines Enkels. Noch jedenfalls … Sie müssen wissen, die Medien interessieren sich sehr für unsere Belange. Nachdem Dr. Briet bei Ihnen keine schwerwiegenden Verletzungen diagnostiziert hatte, empfahl er, dass wir Sie bei uns aufnehmen, um Sie vor der Presse zu schützen.“

Jessica wurde blass. „Comtesse Sarah … Ihre Schwiegertochter … Dann ist Ihr Sohn …“

„… Raoul ist der Prinzregent von Azuri“, half ihr die Dame weiter. „Zumindest noch. Ich bin Louise d’Apergenet. Mein Sohn, Raoul Louis d’Apergenet, ist der zweite in der Thronfolge. Nach seiner Heirat sollte er die Regentschaft antreten. Die Hochzeit hätte gestern stattfinden sollen.“

„Und ich habe seine Braut getötet“, flüsterte Jessica.

„Nein! Sarah hat sich selbst getötet! Sie haben nicht die geringste Schuld an ihrem Tod.“ Eine energische Männerstimme schreckte die Frauen auf.

Jessica sah zur Tür. Dort stand ein Mann, den sie noch nicht gesehen hatte. War auch er ein Angehöriger der Fürstenfamilie? Er trug ein schwarzes Polohemd, eine helle Baumwollhose und verblichene Mokassins – gewöhnliche Freizeitkleidung. Ansonsten aber war an ihm nichts gewöhnlich. Er war groß, hatte dunkles Haar und einen muskulösen Körper. Sein schmales Gesicht prägten markante, fast wie in Stein gemeißelte Züge. Seine dunklen Adleraugen, umrahmt von dichten, langen Wimpern, verrieten nichts über ihn. War er der Prinz? Seine vom Wetter gegerbte dunkle Haut, die Fältchen um seine Augen und die lange Narbe auf seiner Wange … So sah doch kein Prinz aus! Und seinen Händen sah man harte Arbeit an. Nichts, aber auch gar nichts an diesem Mann wies auf ein unbeschwertes Leben hin.

Neugierig und fast ein wenig ängstlich musterte Jessica ihn. Doch dann lächelte er sie an, und im Nu war ihre Furcht verflogen. Vor einem Mann, der ihr ein so wunderbares Lächeln schenkte, brauchte sie keine Angst zu haben.

„Guten Morgen“, begrüßte er sie. „Sie müssen Jessica sein. Wie fühlen Sie sich?“

„Ich … Ja, ich bin Jessica, und mir geht es gut.“ Instinktiv zog sie sich die Bettdecke bis ans Kinn. Irgendetwas an ihm bewirkte, dass sie sich seltsam fühlte – klein … oder jung? In ihrem dünnen Baumwollnachthemd, mit den kurzen kastanienbraunen Locken, die sie tagelang nicht gebürstet hatte und die ihr nun wild vom Kopf abstanden, und den vielen Sommersprossen fühlte sie sich plötzlich wie zwölf.

„Ich bin Raoul“, stellte er sich vor.

Sie hatte es geahnt. „H… Hoheit …“

„Raoul!“, korrigierte er sie mit Nachdruck und einem Anflug von Wut in der Stimme, fast so, als fühlte er sich angegriffen.

„Jessica ist bestürzt über Sarahs Tod“, brachte sich nun seine Mutter wieder ins Gespräch. „Ich habe ihr gesagt, dass sie sich keine Vorwürfe machen muss.“

„Was sollten Sie sich auch vorwerfen?“ Raoul stellte ihr die Frage auf Englisch mit dem leichten Akzent seiner Muttersprache.

Wie passt er in diese Familie, und welchen Stand hat er wohl bei der Regierung dieses Landes? fragte sich Jessica und versuchte, sich daran zu erinnern, was sie vor ihrer Abreise über Azuri in Erfahrung gebracht hatte. Es war nicht viel gewesen. Mit dieser Reise wollte sie eher vor ihren persönlichen Problemen fliehen als ein neues, exotisches Land kennenlernen. Und sie war kaum da gewesen, da passierte dieser schreckliche Unfall.

Doch ein wenig wusste sie schon über Azuri, das Fürstentum auf einer kleinen Insel im Meer. Vor knapp einem Monat hatte sie in der Zeitung gelesen, dass sich dort eine Tragödie abgespielt hatte. Es wurde über den Tod eines Prinzen und den seiner Gemahlin berichtet, die einen ausschweifenden Lebensstil gepflegt hatten. Und über einen kleinen verwaisten Kronprinzen … Welche Rolle spielte Raoul dabei?

„Sie müssen sich wirklich keine Vorwürfe wegen Sarahs Tod machen“, bekräftigte Raoul noch einmal und riss sie aus ihrer Grübelei. „Sie allein ist schuld an ihrem Tod.“ Die Härte in seiner Stimme machte deutlich, wie wichtig es ihm war, diese Wahrheit auszusprechen. „Sie hat sich nicht absichtlich umgebracht. Aber sie hatte getrunken und ist viel zu schnell auf der Gegenspur gefahren. Die Polizei sagte uns, der einzige Grund, warum nicht auch Sie getötet wurden, sei wohl Ihre Vorsicht gewesen. Wie durch ein Wunder haben Sie es geschafft, dass Sie noch am Leben sind.“

„Wäre ich nicht gewesen …“

„… hätte es jemand anderen getroffen. Vielleicht sogar eine ganze Familie, schrecklich!“ Kopfschüttelnd schloss er die Augen, als wollte er sich nicht weiter ausmalen, welche Ausmaße dieser Unfall hätte annehmen können. „Wir alle sind dankbar, Jessica, dass Sie uns vor Schlimmerem bewahrt haben.“

„Aber Ihre Verlobte …“

Er öffnete die Augen wieder, und in seinem kühlen, beinahe verächtlichen Blick glaubte Jessica auch eine Spur von Kummer zu entdecken. Oder war es eher Verzweiflung, Resignation? „Das Leben geht weiter“, sagte er rau.

„Edouard bleibt bei mir“, lenkte seine Mutter das Gespräch abrupt in eine andere Richtung. „Wir werden um ihn kämpfen. Wir müssen!“

Jessica runzelte die Stirn. Sie verstand nicht. Edouard? Um ihn kämpfen? Bahnte sich etwa die nächste Tragödie an? In einer Geste der Hilflosigkeit schlang sie die Bettdecke noch enger um sich und wechselte schnell das Thema. „Ich liege schon viel zu lange hier herum.“

Louise lächelte. „Meine Liebe, es waren sechs Tage. Sie hatten immerhin einen schweren Schock und eine ausgerenkte Schulter. Aber Dr. Briet sagt – und Raoul pflichtet ihm bei –, dass Sie weitaus mehr unter etwas anderem leiden. Unser Arzt hält Sie für total erschöpft. Zuerst brachte man Sie ins Krankenhaus nach Vesey, doch nachdem schnell klar war, dass Sie einfach nur Schlaf brauchen, schien es uns das Beste, Sie hierher zu holen.“ Sie machte eine kleine Pause. „Sie müssen wissen, die Presse lauert uns überall auf; nur hier, im Palast, respektiert man unsere Privatsphäre. Und außerdem ist es von Vorteil, dass Raoul in Reichweite ist.“

Jessica verstand immer weniger. „Sie sind so gut zu mir“, sagte sie dankbar. „Und das, obwohl Sie selbst so viel durchmachen müssen.“

Dann verfiel sie wieder ins Grübeln und versuchte, sich den Zeitungsartikel noch einmal genauer ins Gedächtnis zu rufen. Edouard … Ja, jetzt fiel ihr wieder alles ein. „Sie trauern nicht nur um Comtesse Sarah, nicht wahr?“

„Das können Sie nicht wissen …“, begann Louise, doch Jessica unterbrach sie.

„Ich erinnere mich jetzt ganz deutlich. Aus der Zeitung habe ich erfahren, dass der Kronprinz und seine Frau ums Leben gekommen sind und einen verwaisten Jungen zurückgelassen haben. Ihren Enkel.“ Nachdem Jessicas Welt zusammengebrochen war, hatte sie das Schicksal anderer nur am Rande interessiert. Doch die Todesfälle auf Azuri machten Schlagzeilen zu einer Zeit, wo ihr Leben so leer und sinnlos geworden war, dass sie sich mit den Tragödien anderer zu trösten begann, um darüber ihr eigenes Elend zu vergessen.

Und wieder versuchte sie, sich Details ins Gedächtnis zu rufen. Waren der Prinz und die Prinzessin hoch oben in den Bergen bei einem Schneesturm ums Leben gekommen? Es gab Gerüchte, dass sie ihren Leibwächtern entflohen waren. Und dass es ihnen nicht gelang, aus dem Auto zu klettern, weil sie völlig unter Drogen standen. Jessica wusste es nicht mehr genau; nur, dass beide tot in ihrem verunglückten Wagen aufgefunden wurden, das Kind aber wie durch ein Wunder überlebt hatte.

Sie sah zu Raoul, und in seinem Blick lag etwas, das sie daran hinderte, ihn nach der wahren Todesursache zu fragen. Es ist mir auch egal, dachte sie verbittert. Sie war so müde. Erschöpft legte sie sich zurück in die Kissen und schloss die Augen.

Plötzlich trat Raoul an ihr Bett und nahm ihre Hand. Wie gut das tat! Sein fester Händedruck war beruhigend und erregend zugleich. „Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen um uns zu machen.“

Verwundert stellte sie fest, wie sehr seine Berührung sie aufwühlte. Sie kam so unerwartet. Sie selbst hätte sich niemals getraut, jemanden zu berühren, der noch trauriger war als sie …

„Jessica, Sie bleiben hier als unser Gast. Und das so lange, bis Sie sich wieder stark genug fühlen, um sich der Welt zu stellen.“ Wie sein Händedruck war auch seine Stimme: warm, kraftvoll, bestimmt.

„Es geht mir gut.“ Sie sah ihn an. Er ist mir nahe, dachte sie benommen. Zu nahe.

„Sie haben die Hölle durchgemacht“, fuhr er fort. „Aber nicht erst seit diesem Unfall, oder?“

Sie schluckte. „Wir haben dasselbe durchgemacht“, flüsterte sie und hoffte, er würde nicht weiter nachfragen.

„Ich …“, begann er nach einer kurzen Pause.

„Ich werde Sie sobald wie möglich verlassen“, unterbrach sie ihn erschöpft. „Es geht mir wieder gut. Vielen Dank, dass ich so lange hierbleiben durfte.“

„Jessica, sobald Sie von hier weggehen, wird sich die Presse auf Sie stürzen“, warnte er. „Auch diese Tragödie hat weltweit das Interesse der Medien auf sich gelenkt, und ich möchte Sie nicht allein lassen. Nach sechs Tagen im Krankenbett sind Sie so schwach wie ein neugeborenes Kätzchen. Bitte bleiben Sie noch. Innerhalb dieser Mauern kann ich Sie beschützen – zumindest ein paar Tage lang. Draußen sind Sie ganz allein.“

Wieder trat Stille ein.

Innerhalb des Schlosses könnte er sie beschützen? Das war verrückt. Sie brauchte keinen Schutz. Nein, sie konnte nicht bleiben. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wohin sollte sie gehen? Nach Hause? Zu Hause ist dort, wo das Herz ist. Sie hatte kein Zuhause mehr.

„Bleiben Sie doch noch für einige Tage!“, bat nun auch Louise inständig. „Wir fühlen uns verantwortlich für Sie. Sie können sich wirklich nicht vorstellen, welchen Druck die Presse ausüben kann. Sie sind viel zu erschöpft, um ihm standzuhalten. Gönnen Sie sich doch noch eine kleine Auszeit bei uns.“

Auszeit! Der Gedanke war verlockend. Und im Moment wäre es wohl auch das Vernünftigste. Sie war noch nicht in der Lage, den Faden – welchen eigentlich? – wieder aufzunehmen. Sie hatte die Wahl: Entweder verbrachte sie noch ein paar ruhige Tage im Schutz des Fürstenpalastes, oder sie lieferte sich den Fängen der Presse aus.

Schlagartig wusste sie, was sie zu tun hatte. Vor allem, weil Raoul sie anlächelte, wie …, wie …, Jessica fand keine Worte dafür. Sie spürte nur, dass sein Lächeln ihr das Herz erwärmte und etwas in ihr wieder zum Leben erweckte, das vor lauter Kummer abgestorben war.

Ja, sie würde bleiben. Sie musste bleiben.

„Danke“, flüsterte sie, und diesmal schenkte ihr Raoul ein noch gewinnenderes Lächeln.

„Gut!“ Er sah ihr tief in die Augen, und sein Blick strahlte so viel Wärme und Freude aus, dass sie sich jetzt ganz sicher war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. „Kehren Sie langsam zurück ins Leben. Was halten Sie zum Beispiel von einem schönen Dinner mit uns?“, schlug er vor.

„Ich …“

„Keine Sorge, es ist ganz zwanglos“, beruhigte Louise sie, die ahnte, welche Verwirrung so eine Einladung stiften konnte. „Nur im kleinen Kreis, mit meinem Sohn und mir.“ Sie lächelte. „Und einigen unserer Bediensteten.“

„Lass nur Henri uns bedienen, Mutter“, bat Raoul. „Gib den anderen heute Abend frei.“

Zögernd nickte sie. „Ja …, gut. Auch wenn es vielleicht nicht standesgemäß ist.“

„Darüber sollten wir uns jetzt keine Sorgen machen“, beruhigte Raoul sie. „Wir alle nicht. Zumindest für eine Weile.“

2. KAPITEL

Während Jessica sich in der riesigen Badewanne rekelte, kreisten ihre Gedanken um Raouls Vorschlag. Ein Dinner mit dem Prinzregenten von Azuri …

Sie musste schmunzeln. Als kleines Mädchen hatte auch sie – wie alle Kinder – das Märchen vom Aschenputtel gelesen und von Prinzen geträumt. Doch die Wirklichkeit ist völlig anders, dachte sie. Wirkliche Prinzen kamen nicht auf edlen Schimmeln angeritten, um die Liebste von ihren Sorgen und Nöten zu befreien und ihr den Himmel auf Erden zu bereiten. Wirkliche Prinzen hatten ihre eigenen Tragödien.

Die ganze Situation erschien ihr so unwirklich, dass sie sich, während sie sich wegen ihrer schmerzenden Muskeln und unzähligen Schrammen vorsichtig abtrocknete und anzog, nicht darüber aufregte, kein passendes Abendkleid oder eine helfende Fee zur Hand zu haben, die sie flugs in eine schöne Prinzessin verwandeln würde. Ich werde strenges Schwarz tragen, dachte sie, verdrängte diesen Gedanken jedoch gleich wieder. Wann hatte sie das letzte Mal Schwarz getragen?

Da sie ihre Reisegarderobe in erster Linie als Muster für die Lieferanten ausgesucht hatte, befanden sich fast nur extravagante Kleidungsstücke in ihrem Koffer. Für diesen Abend wählte sie einen knieumspielenden Volantrock in drei verschiedenen Blautönen, die in so feinen, fast unmerklichen Nuancen wellenförmig ineinander übergingen, dass sie dem Rock etwas Magisches verliehen. Dazu trug sie eine bestickte weiße Bluse mit Stehkragen und Flügelärmeln, die ihre blauen Flecken perfekt kaschierten. Das war alles. Kein Make-up – das mochte sie ebenso wie die Farbe Schwarz schon lange nicht mehr. Sie bürstete ihre kurzen Locken, bis sie glänzten, und musterte sich im Spiegel.

Mit ihrer Kleidung war sie zufrieden, doch an ihrem Gesicht hatte sie einiges auszusetzen: viel zu viele Sommersprossen und viel zu große, traurige Augen. Sie brauchte dringend ein gutes … Leben?

„Du hast dein Leben gehabt“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Und jetzt los, sie erwarten dich zum Dinner.“

Doch sie starrte weiter in den Spiegel, und plötzlich überfiel sie fast Panik. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, dass sie sich in einem Palast befand, in ihrer eigenen Suite.

„Dies ist eine unserer Gästesuiten“, hatte Louise ihr erklärt. Sie bestand aus einem riesigen Schlafzimmer, einem fantastischen Bad und einem kostbar möblierten Salon mit offenem Kamin, in dem seit Jessicas Ankunft ununterbrochen ein Feuer brannte, dessen Wärme der Frühlingssonne nachhalf, die spärlich durch die Südfenster schien. Diese gaben den Blick frei auf einen weitläufigen Rasen, der in einen Park und dahinter in Wald überging. Es war ein atemberaubend schöner Ort.

Sie hatte dem Dinner zugestimmt. Sie war fertig angezogen. Sie konnte jetzt nicht kneifen. Sie musste los. Wie hatte nur Aschenputtel sein flaues Gefühl überwunden?

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Henri kam herein. An den alten Butler konnte sie sich als Erstes erinnern, an seine verlässliche Gegenwart, sein freundliches Lächeln am Krankenbett. War er wie ein Großvater, den es sonst nur im Märchen gab?

„Ich dachte, ich begleite Sie hinunter, Mademoiselle“, sagte er, und sie sah ihm an, dass er ihre Nervosität verstand. „In diesen Korridoren kann man sich leicht verlaufen.“ Billigend musterte er sie. „Und wenn Sie mir diese Worte gestatten: Sie sehen bezaubernd aus. Es wäre zu schade, wenn Sie verloren gingen.“

Dankbar lächelte Jessica ihn an. Er bot ihr den Arm, und sie hakte sich zögernd ein. Ja, Henri war tatsächlich wie ein Großvater aus dem Märchenbuch.

„Keine Angst, es sind auch nur Menschen“, beruhigte er sie auf dem Weg zum Speisesaal. „Menschen, die Probleme haben, genau wie Sie.“

Als Jessica Raoul zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie ihn für einen gut aussehenden Mann gehalten. Jetzt, als Henri die Tür zum Speisesaal öffnete und sie Raoul in seiner Abendgarderobe sah, passte diese Beschreibung nicht mehr. Der Schnitt seines schwarzen Anzugs und die dunkelblaue Seidenkrawatte ließen erkennen, dass es sich um kostspielige italienische Designerstücke handelte. Das weiße Leinenhemd stand in perfektem Kontrast zu seinem dunklen Teint. Und sein Lächeln …

Gut aussehend? Nein. Er sieht einfach umwerfend aus, fand sie. Von Kopf bis Fuß total umwerfend!

Henri blieb mit ihr im Türrahmen stehen. Rasch erhob sich Raoul von seinem Stuhl, eilte auf sie zu und bot ihr den Arm, um sie an ihren Platz zu führen. Als wäre ich eine Prinzessin, dachte Jessica mit klopfendem Herzen. Ich bin viel zu schlicht gekleidet für dieses Ambiente. Doch Raoul lächelte sie an, als wäre sie tatsächlich eine Prinzessin, und auch Louise blickte bewundernd auf ihren Rock und sagte: „Waves.“

„Wie bitte?“ Irritiert setzte sich Jessica, sah auf Raouls Hände, die ihr den Stuhl zurechtrückten, und dann bewundernd auf die Tafel, die mit schwerem Silber und funkelnden Kristallgläsern gedeckt war.

„Ich meinte Ihren Rock“, erklärte Louise. „Wenn ich mich nicht irre, ist es ein original Waves – genau wie meiner.“

Jessica versuchte, sich zu konzentrieren – was ihr nicht leichtfiel, weil so viel Neues über sie hereinbrach. Und weil Raoul sie so seltsam, fast ein wenig traurig anlächelte, so, als wüsste er …

Ach was! Mach dich nicht lächerlich! schalt sie sich innerlich. Konzentriere dich jetzt auf Louises Rock! Ihre Gastgeberin trug tatsächlich einen Rock von Waves. Es war ein Stück aus einer von Jessicas früheren Kollektionen, ein wadenlanger Seidenrock in den Farben des Meeres – den Farben, die Jessica zu ihrer Marke gemacht hatte.

„Ich liebe die Kleider von Waves“, schwärmte Louise. „Und Sie offensichtlich auch. Aber Sie sind ja Australierin. Und Waves ist doch ein australisches Designerlabel, nicht wahr?“

„Ja“, bestätigte Jessica und fügte verlegen hinzu: „Ja … Waves. Das ist meine Arbeit.“

„Sie arbeiten für Waves?“

„Ich bin Waves“, antwortete Jessica ein wenig befangen. Noch vor einem Jahr hätte sie das nicht gesagt. Eher, dass sie die eine Hälfte von Waves sei, auch wenn das nicht der Wahrheit entsprochen hätte. Sie hatte Warren unterstützt, und dann, als sie ihn gebraucht hatte … Nein, sie durfte jetzt nicht darüber nachgrübeln! Sie schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, servierte Henri den ersten Gang.

„Hummersuppe, Mademoiselle.“

Dankbar blickte sie zu ihm auf. Der Butler gab ihr die Gelegenheit, auf andere Gedanken zu kommen. „Waves gehört mir“, erklärte sie und bemerkte, dass Louise sie ungläubig ansah. Und Raoul … Er schien angestrengt zu überlegen, als wollte er sich mit Bedacht ein Urteil bilden.

„Schon als Schülerin habe ich mich für Modedesign interessiert. Und später dann habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht.“

„Nein, im Ernst, Ihnen gehört tatsächlich Waves?“ Jetzt sah Louise sie voll Bewunderung an. „Raoul, hast du das gehört? Waves ist eine weltweit bekannte Designermarke. Das heißt, bei uns weilt eine berühmte Frau.“

„So berühmt nun auch wieder nicht“, wandte Jessica verlegen ein und aß einen Löffel Suppe. „Sehr fein!“ Anerkennend nickte sie Henri zu, obwohl sie in Wahrheit nichts schmeckte.

„Wollten Sie Ihren Urlaub hier verbringen?“, fragte Raoul plötzlich.

Er sieht mich irgendwie misstrauisch an, fand sie. So, als hielte er mich für eine Hochstaplerin, vor der er seine Mutter in Schutz nehmen muss. Aber wahrscheinlich ging wieder einmal die Fantasie mit ihr durch. „Ich …, nein. Ich bin hier, um Stoffe einzukaufen.“

„In Ihrem Wagen waren keine Stoffe“, bemerkte Raoul, und wieder klang er misstrauisch.

„Vielleicht weil mein Flugzeug erst am Morgen des Unfalltags hier landete“, sagte sie mit einer ungewollten Gereiztheit in der Stimme und bemühte sich wieder um einen sachlicheren Ton. „Vor dem Unfall hatte ich kaum Zeit, meinen Geschäften nachzugehen. Ich hatte gehört, dass die Stoffe der Weber von Azuri einzigartig sind.“ Sie stockte, doch dann konnte sie ihre Zunge nicht im Zaum halten. „Ich hatte erst einen Lieferanten getroffen. Wenn Sie mein Gepäck durchsucht haben, müssen Sie auch die Stoffe gefunden haben.“

„Ich habe Ihr Gepäck nicht durchsucht“, widersprach Raoul schnell.

Jessica zog die Brauen in die Höhe und lächelte. Gut, sehr gut, jetzt war er in der Defensive. Warum wollte sie das? Sie konnte es sich nicht erklären. Hatte sie etwa den Verstand verloren? Sich mit einem europäischen Prinzen anzulegen …

„Mein Sohn wollte Sie nicht angreifen“, schaltete sich Louise ein und sah Raoul tadelnd an. „Und die Weber von Azuri sind in der Tat exzellent.“ Louise fühlte sich jetzt auf sicherem Terrain. „Wenn Sie möchten, stelle ich Ihnen …“

„Nein, Mutter“, fiel Raoul ihr ins Wort. „Du darfst den Palast nicht verlassen – nicht, solange wir in diesem Dilemma stecken. Hast du das vergessen?“

Errötend biss sich Louise auf die Lippen. „Verzeih mir.“

„Macht die Presse etwa Jagd auf Sie?“ Jessica sah von Louise zu Raoul, und als sie bemerkte, wie angespannt beide waren, empfand sie Mitleid.

„Ja“, bestätigte Raoul bedrückt. „Sie warten nur darauf, dass wir den Palast verlassen.“

„Irgendwann müssen wir das auch“, entgegnete Louise leise.

„Warum wollen Sie von hier weggehen?“, wunderte sich Jessica.

„Man belagert uns“, fing Louise an, biss sich aber sofort auf die Lippen und sah voll Reue zu ihrem Sohn. „Verzeih … Ich wollte nicht … Jessica, wir wollen Sie nicht mit unseren Problemen belasten.“

„Ja“, murmelte Raoul. „Probleme, die uns andere bereiten. Aber bitte, Jessica, essen Sie Ihre Suppe, und vergessen Sie unsere Sorgen.“

Doch wie es aussah, konnte keiner seine Sorgen vergessen. Bei Raouls letzten Worten war Henri wieder in den Saal gekommen, diesmal ohne Speisen. „Verzeihen Sie die Störung“, sagte er, „aber Ihr Cousin Marcel ist gekommen. Er war heute schon dreimal da, ein viertes Mal lässt er sich nicht hinauskomplimentieren.“

„Ich bestehe darauf, dich zu sprechen!“, dröhnte es wichtigtuerisch vor dem Speisesaal, und noch ehe Henri sich wieder zurückziehen konnte, flog die Tür auf. „Dies ist von heute an mein Zuhause!“, erklärte der Neuankömmling mit dem Bariton. „Du und meine anderen lieben Verwandten, ihr müsst euch ab sofort daran gewöhnen!“

Sein herrischer Ton, die dreiste Bemerkung und die Art, wie er Henri beiseitegestoßen hatte, lösten bei Jessica tiefste Abneigung aus.

Wütend sprang Raoul von seinem Stuhl auf. „Was zum Teufel erlaubst du dir eigentlich? Einfach hier in unseren Speisesaal einzudringen?“, fuhr er seinen Cousin an.

„Du meinst, in meinen Speisesaal!“, kam es zurück.

Er war um die fünfzig, untersetzt und kahlköpfig, bis auf ein paar pomadige Strähnen, die an seiner Kopfhaut klebten. Er war kostspielig, aber alles andere als vorteilhaft gekleidet. Ein auffälliger Gürtel betonte seinen recht beachtlichen Bauch, und auch der teuerste Anzug hätte nicht kaschieren können, dass sein Körper alles andere als durchtrainiert war.

„Das ist der Neffe meines Gatten, Herzog Marcel d’Apergenet“, erläuterte Louise leise, und auch wenn sie sich bemühte, die Fassung zu wahren, bemerkte Jessica, wie aufgewühlt sie war. „Raoul, bitte, setz dich wieder. Jessica darf ich vorstellen? Dies ist … ab nächster Woche der Prinzregent. Marcel, das ist Jessica Devlin.“

Mit Abscheu und Verachtung sah Marcel von Raoul zu Louise. Als sein Blick an Jessica haften blieb, hellte sich seine Miene auf, und er sah Jessica fast wohlwollend an. „Das also ist die junge Frau, die Comtesse Sarah umgebracht hat.“

„Das hat sie nicht!“, empörte sich Louise, doch Marcel verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Und wenn schon, ich wäre der Letzte, der ihr das vorwerfen würde. Sarah stand mir nicht nahe. Gibt es überhaupt irgendwelche Menschen in unserer Familie, die sich nahestehen? Nein! Und Sarahs Tod hat eure Pläne gründlich zunichtegemacht. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Seit Tagen versuche ich, euch zu erreichen, aber euer blöder Butler hat mir den Zugang verwehrt. Es ist höchste Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen.“

„Nein!“ Louise schluchzte auf. „Sarah ist erst seit sechs Tagen tot. Und Edouard ist traumatisiert. Marcel, bitte gib uns noch Zeit.“

„Bis Montag, dann ist Übergabe.“ Marcel ließ sich nicht umstimmen. „Tod hin oder her, ihr kennt die Bedingungen für die Regentschaft. Ich übernehme das Schloss und die Verantwortung für das Kind, bis es alt genug ist, um die Thronfolge anzutreten.“ Er wandte sich an Raoul. „Du hast unser Land vor dreißig Jahren verlassen, für dich ist hier kein Platz mehr. Das sagen auch unsere Politiker. Auch sie wollen, dass du verschwindest und ich die Regentschaft übernehme.“

Eine bedrohlich wirkende Stille trat ein. Dann gab Louise sich einen Ruck. „Mein Enkel bleibt bei mir“, sagte sie verzagt, so, als würde sie Marcels Reaktion bereits kennen.

„Den Teufel wird er tun!“ Marcel lächelte bösartig.

Jessica lief ein Schauer über den Rücken. Sie hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, aber ihre Abneigung gegen diesen Mann wuchs von Minute zu Minute.

„Laut Verfassung darf nur ein verheirateter Mann die Regentschaft antreten.“ Marcel sprach so langsam und betont, als hätte er es mit lauter Dummköpfen zu tun. „Der Amtsinhaber muss die Regentschaft einen Monat nach dem Tod des alten Monarchen antreten. Kann er das nicht, so geht sie auf den Nächsten in der Erbfolge über, vorausgesetzt, er ist verheiratet. Deshalb habe ich die konstitutionelle Gewalt, das Sorgerecht für den Kronprinzen und das Anrecht auf das Schloss. Verschwindet endlich!“

„Nicht vor Montag!“, brüllte Raoul und sah aus, als würde er jeden Moment mit geballten Fäusten auf seinen Cousin losgehen. „Vor Montag bekommst du gar nichts. Erst dann läuft die Frist ab, und so lange bleiben wir hier!“

„Das Kind sollte mir aber sofort übergeben werden“, herrschte Marcel ihn an.

„Er bleibt bei mir!“, jammerte Louise.

Wieder grinste Marcel höhnisch. „Das wird er nicht! Dazu wäre eine Verfassungsänderung nötig – und die kann nur mit meiner Zustimmung erfolgen. Mit der überstürzten Heirat wolltet ihr euch den Thron sichern, doch Sarahs Tod hat euch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Kind wird gemäß meiner Anweisungen großgezogen.“ Und wieder hob er die Hände abwehrend und machte deutlich, dass er keine Widerrede duldete. „Keine Angst, Louise. Für ihn wird gut gesorgt sein.“

„Lügner! Du meinst vielmehr: Die Regierung kann mit ihm machen, was sie will, solange sie dafür sorgt, dass deine Kassen gut gefüllt sind!“ Auch wenn Raoul fast flüsterte, konnte er seinen Zorn nicht verbergen. „Du wirst ihn fertigmachen, genauso, wie du meinen Vater und meinen Bruder fertiggemacht hast.“

„Er ist doch noch so klein“, stammelte Louise, den Tränen nahe. „Er ist erst drei. Marcel, du darfst ihm seine Familie nicht wegnehmen.“

„Ich kann mit ihm machen, was ich will. Ich habe das Recht dazu.“

„Nicht vor Montag!“ Raoul hatte seine Beherrschung komplett verloren und stürzte sich fluchend auf seinen Cousin. „Du gieriger erbärmlicher Drecksack! Verschwinde endlich, sonst …“

„Wage es nicht …“

„Sieh mich an!“ Noch ehe Marcel es sich versehen konnte, hatte Raoul ihn mit beiden Händen am Kragen gepackt und aus dem Saal geworfen. Auf dem Flur wirbelte er ihn noch ein paar Mal im Kreis herum, bis er ihn mit Wucht gegen die Wand schleuderte.

„Lass mich los!“, schimpfte Marcel empört.

„Noch ist dies hier unser Zuhause. Vor Montag hast du nichts zu sagen – schon gar nicht, wer dieses Haus betreten darf oder nicht.“

„Das ist in weniger als einer Woche. Das ist doch lächerlich!“, brüllte Marcel vom Flur herein. „Ich werde euch alle festnehmen lassen!“

„Versuch’s nur!“

Jessica konnte nicht länger sehen, was geschah. Marcel war wutentbrannt durch die Eingangshalle Richtung Ausgang gerannt. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Jessica verstand überhaupt nichts mehr und ging zu Louise, die auf ihrem Stuhl zusammengesunken war. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte.

„Louise …“ Hoheit hin oder her, Jessica nahm sie in die Arme. Mit einem markerschütternden Aufschrei vergrub Louise das Gesicht an Jessicas Schulter und weinte leise, wenn auch immer wieder von Schluchzern unterbrochen.

Louise ist viel zu dünn, dachte Jessica. Sie war so hager und ausgemergelt, sie musste vieles durchgemacht haben. Vor knapp einem Monat hatte sie ihren Sohn und ihre Schwiegertochter verloren. Dann Sarah. Und jetzt …

Irgendwo musste hier ein kleiner Junge sein, der in Gefahr war. Sie hatte nie ein Kind gesehen, aber bis heute Abend hatte sie sich ja nur in ihrer Suite aufgehalten. „Wollen Sie mir erzählen, was passiert ist?“, fragte sie Louise. Doch Louise konnte nicht antworten.

Hinter ihnen trat Henri nervös von einem Bein aufs andere, und Jessica spürte, dass er genauso traurig war wie Louise. „Was ist nur los?“, flüsterte Jessica.

Eine Träne rollte über die runzlige Wange des alten Butlers. „Es geht um den kleinen Prinzen“, murmelte er mit einem besorgten Blick auf Louise.

„Mutter!“ Raoul war wieder hereingestürzt und nahm Louise so fest in die Arme, als wollte er ihr alle Last der Welt abnehmen.

Wie sanft er sein kann, dachte Jessica und trat beiseite. Und das von einem Augenblick zum anderen; eben noch hatte er Marcel brutal hinausgeworfen, und nun hielt er seine Mutter liebevoll im Arm.

„Mutter, wir müssen etwas unternehmen“, flüsterte er Louise sanft ins Haar. „Sie können das unmöglich erzwingen. Wir gehen vor Gericht.“

„Sie werden sich durchsetzen“, antwortete Louise gedrückt. „Du weißt doch, nur sein gesetzlicher Vormund darf zu ihm. Nach der Trennung von deinem Vater durfte ich nicht mehr in Jean-Pauls Nähe sein.“

„Das ist doch verrückt!“, brach es aus Jessica heraus. Sie biss sich auf die Lippen, doch der Drang zu verstehen war stärker als ihre Höflichkeit. „Könnte mir bitte jemand erklären, was passiert ist?“

„Ganz einfach, Mademoiselle“, schaltete sich nun Henri ein, der immer noch hinter ihr stand. Vielleicht würde es Jessica helfen, wenn er ihr die Wahrheit erzählte. „Das heißt, eigentlich ist es kompliziert.“

„Ich verstehe nicht …“

„Sie müssen wissen: Nach dem Tod des Fürsten muss ein Prinzregent den rechtmäßigen Thronerben großziehen, bis dieser im regierungsfähigen Alter ist. Und so lange trifft er an seiner Stelle sämtliche Entscheidungen.“

„Ja, richtig“, antwortete Jessica besonnen. „Das habe ich irgendwo gelesen. Solange der Thronnachfolger in einem Fürstentum noch ein Kind ist, darf er keine Verantwortung übernehmen, weil er dafür einfach noch zu jung ist.“

„Genau.“ Henri nickte und lächelte. „Nach Edouard ist Raoul der zweite in der Thronfolge. Somit wäre eigentlich er der neue Fürst; aber da er nicht verheiratet ist, hat er kein Recht darauf. Die Regeln sind wirklich sehr streng.“ Er hielt inne und warf einen Blick zu Raoul und Louise, doch Raoul war so sehr mit seiner Mutter beschäftigt, dass er nicht hörte, was der Butler Jessica anvertraute.

„Eigentlich will Raoul die Thronfolge gar nicht antreten“, fuhr Henri fort. „Nach Prinzessin Louises Trennung vom ehemaligen Fürsten durften sie und er nicht mehr hierherkommen. Sie zogen nach Paris, und später arbeitete Raoul in Afrika. Doch um des Kindes und des Landes willen beschloss er zurückzukehren. Comtesse Sarah stimmte der Heirat mit ihm zu, somit hätte er die Vormundschaft für das Kind bekommen, und Prinzessin Louise hätte ihren Enkel großziehen können. Doch dann kam Comtesse Sarah ums Leben.“ Er machte eine Pause. „Sie müssen wissen“, raunte er ihr dann zu, „Comtesse Sarah war nicht gerade eine gute Partie. Sie war Raouls Cousine und willigte in die Heirat nur ein, weil es ihr um Geld und Ansehen ging. Leider ist es ihr nicht gelungen, sich so zu verhalten, dass sie nun die Folgen genießen könnte.“

Jessica dachte über seine Worte nach und beschloss, einiges gar nicht genauer wissen zu wollen. Es gab schon so viel anderes, worüber sie nachdenken musste. Das Kind …, der kleine Prinz … „Ich habe kein Kind hier gesehen“, sagte sie leise. „Wo ist es?“

„Edouard ist ein ruhiges, aber auch überaus nervöses Kind“, antwortete Henri. „Er ist drei Jahre alt und nicht besonders robust. Im Augenblick schläft er. Er und seine Großmutter kennen sich kaum, sie verbringen nicht viel Zeit miteinander …“

„Aber Louise möchte doch, dass er bei ihr bleibt?“ Verwirrt schüttelte Jessica den Kopf. „Warum kennt sie ihn kaum? Das verstehe ich nicht …“

„Das können Sie auch nicht“, sagte Henri grimmig und sah wieder zu Raoul und Louise, die mit hängenden Köpfen dasaßen. Raoul widmete sich noch immer hingebungsvoll seiner Mutter und nahm von Henri und Jessica keine Notiz. Auch Louise schien mit ihren Gedanken weit fort zu sein.

„So ungewöhnlich ist das nun auch wieder nicht. Ehen gehen auseinander, Kinder werden nicht mehr von beiden Elternteilen großgezogen. Raoul war erst sechs Jahre alt, als seine Eltern sich trennten. Sein Vater interessierte sich nur für seinen erstgeborenen Sohn, der eines Tages das Erbe antreten würde. Deshalb konnte Prinzessin Louise die jüngeren Kinder mitnehmen. Ihren Ältesten aber durfte Ihre Hoheit nie mehr wiedersehen. Dass sie ihren Sohn zurücklassen musste, hat ihr vor dreißig Jahren das Herz gebrochen. Und sie wird wieder furchtbar leiden, wenn sie ihren Enkel nicht sehen darf.“ Die letzten Sätze hatte Henri laut und mit unverhohlener Wut ausgesprochen.

Ohne dass er es bemerkte, hatte Louise aufgehört zu schluchzen und ihm zugehört. „Nun wissen Sie alles“, sagte sie verzweifelt zu Jessica. „Sarahs Tod ist nur ein Mosaikstein in einer furchtbaren Tragödie.“

„Es tut mir so leid“, entgegnete Jessica leise.

Louise versuchte krampfhaft, ihre Tränen zurückzuhalten. „Hätte ich doch nie in diese Familie eingeheiratet! Auch wenn ich meine Kinder und meinen Enkel über alles liebe.“ Sie wand sich aus Raouls Armen und erhob sich schwankend. „Ich habe sie alle im Stich gelassen, ich kann es nicht ertragen.“

„Mutter …“, begann Raoul.

Doch kopfschüttelnd wehrte Louise ab. „Genug. Ich möchte schlafen gehen. Jessica verzeihen Sie bitte, dass Ihr erstes Dinner mit uns so unglücklich verlaufen ist.“

„Ich bringe dich zu Bett, Mutter“, bot Raoul an, doch das wollte Louise nicht.

„Nein, bitte kümmere dich um Jessica.“ Sie wandte sich an den Butler. „Henri würdest du mich bitte hinaufbringen? Ich glaube, ich brauche jetzt deinen starken Arm.“

„Gewiss, Madame.“

So wie Louise und Henri miteinander umgehen, muss sie eine gewachsene innige Freundschaft verbinden, dachte Jessica. Es schien jedenfalls über das Verhältnis zwischen Herrin und Diener hinauszugehen. Arm in Arm verließen beide den Saal.

Jessica und Raoul starrten ihnen nach.

Und dann war es schrecklich still. Jessica wusste eine Zeit lang nicht, was sie sagen sollte, bis es ihr plötzlich überdeutlich wurde: Sie hatte hier nichts verloren. Diese Familie steckte in großen Schwierigkeiten. Sie musste weg. „Verzeihen Sie mir bitte“, sagte sie. „Morgen früh reise ich ab. Ich möchte Ihnen nicht auch noch zur Last fallen.“

„Sie fallen uns nicht zur Last.“ Sie konnte fast zusehen, wie Raoul erstarrte. Dann räusperte er sich. „Ich muss Sie um Verzeihung bitten. Wir laden Sie zum Dinner ein, und jetzt steht die Suppe kalt auf dem Tisch, und Henri ist fort. Ich versuche, jemand anderen aufzutreiben, der uns etwas zu essen bringt.“

Forschend sah sie ihn an. Immer wenn sie Probleme hatte, erinnerte sie sich, war jemand da gewesen, der sie nötigte, etwas zu essen – und das half meistens.

„Könnten wir nicht auf Dienstboten verzichten?“, bat sie ihn. „Zeigen Sie mir doch einfach die Küche, dann bereite ich uns etwas zu essen.“

„Wie?“ Raoul klang verwundert.

„Oder gibt es in Palästen keine Küche?“ Mit dieser scherzhaften Frage wollte sie die bedrückende Situation auflockern. „Haben Sie Toaster, Brot und Butter? Und Marmelade? Ich habe eine Schwäche für Marmeladentoasts.“

Er blickte sie noch ungläubiger an, bis er schließlich den Mund zu einem schiefen Lächeln verzog. „Ich weiß nicht.“

„Sie leben hier und wissen nicht, wo es Marmelade gibt?“

„Ich bin erst seit zwei Wochen wieder hier.“ Sein Lächeln verblasste. „Und nur, um die Hochzeit in die Wege zu leiten. Danach wollte ich gleich wieder fort …“

„Mit Ihrer Braut?“

„Das war nur eine Liaison aus Vernunft, eine Geschäftsverbindung. Ich hatte nicht die Absicht hierzubleiben.“

Eine Geschäftsverbindung. Jessica starrte ihn an und wurde nicht schlau aus seiner versteinerten Miene. Was für kalte Worte: eine Geschäftsverbindung … Und dann wollte er fortgehen. Hätte er etwa seine Mutter mit dem Kind allein gelassen? Und seine Braut verlassen?

„Hatten Sie Angst zu bleiben?“ Kaum war ihr diese Frage herausgerutscht, tat es ihr leid. Das war nicht fair! „Verzeihung, es ist nur …“

„Wenn Sie damit meinen, dass ich die Sorge für meinen Neffen meiner Mutter überlassen hätte, dann hatte ich vielleicht Angst. Aber meine Mutter möchte unbedingt hierbleiben. Ich nicht.“

Wieder stand sie vor einem Rätsel. „Auch nicht, wenn Sie Fürst geworden wären? Das wäre doch fantastisch gewesen, oder?“

„Das Land hätte ich aus der Ferne regiert. Der ganze zeremonielle Kram interessiert mich nicht.“ Er schüttelte sich. „Von wegen fantastisch! Zum Glück hat sich das jetzt erledigt.“

Schon wieder waren sie bei diesem Thema angelangt, von dem sie doch ablenken wollte! Jessica holte tief Luft. Sie musste unbedingt wieder auf etwas Banaleres zu sprechen kommen, zum Beispiel Essen. Inzwischen war sie sehr hungrig, und er bestimmt auch.

„Kommen Sie, wir gehen jetzt in die Küche“, schlug sie vor. „Wissen Sie wirklich nicht, wo Marmelade ist?“

„Nein, ich … Warum sollte ich mich darum kümmern?“

„Warum nicht?“, gab sie erstaunt zurück. „Wetten, Sie mögen bestimmt sechs verschiedene Marmeladesorten, Hoheit?“ Schelmisch lächelte sie ihn an und versuchte, auch ihm ein Lächeln abzuringen. „Ich wette, Sie haben ein ganzes Team von Köchen, die alle nur darauf warten, uns die nächsten elf Gänge unseres Menüs aufzutischen.“

„Ich muss Sie leider enttäuschen“, sagte er. „Vielleicht erinnern Sie sich: Wir haben unseren Dienstboten heute Abend freigegeben. Und außerdem: Nennen Sie mich nicht Hoheit – ich heiße Raoul.“

„Dann hat also Henri für uns gekocht …, Raoul?“ Es kam ihr seltsam vor, ihn bei seinem Vornamen zu nennen. Zwischen ihnen war eine Schranke, die sie anscheinend jedes Mal, wenn sie ihn anlächelte, überschritt – und noch mehr überschritt, wenn sie ihn Raoul nannte.

Vielleicht ging es ihm ähnlich. Er schlug wieder einen formellen Ton an. „Ich nehme an, dass die Köchin einiges für Henri vorbereitet hat. Aber ja, er hat heute für uns gekocht. Da er jetzt aber meine Mutter zu ihrer Suite begleitet, könnte ich die Köchin anrufen und sie bitten zu kommen.“

„Warum?“ Jessica runzelte die Stirn – und schnupperte. Dann wiederholte sie noch einmal: „Also gut, Henri hat gekocht. Und nun bringt er Ihre Mutter zu ihrer Suite.“ Wieder schnupperte sie. „Hoheit – Verzeihung, Raoul –, es ist mir irgendwie peinlich, aber ich glaube, in der Küche gibt es ein Problem.“

„Woher …“

„Ich das weiß?“ Sie lächelte spöttisch. „Reine Intelligenz“, sagte sie und schnupperte wieder. „Ich bin wie Sherlock Holmes und kann besser riechen als der Hund von Baskerville. Ich muss nur meiner Nase folgen“, behauptete sie. „Da brennt irgendetwas an, ich wette, unser Essen. Kommen Sie, wir müssen verhindern, dass Ihr Schloss in Flammen aufgeht.“

3. KAPITEL

Sie liefen durch vier endlos lange Korridore. „Ein Wunder, dass die Suppe heiß auf den Tisch kam“, staunte Jessica. „Und kein Wunder, dass Henri so dünn ist. Der Ärmste muss ja jeden Tag die reinste Marathonstrecke zurücklegen.“

Raoul war nicht nach Lachen zumute. Jessica wusste, er war mit seinen Gedanken woanders, und sie wollte unbedingt Leichtigkeit in die Situation bringen.

Als sie endlich in der Küche angekommen waren, sahen sie die Bescherung. Offensichtlich hatte Henri gerade die Steaks gebraten, als der unwillkommene Besuch gekommen war. Drei Teller mit Salat standen bereit, doch das Fleisch war verbrannt und das Kartoffelwasser verdampft. Die Kartoffeln waren nur noch schwarze Klumpen, und es stank fürchterlich.

„Puh!“ Jessica sah sich um. In dieser Küche mit Holzbalken an der Decke, einem alten Steinfußboden und einem riesigen Holztisch in der Mitte hätte man für eine ganze Armee kochen können. Eine fantastische Küche, wäre nur nicht dieser schreckliche Geruch, dachte sie.

Raoul schien immer noch geistesabwesend zu sein. Wahrscheinlich denkt er über seine Tragödie nach, vermutete Jessica, anstatt gerade jetzt den Augenblick zu leben. „Würden Sie bitte Fenster und Türen öffnen, Hoheit?“, neckte sie ihn, schnappte sich ein paar Geschirrtücher und machte sich mit kriegerischer Miene an der Bratpfanne zu schaffen. „Das haben wir gleich.“

Raoul starrte sie einen Augenblick lang irritiert an, dann ging er zur Spüle. „Stellen Sie sie hier rein“, befahl er.

„Sie wollen doch nicht im Ernst eine glühend heiße Pfanne mit kaltem Wasser ausspülen?“ Sie lachte. „Was machen Sie eigentlich im wirklichen Leben, Hoheit? Lassen Sie mich raten. Sind Sie Ingenieur?“

„Ich bin Arzt“, antwortete er.

Nach einer kurzen Pause fragte sie: „Arzt? Sie heilen Menschen?“

„Richtig.“ Angestrengt legte er die Stirn in Falten, als müsse er sich konzentrieren. „Wie kommen Sie darauf, dass ich Ingenieur bin?“

Die Antwort lag auf der Hand. „Wegen Ihrer praktischen Veranlagung“, sagte sie und lächelte etwas verkrampft. „Mein Cousin ist Ingenieur, und er hat eine vier Zentimeter lange Narbe auf der Schulter, weil er genauso praktisch veranlagt ist wie Sie.“

Raoul sah sie entgeistert an. „Wie bitte?“

„Patrick ist wirklich ein hervorragender Ingenieur“, erklärte Jessica und faltete ein Geschirrtuch zusammen. Sie versuchte, nicht darauf zu achten, wie Raouls Augenbrauen zuckten, wenn er durcheinander war. Es machte ihn irgendwie … sehr attraktiv. „Eines Nachts, als Patrick noch Student war, bekam er Hunger und tat, was wahrscheinlich jeder Ingenieur tun würde, wenn er Hunger und nur eine Dose Bohnen hat. Er erhitzte sie auf dem Gaskocher – ohne sie vorher zu öffnen. Als er sich dann an der heißen Dose mit dem Dosenöffner zu schaffen machte, flog sie ihm an die Schulter und riss ihm eine Wunde.“ Sie lächelte jetzt entspannter. „Wie Sie, wenn Sie eine glühend heiße Gusseisenpfanne mit kaltem Wasser spülen wollen. Stellen Sie sich nur vor, was passieren könnte …“ Sie wickelte das Geschirrtuch um den heißen Pfannenstiel und nahm die Pfanne vom Herd. „Machen Sie die Tür auf“, befahl sie. „Schnell!“

„Jawohl, Madame.“ Mit einem erstaunten Blick öffnete er ihr die Tür.

Frische Abendluft drang herein, und der Qualm zog ab. Vorsichtig trug Jessica die heiße Pfanne nach draußen. Raoul starrte ihr begriffsstutzig hinterher. „Nehmen Sie die Kartoffeln“, forderte sie ihn über die Schulter hinweg auf.

„Welche Kartoffeln?“

„Diese kleinen schwarzen Bällchen, die so entsetzlich stinken“, erklärte sie geduldig.

Jetzt endlich begriff er, brachte sogar ein Lächeln zustande und folgte ihr mit den verbrannten Kartoffeln in den Garten. Nach dem Gestank in der Küche tat die frische Luft gut. Eine laue Brise wehte vom Meer herauf, und die untergehende Sonne tauchte die Berge in ein sanftes Abendrot.

Auf der untersten Treppenstufe hielt Jessica an. Mit dem heißen Topf in der Hand blieb Raoul neben ihr stehen. Keiner sagte etwas. Komisch dachte Jessica. Als wären sie befangen. Dafür gab es doch keinen Grund.

Los, weiter, Jessica! ermahnte sie sich und stellte die Pfanne auf die Steinstufe. Raoul machte dasselbe mit seinem Topf. Ein paar Hühner kamen herbeigelaufen und scharten sich um das Geschirr. Unschlüssig blickte Raoul zuerst auf das Federvieh, dann auf Topf und Pfanne. „Die machen sich über das Zeug her, wenn wir es hier stehen lassen.“

„Na ja, das ist wohl nicht mal mehr für diese Viecher genießbar.“ Kopfschüttelnd sah sie hinunter auf die Hühner. „Zum Trost bekommt ihr gleich ein Stückchen Brot.“

„Wir sollten das Geschirr vielleicht einweichen“, schlug Raoul zögernd vor.

Seufzend stemmte Jessica die Hände in die Hüften. „Typisch Mann! Natürlich müssen wir es einweichen, aber erst, wenn es abgekühlt ist. Hm …, sagten Sie nicht, dass Marcel in fünf Tagen das Schloss übernimmt?“

„Ja, aber …“

Mit einem schadenfrohen Lächeln fiel sie ihm ins Wort: „Dann schlage ich vor, wir lassen Topf und Pfanne hier stehen und weichen sie, sagen wir mal, etwa noch fünf Tage lang ein.“

Amüsiert schaute er sie an, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Es war, als würde die Sonne aufgehen. Dieses Lächeln war unwiderstehlich, es machte sie ganz schwindelig. Das durfte sie nicht zulassen.

Ein leises Knacken lenkte Jessica ab – genau im richtigen Moment. Ein Huhn war gegen die Pfanne gerannt. „Vorsicht!“, warnte sie das Huhn. „Sie ist wirklich sehr heiß.“ Dann drehte sie sich zu Raoul um. „Sie sind doch Arzt. Haben Sie jemals Brandwunden bei Hühnern versorgt?“

„Hm …, nein.“

„Hühner sind wirklich dumm“, meinte sie nachdenklich, wechselte dann unvermittelt das Thema. „Sie sagten, das Geschirr geht ab Montag auch in Marcels Besitz über?“

„Ja, für die Dauer von achtzehn Jahren, bis Edouard volljährig ist.“

„Dann also los!“ Sie lief zum Wasserhahn, an dem ein Gummischlauch hing. „Gehen Sie aus dem Weg. Und verscheuchen Sie die Hühner.“

„Was …?“

Er schien wirklich schwer von Begriff zu sein. „So wie Sie es mit Marcel getan haben. Verjagen Sie sie! Aber seien Sie nicht ganz so brutal zu ihnen …“

Wieder huschte dieses Lächeln über sein Gesicht. Nur ein Anflug von Lächeln, aber das genügte. Wie zwei Verrückte lächelten sie sich an, dann verscheuchte er die Hühner.

Sie drehte den Wasserhahn auf. Der eiskalte Wasserstrahl brachte die Pfanne zum Zischen, eine dicke Dampfwolke stieg auf – und dann zersprang sie krachend in zwei Teile.

„Oh“, sagte Jessica und versuchte, peinlich berührt zu klingen. Raoul sah sie an, als wäre sie nicht von dieser Welt. „Möchten Sie den Topf übernehmen?“ Sie hielt ihm den Schlauch hin.

„Gerne!“ Er nahm ihn ihr ab und zielte. Peng! Wieder ein Topf weniger für Marcel.

„Das macht richtig Spaß!“ Voll Tatendrang rieb sich Jessica die Hände am Rock. Das hatten sie gut gemacht. „Sollten wir vielleicht noch mehr Töpfe verkohlen lassen?“

„Sie sind keine Designerin, Sie sind eine Expertin im Zerstören.“

„Stimmt!“ Prüfend sah sie sich um. „Was können wir sonst noch kaputt machen? Wenn all das hier bald Marcel gehört, sollten wir vielleicht richtig schweren Schaden anrichten.“

„Das ist nicht fair“, entrüstete sich Raoul gespielt – sie spürte, es würde ihm durchaus gefallen, die Axt zu schwingen.

„Na gut“, gab sie nach. „Wenn es nichts mehr zu demolieren gibt, sollten wir jetzt etwas essen. Nur was?“ Resolut eilte sie zurück in die Küche. Beim Anblick der Salatteller lief ihr das Wasser im Mund zusammen. „Davon werde ich nicht satt.“

„Ich dachte, Sie sind krank.“

„Auch Kranke müssen essen. Außerdem geht es mir wieder besser. Jetzt erst recht. Und ich muss mich für meine Abreise stärken.“ Als sie bemerkte, wie ihm bei ihrem letzten Satz das Lächeln verging, kam sie schnell wieder auf das eigentliche Thema zurück. „Ich muss dringend etwas essen. Haben Sie Brot?“

„Jawohl, Madame.“

Sie kehrte ihm den Rücken zu, bevor sein entgeisterter Blick sie wieder verunsichern konnte, und öffnete den riesigen Kühlschrank. Was sie sah, reichte, um sie von Raoul abzulenken. „Sechs verschiedene Käsesorten, toll!“, rief sie begeistert.

„Sie sind schließlich auf Azuri“, sagte er. „Wir sind auch spezialisiert auf Käseherstellung.“

„Dann machen wir uns jetzt überbackene Käsebrote“, beschloss sie. „Und – darauf bestehe ich – Marmeladentoasts. Haben Sie die Marmelade schon gefunden?“

„Nein, ich …“

„Suchen Sie weiter“, verlangte sie mit gespielter Strenge. „Was für ein Prinz sind Sie eigentlich?“

„Keine Ahnung“, antwortete er schwach. „Ich habe nicht die geringste Ahnung.“

Es war ein seltsames Dinner. Sie schnitten Brote, belegten sie mit Käse und ließen sie im Ofen überbacken, bis sie goldgelb und knusprig waren. Dann setzten sie sich an den riesigen Küchentisch und aßen schweigend. Raoul schien mit seinen Gedanken wieder weit fort zu sein, und Jessica ließ ihn in Ruhe. Dieser Mann hatte eben seine Probleme. Im Augenblick konnte sie nur dafür sorgen, dass er etwas zu essen bekam und keine Fragen beantworten musste.

Nachdem sie ihr zweites Brot verzehrt hatten, kam Henri in die Küche, um Essen für Louise zu holen. Raoul schenkte ihm ein Glas Wein ein, während er und Jessica einen Berg Sandwiches vorbereiteten. Mit einer neuen Flasche Wein und den Broten für ihn und Louise schickte Raoul Henri zurück zu seiner Mutter.

„Ich kann doch nicht gemeinsam mit ihr essen“, wandte der Butler ein.

Raoul widersprach ihm. „Sie sind der Einzige, mit dem sie jetzt gerne isst, Henri, das wissen Sie. Auch wenn es heute nur Sandwiches gibt.“

„Die mag sie bestimmt.“ Henri sah auf die Brote, die Raoul nicht gerade dekorativ auf dem Teller gestapelt hatte. „Soll ich ihr ausrichten, dass ihr Sohn die Brote für sie gemacht hat?“

„Das wird Sie Ihnen nicht glauben. Aber wenn es hilft, dass ihr die Brote besser schmecken …“

„Ja, sagen Sie ihr, dass ihr Sohn die Brote für sie gemacht hat“, unterbrach ihn Jessica. „Und sagen Sie ihr auch, dass er ein Genie im Geschirrspülen ist, wie ein Topf im Garten beweist.“

„Moment mal, sie hat auch einen kaputtgemacht“, verteidigte sich Raoul, und beide brachen in schallendes Gelächter aus.

Henri sah sie an, als hätten sie den Verstand verloren, dann verließ er die Küche.

„Und jetzt bitte Toast mit Marmelade für uns“, sagte Jessica, als sie wieder allein waren.

Überrascht sah Raoul sie an. „Ich dachte, das wäre ein Scherz gewesen. Wo stecken Sie das alles nur hin?“

„Ich muss verlorene Zeit aufholen“, erklärte sie. „Wie Ihre Mutter habe auch ich eine Zeit lang zu wenig gegessen. Vielleicht tue ich das ab morgen auch wieder, aber heute Abend zumindest gibt es Marmeladentoasts und keine Sorgen.“

Er sah sie merkwürdig an, stellte aber keine weiteren Fragen. Sie strichen sich reichlich Marmelade auf die Toasts und verzehrten sie schweigend. Dann ging Jessica mit ein paar Brotscheiben in den Garten zu den Hühnern. Kaum hatten sie die Krumen aufgepickt, liefen sie in Richtung Hühnerstall davon.

Die ganze Zeit über spürte Jessica Raouls Blicke auf ihrem Rücken. Sie machten sie verlegen. Was mache ich als Nächstes, außer Raoul keine Beachtung zu schenken? fragte sie sich und sperrte die Hühner in den Stall, bevor sie zurück in die Küche und an die Spüle ging.

„Den Abwasch erledigt morgen die Köchin“, wandte Raoul ein, aber sie ließ bereits das Wasser einlaufen.

„Sie sind vielleicht ein Prinz, ich aber bin keine Prinzessin. Für mich spült niemand das Geschirr.“

„Aber …“

„Und Sie haben mir gesagt, dass Sie eigentlich kein Prinz sein möchten.“ Sie warf ihm ein Geschirrtuch zu. „Dann versuchen Sie’s doch mal.“

Sie spülte, er trocknete ab, beide sagten kein Wort. Dann atmete sie tief durch und beschloss, dass der Abend nun zu Ende war. „Danke …, vielen Dank für die großartige … Auszeit.“

„Auszeit wovon, Jessica?“, fragte er leise und legte das Geschirrtuch beiseite.

„Das bezog sich auf Sie. Auszeit von Ihren Sorgen“, log sie.

„Sie brauchen genauso dringend eine Auszeit wie ich.“ Als er ihre Verwirrung bemerkte, nahm er ihre Hände, drehte sie mit der Innenseite nach oben und studierte ihre Handlinien. „Wie alt sind Sie? Dreißig?“

„Nein … nicht! …“

„Bin ich Ihnen jetzt etwa zu nahe getreten?“ Er lächelte sie an.

Er sollte nicht so lächeln, wenn er ihr so nahe kam. Dieses Lächeln brachte sie völlig aus dem Gleichgewicht. Was hatte er gefragt? Jessica musste tief durchatmen, um nicht zu stottern. „Neunundzwanzig, wenn Sie es genau wissen möchten“, stieß sie hervor.

„Neunundzwanzig also. Sie leiten eine erfolgreiche Designerfirma in Australien. Sie kommen alleine hierher, und nach Ihrem Unfall haben Sie zu niemandem Kontakt aufgenommen und wollten auch nicht, dass irgendjemand über Ihren Unfall informiert wurde. Haben Sie denn keinen Ehemann?“

„Nein, ich …“

„Und Ihre Eltern?“

„Sie sind tot.“

„Geschwister?“

„Habe ich nicht.“

„So sind Sie also ganz allein auf der Welt?“

„Ja, und?“, entgegnete sie erschrocken. „Ich bin eine emanzipierte Karrierefrau. Wenn wir jetzt bei persönlichen Fragen sind, würde ich Ihnen auch gerne ein paar stellen.“

„Zum Beispiel?“

„Gut …, wie alt sind Sie?“

„Fünfunddreißig.“

„Und warum sind Sie nicht verheiratet?“

„Meine Eltern führten eine sehr schlechte Ehe. Ich weiß, warum ich lieber nicht heirate.“

„Und Sarah? Glauben Sie wirklich, dass eine Vernunftehe funktioniert hätte?“

„Natürlich, warum nicht?“

„Und wenn Sie Ihre Traumfrau getroffen hätten?“

„Das wäre Sarah egal gewesen. Wir hätten unsere öffentlichen Auftritte gehabt, mehr nicht – das zumindest war unsere Abmachung. Vielleicht hätte ich mit einer attraktiven Frau eine leidenschaftliche Affäre gehabt, bis der Traum wieder verblasst wäre.“

Etwas in Jessica krampfte sich zusammen. „Bis der Traum verblasst wäre? Müssen Träume immer verblassen?“

„Natürlich“, stieß er jetzt fast abweisend hervor, und seine Miene verriet ihr, dass nicht nur die gescheiterte Ehe seiner Eltern der Grund für seine Entscheidung gewesen war.

„Sie haben wohl schlechte Erfahrungen mit Frauen gemacht?“, fragte sie. „Wahrscheinlich haben Sie den falschen Traum geträumt. Wie ich.“

„Verdammt, Jessie …“

„Ich weiß, das geht mich nichts an.“ Sie entzog ihm ihre Hand und sah ihm in die Augen. Sie war zu weit gegangen, dazu hatte sie kein Recht. „Raoul, ich wünsche Ihnen alles Gute. Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie Probleme haben, aber … es wird Zeit, dass ich mich wieder auf mein Leben konzentriere und mich aus Ihrem zurückziehe. Danke für den schönen Abend. Danke für meine Auszeit hier. Ich gehe jetzt schlafen und reise morgen in aller Frühe ab.“

„Aber Ihr Wagen ist noch in der Werkstatt.“

„Ich miete mir einen anderen.“ Sie lächelte ihn an. „Keine Sorge, das Gute am Erfolg ist, dass ich nicht knapp bei Kasse bin.“ Sie machte eine Pause. Sie wollte ihm eigentlich keine Fragen mehr stellen, doch eines musste sie noch wissen. „Und Sie? Gehen Sie zurück nach Paris?“

„Nein. Ich versuche noch einmal alles, damit Edouard bei meiner Mutter bleiben kann und ihr Leben geregelt ist. Danach kehre ich nach Afrika zurück.“

„Nach Afrika? Was machen Sie denn dort?“

„Ich arbeite bei ‚Ärzte ohne Grenzen‘“, erklärte er. „In den drei letzten Jahren habe ich in Somalia gearbeitet.“

„Sie scherzen.“

„Warum sollte ich?“

Er hatte recht, dazu hatte er nicht den geringsten Grund. Sie musste nur ihren Eindruck von ihm korrigieren. „Dann hätten Sie also Ihren Beruf als Arzt eingetauscht gegen den eines Fürsten?“

„Wenn Sie denken, ich würde mich aus der Verantwortung stehlen …“, brauste er auf. Doch dann besann er sich und suchte nach einer vernünftigen Antwort auf eine Frage, die in seinen Augen unvernünftig war. „Jessica, dieses Land ist eines der korruptesten in ganz Europa“, sagte er nun wieder einigermaßen gefasst. Trotzdem konnte sie unterschwellige Wut aus seinen Worten heraushören. „Nach Jean-Pauls Tod habe ich die drei Staatsoberhäupter unserer Nachbarländer empfangen. Den Bürgern von Azuri stand das Wasser bis zum Hals. Ohne Gegenleistung mussten sie viel zu hohe Steuern zahlen, es kam zu einem Aufstand. Das Land war zur Brutstätte für Schwarzhandel und Korruption geworden, der Frieden nach innen und außen ist in Gefahr. Ein Machtwechsel muss stattfinden, und nur der regierende Fürst kann eine Verfassungsänderung herbeiführen. Marcel ist noch korrupter als alle anderen. Deshalb dachte ich, ich könnte etwas Gutes tun, indem ich Sarah heirate. Damit hätte ich das Sorgerecht für Edouard bekommen und ihn bei meiner Mutter lassen können. Und ich hätte alle notwendigen Reformen eingeführt, damit die Bürger dieses Landes nicht weiter bluten müssen – und danach wäre ich wieder zurück nach Afrika gegangen.“

„Warum?“

„Sie glauben mir noch immer nicht, dass ich kein Fürst sein will?“

„Die meisten Menschen würden sich so eine Chance nicht entgehen lassen.“

„Ich bin aber nicht wie die meisten Menschen …“, belehrte er sie unwirsch. „Wer hat das so schön gesagt: Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut. Wie mein Vater und mein Bruder möchte ich nicht werden.“

„Bei ‚Ärzte ohne Grenzen‘ werden Sie kaum die Karriere fürs Leben machen“, bemerkte sie nachdenklich. „Diese Ärzte arbeiten an den elendsten Plätzen der Welt. Ich habe gehört, dass die meisten nach einem oder zwei Jahren völlig ausgebrannt sind. Und Sie haben schon drei Jahre hinter sich.“

„Noch nicht lange genug, um ausgebrannt zu sein.“

„Vielleicht können Sie hierbleiben und als Arzt arbeiten“, überlegte sie laut, und für den Bruchteil einer Sekunde war sie nicht auf der Hut. „Was die medizinische Versorgung anbelangt, kann Azuri mit den meisten westlichen Ländern nicht mithalten. Das ist ziemlich erschreckend.“

In ihrer Stimme lag so viel Schmerz, dass Raoul sicher war, es gäbe einen tiefer gehenden Grund für ihre Bemerkung. „Sie strahlen etwas aus“, stellte er fest, „das mich vermuten lässt, dass Sie vor etwas davonlaufen.“

„Nein, ich laufe nicht davon“, widersprach sie und ärgerte sich, weil sie mehr von sich preisgegeben hatte, als sie wollte. „Jedenfalls nicht mehr als Sie, wenn Sie als Arzt nach Somalia zurückgehen, obwohl Ihr Volk Sie hier dringend braucht.“

„Es ist nicht mein Land und auch nicht mein Volk.“

„Wirklich nicht?“ Was tue ich da eigentlich? schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Was in diesem Mann vorging, hatte nichts mit ihr zu tun. „Verzeihung“, bat sie, während er sie verärgert ansah. „In Ordnung. Dies ist nicht Ihr Land, und Sie werden sobald wie möglich wieder weggehen.“ Ihre Gedanken purzelten wild durcheinander, sie musste sich zwingen, sachlich zu sein.

Als Arzt ist er bestimmt wunderbar, dachte sie und betrachtete seine schönen Hände, wobei sie plötzlich wieder dieses unerklärliche Kribbeln im Bauch verspürte. Sie musste dringend ihren Verstand gebrauchen. „Und was wird aus Ihrer Mutter, wenn Sie gehen?“

Er lächelte schwach. „Meine Mutter hat noch eine andere Wohnung auf Azuri. Und bevor Sie mir jetzt vorwerfen, dass ich sie und mein Land im Stich lasse, kann ich Sie beruhigen: Sie hat Henri an ihrer Seite. Er war ihr immer treu ergeben, wo sie hingeht, geht auch er hin.“

Und was würde aus Edouard werden? fragte sich Jessica, zwang sich jedoch gleich wieder zur Vernunft. Nein, sie wollte sich keine Gedanken um einen kleinen Jungen in Not machen oder ihn gar sehen. Sie durfte sich nicht auch noch mit Edouards Problemen belasten. Sie hatte kein Herz mehr für Kinder, und das war gut so, sonst würde sie verrückt werden. Lass los! mahnte ihre innere Stimme sie wieder, und Jessica beeilte sich zu sagen: „Oh, es ist schon zehn Uhr, gute Nacht!“

„Gute Nacht?“ Raoul schien überrascht zu sein. Eben noch hatte sie ihm eine Menge Fragen gestellt, und jetzt wollte sie einfach davonlaufen.

„Ja, gute Nacht. Und vielen Dank für alles. Es tut mir leid, dass Sie so viele Probleme haben, und ich möchte Ihnen keine neuen bereiten.“

„Das tun Sie nicht.“

„Trotzdem. Ich muss jetzt gehen.“

Er sah ihr in die Augen, und sie bemerkte, dass er völlig durcheinander war – etwa genauso wie sie? Sie musste auf der Stelle gehen. Doch als er ihr noch immer in die Augen sah, wusste sie mit einem Mal, was sie zu tun hatte. Es schien ihr das einzig Richtige zu sein.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Es war nur ein leichter, flüchtiger Kuss. Ein Kuss, der ihr angemessen schien. Ihn zu küssen, ihn zu spüren, mit ihm hier zu sein, in dieser riesigen Küche, die nach geröstetem Brot und verbrannten Steaks und Kartoffeln roch, fühlte sich gut an. Das häusliche Ambiente machte diesen Kuss möglich, zu etwas Normalem.

Raoul war zwar ein Mann, in dessen Adern blaues Blut floss, aber er war einsam. Er war Arzt und arbeitete da, wo nur die Tapfersten sich aufopfern. Er war ein Prinz, dessen Land durch Korruption zerstört war. Er war ein Onkel, dem man den Neffen entreißen wollte. Er hatte Probleme, über die nachzudenken Jessica fast unerträglich fand. Sie konnte ihm nicht helfen. „Alles Gute!“, wünschte sie ihm leise.

„Verabschieden Sie sich vor Ihrer Abreise noch von meiner Mutter?“

„Ja, sicher.“ Sie versuchte, nicht länger auf seine Hände zu starren. „Ich sage ihr Auf Wiedersehen, bevor ich morgen früh abreise. Danke, Raoul, danke für alles.“ Sie lief zur Tür, blieb dann aber plötzlich stehen.

In der Tür stand eine Frau. Jessica schätzte sie auf Ende dreißig. Sie war klein und trug über ihrem Kleid eine saubere weiße Schürze. Ihr braunes Haar war im Nacken zu einem strengen Knoten gebunden. Wie angewurzelt stand sie im Türrahmen und betrachtete Jessica und Raoul misstrauisch.

Überrascht sah Raoul sie an. „Cosette, was kann ich für Sie tun?“

„Ich gehe!“

Raoul verzog keine Miene. „Sie gehen? Jetzt?“

Cosette zog ein Handy aus ihrer Schürzentasche. „Herzog Marcel hat angerufen. Er sagte, ab Montag würde er den ganzen Palast unter seiner Kontrolle haben, auch das Kind. Er ist wütend. Er hat gesagt, Sie hätten ihn heute Abend beschimpft, und er würde Sie und Ihre Familie hinauswerfen. Und alle Dienstboten müssten gehen, und zwar sofort, sonst würden wir ab Montag keine neue Anstellung bei ihm bekommen. Jeden Einzelnen von uns hat er angerufen. Verzeihen Sie, aber Sie haben ab sofort kein Personal mehr, Hoheit.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand durch die Hintertür.

Jessica und Raoul starrten ihr fassungslos hinterher.

4. KAPITEL

„Verdammt!“ Raoul war wie vom Blitz getroffen.

„Ist das ein Problem?“, fragte Jessica vorsichtig. Sie war sich nicht sicher, ob sie in diese Angelegenheit mit hineingezogen werden wollte – oder vielmehr, sie wusste, dass sie es nicht wollte. Doch Raouls Verfassung machte es ihr unmöglich, jetzt zu gehen.

„Verdammt!“, fluchte er noch einmal. „Cosette hat sich um Edouard gekümmert.“

Jessica verstand nicht. „Ich dachte, Ihre Mutter wollte für ihn sorgen.“

„Das kann sie nicht. Er lässt sie nicht an sich heran. Er …“ Raoul stockte und raufte sich die Haare. „Das können Sie nicht verstehen.“

Nein, und ich will es auch gar nicht, dachte Jessica. Geh jetzt ins Bett, sagte sie sich, du kannst hier sowieso nichts ausrichten. Geh lieber, bevor du dich in dieses Chaos mit hineinziehen lässt.

Doch eines wollte sie unbedingt noch wissen. „Was meinen Sie mit: Er lässt sie nicht an sich heran?“

„Edouard wird sehr vernachlässigt“, erklärte Raoul. „Und wenn jetzt auch noch Cosette fortgeht …“ Er lief zur Tür. „Kommen Sie, ich muss sofort nach ihm sehen.“

Aber das will ich nicht! dachte Jessica panisch. Die Nähe eines Kindes in Not ertrage ich nicht!

Autor

Mindy Neff

Mindy Neff stammt ursprünglich aus Louisiana, dem Süden der USA, lebt aber jetzt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern im sonnigen Kalifornien.

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