Julia Saison Band 61

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HAND IN HAND IN DEN FRÜHLING VON CHARLOTTE LAMB
Als es mitten in der Nacht an der Tür des Cottages am Moor klopft, öffnet Juliet voller Vorahnung: Es ist Simeon, mit dem sie zumindest auf dem Papier immer noch verheiratet ist. Will er etwa ihrer Ehe eine zweite Chance geben?

FRÜHLING IN ROM VON SANDRA MARTON
Niemals könnte Fürst Nicolo sich in ein Model verlieben: Die Schönheiten des Laufstegs sind doch bloß oberflächlich! Auch die hinreißende Caroline wird ihn nicht umstimmen – davon ist Nicolo überzeugt. Obwohl er wie gebannt ist, als sich ihre Blicke auf einer Mode-Gala begegnen. Spontan lädt er sie in seinen Palazzo nach Rom ein …

FRÜHLING IN DER STADT DER LIEBE VON KATHRYN ROSS
Die Versuchung ist groß: Nur zu gern würde sich Peggy auf einer Geschäftsreise von ihrem Ex-Verlobten Dan verführen lassen. Doch noch immer ist er eng mit ihrer einstigen Rivalin Jordan befreundet …


  • Erscheinungstag 23.04.2021
  • Bandnummer 61
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501699
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Charlotte Lamb, Sandra Marton, Kathryn Ross

JULIA SAISON BAND 61

1. KAPITEL

Juliet Newcome war gerade auf dem Sprung, ihre Wohnung zu verlassen. In diesem Moment klingelte das Telefon. Fast wäre sie nicht an den Apparat gegangen, denn ein mit Terminen angefüllter Tag lag vor ihr. Allerdings war es ihr noch nie leicht gefallen, das Schrillen des Telefons zu ignorieren. So kehrte sie seufzend um und nahm den Hörer ab.

„Julie? Ich bin es“, meldete sich ihre Mutter mit erregter Stimme. „Gut, dass ich dich erreiche, ich fürchtete schon, du wärst bereits auf dem Weg zur Arbeit. Und ich muss sofort los, wenn ich den Zug nach London noch erwischen will, und dann dauert es wieder eine Ewigkeit, von dort nach Heathrow zu gelangen. Oh, ich hasse es, zu reisen.“

Stirnrunzelnd sagte Juliet: „Langsam, Mum. Wovon sprichst du überhaupt? Wo willst du denn hinfahren?“

„Na, das ist es doch gerade! Ich habe es selbst erst heute Morgen erfahren … nein, gestern Abend, nein, eigentlich mitten in der Nacht.“

Shirley Mendellis etwas zusammenhanglose Rede überraschte ihre Tochter nicht im Geringsten. Daran war sie gewöhnt.

Insgeheim war Juliet froh, diese sprunghafte Art nicht geerbt zu haben. Äußerlich sah sie ihrer Mutter sehr ähnlich, beide waren groß und schlank, hatten dichtes kastanienbraunes Haar, blaue Augen sowie ebenmäßige Gesichter und makellose Haut. In ihrem Temperament waren sie jedoch grundverschieden. Juliet war ruhig und vernünftig, Shirley impulsiv und unpraktisch.

„Was hast du gehört?“, fragte Juliet ruhig, doch das konnte natürlich den Redestrom ihrer Mutter nicht eindämmen – wenn man sie unterbrach, dauerte es noch länger.

„Ich versuche doch, es dir zu erklären, Juliet. Bitte hör mir zu“, bat Shirley jetzt. „Heute früh um drei klingelte das Telefon. Ich bin aus tiefstem Schlaf hochgeschreckt. Natürlich ist es unmöglich, um diese Zeit einen Flug zu buchen. Deshalb ging ich wieder ins Bett, aber ich konnte nicht einschlafen. Also bin ich wieder aufgestanden, habe meinen Koffer gepackt und aufgeräumt. Danach habe ich den ersten Flug nach Italien gebucht.“

„Italien?“ Juliet erschrak. „Es geht also um Giorgio? Ist er krank?“

Ihr Stiefvater hielt sich seit einigen Wochen in Italien auf. Zweimal jährlich unternahm er Einkaufsfahrten für die kleine Ladenkette, die ihnen gemeinsam gehörte. Sie verkauften erstklassige handgefertigte Schuhe und andere luxuriöse Lederwaren. Erst gestern Morgen hatte Juliet mit ihm telefoniert. Da war er bester Laune gewesen. Was immer sich danach ereignet hatte, es musste völlig unerwartet geschehen sein.

„Festgenommen!“, rief Shirley dramatisch.

„Festgenommen? Giorgio? Aber weshalb, um Himmels willen?“

Juliet konnte sich Giorgio beim besten Willen nicht als Gesetzesbrecher vorstellen. Er war einfach nicht der Typ dazu, er liebte das angenehme Leben zu sehr. La dolce vita. Für ihn bedeutete das gute Kleidung, ein gemütliches Zuhause, ein schickes Auto, eine Frau, die ihn liebte und ihm jeden Wunsch von den Augen ablas, exklusives Essen, edlen Wein, die Zigarre nach dem Dinner.

Juliet hatte Giorgio immer für einen der glücklichsten Menschen gehalten. Obwohl schon über sechzig, war er immer noch sehr attraktiv mit seinem silbergrauen Haar und den dunklen Augen, der stets gebräunten Haut und seinem charmanten Wesen. Ihre Mutter betete ihn geradezu an, und auch er schien sie sehr zu lieben.

„Warum weiß ich nicht, Julie“, jammerte Shirley jetzt. „Ich konnte es nicht herausbekommen. Zuerst habe ich mit einem Polizisten gesprochen, der irgendwas von Übertretung der Verkehrsregeln sagte. Er hatte einen scheußlichen Akzent. Durch den Schock haben mich meine Italienischkenntnisse ziemlich im Stich gelassen, und ich habe nur die Hälfte von allem verstanden. Dann durfte ich mit Giorgio sprechen, aber nur ganz kurz. Er beteuerte, er sei unschuldig, er habe es nicht getan. Völlig aufgelöst war er, den Tränen nahe. Du kennst ihn ja.“

„Allerdings.“ Juliet musste unwillkürlich lächeln. Giorgio gehörte zu jenen Männern, die stets der Fürsorge einer Frau bedurften. Seine Mutter war eine temperamentvolle, dominante Sizilianerin gewesen, die zwölf Kinder geboren hatte. Sie hatte sie alle besitzergreifend geliebt und mit eiserner Hand erzogen. Nur aus diesem Grund war Giorgio damals mit fünfundvierzig Jahren noch unverheiratet gewesen. Seine Mutter hatte mehrmals eine Ehe verhindert.

Ihr ältester Sohn hatte ein Mädchen geheiratet, das sie für ihn ausgesucht hatte. Doch Giorgio, der Jüngste, war ihr Liebling, und sie wollte ihn nicht fortlassen. Giorgio fügte sich seiner Mutter, weil er sie liebte und ihre Gefühle nicht verletzen wollte.

Der Tod seiner Mutter hatte ihn anschließend befreit, und bald darauf heiratete er die erste Frau, in die er sich verliebte. Überraschenderweise war es eine Ausländerin, eine englische Touristin.

Diese erstaunlich unerwartete Heirat hätte leicht katastrophale Folgen haben können, doch dazu kam es nicht. Im Gegenteil, die Verbindung wurde ein voller Erfolg, und heute, mehr als fünfzehn Jahre danach, waren die beiden immer noch glücklich.

„Du verstehst also, warum ich so schnell wie möglich zu ihm muss“, sagte Juliets Mutter.

„Natürlich. Der arme Giorgio! Er ist bestimmt in einer schrecklichen Verfassung. Möchtest du, dass ich auch mitkomme? Ich müsste einige Verabredungen neu treffen, aber das wäre möglich. Am späten Nachmittag könnte ich fliegen, sicherlich gibt es da eine Verbindung.“

„Nein, nein, Juliet, das schaffe ich schon allein. Es ist mir lieber, wenn du hier bleibst, damit ich dich anrufen kann, falls ich etwas brauche. Geld oder einen Anwalt, was weiß ich. Außerdem, was soll aus dem Geschäft werden, wenn wir alle drei gleichzeitig fort sind?“

Juliet lächelte. „Ach, ich glaube, das würde schon ein paar Tage weiterbestehen. Aber ich werde tun, was dir am liebsten ist, das weißt du. Kann ich dir jetzt irgendwie helfen?“

„Nur eines noch – wäre es dir möglich, am Wochenende zum Cottage zu fahren, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist? Die Arbeiter sollten bis dahin mit dem Küchenausbau fertig sein. Ich möchte nur, dass jemand nachschaut, ob sie auch alles richtig gemacht haben. Mrs. Cottman, meine Raumpflegerin, wollte sich eigentlich darum kümmern. Aber ihre Tochter hat ein Baby bekommen, und deshalb ist sie nach Leeds gefahren, um ihr ein wenig zu helfen. Ich habe keine Ahnung, wie es jetzt im Haus aussieht, und es belastet mich; also, wenn du …“

„Natürlich. Heute ist Donnerstag, nicht wahr?“ Juliet überlegte und versuchte, sich auf ihre Termine fürs Wochenende zu besinnen.

„Ich habe am Wochenende nichts Wichtiges vor“, meinte Juliet schließlich.

Nur eine Verabredung mit dem Mann, mit dem sie zurzeit befreundet war, aber die musste sie eben absagen. Wichtiger war es jetzt, ihre Mutter zu beruhigen.

„Ich werde morgen Abend hinfahren. Aber denke bitte daran, nach fünf kannst du mich nicht mehr erreichen, erst nach neun im Cottage.“

„Es ist eine lange Fahrt, Darling. Bist du sicher, es macht dir nichts aus?“

„Ganz sicher. Im Gegenteil, es wird mir gut tun, einmal ein paar Tage aus London herauszukommen“, versicherte Juliet. „Mach dir darüber keine Gedanken. Konzentriere dich ganz auf Giorgio, gib ihm einen Kuss von mir und nimm dir den besten Anwalt. Am besten setzt du dich direkt nach deiner Ankunft mit den Brüdern Lazaro in Verbindung. Sie kennen Giorgio seit Jahren und sind wirklich fähige Anwälte. Ich bin sicher, sie werden euch gern helfen. Und Mum … du meldest dich doch so bald wie möglich, nicht wahr?“

„Natürlich, Darling. Ich muss mich jetzt beeilen, sonst verpasse ich noch das Flugzeug. Bye-bye, ich rufe dich bald an.“

Nachdenklich legte Juliet den Hörer auf. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, ihre Mutter zu begleiten. Shirley wurde leicht hektisch und geriet in Panik. Nach fünfzehn Jahren Ehe mit Giorgio sprach sie zwar fast fließend Italienisch, aber in beängstigenden Situationen ließen ihre Sprachkenntnisse sie oft im Stich.

Juliet zögerte. Dann entschied sie abzuwarten, bis ihre Mutter das nächste Mal anrief. Notfalls konnte sie auch morgen früh noch nach Mailand fliegen.

Ein arbeitsreicher Tag lag vor ihr. Sie hatte die Absicht, alle drei Londoner Filialen aufzusuchen. Sie verdrängte also für den Augenblick jeden Gedanken an ihre Mutter und Giorgio und eilte zur Garage. Juliet besaß einen kleinen roten Kombi, der sich als ungeheuer praktisch erwiesen hatte. Auf der Ladefläche konnte sie jede Menge Ware unterbringen, trotzdem war das Fahrzeug nicht zu groß, um im dicht gedrängten Londoner Verkehr einen Parkplatz zu finden.

Es war typisch für Juliet, dass sie ihren Wagen nach so praktischen Gesichtspunkten ausgewählt hatte. Genauso typisch war es für Shirley, ihrer einzigen Tochter diesen romantischen Namen zu geben. Juliet selbst gefiel er nicht: Kinder neigen dazu, sich über ihre Klassenkameraden lustig zu machen. Wo immer sie zur Schule ging, verfolgten sie Sprüche wie „Romeo, wo bist du, mein Romeo?“ oder gar „Wer hat dich denn vom Balkon gelassen?“ Glücklicherweise nannten die meisten ihrer jetzigen Bekannten sie Julie.

Bis auf Vater, dachte sie plötzlich und verzog das Gesicht. Er hatte sie stets Juliet genannt. Diese Starrköpfigkeit war typisch für ihn, so war er in allen Dingen. Will Newcomes Einstellung zum Leben war schon lange vor Juliets Geburt festgefahren gewesen. Solange sie ihn kannte, hatte er sich nie verändert. Sie bezweifelte, ob er es jemals tun würde. Nie hatte sie verstanden, warum ihre Mutter ihn überhaupt geheiratet hatte. Ob sie ihn wohl geliebt hatte?

An diesem Morgen herrschte besonders starker Verkehr. Erst gegen neun erreichte Juliet den Laden in der Bond Street. Sie parkte in einer Seitenstraße, ging aber nicht durch den Hintereingang, sondern kam nach vorn, um das Schaufenster zu inspizieren. Ja, die Dekoration erregte wirklich Aufmerksamkeit, und darüber hinaus schien sie nicht viel gekostet zu haben, was ein großer Pluspunkt war.

Die Frühjahrsfarben gefielen ihr besonders. Ein sanftes Gelb, Blattgrün, Himmelblau, der Anblick hob sofort die Stimmung. Die Dekorateurin hatte die Wirkung mit Gazewölkchen und Zweigen mit künstlichen Apfelblüten geschickt verstärkt. Die kostbaren handgefertigten Schuhe schienen zu schweben, wirkten leicht, und verlockten geradezu dazu, sie zu tragen.

Dieses neue Mädchen war begabt, sie mussten sie unbedingt halten. Juliet beschloss, die Filialleiterin anzuweisen, der jungen Angestellten eine kleine Gehaltserhöhung zu geben. Es war stets ein Fehler, gutes Personal unterzubezahlen. Giorgio hatte ihr das beigebracht, als sie ihre erste Filiale leitete.

Sie dachte besorgt an ihren Stiefvater. Was konnte nur geschehen sein? Er war keineswegs ein unvorsichtiger Fahrer, im Gegenteil, er hatte noch keinen einzigen Unfall gehabt.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“

Juliet zuckte zusammen und drehte sich um. „Hallo, Sandy. Tut mir leid, ich war ganz in Gedanken.“

„Ich dachte, die Schaufensterdekoration gefällt Ihnen nicht.“

„Himmel, nein! Ganz im Gegenteil. Sie ist sogar ausgezeichnet“, versicherte Juliet.

Sandy lächelte erleichtert. „Gut. Mir gefällt sie nämlich auch. Karen, unsere Neue, hat das gemacht. Sie hat Talent, finden Sie nicht auch?“

„Sehr“, bestätigte Juliet. „Ich habe soeben beschlossen, ihr eine Gehaltserhöhung zu geben. Wir müssen dieses Mädchen halten, Sandy. Sie ist die beste Dekorateurin, die wir seit langem hatten.“

„Ich werde mir alle Mühe mit ihr geben“, versprach Sandy.

Sandy leitete die Filiale seit einigen Jahren mit großem Erfolg. Angestellte und Kunden mochten sie. Gleichzeitig war sie sehr tüchtig. Jetzt lächelte sie Juliet erfreut zu. Gemeinsam betraten sie das Geschäft und gingen nach hinten durch in Sandys kleines Büro.

Im Vorbeigehen nickte Juliet den beiden Mädchen, die Schuhe in die Regale ordneten, freundlich zu, doch sie blieb nicht stehen, um mit ihnen zu plaudern. „Ich habe heute noch eine ganze Menge zu erledigen, Sandy“, erklärte sie. „Im Moment muss ich die Arbeit meiner Mutter mit übernehmen. Sie musste nach Italien … irgendetwas ist mit Giorgio.“

Aufmerksam hörte Sandy zu, während Juliet ihr erzählte, was sie von der Sache wusste. Sandy reagierte genauso überrascht und fassungslos, wie Juliet es getan hatte.

„Ausgerechnet Giorgio? Er wird doch nicht angetrunken gefahren sein? Ich weiß, dass er hin und wieder ein Glas Wein schätzt, aber er übertreibt es doch nie, oder?“

„Giorgio neigt in keiner Beziehung zu Übertreibungen“, meinte Juliet. „Deswegen kommen er und meine Mutter wahrscheinlich so gut miteinander aus. Nur ein ausgeglichener Mann wie Giorgio schafft es, mit ihren Stimmungsschwankungen fertig zu werden.“

„Wie ist eigentlich Ihr leiblicher Vater …?“ begann Sandy. Sie hielt jedoch sofort verlegen inne, denn Juliet selbst hatte ihn nie erwähnt. „Tut mir leid, das geht mich ja gar nichts an.“

Juliet verzog das Gesicht. „Ach, es ist ja kein Geheimnis. Mein Vater hat meine Mutter nie verstanden, sie machte ihn verrückt. Soweit ich weiß, war ihre Ehe vom ersten Tag an ein Desaster.“

Sie hätte das niemand anderem anvertraut, aber Sandy war fast wie eine Freundin. Sie hatten sich vor sieben Jahren kennen gelernt, als sie beide in dem Laden in der Oxford Street arbeiteten. Damals war Juliet schüchtern, unsicher und unglücklich gewesen. Von sich aus hätte sie sich mit niemandem anfreunden können, wenn die anderen ihr nicht sehr entgegengekommen wären. Sandy war völlig anders: fröhlich, freundlich und selbstbewusst. Es war leicht, mit ihr auszukommen.

Überdies war Sandy außergewöhnlich hübsch mit ihrem hellblonden Haar und den braunen Augen. Verheiratet war sie mit einem Handlungsreisenden, der oft geschäftlich unterwegs war. Juliet würde eine solche Regelung nicht gefallen, aber Sandy schien es nichts auszumachen.

Natürlich freute sie sich stets, sobald Tom, ihr Mann, wieder nach Hause kam. Wenn er fort war, war sie jedoch keineswegs unglücklich, denn sie hatte ihren Beruf, der sie ausfüllte, und auch eine Menge Freunde. Sie und Tom lebten in einem modernen Apartmentblock, in dem fast nur junge Leute wohnten. Wie es ihrer Art entsprach, hatte Sandy die meisten von ihnen rasch kennen gelernt und traf häufig Verabredungen. Dennoch war sie im Job überaus erfolgreich, und Juliet hoffte, sie noch lange in der Firma halten zu können.

Sie waren jedoch nur ein kleines Unternehmen mit einem halben Dutzend Filialen, die meisten davon in London. Kürzlich hatten sie jedoch auch ein Geschäft in Manchester eröffnet. Shirley und Giorgio waren für ein paar Monate dort hingezogen, um den Laden in Schwung zu bringen. Wenn er ein Erfolg wurde, konnten sie im nächsten Jahr das Risiko wagen, eine weitere Filiale zu eröffnen.

Trotzdem waren sie nicht in der Lage, Sandy so viel zu zahlen, wie ein Großunternehmen das konnte. Wenn sie weiterhin so erfolgreich waren wie bisher, bestand natürlich eines Tages für Sandy schon die Möglichkeit, in die Verwaltung aufzurücken. Julie wusste genau, dass dies Sandys Wunsch war. Doch im Moment waren solche Ideen reine Zukunftsmusik.

„Sie sehen Ihren Vater nie, oder?“ unterbrach Sandy jetzt Juliets Gedanken.

Juliet sah sie erschrocken an und schüttelte den Kopf. „Nein.“

Hastig nahm sie die Abrechnungsunterlagen vom Schreibtisch. „Tut mir leid, aber ich muss weiter, Sandy. Ich soll nicht nur die Aufgaben meiner Mutter erledigen, sondern sie hat mich auch noch gebeten, dieses Wochenende nach Cornwall zu fahren. Sie hatte die Handwerker im Haus, aber noch keine Gelegenheit, sich die fertige Arbeit anzusehen. Ich habe versprochen, morgen rasch vorbeizuschauen.“

„Rasch vorbeizuschauen?“ wiederholte Sandy, halb verblüfft und halb belustigt. „Bis dorthin ist es doch eine mehrstündige Fahrt! Außerdem wird es dort unten bestimmt noch frieren.“

Es hörte sich an, als sei Cornwall eine arktische Gegend, und Juliet lachte. „Ich freue mich auch nicht gerade auf die lange Fahrt, besonders am Freitagabend“, gab sie zu. „Aber ich möchte nicht, dass Shirley sich auch noch Gedanken über das Cottage macht, wenn sie schon Giorgios wegen so in Sorge ist.“

„Aber wollten Sie nicht mit Adam zu irgendeinem tollen Ball?“ wandte Sandy ein.

Juliet zog eine Grimasse. „Ja, und es wird bestimmt nicht leicht sein, ihm beizubringen, dass ich nicht mitkommen kann.“

„Können Sie nicht heute nach Cornwall fahren und rechtzeitig zum Ball wieder zurück sein?“

„Unmöglich. Ich habe einige wichtige Verabredungen, die ich nicht aufschieben kann. Außerdem möchte ich heute in der Nähe des Flughafens bleiben für den Fall, dass meine Mutter doch meine Hilfe in Mailand braucht. Bis morgen Abend wird sie ja wohl herausgefunden haben, was eigentlich los ist.“

Sandy nickte verständnisvoll. „Ja, natürlich. Ach, verflixt, Adam wird das schon verstehen. Die Familie kommt an erster Stelle.“

Juliet lächelte unsicher. „Ich hoffe es. Aber es ist die Jahresfeier seiner Firma, alle seine Vorgesetzten werden dort sein, und Adam will natürlich einen guten Eindruck machen. Er hat mich sogar beim Kleiderkauf begleitet, um sicher zu sein, dass ich Aufmerksamkeit errege. Deshalb wird meine Absage ihn bestimmt nicht begeistern. Ich sehe jedoch keine Möglichkeit, bis Samstagabend aus Cornwall zurück zu sein. Wenn ich dort ankomme, werde ich ziemlich erschöpft sein. Ich bezweifle, ob ich sozusagen auf der Stelle wieder umkehren möchte.“

„Das kann ich gut verstehen“, bestätigte Sandy.

Adam war jedoch keineswegs so verständnisvoll, als Juliet ihm am Abend ihre geänderten Pläne mitteilte. Im Gegenteil, er wurde wütend.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du musst mitkommen! Ich kann nicht allein zum Ball gehen. Man wird denken, du hättest mich versetzt! Ich werde wie ein ausgemachter Idiot dastehen!“

Nichts könnte für Adam schrecklicher sein. Juliet wusste das und sah ihn unglücklich an. Seine Würde bedeutete Adam sehr viel. Aus armen Verhältnissen stammend, war er die Erfolgsleiter so rasch emporgestiegen, dass ihm selbst manchmal schwindlig davon wurde und er Angst hatte abzustürzen. Daher hatte er das Verlangen, sich in jeder Lage selbstbewusst und als Herr der Situation zu zeigen. Würde war für ihn ein Schutzschild.

Eigentlich war es gerade seine innere Unsicherheit, die Juliet zu ihm hingezogen hatte, doch Adam wäre über dieses Geständnis nicht sonderlich erfreut. Dabei konnte er wirklich ganz charmant sein, wenn er ausnahmsweise einmal seine Rolle als Karrieremann vergaß.

„Es tut mir wirklich leid, Adam. Ich weiß, wie viel dir dieser Ball bedeutet, aber es ist nun einmal eine Frage der Prioritäten …“

Seine Gesichtszüge verhärteten sich. „Ich verstehe“, erwiderte er aufgebracht. „Und ich komme eben erst nach dem Cottage deiner Mutter, richtig?“

„So habe ich es nicht gemeint.“

„O doch, das hast du. Deine Mutter bittet dich, völlig überflüssigerweise, ein paar hundert Meilen zu fahren, und schon lässt du mich und unsere Verabredung fallen, ohne überhaupt weiter darüber nachzudenken. Meine Karriere ist dir verdammt gleichgültig, nicht wahr? Ich habe dir wiederholt erklärt, wie wichtig dieser Ball für mich ist. Der Vorstandsvorsitzende kommt! Er tanzt immer mit einigen der hübschesten Frauen. Vielleicht hätte er dich aufgefordert.“

„Vielleicht hätte er mich nicht einmal bemerkt“, erwiderte Juliet trotzig.

„Die Frauen und Freundinnen leitender Angestellter werden immer bemerkt!“ fuhr Adam sie an. „Je höher man in der Firma aufsteigt, umso wichtiger ist es, eine vorzeigbare Frau zu haben.“

„Vielen Dank. Das bin ich also für dich? Eine vorzeigbare Frau?“ Auch Juliet war jetzt wütend. Ihre Wangen brannten. „Ich bin nicht dein Eigentum, Adam. Du kannst mich nicht einfach einmal im Jahr deinem Boss zur Begutachtung vorführen. Kriegen wir etwa auch Noten von eins bis zehn? Und wie kommen sie zustande? Gibt es einen Punkt für geschmackvolle Kleidung? Einen für schöne Beine? Wonach sonst beurteilen die eine Frau? Demnächst wirst du mich noch auffordern, den gesamten Vorstand zum Essen einzuladen, damit ich meine Kochkünste unter Beweis stellen kann.“

„Rede nicht solchen Unsinn!“ Adam ballte die Hände zu Fäusten. „Du weißt genau, wie ich es meine. Es ist verdammt wichtig für mich, dich diesen einen Abend an meiner Seite zu haben. Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt? Alle wichtigen Leute werden dort sein – der Geschäftsführer, mein Abteilungsleiter … Ich habe ihnen von dir erzählt, sie erwarten, dich zu sehen.“

Juliet runzelte die Stirn. Adam hat mit mir angegeben, erkannte sie plötzlich. Die Firma ihrer Familie hatte in letzter Zeit einige Publicity erhalten. Für einen ehrgeizigen Mann wie Adam war sie damit eine sehr nützliche Freundin. Wenn sie auf dem Ball nicht erschien, würden sein Stolz und sein Selbstbewusstsein darunter leiden. Es ging nicht darum, dass er ihre Gesellschaft vermissen würde, er wollte Juliet nur vorzeigen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und zögerte. Juliet fühlte sich gekränkt und hatte gleichzeitig Mitleid mit ihm.

„Gibt es denn keine andere Frau, die du mitnehmen könntest?“, fragte sie schließlich.

Fassungslos sah Adam sie an. „Eine andere Frau? Du möchtest tatsächlich, dass ich eine andere Frau mitnehme?“

Jetzt erst wurde Juliet bewusst, was sie gesagt hatte, und sie erkannte die tiefere Bedeutung ihrer Worte. Adam war empört und tief gekränkt, als hätte sie ihm vorgeschlagen, sie zu betrügen. Es herrschte ein peinliches Schweigen, währenddessen sie sich zornig ansahen. Juliet suchte vergeblich nach Worten, um die Situation zu entschärfen.

Sie hatten gemeinsam ein leichtes Abendessen verzehrt. Jetzt stand Adam vom Tisch auf, schob seinen Stuhl so heftig zurück, dass dieser umkippte, und ging wortlos zur Tür. Juliet folgte ihm und wartete, während er seinen teuren Kamelhaarmantel anzog.

„Es gibt also nichts weiter zu sagen, nicht wahr?“, fragte er. „Entweder du begleitest mich zu dem Ball, oder es ist aus mit uns. Lass mich deine Entscheidung bis morgen Abend wissen.“ Er öffnete die Haustür, besann sich jedoch und sagte höflich: „Vielen Dank für das Abendessen. Es war köstlich.“

Kaum dass sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, hätte Juliet am liebsten aufgelacht. Wie typisch für Adam, so förmlich zu werden, nachdem er ihr gerade ein Ultimatum gestellt hatte.

Aber sie wurde rasch nachdenklich. Warum hatte sie eigentlich jetzt erst gemerkt, dass sie sich im Grunde nichts aus Adam machte? Oder hatte sie es doch gewusst? Hatte sie sich eigentlich jemals als Adams feste Freundin gesehen? Sie hatte sich in diese Beziehung hineintreiben lassen, ohne ernste Absichten. Nie hatte sie daran gedacht, dass Adam vielleicht mehr von ihr erwartete, oder dass er selbst ernste Absichten haben könnte.

Juliet machte es sich auf dem Sofa bequem und versuchte, sich über ihre und Adams Gefühle klar zu werden. Was bedeutete das eigentlich – ernste Absichten? Dass Adam sie liebte? Sie lächelte amüsiert. Nein, das sicher nicht. Adam war nicht verliebt, er ließ sich nicht von seinen Gefühlen überwältigen.

Allerdings hatte er vielleicht nach reiflicher Überlegung entschieden, Juliet könnte eine passende Ehefrau für einen aufstrebenden jungen Mann abgeben. Möglicherweise war das sogar die richtige Art, eine Ehe in Betracht zu ziehen. Mit Liebe allerdings hatte so eine zweckmäßige Partnerschaft nichts zu tun.

Aus Liebe würde ohnedies kein vernünftig denkender Mensch heiraten. Das war keine Basis, um einen Lebensgefährten auszuwählen oder später Kinder großzuziehen. Juliet misstraute der Liebe. Sie machte die Menschen verletzlich, enttäuschte sie und war ohnedies nicht von Dauer. Und wenn es vorbei war, blieb häufig mindestens einer von beiden völlig kaputt zurück.

Juliet hatte einmal geliebt, und an manchen Tagen tat die Wunde heute noch weh. Seitdem war sie fest entschlossen, sich niemals wieder so stark auf einen Mann einzulassen. Bisher war sie auch nicht in Gefahr geraten, für einen Menschen derart viel zu empfinden.

In der Beziehung mit Adam hatte sie sich wohl gefühlt. Sie mochte ihn, aber nicht zu sehr. Er stürzte sie nicht in Verwirrung, und dennoch war es schön, mit ihm zusammen zu sein. Sie hatten viele gemeinsame Freunde. Jeder hielt sie für ein nettes Paar, und auch ihre jeweiligen Familien waren mit der Verbindung einverstanden, obwohl Juliet sich darüber bisher keine Gedanken gemacht hatte. Doch jetzt erinnerte sie sich an gewisse Blicke, ein bestimmtes Lächeln, die kleinen Andeutungen von Adams Mutter oder von ihrer eigenen.

Warum hatte Juliet nicht bemerkt, aus welcher Richtung der Wind wehte? War sie denn blind gewesen? Natürlich war es recht angenehm, einen attraktiven Mann als Begleiter zu haben, jemand, den auch ihre Mutter und Giorgio mochten, jemand, der mit ihren Freunden auf gutem Fuß stand und der Verständnis für ihren oft zeitaufwendigen und aufreibenden Job hatte, weil ihm seinerseits sein Beruf auch sehr wichtig war.

Sie biss sich auf die Lippe. Sie mochte Adam – aber reichte das, um den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen? Besorgt blickte sie vor sich hin. Vielleicht war es ganz gut so, wie es jetzt gekommen war. Sie hatte eine Warnung erhalten, und jetzt musste sie eine sehr wichtige Entscheidung treffen. Heute war sie allerdings zu müde für weitere Grübeleien. Träge erhob sie sich und ging zu Bett.

Anscheinend hatte sie den Schlaf nötig gebraucht, denn am nächsten Morgen überhörte Juliet den Wecker und erwachte erst nach acht. Sie würde zu spät zur Arbeit kommen!

Es war ein schlechter Start in einen neuen Tag, an dem ihr stündlich mehr abverlangt wurde. Sie hastete von einer Aufgabe zur anderen und fand überhaupt keine Zeit, über ihre Beziehung zu Adam nachzudenken und darüber, ob sie sie beenden wollte.

Erst als sie am frühen Abend Richtung Westen fuhr, wurde ihr bewusst, dass die Entscheidung längst gefallen war.

Sie hatte Adam nicht angerufen, und ihr Schweigen war auch eine Antwort. Er würde verstehen. Hätte sie sich bei ihm gemeldet, hätte er gewiss versucht, sie doch noch umzustimmen, oder wäre erneut in Wut geraten. Mit keiner dieser Reaktionen hatte sie sich auseinander setzen mögen.

Adam hatte bestimmt keine Schwierigkeiten, eine andere Begleiterin für den Ball zu finden. Er war ausgesprochen attraktiv: ein großer, schlanker Mann mit schmalem Gesicht, gepflegtem braunen Haar und blassblauen Augen. Er kleidete sich stets geschmackvoll und sorgfältig. Zudem hatte er angenehme Manieren. Juliet hatte oft bemerkt, wie die Frauen sich nach ihm umdrehten. Ohne Zweifel würde er schnell eine neue Freundin finden.

Ich werde ihn vermissen, dachte sie. Schließlich waren sie seit Monaten zusammen, und sie hatte sich an ihn gewöhnt.

Ach, verflixt. Juliet seufzte und konzentrierte sich auf die Straße. Es hatte keinen Sinn, sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die nun einmal nicht zu ändern waren. Das Leben ist wirklich nicht einfach. Wenigstens war die Autobahn nicht überfüllt, das war zumindest etwas, wofür man dankbar sein konnte. Auch die Neuigkeiten aus Italien heute Nachmittag waren tröstlich gewesen. Shirley Mendelli hatte ihre Panik überwunden. Giorgio war in einen Unfall verwickelt und beschuldigt worden, ihn verursacht zu haben. Sein Anwalt hatte jedoch Zeugen ausfindig gemacht, die das Gegenteil beschworen. Mit ein bisschen Glück konnten Shirley und Giorgio in wenigen Tagen die Angelegenheit abschließen und nach England zurückkehren.

2. KAPITEL

Einige Zeit später sah Juliet auf die Uhr an ihrem Armaturenbrett. Glücklicherweise war das Ziel nicht mehr weit entfernt. Sie mochte keine längeren Nachtfahrten. Es war März, und seit dem Nachmittag hatte sich das Wetter zunehmend verschlechtert. Ein eisiger Wind blies aus östlicher Richtung. Juliet rechnete damit, kurz vor neun beim Cottage zu sein. Sie wollte keine Pause für ein Abendessen einlegen. Denn es gab Vorräte im Haus, Konserven und Tiefkühlkost.

Die Dunkelheit war schon längst hereingebrochen. Verblüfft bemerkte Juliet wenig später die ersten weißen Flocken auf der Windschutzscheibe, und ihr Mut sank. O nein! Kein Schnee! Damit hatte sie nicht gerechnet, als sie sich bereit erklärte, diese Fahrt zu machen.

Während sie weiter Richtung Westen fuhr, wurde aus dem leichten Schneefall ein heftiger Schneesturm. Eine Zeit lang fürchtete sie, es nicht zu schaffen, aber noch waren die Straßen passierbar. Nach einer weiteren Stunde erreichte sie endlich das entlegene kleine Cottage am Rande des Moorlandes, nur wenige hundert Meter von der See entfernt.

Das kleine Haus besaß nur vier Räume, zwei unten, zwei oben. Vor zweihundert Jahren war es ursprünglich für einen Schäfer gebaut worden. Inzwischen hatte man es längst modernisiert und vergrößert. Ein Badezimmer war hinzugefügt worden und eine gemütliche große Küche. Natürlich hatte man auch eine Zentralheizung eingebaut.

Juliet seufzte erleichtert, als sie ihren Wagen vor der Tür parkte. Sie war durchgefroren und müde. Mit klammen Fingern schloss sie auf, holte ihren Koffer aus dem Auto und schloss kurz darauf die Cottagetür hinter sich.

Es dauerte nicht lange, und Juliet hatte es sich drinnen gemütlich gemacht. Sie schaltete Lichter ein, drehte die Ölheizung auf und machte ihr Bett, wobei sie eine elektrische Heizdecke zwischen die Laken schob. Anschließend erhitzte sie den Inhalt einer Dose Tomatensuppe, toastete einige Scheiben vom mitgebrachten frischen Weißbrot und setzte sich mit diesem schlichten Abendessen an den Küchentisch.

Sie führte gerade den ersten Löffel zum Mund, als das Telefon klingelte. Vor Schreck schüttete sie sich Suppe über die Kleidung. Hastig eilte sie zum Telefon, wobei sie gleichzeitig versuchte, mit einem Küchentuch die roten Flecken auf ihrer Bluse abzutupfen.

„Hallo?“

Schweigen am anderen Ende. Dann fragte eine raue Männerstimme: „Mrs. Mendelli?“

Juliet war enttäuscht. Sie hatte mit einem Anruf ihrer Mutter gerechnet. „Tut mir leid, sie ist nicht da. Sie hält sich zurzeit mit ihrem Mann in Italien auf. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?“

Der Fremde am anderen Ende der Leitung schwieg kurz, ehe er fragte: „Wer spricht denn dort?“

Juliet wusste selbst nicht, warum, aber diese Stimme jagte ihr unwillkürlich einen kalten Schauder über den Rücken. Sie hatte keine Ahnung, wer dort sprach, und doch hätte sie am liebsten nicht geantwortet.

Das ist doch verrückt! dachte sie. Schließlich will er nur wissen, wer ich bin. Das ist doch eine ganz normale Frage, oder?

„Ich bin ihre Tochter“, erwiderte sie langsam und erschrak erneut, als sie das leise Klicken in der Leitung hörte. Der Fremde hatte ohne ein weiteres Wort aufgelegt.

Juliet kehrte zum Küchentisch zurück und setzte sich. Immerhin war die Suppe noch heiß. Hungrig verzehrte sie ihre Mahlzeit. Dabei musste sie aber ständig an den seltsamen Anruf denken. Wer mochte das gewesen sein? Es gab keine Nachbarn in der Nähe. Das nächste Haus lag etwa eine Meile entfernt. Ein Bekannter ihrer Mutter hätte jedoch seinen Namen genannt, anstatt einfach aufzulegen.

Bisher hatte Juliet sich überhaupt nicht davor gefürchtet, allein hier draußen zu übernachten. Während sie jetzt ihren Teller abwusch und die Fenster noch einmal überprüfte, wurde sie jedoch zunehmend nervöser. Jedes Knacken oder Rascheln ließ sie zusammenfahren. War das der Wind in den Bäumen, oder schlich jemand ums Haus?

Sie war im Auftrag ihrer Mutter hierher gekommen, um die von den Handwerkern geleistete Arbeit zu kontrollieren. Also machte Juliet einen Rundgang durchs Haus. Natürlich nur, weil sie sich überzeugen wollte, ob alles in Ordnung war, nicht etwa, um festzustellen, ob sich außer ihr noch jemand hier befand. Der neue Anbau gefiel ihr, es handelte sich um einen Essplatz, den man direkt von der Küche aus betreten konnte. Die Täfelung an Boden und Wänden sah sehr gut aus, und die Handwerker hatten alles sauber und ordentlich hinterlassen.

Türen und Fenster waren sicher verriegelt, und auch draußen gab es keinerlei Anzeichen für die Anwesenheit weiterer Personen. Der Schnee glänzte weiß und unberührt. Schließlich schaltete Juliet die Lichter im Erdgeschoss aus und ging noch vor zehn nach oben ins Bett. Inzwischen fand sie ihre Ängstlichkeit lächerlich. Wie konnte sie sich nur von der Unhöflichkeit eines fremden Anrufers so aus der Ruhe bringen lassen?

Sie zog den warmen blau gestreiften Pyjama an und schlüpfte in das angenehm vorgewärmte Bett. Auf die elektrische Heizdecke wollte sie während der Nacht aus Sicherheitsgründen lieber verzichten. Jetzt schaltete sie auch die Nachttischlampe aus. Sie war erschöpft und schlief innerhalb von wenigen Minuten ein.

Einige Zeit später erwachte Juliet mit Herzklopfen und setzte sich ruckartig im Bett auf. Sie war aus einem Albtraum hochgefahren und wusste einen Augenblick lang nicht, wo sie sich befand. Während sie sich umsah, erinnerte sie sich wieder.

Im Raum herrschte unheimliches Zwielicht, eine Wirkung des vom Schnee reflektierten Mondlichtes.

Sie wollte sich gerade wieder hinlegen, als sie das Knacken der Holzdielen hörte. Ihr Herz begann erneut, heftig zu hämmern. Angsterfüllt blickte sie zur Tür. Dort draußen war jemand, direkt vor ihrem Zimmer.

Bevor sie Zeit zum Nachdenken fand, wurde die Tür schon geöffnet. Ein Schatten tauchte im Türrahmen auf, ein großer, bedrohlicher Schatten, der Umriss eines Mannes.

Juliet wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton heraus. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Der Moment dehnte sich wie in einem Albtraum endlos dahin, sie sah schreckerfüllt auf den Eindringling und war unfähig, sich zu regen.

Dann bewegte er sich plötzlich, machte einen Schritt auf ihr Bett zu. Juliet stieß einen hohen, markerschütternden Schrei aus und drückte sich gleichzeitig mit dem Rücken gegen das hölzerne Kopfende ihres Bettes, wie ein in die Enge getriebenes Beutetier, das seinem Jäger gegenübersteht. Gleichzeitig war sie wie gelähmt vor Frucht.

Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet: Er trug eine jetzt vom Schnee feucht schimmernde schwarze Lederjacke, eine schwarze Hose, schwarze Stiefel. Selbst sein Haar war schwarz. Wenn sie nur sein Gesicht erkennen könnte, hätte sie vielleicht nicht ganz so große Angst.

Plötzlich erwachte ihr Verstand aus seiner Lähmung. Was tat sie noch hier? Wieso saß sie reglos da und wartete auf ihren Mörder? Sie musste entfliehen.

Juliet sprang aus dem Bett und rannte zur Tür, doch der Mann war schneller und packte sie. Juliet kreischte und wehrte sich. Beide fielen zu Boden.

„Wer wird dich schon hören?“, flüsterte er heiser und hatte natürlich Recht. Niemand würde es, denn es gab keine Häuser in Hörweite. Dies war wirklich ein sehr abgelegenes Cottage. Aus genau dem Grunde hatten Giorgio und Shirley es ja gekauft, es sollte ein Ort der Ruhe und Abgeschiedenheit sein.

„Mein Mann kommt gleich von der Arbeit zurück, er wird jeden Augenblick hier sein …“ schwindelte Juliet, doch der Unbekannte lachte nur.

„Das macht mir aber wirklich angst“, erwiderte er mit seiner tiefen, heiseren Stimme, und mit einem Mal erkannte Juliet sie.

Es war der Fremde, der vorhin angerufen hatte. Anscheinend wollte er nachprüfen, ob jemand zu Hause war, und als er herausgefunden hatte, dass sie allein war … Wer ist es bloß? fragte sie sich verzweifelt. Sie hatte das merkwürdige, irritierende Gefühl, ihn zu kennen. Was wird er mit mir anstellen? Ihr Herz schlug schmerzhaft heftig. Diese Angst war unerträglich.

Mit einer blitzschnellen Bewegung rollte sie sich herum. Sie wollte aufspringen und fortlaufen, doch er durchschaute ihre Absicht und war wiederum schneller. Rasch packte er sie und legte ihr den Arm um die Taille.

Juliet lag jetzt auf der Seite, das Gesicht von ihrem Angreifer abgewandt. Vergeblich versuchte sie, seinen Arm abzuschütteln. Der Mann rutschte noch näher, zwang sie zu intimem Körperkontakt und schob auch noch den anderen Arm unter ihrer Taille hindurch, um sie noch fester an sich zu ziehen.

Juliet schluchzte auf. Entsetzt spürte sie, wie er eine Hand hinaufgleiten ließ. Während des Kampfes hatte sich die Jacke ihres Pyjamas geöffnet, und jetzt berührte der Mann mit den Fingerspitzen leicht ihre nackten Brüste.

Juliet krümmte sich vor Entsetzen. „Nein!“

Diesmal ließ er sie los. Zitternd stand Juliet auf, immer noch halb gelähmt vor Angst. Er setzte sich gelassen auf und beobachtete, wie sie zur Tür lief.

Fort, nur fort, das war alles, was Juliet in ihrer Panik dachte. Wenn es ihr gelang, zur Haustür zu kommen, konnte sie mit dem Auto fliehen. Doch dann fiel ihr ein, dass die Schlüssel in ihrer Handtasche waren, und die wiederum befand sich im Schlafzimmer. Bei diesem Wetter so leicht bekleidet zu versuchen, bis zur nächsten Straße zu kommen, wäre der reinste Selbstmord. Eventuell war das Cottage durch den Schnee ohnedies bereits von der Außenwelt abgeschnitten.

„Du kannst nicht fortlaufen, Juliet“, erriet der Mann ihre Gedanken.

Sie blieb wie erstarrt stehen. Also hatte sie sich diese merkwürdige Vertrautheit mit dem Fremden doch nicht eingebildet. Jetzt wusste sie, wer er war.

„Du … du…“

Er stand langsam auf, doch er näherte sich ihr nicht. Allmählich hatten ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt. Nach und nach erkannte sie seine Gesichtszüge. Die lange gerade Nase, das feste Kinn, der breite Mund … diese grauen Augen … kalt und beunruhigend. Ja, er war es.

„Du kannst nicht fortlaufen, diesmal nicht“, wiederholte er.

„Diesmal?“ Sie schauderte.

„Selbst wenn es dir gelänge, den Wagen zu starten, würdest du nicht weit kommen. Der Schnee liegt bereits einen halben Meter hoch. Ich musste mein eigenes Auto etwa zwei Kilometer von hier entfernt stehen lassen und den Rest des Weges zu Fuß gehen. Ich dachte, ich schaffe es nicht. Die Telefonverbindungen sind auch gestört. Der Wind hat heftige Schäden angerichtet, und der Schnee hat sie noch schlimmer gemacht.“

Es klang ganz sachlich. Wie konnte er so ruhig und gelassen sprechen, während sie von den schmerzlichen Erinnerungen gequält wurde, die sie schon seit Jahren zu vergessen suchte?

„Wer sind Sie?“, flüsterte sie, obwohl sie es wusste. Sie hatte ihn erkannt, als er ihren Namen aussprach. Möglicherweise hatte sie seine Stimme sogar schon am Telefon erkannt. Diese merkwürdige Unruhe, der Schauer, der ihr über den Rücken gelaufen war. Vielleicht hatte sie den Grund für ihre Nervosität einfach verdrängt.

„Du weißt genau, wer ich bin“, sagte er, und das verwirrte sie noch mehr. Er sollte ihre Gedanken nicht lesen, ihre Gefühle nicht erraten, ihre Reaktionen nicht vorausahnen. Sie wollte all dies vor ihm verbergen.

„Ich habe keine Ahnung“, log sie.

Er streckte die Hand nach der Nachttischlampe aus.

„Nein, kein Licht!“, rief Juliet hastig. Sie mochte sein Gesicht nicht sehen, nicht sicher wissen, dass er es wirklich war. Im Dämmerlicht hatte ihre Begegnung etwas Unwirkliches, fast Traumhaftes, doch sobald er das Licht einschaltete, musste sie sich mit der Realität seiner Anwesenheit abfinden. „Hast du Angst, mich anzuschauen, Juliet?“, fragte Simeon spöttisch.

„Nein!“

„Du hast es lieber im Dunkeln?“ Die Doppeldeutigkeit seiner Worte trieb ihr das Blut in die Wangen.

„Ich will, dass du gehst … sofort!“

Leise lachte er. „Möchtest du nicht sehen, wie sehr ich mich verändert habe? Du jedenfalls hast dich verändert. Das habe ich auch im Dunkeln gemerkt. Mit siebzehn warst du ziemlich knochig, flach wie ein Junge …“ Er wartete, ehe er spöttisch fortfuhr: „Das könnte heute niemand mehr behaupten. Du hast wirklich eine sehr sexy Figur.“

„Halt den Mund!“, fuhr sie ihn an.

Er achtete nicht darauf. „Schöne Brüste …“

„Halt den Mund!“ Ihr Gesicht brannte vor Verlegenheit. Seine Worte erinnerten sie an die Berührung seiner Hand auf ihrer nackten Haut, und Wut stieg in ihr hoch.

„Du hast kein Recht, mich … so zu berühren!“, stammelte sie. „Die Angst hat mich fast um den Verstand gebracht. Schließlich konnte ich ja nicht wissen, dass du es bist. Ich nahm an, du wärst ein Einbrecher. Ich fürchtete schon um mein Leben!“

„Unsere Begegnung hatte ich mir auch anders vorgestellt“, bemerkte er.

„Ach ja?“, fragte sie zornig.

„Ja“, wiederholte er ungeduldig. „Hör zu, ich muss unbedingt mit dir sprechen. In deiner Londoner Wohnung ging niemand ans Telefon, bei deiner Mutter auch nicht. Also rief ich hier an, und nachdem du dich gemeldet hattest, beschloss ich, sofort hierher zu fahren.“

„Und einzubrechen und mich anzugreifen!“, beschuldigte sie ihn.

„Ich habe dich nicht angegriffen!“

„Wie würdest du es denn sonst nennen? Du hast mich zu Boden geworfen …“

„Ich musste verhindern, dass du wegläufst. Du warst ja völlig in Panik.“

„Du hast mich zu Boden gerissen, und dann hast du …“ Sie presste die Hände an die brennenden Wangen. „Du … du hast mich angetatscht!“, herrschte sie ihn an.

„Ich bin auch nur ein Mensch. Als ich dich so dicht bei mir spürte, hat meine Neugier gesiegt“, erwiderte er ohne ein Zeichen von Reue.

„Es hat dir also Spaß gemacht, mich in Todesangst zu versetzen!“

Er überlegte einen Moment, dann lachte er leise. „Ja, vielleicht. Ich war wütend und … ja, vielleicht war es so. Und ich entschuldige mich nicht dafür, Juliet, nicht nach allem, was du mir angetan hast.“

Einen Moment schwiegen beide. Juliet biss sich auf die Lippe. Schließlich sprach er spöttisch weiter: „Sogar deine Haare sind anders als früher. Damals hast du einen langen Pferdeschwanz bis zur Taille getragen. Wenn du gegangen bist, ist er hinter dir her geschwungen wie der Schwanz eines Eichhörnchens. Ich war oft in Versuchung, daran zu ziehen. Jetzt hast du es abschneiden lassen, nicht wahr? Es lockt sich auch, das tat es früher nie. Ich hoffe nur, du hast nicht auch die Farbe geändert. Denn ich liebte dieses leuchtende Kastanienbraun.“

Juliet konnte es nicht länger ertragen. „Ich weiß nicht, warum du gekommen bist oder was das Ganze soll, aber ich will dich nicht hier haben. Geh weg!“, rief sie.

„Weißt du, dass mein Vater gestorben ist?“

Der Schock raubte ihr den Atem. „Nein …“, stöhnte sie fassungslos und schmerzlich berührt. Sie hatte seinen Vater geliebt, mehr als ihren eigenen.

„Vor einem Monat. Die Todesanzeige stand in der Times. Hast du sie wirklich nicht gelesen?“

„Nein. Ich lese selten Zeitung, außer den Handelsblättern. Mir fehlt einfach die Zeit.“ Ihre Mutter hatte die Anzeige mit Sicherheit auch nicht gesehen, sonst hätte sie etwas gesagt. Auch Shirley hatte den alten Mann sehr gemocht, und sie wusste, wie nahe er und Juliet sich standen.

Juliet holte tief Luft und sagte leise: „Das tut mir sehr leid. Ich weiß, du vermisst ihn sehr.“

Simeon lachte verärgert. „Ich werde ihn wohl kaum mehr vermissen, als ich es in den letzten acht Jahren getan habe. Seit der Nacht, in der du fortgegangen bist, hat er nicht mehr mit mir gesprochen.“

Juliet schwieg betroffen.

Jetzt drehte er sich um und schaltete die Nachttischlampe ein. Die plötzliche Helligkeit blendete sie zunächst, doch im nächsten Moment konnte sie ihn zum ersten Mal richtig erkennen. Er sah noch größer aus, ein schlanker, gut aussehender Mann. Zudem wirkte er gefährlich.

Auch er betrachtete sie ausgiebig von Kopf bis Fuß. Hastig knöpfte sie ihre Pyjamajacke zu, was ihm ein spöttisches Lächeln entlockte.

Das ärgerte Juliet. „Versuch nicht, mir Schuldgefühle wegen deines Vaters einzureden“, verteidigte sie sich jetzt. „Hast du etwa vergessen, was du mir in jener Nacht angetan hast? Wie hätte ich danach noch bleiben können?“

Simeons Miene wurde hart. „Du wolltest es. Das hast du mir immerhin weisgemacht, erinnerst du dich?“

„Ich war doch erst siebzehn! Damals wusste ich gar nicht, was ich tat!“

„Oh, ich glaube, du wusstest es ganz genau“, widersprach er. „Du wolltest in meine Familie einheiraten und die nächste Herrin von Chantries werden. Darauf hast du monatelang hingearbeitet. Wohin ich auch gegangen bin, du bist mir gefolgt. Kaum drehte ich mich einmal um, schon warst du da. Du zeigtest bemerkenswerten Jagdinstinkt.“

Juliet war den Tränen nahe. Gleichzeitig hätte sie ihn umbringen mögen vor Wut, denn alles, was er sagte, stimmte zwar, aber seine Deutung war falsch. Sie war ihm tatsächlich überallhin gefolgt, doch nicht, weil sie die Herrin seines Familienbesitzes werden wollte. Damit hatte es nichts zu tun. Juliet war nicht ehrgeizig und auch keine Glücksritterin.

Damals stand sie auf der Schwelle vom Kind zur Frau, war bis über beide Ohren verliebt und unfähig, das zu verbergen. Sie hatte nur einen Wunsch: ihm nahe zu sein, ihn zu sehen, seine Stimme zu hören. Juliet war verzaubert, fast schon besessen von ihm. Der Gedanke an eine gemeinsame Zukunft kam ihr jedoch nicht. Auch ahnte sie nicht im Mindesten, welch fatale Folgen ihre Anhänglichkeit haben könnte.

„Ich wollte Chantries nicht“, erklärte sie jetzt. „Das stimmt einfach nicht. Ich nehme solche Anschuldigungen nicht hin! Du warst derjenige, der alles falsch verstand. Ich war doch nur ein naiver Teenager und zum ersten Mal verliebt.“

Seine Augen blitzten gefährlich. „Nur eine harmlose erste Verliebtheit?“ Sie hörte den hasserfüllten Unterton in seiner Stimme. „Und dafür hast du mein ganzes Leben ruiniert?“

Juliet wurde blass. „Das habe ich nicht …“

Er unterbrach sie heftig. „Erst vor wenigen Tagen wurde das Testament meines Vaters gefunden. Er hatte es in einer Schublade in der Bibliothek eingeschlossen. Niemand wusste davon. Nicht einmal seinen Anwälten hatte er eine Kopie geschickt. Sie glaubten, das bei ihnen hinterlegte Dokument sei gültig, in dem er alles mir hinterlässt. Letzte Woche haben die Testamentsvollstrecker dann seine Papiere durchgesehen und ein später geschriebenes Testament gefunden.“ Simeon schwieg und sah Juliet verbittert an. „Er hat mir Chantries nicht hinterlassen.“

Entsetzt riss sie die Augen auf. „Nicht? Aber … wer erbt denn dann?“

Simeon war ein Einzelkind, aber Juliet wusste von einem Bruder seines Vaters, der irgendwo im Norden Schottlands lebte und mehrere Söhne hatte. Hatte der alte Robert Gerard seinen Besitz etwa einem Neffen hinterlassen? Wie bösartig und unfair. Es sah ihm auch nicht ähnlich. Juliet hätte ihm etwas Derartiges niemals zugetraut. Kein Wunder, dass Simeon so wütend und verbittert war.

Auch jetzt blickte er sie hasserfüllt an, um seinen Mund lag ein harter Zug. „Der ganze Besitz, Geld, Land, alles, geht an unsere gemeinsamen Kinder“, sagte er mit eisiger Stimme.

Der Schock über das Gehörte war so heftig, dass es Juliet schwindlig wurde. Sie taumelte und wäre gefallen, wenn Simeon sie nicht mit zwei Schritten erreicht und aufgefangen hätte. Er half ihr, sich aufs Bett zu setzen. Ungeduldig schüttelte sie seine Hände ab. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Doch“, erwiderte er grimmig.

„So etwas kann er nicht getan haben.“

„Er hat es.“

„Das kann einfach nicht legal sein!“

„Es ist absolut legal“, fuhr Simeon sie an. „Er wusste genau, was er tat, schließlich hatte er schon andere Testamente aufgesetzt. Nur diesmal hat er seinen Anwalt nicht benachrichtigt. Aber er verwendete die Formulierungen der früheren Fassungen, und das Ganze ist völlig korrekt. Er vermachte alles treuhänderisch für jedwede Nachkommen …“

Juliet unterbrach Simeon. „Oh! Deinen Kindern, meinst du.“ Jetzt glaubte sie endlich zu verstehen, warum er gekommen war. „Deshalb wolltest du mit mir sprechen. Du willst wieder heiraten und Kinder haben, und dafür musst du natürlich zuerst geschieden sein.“

Es tat ihr weh, das Wort auszusprechen, vielleicht, weil ihre seltsame, kurze Ehe ihr so viel Leid bereitet hatte und weil ihr Ende genauso merkwürdig war wie ihr Beginn. Sie lächelte verkrampft. „Ich dachte nicht, dass du meine Einwilligung brauchst, nicht nach all diesen Jahren der Trennung. Es muss doch eine ganz einfache Angelegenheit sein?“

„Keine Scheidung!“, fuhr er sie an, und sie zuckte zurück. Seltsamerweise schienen ihre Worte ihn noch wütender gemacht zu haben. „Du hast mich gar nicht aussprechen lassen. Halt jetzt den Mund und hör mir zu. Es müssen unsere Kinder sein, deine und meine.“

Sie schnappte nach Luft. „Was?“

„Du hast mich richtig verstanden. Mein Vater hat sich völlig klar ausgedrückt, nur unsere gemeinsamen Kinder zählen. Falls wir uns scheiden lassen, oder falls wir nicht innerhalb von zwei Jahren nach dem Tod meines Vaters ein Kind haben, geht der Besitz an meinen ältesten Cousin Tony.“

„Simeon“, flüsterte Juliet entsetzt. „Es tut mir so leid. Wie konnte er dir das antun? Es sieht ihm überhaupt nicht ähnlich, so gemein zu sein.“

„Du bist fortgelaufen. Die Schuld daran hat er mir zugeschoben. Das hat er mir niemals verziehen. Ich war sein Sohn, sein einziger Sohn, aber ich bedeutete ihm niemals so viel wie du. Du warst immer sein Liebling, vom Augenblick deiner Geburt an.“

Es stimmte, sie konnte es nicht bestreiten. Zwischen ihr und Robert Gerard hatte starke Zuneigung bestanden. Er war nun einmal der Typ Mann, der Frauen liebte und ihre Gesellschaft der seines Geschlechtes bei weitem vorzog. Dennoch war er sehr männlich im Aussehen und Wesen. In seiner Freizeit ritt er, ging auf die Jagd oder fischte.

Mit seinen Arbeitern kam er gut aus. Er war freundlich, großzügig und impulsiv, wenngleich sein Temperament auch hin und wieder mit ihm durchging. Dann konnte er sehr aufbrausend sein, aber hinterher tat es ihm stets leid, und er bemühte sich um eine Aussöhnung mit seinem Gegner. Er wurde von fast allen, die ihn kannten, gemocht.

Dennoch vergaß Robert Gerard nie, dass seine Familie dieses Land schon seit der Zeit der Normannen besaß. Sein Haus war an der Stelle gebaut worden, wo einst ein Schloss gestanden hatte, das während der Rosenkriege zerstört worden war. Das jetzige Gebäude stammte aus dem Jahr 1700, nachdem ein Feuer das alte aus der Tudorzeit zerstört hatte. Es gab jedoch noch Nebengebäude und Überbleibsel aus früherer Zeit. Robert Gerard hatte Juliet stets auf diese Dinge aufmerksam gemacht, denn er war sehr stolz auf seine Familiengeschichte. Zunächst war es seine Frau gewesen, die sich für die kleine Juliet interessiert hatte. Mrs. Gerard hatte diesen Namen für das Baby vorgeschlagen, und Shirley hatte die Anregung begeistert aufgenommen.

Mrs. Gerard hatte sich noch eine Tochter gewünscht. Doch nach der Geburt ihres Sohnes, Simeon, ergaben sich Komplikationen. Eine Notoperation musste vorgenommen werden, die es ihr unmöglich machte, weitere Kinder zu bekommen. Juliets Vater war der Wildhüter auf dem Besitz der Gerards gewesen, und seine Frau hatte stundenweise im Herrenhaus geholfen. Nach Juliets Geburt hatte sie das Baby stets mit zur Arbeit gebracht.

3. KAPITEL

Simeon war neun, als Juliet geboren wurde, und kam in diesem Jahr auf eine Internatsschule. Seine Mutter hatte sich einsam gefühlt. Die Anwesenheit eines Kindes im Haus hatte es ihr leichter gemacht, den Abschied von ihrem Sohn zu ertragen. Sie war eine sehr liebenswerte, zierliche Frau gewesen und hatte damals schon unter der schleichenden Krankheit gelitten, an der sie zehn Jahre später starb. Zu jener Zeit besuchte Simeon bereits die Universität. Robert Gerard blieb allein in dem wunderschönen alten Haus zurück. Nach dem Tod seiner Frau vertiefte sich seine Zuneigung zu Juliet.

„Ich habe ihn auch geliebt“, gestand sie jetzt Simeon. „Er war mir mehr ein Vater als mein eigener! Dein Vater war ein wunderbarer Mann, warmherzig, großzügig und einfühlsam. Zu schade, dass du ihm nicht ähnlicher bist.“

„O ja! Es war wirklich sehr einfühlsam und großzügig von ihm, mich aus seinem Testament zu streichen!“ bemerkte Simeon sarkastisch.

Juliet sah das ein. „Ja, das hätte er wirklich nicht tun dürfen“, stimmte sie zu.

Unter halb gesenkten Lidern blickte Juliet Simeon unsicher an. Sie hatte viele Gründe, ihn zu hassen, und bestimmt nicht damit gerechnet, jemals wieder Mitgefühl für ihn zu empfinden. Doch anscheinend war die Entdeckung von der Testamentsänderung seines Vaters ein entsetzlicher Schock für ihn gewesen. Es hatte nie der geringste Zweifel bestanden, dass Chantries an Simeon gehen sollte. Weshalb sonst hatte er die Universität verlassen und stattdessen ein College für Landwirtschaft besucht? Er hatte sich jahrelang auf die Führung von Chantries vorbereitet, und jetzt hatte sein Vater es ihm fortgenommen. Es war wirklich höchst ungerecht.

Nachdenklich runzelte sie die Stirn. „Kannst du das Testament denn nicht anfechten?“

„Mit welcher Begründung? Dass mein Vater nicht ganz bei Sinnen war, als er es aufsetzte? Glaubst du wirklich, ich würde so etwas tun? Ich sagte dir doch schon, das Testament ist rechtskräftig.“

„Gibt es nicht doch irgendeinen Ausweg?“

„Keinen. Wenn wir keine Kinder bekommen, geht der Besitz an meinen Cousin.“ Simeon sah sie durchdringend an. „Und das wäre eine Katastrophe, denn Tony würde wahrscheinlich alles verkaufen. Er ist kein Farmer und will es auch nicht sein. Er liebt das Leben in London, vertreibt sich angenehm die Zeit, gibt Geld aus. Sobald er den Besitz zu Geld gemacht hat, wird er jeden einzelnen Penny verpulvern.“

Juliet glaubte Simeon. Tony war stets ein Verschwender gewesen, dazu wild und undiszipliniert, selbstsüchtig und von seiner charakterschwachen Mutter hoffnungslos verzogen. Robert Gerard kannte die Schwächen seines Neffen ganz genau. Warum hatte er also ihm anstelle von Simeon Chantries vermacht?

„Ich verstehe das nicht“, überlegte sie laut. „Warum hat er das getan? Er hat doch stets davon gesprochen, wie sehr er sich darauf freut, dass du eines Tages Chantries leitest.“

„Mein Vater hatte sich seit deinem Fortgehen sehr verändert“, sagte Simeon leise. „Er wurde verbittert, und er machte mich für alles, was geschehen war, verantwortlich. Obwohl er einsam war, wollte er mich nicht im Haus haben. Ich war in Chantries nicht länger willkommen.“

Juliet war entsetzt. „Du bist auch fortgegangen? Vielleicht hat er deshalb …“

„Ich bin nicht fortgegangen. Ich wurde rausgeworfen. Ein paar Monate habe ich bei den MacIntyres im Rose Cottage gewohnt. Als ich schließlich einsah, dass ich niemals wieder nach Hause zurückkehren durfte, zog ich in eines der Farmhäuser. Der alte Ben Smith war gerade gestorben, so wurde es frei.“

„Er ist tot? Das tut mir leid“, erwiderte Juliet. Sie erinnerte sich noch gut an den alten Mann mit dem braunen, wettergegerbten Gesicht und den gebeugten Schultern. Sein Schäferhund begleitete ihn stets. Es war lange her, dass sie an den alten Ben gedacht hatte. Doch jetzt beschwor Simeon die Bilder der Vergangenheit wieder herauf.

„Er war neunzig“, bemerkte Simeon in sanfterem Ton. Schon als Kind hatte er den alten Ben gekannt, hatte gemeinsam mit ihm die Gegend durchstreift und viel von ihm gelernt.

Juliet erinnerte sich an eine Nacht, die sie beide mit Ben in den Büschen liegend verbracht hatten, um eine Dachsfamilie bei der Jagd zu beobachten. Es wurde zu einem unvergesslichen Erlebnis. Noch jetzt glaubte sie den Geruch der Erde und das Piken des Grases zu spüren.

Simeons Stimme unterbrach ihre Erinnerungen. „Ja, er hatte ein langes Leben, und er hatte Freude daran, was die meisten von uns nicht von sich behaupten können. Selbst nachdem er pensioniert war, blieb er aktiv. Natürlich hat er gewildert. Ich habe immer beide Augen zugedrückt und so getan, als merke ich nichts.“

Simeon lächelte und wirkte plötzlich viel jünger, sorgloser, so, wie er früher einmal gewesen war. Als Junge war Simeon ungestüm und wild gewesen, als Mann herausfordernd und beschützend bis … Juliet verdrängte rasch den Gedanken.

„Leider gibt es auf den heutigen modernen Farmen für die Bens dieser Welt keinen Platz mehr“, meinte Simeon. „Wir haben jetzt Maschinen, die die Arbeit dieser Leute übernehmen.“

„Umso trauriger“, bemerkte sie.

Er seufzte. „Ja. Er war ein interessanter Mann.“

„Hast du, nachdem du Chantries verlassen hast, auch nicht mehr für den Betrieb gearbeitet?“, fragte Juliet.

Simeon schüttelte den Kopf. „Nein, im Gegenteil, in den letzten Jahren habe ich den Besitz praktisch allein verwaltet. Der Gesundheitszustand meines Vaters verschlechterte sich so sehr, dass er mir schließlich fast die gesamte Leitung überließ.“

Juliet blickte verwirrt drein. „Also hat er dann doch wieder mit dir gesprochen?“

„Nein.“ Wieder wurde Simeons Miene hart. „Wir haben schriftlich miteinander verkehrt. Ich schickte ihm Notizen und Briefe und lange Memos, und er antwortete ebenso. Es war absurd.“

„Aber klingt das nicht so, als ob er krank gewesen wäre? Geistig, meine ich. Es sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Seine Krankheit hat ihn vielleicht verwirrt, oder sie hat seine Persönlichkeit verändert. Könntest du nicht auf dieser Basis sein Testament anfechten?“

„Ich werde es nicht zulassen, dass der Name meines Vaters in den Schmutz gezogen wird!“ fuhr Simeon sie an.

Juliet zuckte zurück. Selbst als Kind war er schon sehr bestimmt gewesen, und diese Eigenschaft hatte sich im Laufe der Jahre noch verstärkt. Juliet hatte kein Verlangen, mit ihm zu streiten. „Ich meine doch gar nicht …“

„Doch, ich habe dich schon richtig verstanden. Du schlägst vor, das Testament meines Vaters anzufechten mit der Begründung, er sei nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewesen. Das werde ich niemals tun. Lieber überlasse ich Chantries meinem Cousin.“

Trotz allem war Juliet gerührt. Simeon bewies eine Zuneigung zu seinem Vater, die er auch früher schon nur selten gezeigt hatte, von deren Vorhandensein Juliet aber stets überzeugt gewesen war.

Beide schwiegen betroffen.

Nach einer Weile fuhr Simeon fort: „In gewisser Weise, glaube ich, war er schon geistig krank, zumindest zum Ende hin. Er ging niemals aus und empfing auch keine Besucher mehr. Stattdessen grübelte er nur noch über die Vergangenheit. Das weiß ich von Dr. Manners. Er hielt mich über den gesundheitlichen Zustand meines Vaters auf dem Laufenden, und er war über seine geistige Verfassung besorgt – oh, natürlich wäre Vater nicht verrückt geworden, doch er steckte in einer tiefen Depression. Dr. Manners versuchte stets, ihn zu überreden, mich zu sehen, doch Vater wollte nicht hören.“ Simeon warf ihr einen bösen Blick zu. „Überall um sich herum hatte er Fotos von dir und von meiner Mutter. Aber natürlich kein einziges von mir.“

Ist Simeon etwa eifersüchtig auf mich? fragte Juliet sich erstaunt. War er vielleicht stets eifersüchtig gewesen auf die enge Bindung zwischen ihr und seinen Eltern? Ihn hatte man ins Internat geschickt, und Juliet hatte nach und nach unbemerkt seinen Platz in der Familie eingenommen. Sah Simeon es so?

Er verzog das Gesicht. „Vater tat so, als gäbe es mich gar nicht. Er verbot Dr. Manners, über mich zu sprechen. Schließlich redete er mich auch in seinen schriftlichen Anweisungen nicht mehr mit Namen an, sondern richtete sie an den ‚Verwalter‘.“

„O Simeon.“ Mitfühlend legte sie ihre Hand auf seinen Arm. „Es tut mir so leid.“

Er blickte auf ihre schmale Hand.

Hastig zog sie sie zurück. „Was fehlte ihm eigentlich körperlich?“ fragte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen.

„Zunächst waren die Ärzte sich nicht sicher. Einer kam sogar auf die verrückte Idee, Vater versuche, an der gleichen Krankheit zu leiden wie Mutter. Anscheinend hielten sie seine Krankheit für psychosomatisch, aber dann stellte sich heraus, dass es sich um eine sehr seltene Lebererkrankung handelte. Vermutlich wäre er letztendlich daran gestorben, aber ein Herzinfarkt kam diesem Ende zuvor. Es passierte ganz unerwartet.“ Simeon zögerte. „Und ich habe mich nicht einmal von ihm verabschiedet.“

„Vielleicht hatte er gar nicht den Wunsch, dieses Testament wirklich rechtskräftig werden zu lassen, vielleicht hätte er es doch wieder geändert“, meinte Juliet, denn andere tröstende Worte fielen ihr nicht ein.

„Das ist jetzt wohl ziemlich gleichgültig. Die rechtlichen Konsequenzen sind alles, worauf es ankommt, und da sind die Fakten doch wohl ganz klar, oder?“

„Es tut mir sehr leid, Simeon“, flüsterte Juliet unglücklich. „Ich weiß, wie sehr es dir wehtun wird, Chantries zu verlieren.“

„Ich habe nicht die Absicht, es zu verlieren“, erklärte er fest. „Denn du wirst mir ein Kind schenken, das den Besitz erbt.“

Einen Augenblick lang verstand Juliet überhaupt nicht, was Simeon meinte. Wie benommen sah sie ihn an. Als ihr endlich die Bedeutung seiner Worte bewusst wurde, gerieten ihre Gefühle in Aufruhr wegen dieser Ungeheuerlichkeit. Sie wurde dunkelrot und im nächsten Moment blass. Schon beim Gedanken an diesen unfassbaren Vorschlag wurde ihr übel. Noch heute erinnerte sie sich nur mit Entsetzen an ihre Hochzeitsnacht. Ein derartiges Geschehen würde sie nicht noch einmal zulassen.

„Nein!“, flüsterte sie. Furcht, Entsetzen und Abscheu klangen in diesem Wort mit.

Simeon bemerkte diese Reaktion, doch er betrachtete Juliet völlig ausdruckslos. Er war schon immer ein entschlossener Mann gewesen, und die bitteren Jahre der Entfremdung zwischen ihm und seinem Vater hatten ihn noch härter gemacht. Er war nicht mehr der Simeon, den sie gekannt hatte, aber sie war auch nicht mehr der ahnungslose Teenager von damals.

Buchstäblich über Nacht war sie zur Frau geworden, und die Jahre danach hatten sie völlig verändert. Beide waren sie durch die Hölle gegangen. Wenn sie Simeon jetzt ansah, empfand sie heftiges Bedauern, denn sie wusste, für die tiefe Kluft zwischen ihm und seinem Vater war sie verantwortlich, auch wenn sie dergleichen niemals beabsichtigt hatte.

Leise fragte sie: „Das ist doch nicht dein Ernst?“ Sie konnte es einfach nicht glauben. Niemand würde so kaltblütig und rücksichtslos sein.

„Doch.“ Dieses eine Wort war wie eine Kriegserklärung.

„Nein!“ Panik stieg in ihr auf.

„Ich bitte dich keineswegs, es umsonst zu tun“, erklärte er kühl. „Du wirst eine großzügige Rente bekommen, wenn das Kind erst einmal da ist. Ich finde, ich bin durchaus im Recht, das von dir zu verlangen. An der ganzen Situation trägst nur du die Schuld – also ist es auch deine Pflicht, zu einer gerechten Lösung beizutragen.“

„Das darf doch alles nicht wahr sein! Ich glaube es einfach nicht. Ich werde dir nicht länger zuhören.“

Sie wollte zur Tür laufen, aber Simeon hielt sie am Arm fest.

„Nicht! Fass mich nicht an!“

Er zog sie jedoch an sich. „Diesmal wird es anders sein. Immerhin bist du kein jungfräulicher Teenager mehr. Du bist eine Frau, und ohne Zweifel wird es in den letzten Jahren Männer in deinem Leben gegeben haben.“

Sie spürte, wie sie erneut rot wurde, und senkte verlegen den Blick. „Damit hat es nichts zu tun“, sagte sie leise. „Ich könnte nicht einfach kaltblütig mit dir ins Bett gehen, das bringe ich nicht fertig.“ Ängstlich sah sie ihn an.

Er lächelte durchtrieben. „Dann eben heißblütig“, meinte er und betrachtete sie anzüglich von Kopf bis Fuß.

Juliet spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Vielleicht hasste sie Simeon, aber er hatte immer noch eine gewisse Wirkung auf sie.

„Nein“, rief sie entsetzt. „Lass mich jetzt bitte allein, ja? Es tut mir leid, aber was du vorschlägst, kann ich unmöglich tun!“

Simeon betrachtete sie aufmerksam. Schließlich hob er die Schultern. „Nun gut, es ist mitten in der Nacht, und wir sind beide müde nach der langen Fahrt von London hierher. Lassen wir das also für den Augenblick. Wir können morgen darüber reden.“ Er ließ sie los und ging zur Tür.

Unsicher sah Juliet ihm nach. „Was meinst du mit, ‚morgen darüber reden‘? Du kannst nicht hier bleiben. Ich lasse es nicht zu.“

„Dann wirf mich doch raus“, erwiderte er ruhig, denn er wusste genau, dass sie dazu nicht in der Lage war. Er verließ den Raum, und sie hörte ihn ins Schlafzimmer ihrer Eltern gehen.

„Sehr bequem“, rief er. „Ich nehme dieses Zimmer.“

Juliet stand verwirrt da. Was sollte sie jetzt tun? Dann nutzte sie die Chance, sich zumindest für diese Nacht vor ihm zu schützen und schloss geräuschvoll ihre Schlafzimmertür ab.

„Gute Nacht, Juliet“, rief Simeon belustigt.

Sie hörte ihn noch eine Weile rumoren, ins Badezimmer gehen und zurückkommen, dann das leise Knarren des Bettes und kurz darauf das Klicken des Lichtschalters.

Juliet lag noch lange wach und blickte an die Decke. Als sie irgendwann doch einschlief, hatte sie beängstigende Träume.

Leise Geräusche aus dem Erdgeschoss weckten Juliet. Sofort kehrten die Erinnerungen an die Ereignisse der vergangenen Nacht zurück. Ruckartig setzte sie sich im Bett auf und sah angespannt auf die Tür.

Er war hier. Hier in diesem Haus. Jetzt pfiff er leise. Simeon. Ihr Mann.

Die Tatsache, mit ihm verheiratet zu sein, erschien ihr unbegreiflich. Als genauso unwirklich hatte sie jenen Tag auf dem Standesamt empfunden, wo sie beide durch eine kurze Zeremonie zu Mann und Frau wurden. Jetzt kam ihr plötzlich wieder jede noch so kleine Einzelheit dieses merkwürdigen Tages in den Sinn.

Sie hatte ein einfaches blaues Kleid getragen, ihr bestes zwar, doch kaum passend für diesen Anlass. Ihr Vater hielt nichts davon, sein Geld für unnötige Dinge auszugeben, und eine hübsche Garderobe für seine einzige Tochter empfand er als besonders unnötig.

Er war bei der Hochzeit dabei, aber nur, um sich von ihrem Erscheinen zu überzeugen. Er trug seinen einzigen Anzug aus derbem Tweed, den er schon seit Jahren stets bei allen förmlichen Anlässen anhatte, selbst bei Beerdigungen. Juliet hatte fast erwartet, die Flinte bei ihm zu sehen, doch der sehr konservative Will Newcome hatte sie diesmal zu Hause gelassen. Jeder Blick auf das Brautpaar drückte allerdings aus: Sie ist da, ich brauche sie nur zu holen!

Er hatte die beiden zusammen erwischt, nach dem Erntedankfest in inniger Umarmung im hohen Gras unter einem großen Apfelbaum liegend. Damals hatte er die Flinte dabei, und mit hasserfülltem Blick richtete er sie auf Simeon.

Juliet schrie entsetzt auf. „Nein, Vater!“

Verächtlich sah er sie an, bemerkte die aufgeknöpfte Bluse, den hochgerutschten Rock. Er beschimpfte sie heftig, und Juliet wurde schamrot unter seinen Worten. Das brachte Simeon auf die Beine.

„Sprechen Sie nicht so mit ihr!“, herrschte er ihren Vater an.

„Was ist sie denn sonst?“ fragte Will Newcome erbost.

„Es ist doch nichts passiert, Mann!“ protestierte Simeon, doch ihr Vater lachte nur spöttisch.

„Machen Sie sich nicht die Mühe, mich anzulügen. Ich weiß, was ich gesehen habe, bevor ihr mich bemerkt habt.“

„Hören Sie, Will …“ begann Simeon, doch dieser unterbrach ihn.

„Für Sie ab sofort Mr. Newcome!“ Sein Gesicht nahm einen enttäuschten Ausdruck an. „Ich hätte nie gedacht, dass Sie mir das antun würden. Nicht als der Sohn Ihres Vaters. Was Juliet betrifft, überrascht es mich allerdings nicht weiter. Sie ist die Tochter ihrer Mutter. Ich wusste, dass es früher oder später aus ihr herausbrechen würde, doch ich hoffte, sie bis dahin verheiratet zu haben. Ein zweites Mal lasse ich mich nicht zum Gespött des ganzen Bezirks machen. Als meine Frau mit diesem Ausländer davonlief, musste ich genug Klatsch ertragen, das soll sich nicht wiederholen.“

Ihr Vater hatte immer noch die Waffe auf Simeon gerichtet, den Finger jetzt am Abzug. Voller Angst schrie Juliet auf, was Robert Gerard aus dem Haus lockte. Heftig atmend kam er durch das Gras auf sie zugeeilt.

„Was, zum Teufel, soll dieser Lärm?“, fragte er und blieb im nächsten Moment erschrocken stehen. Die Situation war eindeutig. Er sah den zornbebenden Wildhüter, das schluchzende Mädchen und schließlich seinen eigenen, trotzig dreinblickenden Sohn.

Simeon und Will Newcome hatten zu reden begonnen, und Robert Gerard unterbrach sie ungeduldig. „Ich kann euch nicht gleichzeitig zuhören. Will, erzähl es mir, und, um Himmels willen, lass die Waffe sinken. Ist sie etwa auch noch geladen?“

Gerard las die Antwort aus dem grimmigen Gesicht des anderen. „Was ist nur los mit dir? Du solltest es wirklich besser wissen, als eine geladene Flinte auf jemanden zu richten.“

Die beiden Männer kannten sich schon lange. Seit er die Schule verlassen hatte, arbeitete Will Newcome auf Chantries. Er war ein ausgezeichneter Wildhüter, kannte jeden Strauch und jeden Stein auf dem Besitz und war vom Temperament her wundervoll für diese Aufgabe geeignet.

Täglich durchstreifte er schon in der Morgendämmerung Wälder und Felder und kehrte selten vor Sonnenuntergang zurück. Wilderer, die er bei der Jagd auf Fasane, Rebhühner oder auch nur Kaninchen erwischte, hatten nichts zu lachen. Dieses Leben bekam ihm gut: Er war durchtrainiert und niemals krank, und obwohl er die Fünfzig überschritten hatte, konnte er noch stundenlang marschieren, ohne zu ermüden.

Auch die Einsamkeit in den Wäldern gefiel ihm, denn er war gern allein. Selbst in Gesellschaft von anderen Menschen war er meist schweigsam. Nur bei Robert Gerard verhielt er sich anders. Die beiden Männer sahen sich fast täglich und pflegten einen lockeren, freundschaftlichen Umgang. Aber nicht heute.

„Ich habe sie gerade dabei erwischt“, knurrte Will, ohne seine Waffe zu senken. „Wusstest du, was zwischen den beiden vorgeht? Ich selbst hatte schon seit einiger Zeit einen Verdacht. Und du musst es auch geahnt haben. Warum hast du ihm nicht gesagt, er soll sie in Ruhe lassen?“

„Wovon sprichst du eigentlich?“

Juliet schloss die Augen, und Tränen liefen ihr über die Wangen.

Ihr Vater wurde deutlicher, woraufhin Robert Gerard sich verärgert an seinen Sohn wandte. Simeon ließ sich nichts gefallen, und bald schrien die drei Männer durcheinander, während Juliet nur fassungslos dabeistand.

Nie zuvor hatte sie ihren Vater in solchem Ton mit Mr. Gerard sprechen hören. Er hatte seinen Arbeitgeber stets respektiert, als Mensch und als Freund.

Deshalb durfte Juliet auch so viel Zeit im Herrenhaus verbringen, besonders, nachdem ihre Mutter fort war.

Juliet war elf Jahre alt, als ihre Mutter bei einem Urlaub auf Sizilien Giorgio kennen lernte und mit ihm durchbrannte. Tante Dora, in deren Begleitung sie reiste, hatte stets davon geträumt, Sizilien kennen zu lernen, wagte es jedoch nicht, allein dorthin zu fahren. Überängstlich stellte sie sich vor, dort von Banditen überfallen zu werden, und überredete daher Shirley Newcome, sie zu begleiten.

Sie blieben vierzehn Tage auf Sizilien, die ersten richtigen Ferien, die Shirley seit ihrer Hochzeit erlebte. Will Newcome hielt nichts von Urlaubsreisen, besonders nicht ins Ausland, und er war auch dagegen, dass seine Frau reiste. Doch dieses eine Mal setzte Shirley ihren Willen durch. Und das war dann auch das Ende ihrer Ehe.

Shirley lernte Giorgio kennen, verliebte sich Hals über Kopf in ihn und kehrte nicht mehr zurück. Damals fühlte Juliet sich verlassen und betrogen, doch heute, als Erwachsene, verstand sie, warum ihre Mutter sich gegen ihr Kind und für den Mann, den sie liebte, entschieden hatte.

Als sie Jahre später darüber sprachen, erklärte Shirley ganz offen: „Nach zwölf Jahren mit deinem Vater bin ich durch die Begegnung mit Giorgio zu neuem Leben erwacht. Ich war so glücklich, Julie. Zu Will konnte ich nicht zurückkehren. Natürlich fiel es mir schwer, dich zu verlassen, und ich weiß, es hat dir sehr wehgetan. Ich wollte dich so gern zu uns holen, und ich hoffte stets darauf, das Sorgerecht zu bekommen, sobald die Scheidung erst einmal durch war. Nie habe ich damit gerechnet, dass es anders kommen könnte. Will war ja praktisch nie zu Hause, und er hatte bis dahin auch nicht das geringste Interesse für dich gezeigt. Mein Anwalt war sehr zuversichtlich. Keiner von uns ahnte, dass Mrs. Gerard als Ersatzmutter auftreten würde.“

„Ich glaube, Dad hat mich nur behalten, um dir wehzutun“, erwiderte Juliet.

„Das denke ich auch. Er war stets ein harter Mann.“

Das Gericht entschied, Juliet bei ihrem Vater zu lassen, der auch das Sorgerecht erhielt. Ihre Mutter hatte jedoch das Recht, sie mindestens einmal in der Woche zu besuchen.

„Nachdem Giorgio und ich nach London gezogen waren, schlug ich vor, dass abwechselnd du uns und wir dich besuchen sollten. Aber dein Vater erlaubte uns nicht, mit dir auszugehen, wenn wir zu euch kamen. Er zwang uns alle, im Wohnzimmer zu bleiben, und saß die ganze Zeit schweigend dabei. Das hat Giorgio halb verrückt gemacht.“

Juliet nickte. „Ja, an diese Besuche erinnere ich mich noch sehr gut.“ Auch sie hatte sich damals sehr angespannt gefühlt.

Shirley seufzte. „Was deine Besuche bei uns anging, davon wollte er gar nichts hören. Angeblich hatte er keine Zeit, dich nach London zu bringen, und allein wollte er dich auch nicht reisen lassen. Ich fühlte mich so schuldig, aber damals hatten wir weder Zeit noch Geld für wöchentliche Besuche, Darling.“

Reumütig sah Shirley Juliet an. „Hast du mich gehasst?“, fragte ihre Mutter leise.

„Nein, natürlich nicht“, versicherte Juliet, obwohl sie es anfangs getan hatte. Doch im Laufe der Zeit war ihre Abneigung gegen ihren Vater, der ihr solche Angst eingejagt hatte, so gewachsen, dass sie schließlich auf die Seite ihrer Mutter übergewechselt war. „Ich habe dir keine Vorwürfe gemacht, weil du von Vater weggegangen bist“, betonte Juliet.

Ihre Mutter hatte oft geschrieben, stets an ihren Geburtstag gedacht und häufig Geschenke gemacht. Ihr Vater hatte diese Briefe und Päckchen auch niemals unterschlagen, wie Juliet fairerweise anerkennen musste. Er sagte auch kaum ein böses Wort gegen ihre Mutter. Tatsächlich erwähnte er sie nur selten.

Er hatte seine Exfrau so gut wie möglich aus seinen Gedanken verbannt, von dem Tag an, an dem er ihre zurückgebliebenen Besitztümer in den Garten getragen und dort verbrannt hatte.

Juliet hatte vom Fenster ihres Schlafzimmers aus zugesehen. Dieser sinnlose Akt der Zerstörung hatte sie erschreckt. Sie erinnerte sich noch an den aufsteigenden Rauch und an das grimmige Gesicht ihres Vaters. Schon damals fühlte sie sich von seinem unbeugsamen, halsstarrigen Wesen abgestoßen …

An dem Abend, an dem Will Juliet in Simeons Armen gefunden hatte, war er ihr wie ein kalter, verbitterter Mann vorgekommen, der weder vergaß noch vergab. Alle ihre Versuche, die Situation zu erklären, waren ohne Wirkung auf ihn geblieben.

Robert Gerard war fast genauso ärgerlich, allerdings auf andere Weise. Schützend legte er den Arm um Juliet. „Das reicht jetzt, Will“, fuhr er den anderen an. „Siehst du nicht, wie sehr du das Kind erschreckst? Bring sie jetzt nach Hause. Wir reden morgen weiter darüber, wenn wir es überschlafen haben.“

„Ich will sie nicht wieder in meinem Haus haben“, wütete Newcome. „Ich bin fertig mit ihr.“

Juliet schluchzte laut auf, und Robert Gerard drückte sie fester an sich und strich ihr beruhigend über das Haar. „Will!“ protestierte Gerard. „So nimm doch Vernunft an.“

Autor

Kathryn Ross
<p>Kathryn Ross wurde in Afrika geboren und verbrachte ihre Kindheit und Jugend in England und Irland. Eigentlich ist sie ausgebildete Therapeutin, aber die Liebe zum Schreiben war stärker, und schließlich hängte sie ihren Beruf an den Nagel. Als Kind schrieb sie Tier- und Abenteuergeschichten für ihre Schwester und Freundinnen. Mit...
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