Kalter Schnee und heiße Küsse

– oder –

 

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Wen er liebt, den stürzt er ins Unglück, das weiß Liam Daly genau. Daher lebt er zurückgezogen in einer einsamen Berghütte. Bis die bezaubernde Meredith in sein Leben schneit. Er verliebt sich Hals über Kopf - und schickt sie trotzdem fort. Aber ihre Begegnung bleibt nicht ohne Folgen …


  • Erscheinungstag 09.09.2019
  • Bandnummer 7
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727451
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es gab viele Arten, auf die ein Mensch sterben konnte. Bis zu diesem Moment hatte Meredith Jensen allerdings so gut wie nie darüber nachgedacht, wie ihr Leben einmal enden würde.

Wozu auch? Sie war jung und gesund, und ihre Existenz war gesichert.

Abgesehen von ihrer Vorliebe für Spiegeleier auf Toast mit Butter an jedem Sonntagmorgen setzte sie sich keinerlei Gefahren aus. Sie verbrachte die Wochenenden nicht mit Fallschirmspringen oder Bungee-Jumping, sie fuhr keinen Sportwagen, sondern einen Volvo S60 und ging spätestens um zweiundzwanzig Uhr mit einem Buch zu Bett. Auch beruflich hatte sie sich nur wenigen Risiken ausgesetzt. Bis vor zwei Wochen hatte sie für eine angesehene Baufirma in der Nähe von San Francisco luxuriöse Häuser und Wohnungen spektakulär eingerichtet, um sie für potenzielle Käufer attraktiver zu machen.

Sie hatte ihren Job geliebt.

Es war eine äußerst kreative Arbeit, jeden Raum passend zur Architektur zu gestalten und die idealen Einrichtungsgegenstände dafür zu suchen, um ihre Vorstellungen verwirklichen zu können. Natürlich hätte sie auch Pech haben und im falschen Moment vor Ort sein können, wenn irgendwo etwas passierte, aber meistens saß sie in ihrem Büro oder durchstreifte die City nach den richtigen Möbeln, Bildern und Teppichen.

Hätte Meredith über mögliche Gründe für ihr Ableben nachgedacht, hätte angesichts ihres Wohnorts wahrscheinlich ein gewaltiges Erdbeben ganz oben auf der Liste gestanden, sowie alltägliche Tragödien wie Verkehrsunfälle, Feuer oder Gewaltverbrechen. Der Vollständigkeit halber hätte sie auch noch schwere Krankheiten hinzugefügt.

Aber sich in den Bergen von Colorado zu verfahren, während eisiger Regen auf ihren Mietwagen prasselte? Noch dazu mitten im Oktober? Niemals. Die Notlage, in der sie sich momentan befand, hätte es ganz bestimmt nicht auf ihre persönliche Liste denkbarer Todesursachen geschafft. Diese Reise hatte eigentlich nur dazu gedient, sich mit einer alten Freundin zu treffen, etwas Ski zu fahren und vor allem … mit ihrer Vergangenheit Frieden zu schließen und neue Zukunftspläne zu schmieden.

Wäre alles nach Plan verlaufen, wäre sie bereits vor einer Stunde bei ihrer Freundin Rachel Foster eingetroffen und würde jetzt in aller Ruhe ein Glas Wein genießen. Rachel hatte sogar angeboten, sie am Flughafen abzuholen, aber Meredith hatte sich lieber ein Auto gemietet, um flexibel zu sein. Sie hatte schließlich GPS, Rachels Adresse und ihre Telefonnummer. Mehr als das und den gemieteten Honda Accord brauchte sie nicht, hatte sie gedacht.

Leider war das Wetter aber abrupt umgeschlagen, als sie den Flughafen verlassen hatte. Eigentlich hätte Meredith sich darüber nicht wundern dürfen, schließlich hatte sie seit einiger Zeit das Gefühl, dass das Schicksal fest entschlossen dazu war, sie vom Kurs abzubringen und ihr das Leben schwer zu machen.

Trotzdem hatte sie sich so etwas in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt, als sie am Nachmittag von San Francisco abgeflogen war. Vielleicht hätte sie damit rechnen sollen. Sie kniff die Augen zusammen und starrte auf die schmale Bergstraße vor sich. Vermutlich war sie einmal verkehrt links statt rechts oder umgekehrt abgebogen. Nicht, dass sie überhaupt wusste, wo genau sie sich verfahren hatte. Ihr Smartphone hatte nämlich schon seit dreißig Minuten kein Netz mehr.

Kein GPS, kein Navigationssystem, und außerdem keine Chance, Rachel eine SMS zu schicken oder Hilfe zu rufen. Sie war also vollkommen auf sich allein gestellt, und als wäre das nicht schon schlimm genug, begann es jetzt auch noch zu schneien anstatt zu regnen. Die Flocken fielen immer schneller und dichter.

Meredith nagte nervös an ihrer Unterlippe und versuchte gegen die aufsteigende Panik anzukämpfen. Sie fuhr noch langsamer und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, aber dann trat sie sich – bildlich gesprochen – in den Hintern.

„Reiß dich gefälligst zusammen“, sagte sie. „Hör endlich auf, dich zu bemitleiden, und denk nach. Die Fassung verlieren kannst du auch später noch.“

Richtig. Vorausgesetzt, sie überlebte das Ganze. Dazu musste sie allerdings erst einmal wenden, zu den Häusern zurückfahren, an denen sie vorhin irgendwann vorbeigekommen war, und hoffen, dass jemand dort sie aufnahm, solange der Schneesturm anhielt.

Meredith nahm den Fuß vom Gaspedal, beugte sich nach vorn und schaute durch die Windschutzscheibe. Der Himmel wurde immer dunkler, die Sonne war kaum noch zu sehen. Sie konnte nicht einmal erkennen, ob vor ihr genug Platz war, um zu wenden. Die Panik ließ sich jetzt nicht mehr unterdrücken.

Wo zum Teufel war sie nur?

Wie hatte sie es bloß fertiggebracht, in einem beliebten Wintersportort die einzige Straße zu finden, an der keinerlei Hotels oder Wohnhäuser standen? Obwohl sie vorsichtig bremste, rutschte der Wagen einige Meter weit. Sie schaltete die Warnblinkleuchten ein und stieg dann aus.

Es war furchtbar kalt. So kalt, dass es schon wehtat auf der Haut.

Sie kämpfte sich an den Rand der Straße, ging dann langsam weiter und suchte nach einer Stelle, die breit genug war, um den Wagen wenden zu können.

Schon nach wenigen Sekunden kribbelten ihre Hände. Sie hätte den Mantel vom Rücksitz nehmen und anziehen sollen. Sie zog die Ärmel ihres Pullovers über die Finger, senkte den Kopf und marschierte dann mit kleinen Schritten durch die wirbelnden Flocken. Vorhin, vor diesem dramatischen Wetterumschwung, hatte sie noch die Schönheit der Natur bewundert; das Grün und Gold der hoch aufragenden Espen, Pinien, Tannen und Fichten, doch jetzt bildeten sie plötzlich nur noch eine viel zu schmale Gasse.

Ihre Arme, Beine und Füße waren schon taub, die Wangen rot, die Lippen rissig. Das Haar war nur noch eine Masse nasser, gefrorener Strähnen. Alles um sie herum war viel zu kalt, grau, windig und einfach nur feindlich. Sie kämpfte sich eine Weile mühsam weiter, bis sie schließlich irgendwann aufgab.

Wenn es eine Stelle gab, an der sie wenden konnte, so konnte sie diese nicht entdecken.

Okay. Kein Problem. Sie würde einfach weiterfahren, bis sie zu einem Haus, Hotel, Restaurant oder einer Tankstelle kam. Von ihr aus auch ein Iglu. Irgendetwas. Irgendwo. Hauptsache eine Zuflucht, bis der Schneesturm sich wieder legte.

„Bitte, bitte, lass mich irgendeinen Ort finden“, flüsterte sie, als ihr Wagen wieder vor ihr auftauchte. Etwas zu essen wäre auch nicht schlecht, denn sie hatte heute noch nichts zu sich genommen. Das tat sie nie, wenn sie in ein Flugzeug stieg.

Ein Burger mit geschmolzenem Käse wäre himmlisch, oder auch eine Pizza mit Pepperoni und Pilzen. Ihr Magen knurrte daraufhin lautstark als Antwort.

Zurück im Accord, hielt sie ihr Gesicht erst einmal in den warmen Luftstrom der Heizung, schloss die Augen und atmete mit klappernden Zähnen tief durch. Je trockener ihr Haar und die Kleidung wurden, desto zuversichtlicher wurde auch sie. Sie würde nicht verhungern, und im Auto war es zum Glück warm. Selbst, wenn sie bis zum nächsten Morgen hier festsaß, würde sie überleben.

Alles würde gut werden.

Mit diesem Mantra im Kopf schnallte sie sich wieder an und gab vorsichtig Gas. Der Wagen schwankte kurz, als die Reifen auf dem vereisten Schnee nach Halt suchten, setzte sich aber nicht in Bewegung.

Meredith biss sich auf die Unterlippe und erhöhte vorsichtig den Druck auf das Pedal. Die Räder drehten ein, zwei Sekunden lang durch, bevor der Wagen schließlich anrollte. Sie umklammerte das Lenkrad noch fester und fuhr dann weiter, den Fuß mehr auf der Bremse als auf dem Gaspedal.

Aber selbst dieses Schneckentempo erschien ihr schon zu schnell und zu riskant.

Sie orientierte sich jetzt weniger an dem Verlauf der Straße als an den dunklen Bäumen links und rechts. Die Sonne sank immer tiefer, und die Flocken fielen immer dichter, bis sie kaum noch etwas erkennen konnte. Die Windstöße trafen den Wagen so hart, dass sie befürchtete, irgendwann von der Straße geweht zu werden.

Plötzlich kam ihr ein erschreckender Gedanke in den Sinn: Ihre Eltern, ihre Brüder, ihre Freunde und ihre Ex-Kollegen wussten gar nicht, wo sie war. Niemand, außer Rachel und ihrem Mann, würde versuchen, sie zu erreichen. Schließlich hatte sie allen erzählt, dass sie in den Urlaub fuhr.

Aber in Wirklichkeit war es mehr als das – viel mehr als eine einfache Auszeit.

Nach einem heftigen Streit mit ihrem Vater hatte Arthur Jensen ihr klar gemacht, dass er ihr fortan nicht mehr helfen würde. Ein ganzes Jahr lang und egal, was ihr widerfahren würde. Genauso wie der Rest ihrer Familie.

Sie hatte es ja so gewollt.

Aber sie hatte zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht damit gerechnet, dass sie im Herbst in einen verfrühten Schneesturm geraten würde, noch dazu an einem so abgelegenen Ort.

„Hör endlich auf damit“, ermahnte sie sich selbst. „Du wirst hier draußen nicht sterben.“

Kaum hatte sie dies ausgesprochen, tauchte vor ihr ein matter Lichtschein auf. Sie fragte sich zuerst, ob ihre Augen ihr vielleicht nur einen Streich spielten und ihr eine Oase in der weißen Wüste vorspiegelten. Trotzdem schlug ihr Herz automatisch etwas langsamer. Hoffnung und Erleichterung stiegen in ihr auf.

Aber beides hielt nicht lange an. Ohne eine Vorwarnung machte die Straße nämlich plötzlich einen scharfen Knick nach rechts, und Meredith riss zu heftig an dem Lenkrad. Der Wagen schleuderte, drehte sich anschließend um hundertachtzig Grad, wurde immer schneller und raste dann abwärts.

Meredith umklammerte das Lenkrad und trat, so fest sie konnte, auf die Bremse, bekam das Auto jedoch nicht wieder unter Kontrolle. Sie schloss ängstlich die Augen.

Der Aufprall war hart, und als der Airbag ausgelöst wurde, klang es wie ein lauter Knall, fast wie ein Schuss. Hätte sie noch Luft bekommen, hätte sie bestimmt vor Panik aufgeschrien. Eine Minute lang hielt sie die Augen geschlossen und wartete darauf, dass ihre Lunge wieder funktionierte, ihr Herzschlag sich beruhigte und die Übelkeit im Bauch sich legte, dann öffnete sie vorsichtig die Augen, wackelte zuerst mit den Zehen und bewegte anschließend die Beine.

Okay, gut, alles schien noch zu funktionieren. Sie lebte. Zumindest noch.

Wo waren bloß die Hunde? Liam Daly fluchte leise vor sich hin und rief Max und Maggie erneut. Aber vergeblich. Die beiden kamen einfach nicht angerannt, und er hörte sie auch nicht bellen. Das war gar nicht gut.

Überhaupt nicht gut.

Es war sowieso vollkommen ungewöhnlich, dass sie in einem Schneesturm von seiner Seite wichen. Noch ungewöhnlicher war es allerdings, weil er so lange fort gewesen war.

Er war erst vor Kurzem von einem langen Aufenthalt auf den Aleuten zurückgekehrt, wo er die Tierwelt im Wasser, in der Luft und an Land fotografiert hatte. Es war eine sehr erfolgreiche Reise gewesen, und wie immer war er dankbar für den Auftrag gewesen, war jetzt aber froh, wieder in Colorado zu sein.

Noch glücklicher wäre er allerdings, wenn seine Hunde jetzt bei ihm wären. Max und Maggie waren Tervueren, eine belgische Schäferhundrasse, sehr intelligent, aufmerksam, loyal und daher meistens so dicht an seiner Seite, dass er manchmal fast über sie stolperte. Während seiner Abwesenheit waren sie bei seiner Schwester in Steamboat Springs gewesen, und die beiden liebten Fiona fast so sehr wie ihn.

Fiona hatte ihn eingeladen, in ihrem Gästezimmer zu übernachten und etwas Zeit mit ihr und ihrer Pflegetochter Cassie zu verbringen, bis der Schneesturm vorüber war, aber der konnte noch lange dauern, und er kannte die Berge schließlich wie seine Hosentasche. Also hatte er ihnen versprochen, sie bald besuchen zu kommen, und war ohne Probleme über die nassen Straßen nach Hause gefahren. Er hatte sogar noch eingekauft und ganze dreißig Minuten vor dem Eisregen in seiner Einfahrt gehalten.

Weil er wusste, dass seine Schwester sich Sorgen machte, hatte er sie anrufen wollen, aber sein Handy hatte kein Netz gefunden, und inmitten all der Bäume funktionierte auch das Satellitentelefon nicht. Zum Glück war das Festnetz noch in Betrieb. Er hatte die Hunde gefüttert, den Stromgenerator überprüft und Brennholz von draußen geholt. Ein paar Wochen würde er im Notfall hier durchhalten können.

Irgendwie spürte er, dass dieser Schneesturm es in die Geschichtsbücher schaffen würde.

Er rief noch einmal nach den Hunden, aber bestimmt ging es ihnen gut. Sie kannten diese Gegend schließlich genauso gut wie er. Also würde er jetzt erst einmal in Ruhe auspacken und sich dann an die Arbeit machen. Er musste nun Hunderte von Fotos sichten und entscheiden, welche er verwenden konnte und wollte. Außer den digitalen Aufnahmen hatte er auch noch etliche Filme gemacht, die er in der Dunkelkammer selbst entwickeln würde. Das machte ihm am meisten Spaß, in der Hinsicht war er wirklich altmodisch. Müsste er wählen, würde er eher auf seine Hightechkameras verzichten.

Natürlich nur ungern, aber alles an der Fotografie … von den Kameras selbst, über die Kunst, ihnen die besten Aufnahmen zu entlocken, bis hin zur Arbeit im Labor … all das faszinierte ihn. Seine Sehnsucht nach Ruhe und Einsamkeit hatte ihn letzten Endes zur Natur- und Tierfotografie gebracht.

Hinzu kam, dass er dazu neigte, Tiere viel leichter als Menschen zu verstehen. Meistens mochte er sie auch lieber. In Großstädten gab es für seinen Geschmack viel zu viele Menschen, und Menschen redeten nun einmal gern. Liam nicht.

Seine Schwester scherzte immer, dass er allergisch gegen Menschen sei, die nicht zu seiner Familie gehörten. In gewisser Weise stimmte das sogar, aber seine Allergie hatte er sich selbst ausgesucht. Er kam allein nun einmal besser zurecht und hatte sich vor langer Zeit damit abgefunden. Abgesehen von Fiona und ein paar Freunden, über die er sich nicht ärgerte, sobald sie den Mund aufmachten, hatte er nur Max und Maggie. Zusammen mit seinem Job reichte ihm das aber voll und ganz aus.

Er rief die Hunde noch einmal und wartete. Als sie wieder nicht auftauchten, ging er ins Blockhaus zurück. Er hatte es vor fünf Jahren gebaut, in einem einsamen, abgelegenen Winkel des Berges. Er hatte keine Nachbarn, aber dafür viele Bäume und Bäche und jede Menge Einsamkeit.

Genauso gefiel es ihm.

Er zog Mantel und Stiefel aus. Wenn die Schäferhunde nicht wieder aufgetaucht waren, wenn er fertig ausgepackt hatte, würde er wohl oder übel seine Thermoschichten anziehen und sie suchen müssen. Das wäre bei diesem Wetter zwar schwierig, wenn nicht gar unmöglich, aber er musste es trotzdem versuchen, sonst käme er nie zur Ruhe.

Die Filme in den luftdicht verschlossenen Behältern verstaute er im Kühlschrank in seinem Arbeitszimmer, die Kameras, Objektive und Speicherkarten im Wandregal. Die Dunkelkammer befand sich direkt nebenan, aber mit dem Entwickeln wollte er erst morgen oder übermorgen beginnen. Als alles untergebracht war, ging er über die Treppe in sein Schlafzimmer und zog sich um.

Er musste seine Hunde unbedingt finden.

Als er wieder unten war, schnappte er sich eine Taschenlampe und öffnete die Haustür, aber dann überlegte er es sich anders und schloss sie wieder, denn Max und Maggie streiften am liebsten durch das Waldstück hinter dem Blockhaus, wo sie Eichhörnchen oder Kaninchen aufspürten, Höhlen erkundeten und sich im Bach abkühlten. Dort würde er zuerst nach ihnen suchen.

Draußen versuchte er die Angst um seine Hunde abzuschütteln. Das Ganze war total untypisch für sie. Es sei denn, einer von ihnen war verletzt worden. Vielleicht steckte einer der Hunde ja in einer weichen Stelle im eisigen Bach fest oder … nein, er wollte sich das Schlimmste nicht ausmalen.

Die beiden waren schließlich klug und beweglich, lebhaft und voller Energie. Vermutlich freuten sie sich einfach nur darüber, wieder daheim zu sein, und ignorierten deshalb die Kälte, um im Schnee herumtoben zu können. Ja, das klang gut. Sogar ganz wahrscheinlich, für jeden, der Max und Maggie nicht kannte, aber Liam kannte sie.

Er würde sie finden! Er musste. Sie gehörten schließlich genauso zu seiner Familie wie Fiona und Cassie.

Minuten, nachdem der Wagen gegen die dicht stehenden Bäume geprallt war, wurde Meredith bewusst, dass das beruhigende Motorengeräusch ebenso verschwunden war wie die warme Luft aus den Lüftungsschlitzen. Fast hätte sie den Zündschlüssel gedreht, aber dann entschied sie sich dazu, lieber zuerst auszusteigen und den Schaden zu betrachten.

Sie schob den inzwischen wieder schlaffen Airbag von sich weg, löste den Sitzgurt und öffnete dann die Fahrertür. Der Schnee traf sie wie eine Ohrfeige und trieb ihr sofort die Tränen in die Augen. Es war schon fast dunkel.

In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch niemals so allein und hilflos gefühlt.

Da sie kaum etwas erkennen konnte, schnupperte sie vorsichtig. Zum Glück stieg ihr aber kein Benzingeruch in die Nase. Würde sie es zurück auf die Straße schaffen, wenn der Wagen noch fahrtüchtig war? Vielleicht. Vorausgesetzt, die Reifen fanden Halt auf dem verschneiten, eisigen Boden.

Der Wind holte sie beinahe von den Beinen, als sie durch den gefrorenen Schnee stapfte. Am Heck des Wagens versuchte sie herauszufinden, wie weit sie von der Fahrbahn abgekommen war. Wenn es heller wäre, könnte sie die Straße vermutlich von hier aus erkennen, aber unter diesen Bedingungen war es viel zu riskant, rückwärts zu fahren.

Okay, so wie es aussah, würde sie die Nacht offenbar im Accord verbringen müssen. Wenn der Motor startete, würde sie zumindest nicht erfrieren. Sie hatte genug trockene Sachen in ihrem Koffer. Sie hatte sogar noch eine Flasche Mineralwasser und Kaugummi dabei.

Sie würde das hier überstehen!

Als sie sich zurück zur Fahrertür kämpfte, fiel ihr auf einmal etwas ein. Sie hatte mal von einer Frau gelesen, die – vor ein oder zwei Jahren – an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben war, während sie bei einem Schneesturm in ihrem Wagen übernachtet hatte. Der Schnee war nämlich irgendwann in den Auspuff geraten und hatte diesen verstopft.

Na großartig. Noch eine Todesart, der sie zum Opfer fallen könnte.

Sie überprüfte den Auspuff deshalb sorgfältig. Noch war der Schnee nicht hoch genug, aber wenn es die ganze Nacht so weiterschneite? Sie würde immer wieder nachsehen müssen. Einigermaßen erleichtert ließ sie ihren verfrorenen, nassen und zitternden Körper auf den Sitz fallen. Nach einem kurzen Moment atmete sie tief durch und drehte den Zündschlüssel.

Doch der Motor sprang nicht an. Er gab keinen Laut von sich. Sie schloss die Augen, betete und versuchte es dann erneut. Nichts! Vor lauter Frustration kamen ihr die Tränen, aber sie ignorierte sie.

Die Kohlenmonoxidvergiftung konnte sie also von der heutigen Sorgenliste streichen. Vorläufig zumindest. Dafür rückte eine mögliche Erfrierung aber jetzt an erste Stelle.

Sie holte ihr iPhone aus der Tasche. Vielleicht geschah ja ein Wunder, und sie hatte ein Netz. Nein … auch kein Netz. Sie biss sich verzweifelt auf die Lippe.

„Denk nach“, murmelte sie. „Was kannst du jetzt tun?“ Viele Möglichkeiten blieben ihr nicht mehr. „Ich kann im Wagen bleiben, oder in Richtung des Lichtscheins gehen und hoffen, dass ich dort irgendwo Schutz finde.“

Im Wagen zu bleiben erschien ihr sicherer, aber sie machte sich nichts vor. Die Chance, dass ein anderer Wagen vorbeikam und der Fahrer sie sehen würde, war mehr als nur gering, und falls Rachel tatsächlich mittlerweile die Polizei verständigt hatte, würden die Suchtrupps sie hier kaum finden.

Wenn es so weiterschneite, würde sie außerdem länger als bis zum Morgen hier festsitzen. Ihr Wagen könnte in der Zeit komplett eingeschneit werden, ein Baum könnte umstürzen, die Windschutzscheibe zerschmettern und sie dadurch komplett im Wagen einschließen.

Oder vielleicht sogar noch Schlimmeres.

Aber die Vorstellung, einfach hier herumzusitzen und zu hoffen, dass nichts Schreckliches passierte, behagte ihr ganz und gar nicht. Sie würde sich garantiert ausgeliefert fühlen.

Andererseits könnte sie draußen hinfallen, sich den Kopf stoßen oder sich den Knöchel verdrehen oder auch einfach nur in die falsche Richtung laufen. Selbst wenn sie Glück hatte und unverletzt blieb, würde sie sich lange durch den Schnee kämpfen müssen, um einen sicheren Ort zu erreichen. Konnte sie das wirklich? War sie stark genug dafür?

Mit einer Entschlossenheit, die sie überraschte, traf sie schließlich eine Entscheidung. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es ein Fehler wäre, im Auto zu bleiben, auch wenn das Licht nur matt war, konnte es nicht weit entfernt sein.

Aber wenn sie sich irrte … nein, sie irrte sich nicht, das durfte sie nicht.

Getrieben von einem Adrenalinstoß kletterte sie auf den Rücksitz und öffnete den Koffer. Sie brauchte dringend trockene Kleidung, und zwar in mehreren Schichten, etwas für ihr Gesicht, die Hände und die Ohren. Sie brauchte außerdem ihre Wanderstiefel und den Mantel.

Sie zog die nasse Jeans und den Pullover aus und stattdessen die Leggings an, in der sie eigentlich nur hatte schlafen wollen, gefolgt von gleich zwei Jeans, dann ein T-Shirt, einen Rollkragenpullover und schließlich noch ein weiter, besonders dicker Pullover. Unter den Stiefeln trug sie zwei Paar warme Socken. Einen weiteren Rollkragenpullover wickelte sie sich um den Kopf. Ein Flanellhemd diente als Schal. Die Tasche hängte sie sich schräg über die Brust, bevor sie die Hände in zwei Socken schob und den Mantel über alle Schichten zog.

Sonderlich bequem war das zwar nicht, aber es würde sie wenigstens vor der Kälte schützen. Hoffentlich.

Sie schloss die Augen und atmete tief durch.

„Ich werde nicht sterben“, flüsterte sie. „Ich werde stark sein. Ich werde das Licht finden, und es wird zu einem warmen, bewohnten Haus gehören, und irgendwann wird diese Nacht nur noch eine böse Erinnerung sein. Eine Geschichte, die ich später bei ein paar Drinks erzählen werde.“

Richtig. Nur eine Geschichte und nicht das Ende ihres Lebens.

Sie kam nur langsam voran, während sie mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf durch den Schnee stapfte. Der Wind, der Schnee und die schwere Kleidung behinderten sie unglaublich. Obwohl sie nicht wusste, wie viel Zeit vergangen war, schien es ewig zu dauern, bis sie die Bäume hinter sich gelassen hatte und die Straße erreichte.

Erleichtert schob sie die Hände in die Manteltaschen. Die Socken waren schon längst durchnässt und die Finger taub vor Kälte. Sie war aufwärtsgefahren, also kämpfte sie sich jetzt die Steigung hinauf. Sie würde weitergehen, bis sie das Licht erreichte. Es würde sie durch den Schneesturm leiten, bis sie endlich in Sicherheit war.

Sie würde es schaffen!

Sie stapfte durch den Schnee, versuchte, auf dem Mittelstreifen der Straße zu bleiben, ohne darauf zu achten, wie sehr ihre Oberschenkel schon schmerzten, wie extrem die Kälte durch ihre Schichten drang und wie heftig ihr Herz von der Anstrengung schlug. Sie starrte stur nach vorn. Dorthin, wo gleich der Lichtschein auftauchen würde.

Aber noch war alles dunkel.

War es ein Fehler gewesen, den Wagen zu verlassen? Nein, das darfst du nicht denken. Es ließ sich jetzt sowieso nicht mehr ändern.

„Weiter, weiter, weiter“, befahl sie sich.

Sie hatte irgendwann keine Ahnung mehr, ob sie schon fünf Stunden oder fünf Tage unterwegs war, doch als sie begriff, dass sie zu Fuß bereits eine längere Strecke den Berg hinauf zurückgelegt hatte als vorhin mit dem Wagen, stiegen Angst und Verzweiflung in ihr auf.

Tränen nahmen ihr das bisschen Sicht, das sie noch hatte, und schnürten ihr die Kehle zu. Ihre Beine wurden immer schwerer, und plötzlich gaben ihre Knie nach. Sie versuchte, aufrecht zu bleiben, konnte es aber nicht mehr.

Meredith verlor das Gleichgewicht, kippte nach hinten und landete im eisigen Schnee. Sie wollte sofort wieder aufstehen, aber das Gewicht ihrer Kleidung, der schneidende Wind und die kraftlosen Beine ließen es einfach nicht zu.

Sie schnappte nach Luft und mobilisierte dann die innere Kraft, die ihr bisher immer geholfen hatte und ihr zur zweiten Natur geworden war, dann rappelte sie sich auf die Knie auf, schob die Hände in den Schnee, bis sie festen Boden ertastete, zählte bis drei und stemmte sich mühsam hoch.

Sie verschwendete keine Zeit damit, sich zu ihrem Erfolg zu gratulieren. Wäre es doch besser gewesen, wenn sie im Honda geblieben wäre? Ja, vielleicht hatte sie einen schweren Fehler begangen.

Aber sie war sich so sicher gewesen, dass sie die Lichtquelle finden würde.

Meredith blieb stehen. Sollte sie jetzt sofort zum Wagen zurückkehren? Bestimmt wäre es einfacher, weil der Wind dann von hinten käme. Aber würde sie ihn überhaupt wiederfinden?

Erschöpfung und wachsende Panik machten es ihr fast unmöglich, eine Entscheidung treffen zu können. Klar war nur, dass sie nicht stehen bleiben durfte. Das würde ihr Schicksal auf jeden Fall besiegeln.

Richtig. Geh weiter.

Ein Schritt, zwei Schritte … Drei, vier, fünf und sechs.

Nach dem zehnten Schritt fing sie wieder von vorn mit dem Zählen an. Hauptsache, sie blieb in Bewegung. Denn wenn sie erneut hinfiel, würde sie sich bestimmt einfach zusammenrollen und die Augen schließen, weil jede Faser ihres Körpers sich so sehr nach einer Rast sehnte.

Diese Reise hatte eigentlich dazu dienen sollen, zur Besinnung zu kommen, eine Art Bilanz zu ziehen und ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Das war der Plan gewesen, nicht dieser Überlebenskampf inmitten einer verschneiten Wildnis.

Bisher hatte sie um nichts Wichtiges in ihrem Leben kämpfen müssen. Sie und ihre zwei Brüder waren in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen. Ihre Eltern waren streng, aber liebevoll gewesen. Als Kind war Meredith auf Privatschulen gegangen, viel gereist und von Chauffeuren gefahren worden.

Ihre Noten waren immer vorbildlich gewesen. Sie hatte gern gelernt und war eine brave Schülerin gewesen. Sie war sogar auf das College gegangen, das ihre Eltern ausgesucht hatten, und hatte dort den gewünschten Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht. Im letzten Studienjahr hatte sie sich dann aber plötzlich Hals über Kopf in einen Mann verliebt, der ihren Eltern ganz und gar nicht gefiel.

Alarico – Rico – Lucio arbeitete als Mechaniker, aber er hatte große Träume und, so hatte sie geglaubt, auch den Willen, sich diese zu erfüllen. Er kam aus einer großen, lebhaften Familie, in der Meredith sich sofort zu Hause gefühlt hatte. Sie hatten sie sofort akzeptiert, einfach nur weil sie Ricos Freundin war.

Autor

Tracy Madison
<p>Die preisgekrönte Schriftstellerin Tracy Madison ist in Ohio zu Hause, und ihre Tage sind gut gefüllt mit Liebe, Lachen und zahlreichen Tassen Kaffee ... Die Nächte verbringt sie oft schreibend am Computer, um ihren Figuren Leben einzuhauchen und ihnen ihr wohlverdientes Happy End zu bescheren. Übrigens bekommt Tracy Madison sehr...
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