Kleine Schritte ins große Glück

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Er hat den Ball gefangen! Joshs Kinderaugen strahlen – und Physiotherapeutin Molly wächst ihr kleiner Patient sofort ans Herz. Auch sein charmanter Vater lässt sie nicht kalt, ganz im Gegenteil. Doch sie muss die Schmetterlinge im Bauch ignorieren – denn Chirurg Dan Morris ist ihr Chef im Angel's.


  • Erscheinungstag 25.12.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512435
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Neiiiiin!“, heulte Josh auf und klammerte sich an seine Tagesmutter. „Gemma soll mich hinbringen!“

Schuldgefühle brannten in seinem Magen, und Dan Morris presste die Lippen zusammen. Es war nicht das erste Mal, dass Josh die freundliche Frau mittleren Alters, die ihn seit sechs Monaten betreute, seinem Vater vorzog.

Jahrelange Übung half Dan, seine wahren Gefühle zu verbergen, und mit sanfter Stimme und beschwichtigenden Worten gelang es ihm, Josh schließlich vom Sofa zu heben.

„Es ist alles gut, mein Junge. Ich hatte dir doch erzählt, dass ich die nächsten Wochen bei dir zu Hause bleibe. Wir gehen zusammen zur Krankengymnastik. Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin die ganze Zeit bei dir.“

Josh sah nicht wirklich überzeugt aus, aber er wehrte sich nicht mehr und lehnte sich an die Brust seines Vaters. Schicksalsergeben, wie es Dan schien. Auch die Tränen versiegten, nur ab und zu schniefte der Kleine noch – was Dan nicht weniger zu Herzen ging.

Er setzte ihn in den Kindersitz, schnallte ihn an und glitt hinter das Steuer seines schwarzen BMWs. In Gedanken suchte er nach einem Weg, das Eis zwischen ihnen zu brechen. Josh sollte wissen, dass er geliebt wurde, dass er seinem Vater wichtig war. Aber wie? Worte allein schienen nicht zu helfen.

„Tut die Therapie weh, Daddy?“

Eine unschuldige Frage, aber in Dan löste sie hilflose Wut und erneut Schuldgefühle aus. Wie oft hatte Josh ihm im Krankenhaus ähnliche Fragen gestellt? Und wie oft war er gezwungen gewesen, sie mit Ja zu beantworten … Er räusperte sich und blickte in den Rückspiegel. „Nein, Josh, es tut nicht weh. Die Physiotherapeutin wird Übungen mit deinen Beinen machen. Keine Spritzen, keine Nadeln, das verspreche ich.“

Sichtlich beruhigt lehnte sich Josh zurück.

Vorsichtig lenkte Dan seinen Wagen durch die vollen Straßen von Manhattan zur Physiotherapie-Praxis. Sie lag, genau wie seine kinderkardiologische Praxis, hinter den Backsteinmauern des Angel Mendez Children’s Hospital, von allen nur liebevoll Angel’s genannt. Dan hoffte sehr, dass Physiotherapeutin Molly Shriver hielt, was ihr Ruf versprach.

Er wollte die Beste für seinen Sohn. Er gestattete sich nicht einmal den Gedanken, dass Josh vielleicht nie wieder laufen würde. Wenn diese Molly Shriver auch nur halb so gut war, wie ihm jeder versichert hatte, dann dürfte sie die Einzige sein, die ihnen zum Erfolg verhelfen konnte.

Sie waren zehn Minuten zu früh dran, aber Dan hasste es, zu spät zu kommen. Kaum hatten sie im Wartezimmer Platz genommen, öffnete sich die Tür zum Sprechzimmer. Eine junge Frau mit leuchtend grünen Augen und rotgoldenen, zu einem frechen Pferdeschwanz gebundenen Haaren erschien.

„Guten Morgen“, begrüßte sie sie und lächelte Josh strahlend an. Dan war aufgestanden, aber sein Sohn saß noch dort, wo er ihn abgesetzt hatte, in Shorts und T-Shirt. Leichte, bequeme Kleidung hatte man Dan bei der Anmeldung gesagt.

Die junge Frau hockte sich neben Josh, sodass sie mit ihm auf Augenhöhe war. „Du musst Josh Morris sein. Aber du siehst älter aus als sieben. Bist du sicher, dass du nicht schon acht oder neun bist?“

Kichernd schüttelte Josh den Kopf. „Ich bin wirklich sieben. In drei Wochen habe ich Geburtstag.“

„Oh, toll! Ich liebe Geburtstage! Dann haben wir ja etwas zu feiern!“, rief sie aus, und Josh lachte wieder. „Ich bin Molly, und ich freue mich sehr, dass du heute hier bist.“

Dan schob die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans und beobachtete, wie sie mühelos Kontakt zu seinem Sohn knüpfte. Von Kindern schien sie schon einmal eine Menge zu verstehen.

Auf jeden Fall mehr als er selbst.

„Wir werden heute viel Spaß haben, Josh“, versprach Molly und hielt ihm eine Hand hin. „Bist du bereit für ein paar Spiele mit mir?“

Die Tränen schienen endgültig versiegt, als Josh eifrig nickte. Dan fürchtete, sie könnte vergessen haben, dass sein Sohn nicht laufen konnte, und beugte sich rasch vor, um Josh hochzuheben. „Wir sind bereit“, meinte er grimmig.

Ihr Lächeln kühlte ein bisschen ab. „Haben Sie Joshs Rollstuhl im Wagen gelassen?“, fragte sie mit verhaltener Freundlichkeit.

Allein bei der Vorstellung, seinen Sohn im Rollstuhl zu sehen, brach ihm der kalte Schweiß aus. Dan konnte zwölf Stunden im OP stehen und seelenruhig feine Koronararterien und Venen nähen, um beschädigte kleine Herzen zu reparieren. Aber in den dunklen Stunden, die er nach dem verhängnisvollen Autounfall am Bett seines Sohnes verbracht hatte, war er ein anderer gewesen. Innerlich zitternd, voller Angst und Selbstvorwürfe.

„Nein“, antwortete er knapp. „Josh braucht keinen. Er hat mich. Und jetzt hat er Sie, damit Sie ihm beibringen, wieder laufen zu lernen.“

Sie presste kurz die Lippen zusammen, und im ersten Moment glaubte er, sie würde es auf eine Diskussion anlegen. Stattdessen ging sie voran ins Sprechzimmer und von dort in einen größeren Raum, der mit allen möglichen Therapiegeräten ausgestattet war. Und einem Haufen Spielzeug: bunte Bälle in allen Größen und Farben, Taue zum Seilspringen, Jonglierbälle und Hula-Hoop-Reifen.

Molly Shriver deutete auf einen gepolsterten Tisch. „Josh sitzt da. Sie können gern links von ihm Platz nehmen.“

Behutsam setzte er seinen Sohn auf dem Tisch ab, etwas verblüfft, dass er in der Nähe bleiben sollte. Dan war davon ausgegangen, dass er sich im Hintergrund halten und nur zusehen würde. „Ich kann mich dort drüben hinsetzen“, sagte er und zeigte auf den harten Plastikstuhl in einer Ecke.

„Besser nicht“, erwiderte Molly munter. „Wir brauchen Sie, damit Sie uns helfen. Stimmt’s, Josh?“

„Stimmt!“, wiederholte der begeistert, obwohl er sicher nicht die geringste Ahnung hatte, worum es ging.

Einerseits widerstrebte es Dan zutiefst, Befehle von einer zierlichen Frau entgegenzunehmen, die ihm gerade bis zum Kinn reichte. Andererseits hatte er sich geschworen, alles Menschenmögliche für seinen Sohn zu tun. Und zu spät war ihm klar geworden, dass sie ihm die Übungen wahrscheinlich deshalb beibringen wollte, damit er Josh zu Hause unterstützen konnte.

„Okay, ich bin so weit.“ Er zog sich einen Rollhocker heran und setzte sich neben Josh.

„Hervorragend.“ Molly schnappte sich einen roten Plastikball, holte sich ebenfalls einen Rollhocker und setzte sich an Joshs rechte Seite. „Wir spielen Fangen, okay, Josh?“

Der nickte erwartungsvoll.

„Sieh genau hin. Du wirfst den Ball hoch in die Luft … so wie ich …“ Sie zeigte ihm, was sie meinte, und hielt die Arme gestreckt über dem Kopf, um den Ball aufzufangen. „Und dann fängst du ihn wieder auf. Alles klar?“

Als Josh nickte, warf sie ihm den Ball in hohem Bogen zu, sodass Josh die Arme hoch ausstrecken musste, um ihn zu erwischen.

„Großartig!“, lobte sie aufmunternd. „Und jetzt wirf ihn deinem Dad zu.“

Bevor Dan sich’s versah, tat Josh, was sie von ihm verlangte. Aber der Ball beschrieb einen schiefen Bogen, und Dan musste schnell reagieren, um ihn aufzufangen. Beinahe hätte er Molly einen düsteren Blick zugeworfen, weil ihm das vergnügte Aufblitzen in ihren Augen nicht entgangen war. Doch wie immer ließ er sich seine Gefühle nicht anmerken.

„Gut gemacht, Josh. Und jetzt Sie, Mr Morris. Werfen Sie den Ball Ihrem Sohn zu.“

Er war drauf und dran, sie zu korrigieren: Dr. Morris, pädiatrischer Herz-Lungen-Chirurg. Aber hier ging es nicht um sein Ego, sondern um Josh. Und streng genommen praktizierte er zurzeit gar nicht.

„Dan“, sagte er deshalb, während er den Ball wie verlangt zurückwarf. „Nennen Sie mich Dan.“

Sie antwortete nicht, so als wäre es ihr völlig egal, wie er hieß. Ihre Aufmerksamkeit galt Josh. Dan ärgerte sich, dass ihre Gleichgültigkeit ihm einen Stich versetzte.

„Jetzt wirf den Ball zu mir, Josh“, bat sie. „So hoch du kannst.“

Diesmal zielte sein Sohn schon besser, aber noch immer glitt der Ball seitlich weg. Molly ließ sie das Spiel wiederholen, immer wieder. Dan konnte sich einen ungeduldigen Blick zur Uhr nicht verkneifen. Okay, natürlich war es wichtig, dass sie ein gutes Verhältnis zu seinem Sohn aufbaute, aber zahlte die Krankenversicherung wirklich für diese Spielchen? Was half es Joshs Beinen, wenn er einen Ball in die Luft warf? Wann fing sie endlich mit den Übungen an?

„Sehr gut, Josh“, sagte Molly und lächelte fröhlich. Sie liebte ihre Arbeit, das war nur allzu deutlich. „So, und jetzt arbeiten wir mit einem Footbag.“ Sie legte den roten Ball auf ein Regal und kam mit einem weichen, mit Granulat gefüllten Ball, ähnlich wie ein Jonglierball, zurück. „Hast du schon mal mit einem Footbag gespielt, Josh?“

„Nein.“ Ernst beobachtete er Molly, wie sie den bunten Ball hochwarf, ihn an ihrem Ellbogen abprallen ließ, um ihm wieder Schwung zu geben, und ihn schließlich auffing. Danach wiederholte sie die gleichen Bewegungen mit dem anderen Ellbogen und mit einem Knie.

Dan lag es auf der Zunge, sie daran zu erinnern, dass sein Sohn weder laufen noch lange genug stehen konnte, um dieses alberne Spiel zu spielen. Aber da setzte sich Molly auf ihren Rollhocker, den Footbag in der Hand.

„Es ist kein leichtes Spiel, deshalb musst du dich gut konzentrieren“, erklärte sie. „Meinst du, du schaffst das?“

Josh sah sie groß an, nickte aber.

„Vielleicht sollten wir deinen Dad auch mitspielen lassen.“ Ein übermütiges Lächeln leuchtete in ihren grünen Augen auf. Ohne Vorwarnung warf sie den Ball in die Luft, ließ ihn geschickt von ihrem Ellbogen abprallen und beförderte ihn mit dem Knie gezielt in Dans Richtung. Das Ding bekam Schwung, und er musste sich anstrengen, es abzufangen, bevor es ihn an der Stirn traf.

Ärgerlich warf er ihr den Footbag in den Schoß. „Vielleicht sollten Sie mit dem Spielen aufhören und endlich mit Ihrer Arbeit anfangen!“, brach es aus ihm heraus.

Er bereute die scharfen Worte sofort, als er sah, wie Josh zusammenzuckte und ihn ansah wie ein geprügelter Hund.

Der Ausdruck in den braunen Augen seines Sohnes schnitt ihm wie ein Skalpell ins Herz.

Molly hatte große Mühe, ihr entspanntes Lächeln beizubehalten. Es drängte sie, Josh in die Arme zu nehmen und seinen Unhold von Vater vor die Tür zu setzen.

„Ich glaube, dein Dad ist heute mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden, Josh“, murmelte sie, nahm den Footbag und drehte sich so, dass sie Josh direkt gegenübersaß. Verschwörerisch senkte sie die Stimme. „Oder er weiß gar nicht, wie man spielt“, flüsterte sie, als würden sie ein Geheimnis teilen. „Du und ich, wir müssen ihm helfen, es zu lernen, okay?“

Josh biss sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf, nicht ohne vorher einen besorgten Blick in Richtung seines Vaters zu wagen. „Okay“, antwortete er zögernd, als wüsste er nicht, ob er sich auf ihre Seite schlagen oder besser zu seinem Vater halten sollte.

Molly spürte Dr. Morris’ durchdringenden Blick, ignorierte ihn jedoch. Natürlich wusste sie genau, wer er war. Sie hatte ihn bei der Eröffnungsfeier für die neue Frühchenstation gesehen, auch wenn er sie nicht wahrgenommen hatte. Außerdem behandelte sie viele Patienten, die von ihm operiert worden waren. Jedes Mal lobten die Eltern seine chirurgischen Fähigkeiten in den höchsten Tönen.

Im Angel Mendez Children’s Hospital genoss Dr. Morris hohes Ansehen, aber von dem Mann persönlich war sie nicht begeistert. Sicher, er sah atemberaubend gut aus – groß und breitschultrig, braunes Haar und Augen, dunkel wie geschmolzene Bitterschokolade –, aber Molly ließ sich nicht mehr so leicht von einem attraktiven Mann den Kopf verdrehen. Vor allem nicht von einem, der anscheinend nie lächelte.

Statt ihr zu sagen, wo es langging, sollte er seine Energie lieber in die Therapie stecken. Und dass er seinem Sohn einen Rollstuhl verweigert, unmöglich! Damit schränkte er Joshs Bewegungsfreiheit noch mehr ein.

„Okay.“ Sie zwinkerte dem Jungen zu. „Jetzt geht’s los.“

Josh schenkte ihr ein schüchternes Lächeln, das sie zutiefst berührte. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme genommen und ihm versprochen, dass sie ihn beschützen würde, für immer und ewig.

Völlig lächerlich eigentlich, weil Josh ihr Patient war und nicht ihr Sohn, sondern der des düster vor sich hin brütenden Chirurgen, der neben ihm saß.

Lass die Gefühle aus dem Spiel, sagte sie sich. Du wirst nur wieder ein Stück deines Herzens verlieren, sobald der niedliche kleine Junge dich nicht mehr braucht.

Ziel ihrer Arbeit war ja, dass ihre Patienten ohne sie zurechtkamen. Deshalb musste sie umso mehr darauf achten, professionelle Distanz zu wahren. Auch wenn es nicht immer einfach war …

„Ich möchte, dass du den Footbag mit deinen Ellbogen und Knien in die Luft beförderst, Josh.“ Sie machte es noch einmal vor. „So, und jetzt du“, ermunterte sie ihn.

Josh gab sein Bestes – was Molly von seinem Vater nicht behaupten konnte. Nicht nur, dass er seinen Sohn mit Habichtsaugen beobachtete, nein, mehr als einmal machte er Anstalten, ihm zu helfen. Obwohl Molly ihm mit entschiedenen Blicken zu verstehen gab, doch bitte sitzen zu bleiben.

Dass er auf dem Untersuchungstisch saß, behinderte Josh ein wenig. Im Rollstuhl hätte er mehr Halt gehabt. Trotzdem gelang es ihm, in einen Rhythmus zu kommen und die Übung recht gut zu bewältigen. Molly war froh, dass er die Knie bewegen konnte. Das bedeutete, dass seine Hüften beweglich waren.

„Ausgezeichnet!“, lobte sie begeistert. „Nun versuchen wir etwas anderes. Versuch mal, mit den Zehen meine Hände wegzustoßen. Tritt ruhig so fest zu, wie du kannst.“

Josh versuchte, die Beine anzuheben, doch seine Beinmuskeln waren zu schwach. Die noch stark geröteten Narben auf der zarten Kinderhaut waren nicht zu übersehen, aber noch viel bedrückender fand Molly die Schwäche in seinen Beinen. Hier lag eine ganze Menge Arbeit vor ihnen, um die Muskeln zu stärken.

Gut, dass sie viel Geduld hatte – im Gegensatz zu seinem Vater.

„Warte, wir probieren etwas anderes aus“, sagte sie, hob ihn vom Tisch und setzte ihn auf den Boden, bevor Dr. Morris aufspringen und die Sache in die Hand nehmen konnte. Molly nahm den roten Plastikball wieder aus dem Regal und legte ihn zwischen Joshs Füße. „Schieb den Ball von einem Fuß zum anderen, lass aber dabei die Beine gestreckt. Ungefähr so.“ Sanft bewegte sie sein rechtes Bein, um ihm zu demonstrieren, was sie meinte.

Josh versetzte dem Ball einen Schubs, der jedoch so schwach ausfiel, dass der Ball sich nur ein paar Zentimeter bewegte und dann weiterrollte bis zu einem Punkt, wo er für Joshs linken Fuß unerreichbar blieb.

„Sehr gut, Josh, das war prima.“ Schnell schob sie den Ball zu seinem linken Fuß. „Und jetzt noch mal.“

Sein schmales Gesicht verriet die Anstrengung, als er sich darauf konzentrierte, ihrer Aufforderung zu folgen. Nach zwei, drei Versuchen, bei denen es ihm nicht gelang, den Ball mehr als ein paar Zentimeter zu bewegen, brach er in Tränen aus.

„Ich kann das nicht“, schluchzte er. „Ich kann den Ball nicht treten!“

Jetzt nahm sie ihn doch in die Arme. „Nicht weinen. Du machst das schon sehr gut, Josh“, tröstete sie ihn. „Habe ich dir vorhin nicht gesagt, dass einige Spiele richtig schwer sind? Glaub mir, bald kannst du den Ball mit den Füßen hin- und herschießen. Wir machen das zusammen, und dann klappt es irgendwann. Aber du musst deinen Teil dazu beitragen, okay?“

Er beruhigte sich und nickte tapfer an ihrer Brust. Molly war erleichtert. Manche Patienten brauchten sehr viel länger, um über die frustrierende erste Zeit hinwegzukommen. Vor allem die Teenager.

Als sie aufblickte, um Dr. Morris zu versichern, dass Joshs Reaktion völlig normal war, hielt sie unwillkürlich den Atem an. In seinen schokoladenbraunen Augen lag so viel Schmerz, gemischt mit Schuldbewusstsein und einer ergreifenden Sehnsucht, als er seinen Sohn betrachtete, dass Molly sich für Sekunden nicht zu rühren wagte.

Doch dann holte sie tief Luft und atmete langsam aus. Anscheinend war Josh hier nicht der Einzige, der Hilfe brauchte. Und sie konnte sie ihm nicht verweigern – so unangenehm die erste Begegnung mit Dr. Dan Morris auch gewesen war.

Molly hoffte nur, dass sie diese neue Herausforderung ohne emotionale Narben überstand …

Eine Welle der Hilflosigkeit drohte Dan zu ersticken. Ohne es zu merken, ballte er die Hände zu Fäusten, während er sich wünschte, dass er derjenige war, der seinen Sohn tröstete. Aber Josh wandte sich nicht oft an seinen Vater, wenn er Trost brauchte.

Dan war zu selten für ihn da gewesen. Nicht etwa, weil er nicht wollte, sondern weil sein Beruf ihm keine Zeit dazu ließ. Operationen am offenen Herzen fanden nicht nur tagsüber von Montag bis Freitag statt. Nein, seine kleinen Patienten brauchten ihn auch darüber hinaus. Dan hatte jeden dritten Abend und jedes dritte Wochenende Dienst. Und das bedeutete, dass er Josh bei seiner Nanny lassen musste.

Wenigstens hatte sich bisher jede Nanny besser um ihn gekümmert als seine Mutter. Trotzdem verlangte er nach ihr, vor allem, wenn er traurig oder wütend war.

Dan rieb sich die Schläfen. Er machte sich bis heute Vorwürfe, dass er Suzy geheiratet hatte. Es war ein Riesenfehler gewesen, und Josh litt am meisten darunter.

Zum Glück versiegten Joshs Tränen so schnell, wie sie gekommen waren. Dennoch hatte Dan Mühe, die bedrückenden Gefühle, die auf ihm lasteten, abzuschütteln.

Gedankenverloren betrachtete er die Glanzlichter in Mollys rotgoldenem Haar, während sie Josh immer noch in den Armen hielt. Es ist meine Schuld, dachte er. Ich habe nicht aufgepasst. Ich hätte den Wagen kommen sehen müssen.

Aber er war abgelenkt gewesen, als sich seine Exfrau nach sechs Jahren unerwartet bei ihm meldete und von ihm Geld verlangte.

Sogar jetzt hörte er das Quietschen der Reifen, das nervenzerfetzende Knirschen von Metall auf Metall, spürte den Aufprall. Und dann der furchtbare Moment, Joshs hoher, schmerzerfüllter Aufschrei …

Dan wollte die Hände an die Ohren pressen, wusste aber, dass es nicht helfen würde. Keiner außer ihm hörte die Geräusche. Er konnte ihnen nicht entkommen.

Er zwang sich, die dunkle Vergangenheit zu verdrängen, um sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Die auch nicht viel heller war …

Niemals würde er wiedergutmachen können, was er Josh an jenem Abend angetan hatte. Aber er wollte es wenigstens versuchen. Hatte Urlaub genommen, um sich um seinen Sohn zu kümmern, um Josh zu zeigen, dass sein Vater für ihn da war. Und Dan würde alles unternehmen, damit Josh wieder laufen konnte.

„Okay, Josh, jetzt werde ich deine Beine massieren, bevor wir das Ultraschallgerät benutzen.“ Molly war zierlich, aber sie hob Josh auf die Untersuchungsliege, als wäre er leicht wie eine Feder. „Weißt du, was ein Ultraschallgerät ist?“

Furchtsam schüttelte Josh den Kopf. „Tut es weh?“

Dan zog sich das Herz zusammen. Sein Sohn hatte mehrere Operationen über sich ergehen lassen müssen und vor und nach jeder einzelnen gelitten. Am liebsten hätte er Josh hoch und heilig versprochen, dass er nie wieder Schmerzen ertragen musste. Aber das lag nicht in seiner Hand.

„Überhaupt nicht“, versicherte Molly. „Ich zeige dir gleich, wie es sich auf der Haut anfühlt. Wir können es auch zuerst bei deinem Dad ausprobieren, damit du weißt, dass ich dir die Wahrheit sage.“

„Natürlich, das mache ich.“ Dan hatte die stumme Aufforderung der Physiotherapeutin verstanden. Allerdings beschloss er, nachher auf einem kurzen Gespräch unter vier Augen zu bestehen. Unglaublich, die Therapiestunde war fast um, und seiner Ansicht nach hatte Molly die Zeit so gut wie gar nicht genutzt, um mit seinem Sohn zu arbeiten. Geschweige denn, ihm ein paar Übungen beizubringen, die er zu Hause machen konnte.

Er stand auf und half Molly, Josh so hinzulegen, dass sie mit der Massage anfangen konnte. Eins musste er ihr lassen – nicht ein einziges Mal warf sie einen entsetzten oder mitleidigen Blick auf Joshs vernarbte Beine.

„Versuch, dich zu entspannen, Josh“, sagte sie, als sie Massagecreme auf ihren Händen verteilte und dann mit sanften Bewegungen sein rechtes Bein massierte. Das Bein, das die Wucht des Aufpralls abbekommen hatte. „Falls es wehtut, sag mir sofort Bescheid, okay?“

Josh nickte und verzog gleich darauf das Gesicht.

„Ja, du hast hier einen ganz schönen Knoten in deinem Wadenmuskel.“ Molly bearbeitete die Stelle mit dem Daumen. „Ich weiß, dass das eine empfindliche Stelle ist, aber nach der Massage wirst du dich viel besser fühlen.“

„Ja“, antwortete Josh tapfer.

Wie schon so oft wünschte sich Dan, er wäre bei dem Unfall verletzt worden. Wünschte sich zum hunderttausendsten Mal, dass er Josh die Schmerzen abnehmen könnte. Aber ihm war bei dem Zusammenstoß so gut wie nichts passiert.

Was seine Schuldgefühle nur verstärkte.

Dan hing seinen Gedanken nach und nahm nur vage wahr, wie Molly Josh nach der Schule fragte, nach seinen Lieblingsfächern und Lehrern. Nach dem Unfall hatte Dan einen Privatlehrer engagiert, damit Josh keinen Lernstoff versäumte und dennoch täglich zur Therapie konnte.

Doch dann spitzte er die Ohren. Josh schien mit seinem neuen Lehrer gar nicht glücklich zu sein.

„Ich mag Mr Iverson nicht“, sagte sein Sohn. „Er ist fies.“

„Was hat Mr Iverson getan?“, hakte Dan nach, ehe Molly antworten konnte. „Warum ist er fies?“

Joshs Unterlippe zitterte leicht. „Er schreit mich an. Er lässt mich immer wieder addieren und subtrahieren, auch wenn ich es nicht verstehe. Aber er erklärt nichts. Ich soll nur die Arbeitsblätter ausfüllen, und wenn ich Fehler mache, schimpft er mit mir.“

Warum erfahre ich das erst jetzt? „Du hättest mir eher davon erzählen sollen, Josh. Ich werde Mr Iverson kündigen.“

Sofort leuchteten Joshs Augen auf. „Echt? Kein Mathe mehr?“

„Hör mal, Josh“, mischte sich Molly freundlich ein. „Glaubst du wirklich, dass sie dich in die zweite Klasse lassen, wenn du nicht addieren und subtrahieren kannst?“

Josh stieß einen Seufzer aus, der sehr erwachsen klang. „Wohl nicht.“

„Manchmal ist die Schule schwer, genau wie die Therapie“, erklärte Molly und begann, sein linkes Bein zu massieren. „Aber wir können etwas tun, damit beides mehr Spaß macht.“

Bildete er es sich ein, oder war die letzte Bemerkung auch an ihn gerichtet? Dan unterdrückte ein müdes Lächeln. Wie konnte Schule Spaß machen? Alle Kinder mussten lernen, aber Vokabeltests, Aufsätze, Geschichte und Mathe-Aufgaben waren nicht gerade das reinste Vergnügen, oder?

„Die Muskeln in deinem linken Bein sind längst nicht so verspannt wie im anderen Bein“, sagte Molly und lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf die Therapie. „Spürst du den Unterschied?“

Josh nickte begeistert. „Ja, tut gar nicht weh.“

„Das freut mich. Jetzt ran ans Ultraschallgerät. Das hier ist der Schallkopf.“ Sie nahm ein Gerät in die Hand, das aussah wie ein kurzer Hammer – nur dass der Hammerkopf sehr breit war und auf der einen Seite eine glatte Oberfläche hatte. „Ich werde ihn mit kleinen kreisenden Bewegungen über deine Haut führen, ungefähr so.“ Molly zeigte es ihm auf ihrer Handfläche. „Wenn ich die Maschine anstelle, wird es ein bisschen laut, und du wirst feine Vibrationen spüren. Aber das tut nicht weh. Soll ich bei deinem Daddy anfangen?“

Wieder nickte Josh, und Dan streckte den Arm aus.

Molly quetschte aus einer Tube kühles Gel auf seine Haut, betätigte einen Schalter und bewegte den Schallkopf über seinen Arm. Dan blickte stirnrunzelnd auf. „Ich spüre die Vibration kaum. Sind Sie sicher, dass die Maschine an ist?“

„Ist sie. Ich sagte ja, es würde nicht wehtun.“ Mit einem aufmunternden Lächeln wandte sie sich an Josh. „Jetzt du?“

„Okay.“ Das klang, als nähme er allen Mut zusammen. Dan rutschte unwillkürlich näher an seinen Sohn heran und legte den Arm um seine schmalen Schultern. Als Molly Gel auf Joshs Bein gab, zuckte er heftig zusammen. „Das ist eiskalt!“

„Ich weiß, aber das ist auch das einzig Unangenehme. Versprochen.“ Molly drückte den Schallkopf auf Joshs Haut und bewegte ihn langsam kreisend.

„Tut wirklich nicht weh!“, rief der Junge überrascht aus.

„Josh, ich werde dich nie anlügen“, sagte Molly ernst. „Erinnerst du dich, dass ich dir sagte, einige Übungen wären ziemlich schwer? Und das waren sie, stimmt’s? Du kannst dich darauf verlassen, dass ich bei allem, was wir hier machen, immer ehrlich zu dir bin. Okay?“

Josh grinste breit. „Okay.“

Autor

Laura Iding
Während ihrer Kindheit verbrachte Laura Iding Stunden damit, Liebesgeschichten zu schreiben, fest davon überzeugt, später einmal Autorin zu werden. Ihre Eltern überredeten sie jedoch dazu einen „echten“ Beruf zu erlernen. Sie entschied sich dafür, Krankenschwester zu werden. Obwohl sie gern als Krankenschwester arbeitete, fand sie schließlich zurück zu ihrer alten...
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