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Drei Wochen hielt das große Glück. Dann verschwand die blonde Page spurlos aus Gabes Leben. Und zwei Jahre sind vergangen, in denen er sich immer wieder eine Frage stellte: Warum?


  • Erscheinungstag 17.01.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755119
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Lächelnd ging Gabe Conroy durch den Wohnwagenpark in Austin im Bundesstaat Texas. In der linken Hand, an der ein neuer goldener Ehering funkelte, hielt er einen Blumenstrauß. Fast sechs Dollar hatte er im Supermarkt für den bescheidenen Strauß aus Nelken und Gänseblümchen bezahlt.

Eines Tages würde er seiner Ehefrau Rosen schenken. Und dann wollte er ihr auch richtige Flitterwochen ermöglichen.

Ehefrau … Er fand das Wort noch immer wahnsinnig aufregend. Nach nur neun Wochen Werbung hatten sie vor genau drei Wochen geheiratet. Das waren die glücklichsten drei Monate in seinem Leben gewesen.

Während er den Wohnwagen aufschloss, nahm er den schwarzen Westernhut ab. Drinnen duftete es wie immer nach Erdbeeren. Seine Frau war geradezu verrückt nach Kerzen mit Erdbeerduft.

„Page, ich bin wieder da!“

Er hängte seinen Hut neben den breitkrempigen Strohhut, mit dem Page ihre helle Haut vor der Sonne schützte. Sie hatte blaue Augen und war ein blonder Typ, der wegen Sonnenbrandgefahr sehr vorsichtig sein musste.

Gabe war froh, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die sich der Sonne so lange aussetzten, bis ihre Haut wie Leder aussah. Er liebte ihre samtweiche Haut. Außerdem galten Sonnenstrahlen mittlerweile als gefährlich, und Gabe wollte nicht, dass seiner Frau etwas zustieß. Dafür nahm er seine Rolle als Ehemann und Beschützer viel zu ernst, obwohl Page ihn wegen seiner altmodischen Haltung oft neckte.

„Page?“

Der winzige Wohnbereich war perfekt aufgeräumt. Alles war an seinem Platz. Auf dem Sofa lag nur das bunte Taschenbuch, das Page gestern Abend gelesen hatte, bevor Gabe seine Frau hochgehoben und ins Bett getragen hatte. Er lächelte, als er sich an die folgenden Stunden erinnerte.

„Schatz!“, rief er und ging auf den Schlafbereich zu.

Das Bett war gemacht, und die Tür zu dem winzigen Bad stand offen. Auch hier war Page nicht. Warum antwortete sie nicht? Wenn sie sich in der Küche aufhielt, musste sie ihn gehört haben.

Sie war auch nicht in der Küche.

Er legte die Blumen auf den Tisch. Wo konnte sie nur sein? Sie hatte doch schon seit mindestens zwei Stunden Schulschluss. Ob sie noch schnell etwas besorgte?

Als er vorhin seinen Pick-up parkte, hatte er nicht hinter dem Wohnwagen nachgesehen, ob Pages kleiner Dodge da war. Jetzt warf er einen Blick durch das Küchenfenster. Der Abstellplatz war leer.

Natürlich brauchte Page ihm keine Rechenschaft abzulegen, was sie unternahm, aber normalerweise informierte sie ihn, damit er sich nicht sorgte. Er machte es auch so und rief an, wenn es einmal später wurde.

Auf der Ablage stand ein zugedecktes Körbchen. Gabe hob die Serviette hoch und roch daran. Mrs. Dooleys selbst gebackenes Brot war noch warm. Bestimmt wusste Mrs. Dooley, wohin Page gefahren war.

Er trat ins Freie und klopfte an die Hintertür des blau-weißen Wohnwagens. Eine massige Frau mit kurzem grauen Haar und freundlichen braunen Augen öffnete.

„Hallo, Gabe! Hat Page Sie losgeschickt, um bei mir etwas Zucker zu borgen?“

„Nein, ich wollte wissen, ob Sie Page gesehen haben. Ich bin gerade nach Haus gekommen, aber sie ist nicht da.“

„Ihr Jungvermählten“, meinte Mrs. Dooley amüsiert. „Ihr könnt es nicht ertragen, auch nur für einige Minuten getrennt zu sein.“

„Ich bin einfach daran gewöhnt, dass sie mich begrüßt, wenn ich zurückkomme.“

„Übertreiben Sie es nur nicht“, meinte die Nachbarin wohlwollend. „Das Mädchen braucht Luft zum Atmen.“

„Ich weiß. Ich reagiere zu empfindlich. Aber sie sollte schon seit Stunden hier sein. Dann habe ich das Brot von Ihnen gesehen und dachte, dass sie Ihnen vielleicht gesagt hat, wohin sie gefahren ist. Trotzdem vielen Dank. Sie wissen, wie gern ich Ihr Brot esse.“

„Das freut mich. Ich habe das Brot vor über einer Stunde zu euch gebracht, und da war Page noch zu Haus. Wir konnten nicht viel miteinander reden. Sie hatte sich gerade für das Brot bedankt, als das Telefon klingelte. Es hat sich so angehört, als ginge es um etwas Ernstes. Also habe ich ihr ein Zeichen gegeben, dass ich später mit ihr rede, und bin wieder gegangen.“

Gabe hätte gern gewusst, wer angerufen hatte. „Noch einmal vielen Dank für das Brot, Mrs. Dooley“, sagte er im Weggehen.

„Gern geschehen. Essen Sie nicht alles auf, bevor Page zurückkommt. Ich habe es für euch beide gebacken.“

„Dann muss sie sich aber sehr beeilen“, meinte er lächelnd.

Mrs. Dooley schloss lachend die Tür.

Zwei Stunden später lag das Brot noch immer unberührt auf der Theke. Gabe ging im Wohnwagen hin und her und schwankte zwischen Ärger und Sorge. Verdammt, wo war Page? Es sah ihr gar nicht ähnlich, ohne Nachricht einfach wegzubleiben.

Er rief Pages beste Freundin Betty Anne Spearman an. Beide unterrichteten an der örtlichen Grundschule. Betty Anne konnte ihm sicher sagen, ob etwas Unvorhergesehenes in der Schule passiert war.

Doch Betty Anne hatte nichts von Page gehört. Auch sie war der Meinung, dass es nicht zu Page passte, so unbedacht zu handeln. „Ich mache mir Sorgen, Gabe“, meinte sie. „Hat sie nicht gesagt, ob sie heute Abend etwas vorhat?“

„Nein“, erwiderte er. „Wir wollten heute ins Kino gehen. Darüber haben wir noch beim Frühstück gesprochen, und Page hat sich darauf gefreut.“

„Das hört sich gar nicht gut, an Gabe. Willst du nicht lieber die Polizei anrufen?“

„Keine Panik“, sagte er. „Wahrscheinlich kommt sie bald zurück.“

„Sie soll mich sofort anrufen, wenn sie auftaucht.“

„Ja, Betty Anne, ich sorge dafür.“

Er legte auf und ging wieder durch den Wohnwagen, von der Küche in den winzigen Wohnraum und durch den schmalen Korridor ins kleine Schlafzimmer.

Er hatte seiner jungen Frau keinen Palast bieten können, aber das hatte sie nicht gestört. Sie hatte versichert, dass sie hier glücklich sein würde, bis sie sich ein größeres Haus für sich und die geplanten Kinder leisten könnten.

Im Moment litten sie unter Geldnot, aber Page war überzeugt, dass sein neues Bauunternehmen in kurzer Zeit erfolgreich sein würde. Dieses Vertrauen in ihn gehörte zu den Dingen, die Gabe an seiner Frau liebte.

Wen konnte er sonst noch anrufen? Page hatte in dieser Gegend keine Verwandten und nur wenige Freunde. Ihre Eltern lebten nicht mehr. Obwohl sie erst fünfundzwanzig war, stand sie schon lange allein in der Welt.

Ohne sich viel davon zu versprechen, versuchte er es bei seiner Mutter und seiner Schwester Annie. Keine der beiden Frauen hatte etwas von Page gehört, und beide sorgten sich, weil sie nun schon seit über drei Stunden verschwunden war.

Danach rief er Reverend Morgan an, den Geistlichen, der sie getraut hatte.

„Ich habe nichts von ihr gehört, Gabe“, erklärte der Reverend. „Page ist alles andere als gedankenlos. Vielleicht sollten Sie sich an die Polizei wenden.“

Gabe bedankte sich und ging ohne einen besonderen Grund ins Schlafzimmer, trat hinter das Bett und stolperte über Pages Hausschuhe. Er bückte sich, hob einen der zierlichen Schuhe aus Satin auf und öffnete die Schranktür.

Sofort fiel ihm auf, dass einige von Pages Sachen fehlten, allerdings nicht alle. Sie schien hastig einige Kleidungsstücke zusammengerafft und in die Reisetasche gepackt zu haben, die normalerweise auf dem obersten Brett stand. Die Tasche fehlte.

Voller Vorahnungen öffnete Gabe die oberste Schublade des Einbauschranks, in der Page ihre Dessous aufbewahrte. Die Schublade war leer. Nur ein weißer Umschlag mit seinem Namen lag darin. Wie benommen griff er danach. Page hatte nicht gewollt, dass er den Brief zu schnell fand. Warum?

Die Nachricht war kurz und sichtlich in großer Eile geschrieben worden.

Gabe,

es tut mir sehr leid! Ich kann es jetzt nicht erklären, aber ich muss Dich verlassen. Ich weiß, dass Du es nicht verstehen wirst, aber ich tue es zu Deinem Besten. Such nicht nach mir. Ich kann nicht bei Dir sein. Glaub mir bitte, dass ich Dir niemals wehtun wollte. Es tut mir schrecklich leid.

Page

Gabe ließ sich auf das Bett sinken. Ich muss Dich verlassen. Die Worte trafen ihn tief. Während er da saß und zu verstehen versuchte, kam er sich plötzlich wie ein alter, einsamer Mann vor.

Er war noch nicht ganz dreißig, hatte jedoch auf einmal allen Schwung und alle Begeisterungsfähigkeit eingebüßt, mit der er noch vor kurzem der Zukunft entgegengesehen hatte.

Seine Frau hatte viel mehr als nur einige Kleidungsstücke mitgenommen.

1. KAPITEL

Paula Smithers war bei ihren Mitmenschen nicht sonderlich beliebt. Das wusste sie selbst, und es störte sie auch nicht. Im Gegenteil – sie verhielt sich bewusst abweisend und unnahbar. In ihrem Leben gab es keinen Platz für Freunde.

Jeden Morgen um Punkt acht Uhr begann sie mit der Büroarbeit bei einem Autohändler in Des Moines im Bundesstaat Iowa. Acht Stunden am Tag arbeitete sie in fast völliger Einsamkeit. Die Verkäufer kamen nur zu ihr, wenn sie Anweisungen oder Fragen hatten. Die anderen Angestellten hatten es aufgegeben, Paula in ihre Gruppe einzubeziehen.

Paula war nie unhöflich, aber auch nicht freundlich. Nach fünf Monaten hielten ihre Kollegen sie für eine Einzelgängerin. Versuchte doch jemand aus Mitleid, sie einzuladen oder sich mit ihr anzufreunden, wies sie ihn mit einem kühlen Lächeln ab. Irgendwann gab es jeder auf.

Blake Jones, der neue Verkäufer des Autohauses, war hartnäckiger als andere.

„Guten Morgen, Paula“, begrüßte er sie und kam mit einem Stapel Unterlagen in ihr kleines Büro. „Sie sehen heute wieder hübsch aus.“

Das hellbraune Kostüm ließ ihre Haut bleich erschienen und passte im Farbton überhaupt nicht zu den braunen Augen. Auf Schmuck hatte Paula verzichtet. Sie trug nur eine schlichte Armbanduhr und eine dünne Goldkette, die unter dem hochgeschlossenen Kragen verschwand.

Der strenge Haarknoten hätte zu einer wesentlich älteren Frau gepasst. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, und die große Brille rutschte ihr ständig von der Nase herunter. Da Paula sich bewusst unvorteilhaft zurechtgemacht hatte, hielt sie nichts von Blakes Kompliment.

„Danke“, erwiderte sie kühl und griff nach den Unterlagen.

Blake störte sich nicht an dem abweisenden Ton. In den zwei Wochen, die er für McElden Motors arbeitete, hatte er bereits alle Verkaufsrekorde gebrochen. Mit der gleichen Hartnäckigkeit, die ihm gute Abschlüsse einbrachte, verfolgte er auch seine anderen Ziele. Und aus unerfindlichen Gründen hatte er beschlossen, sich mit Paula anzufreunden.

Von Anfang an hatte sie gefühlt, dass es ihm nicht um Sex ging. Vielleicht war es Mitleid. Oder er konnte es einfach nicht ertragen, wenn ihm eine Frau widerstand.

Blake war Anfang Dreißig und sehr attraktiv. Er wirkte jungenhaft mit dem ganz bewusst zerzausten blonden Haar, den blauen Augen und dem gewinnenden Lächeln. Außerdem war er schlank und trug mit Vorliebe weite Hemden und ordentlich gebügelte Hosen.

„Ich möchte heute Mittag das neue chinesische Restaurant in unserer Nähe ausprobieren“, sagte er. „Wollen Sie sich mir anschließen?“

„Nein, danke“, erwiderte sie und widmete sich der Arbeit. „Ich habe mein Mittagessen mitgebracht.“

Er lehnte sich gegen den Schreibtisch und begann mit dem Hefter, dem Klebebandspender und einem Briefbeschwerer aus Messing zu jonglieren. „Der Tag ist schön. Es wird endlich Frühling. Da verpflegt man sich doch nicht aus einer Papiertüte. Möchten Sie nicht für eine Weile aus dem Büro herauskommen?“

„Nein, ich möchte hier essen“, wies sie ihn entschieden zurück und sah zu, wie er die Gegenstände geschickt in einer anderen Reihenfolge von einer Hand in die andere wandern ließ. „Sie haben Ihren Beruf verfehlt. Sie hätten zum Zirkus gehen sollen.“

Blake stellte die Gegenstände wieder auf den Schreibtisch. Dabei rutschte die Manschette des hellblauen Hemdes für einen Moment zurück. Paula entdeckte eine kleine Tätowierung am rechten Handgelenk, konnte sie jedoch nicht deutlich erkennen.

„Da war ich schon“, erwiderte er lässig. „Reizt Sie der Chinese nicht doch?“

Als sie den Kopf schüttelte, seufzte er übertrieben und schlenderte zur Tür. Blake tat nie etwas hastig.

„Dann eben bei einer anderen Gelegenheit“, sagte er.

Paula antwortete nicht. Mit der Zeit würde er schon das Interesse an ihr verlieren. Sie konzentrierte sich wieder auf die Arbeit, um sich nicht so einsam zu fühlen. Die Arbeit war schließlich alles, was sie hatte.

Auf der Heimfahrt hielt Paula bei einem chinesischen Restaurant und holte sich eine Portion Gemüsesuppe mit Eierstich und als Hauptgericht Huhn mit Cashewkernen zum Mitnehmen. Nachdem Blake vom Mittagessen gesprochen hatte, hatte sie einen Heißhunger auf chinesisches Essen bekommen.

Sie schloss ihr kleines möbliertes Apartment auf, das sich in einem billigen und wenig ansprechenden Wohnkomplex befand. Die Einrichtung war funktional und unpersönlich, und Paula hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Wohnung auszuschmücken.

Da sie nie Besuch erhielt, war es ihr gleichgültig, wie es hier drinnen aussah. Paula fühlte sich innerlich so leer, dass sie auch die eleganteste Umgebung nicht hätte genießen können.

Sie stellte das Essen auf den Küchentisch und legte die überflüssige Brille beiseite. Dann sah sie die Post durch. Zu ihrer Erleichterung waren es nur die üblichen Werbesendungen und die Stromrechnung. Sie bekam keine Zeitungen und keine persönlichen Briefe. Trotzdem kostete sie das Durchsehen der täglichen Post jedesmal Nervenkraft.

Nach dem Essen schlüpfte sie im Schlafzimmer in ein bequemes Nachthemd, zog die Nadeln aus dem Knoten und ließ das dichte Haar auf die Schultern fallen. Dann strich sie mit den Fingern durchs Haar und suchte nach Stellen, an denen die stumpf wirkende Farbe erneuert werden musste.

Paula wusch sich das Gesicht, putzte die Zähne, nahm die braunen Kontaktlinsen aus den Augen und verwahrte sie sorgfältig in ihrem Behälter.

Den Rest des Abends verbrachte sie auf dem Sofa mit einem Taschenbuchroman. Der Fernseher lief, ohne dass Paula darauf achtete. Sie schaltete den Apparat nur ein, um menschliche Stimmen zu hören.

Das war die einzige Gesellschaft, die sie sich seit über zwei Jahren erlaubte.

Gabes Hand zitterte leicht, als er nach den Fotos griff, die Blake ihm reichte. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Blake es nicht bemerkt hätte, aber diesem Mann entging kaum etwas, mochte er auch noch so lässig wirken.

Eingehend betrachtete Gabe die Fotos. Es handelte sich um heimliche Schnappschüsse, die eine sehr durchschnittlich wirkende Frau von Mitte Dreißig zeigten. Sie wirkte streng und humorlos. Schlichtes Haar, braune Augen, große Brille, unvorteilhafte Kleidung.

Page war jetzt fast achtundzwanzig, hatte goldblondes Haar und himmelblaue Augen. Sie hatte stets hübsche Kleidung in hellen Farben geliebt und fast immer gelächelt. Und sie hatte ihn vor zweieinhalb Jahren verlassen.

„Nun?“, fragte Blake.

Gabe seufzte und nickte. Er starrte auf das Foto, das er in der linken Hand hielt. An dieser Hand trug er noch immer den Ring, den Page ihm am Tag ihrer Hochzeit angesteckt hatte.

„Ja“, sagte er langsam. „Das ist meine Frau.“ Er hob den Kopf und sah den blonden Mann vor seinem Schreibtisch durchdringend an. „Wo ist sie?“

Paula war besonders nervös, als sie an diesem Samstag ihre Post durchsah. Eigentlich gab es dafür keinen Grund, aber es bereitete ihr Sorgen, dass Blake Jones verschwunden war.

Seit sie seine Einladung zum Mittagessen abgelehnt hatte, war er einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen und hatte sich nicht einmal telefonisch gemeldet.

Nun wusste Paula aus eigener Erfahrung, wie es war, wenn jemand ohne ein Wort verschwand. Und darum beunruhigte sie Blakes Verschwinden. Vor allem fürchtete sie, es könne mit ihr zu tun haben.

Die Reklame warf sie weg, die Rechnungen für Wasser und Kabelanschluss wollte sie später bezahlen.

Bei dem letzten Brief stockte ihr für einen Moment das Herz. Er war an Paula Smithers gerichtet, und die Adresse enthielt die Nummer der Wohnung und die korrekte Postleitzahl. Der Absender fehlte, aber die typische schräge Handschrift kannte sie nur zu gut.

Sie wusste genau, was sie darin finden würde. Fotos, sonst nichts. Keine Erklärung, gar nichts.

Ihre Hände zitterten so heftig, dass sie den Brief kaum aufreißen konnte. Zwei Schnappschüsse fielen heraus.

Die Bilder verschwammen vor ihren Augen, als sie mit den Fingerspitzen das Gesicht berührte, das sie seit zweieinhalb Jahre nicht mehr gesehen hatte. Und dann betrachtete sie das zweite Foto.

„Um Himmels willen“, flüsterte sie und stützte sich auf den Stuhl.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis sie den Schwindelanfall überwunden hatte und handeln konnte. Sie lief ins Schlafzimmer, griff nach dem großen Koffer, den sie stets bereithielt, und warf Jeans, Tops, Trainingsanzüge, Socken und Unterwäsche hinein. Die schlichten Kostüme und anderen Sachen, die sie zur Arbeit getragen hatte, ließ sie zurück.

Paula Smithers alias Page Shelby Conroy war wieder auf der Flucht.

Gabe hätte sie beinahe verfehlt. Seit einer Viertelstunde saß er in seinem Pick-up auf dem Parkplatz der Wohnanlage, die Blake ihm beschrieben hatte. Er hatte all seinen Mut zusammengenommen und sich auf die Konfrontation vorbereitet.

Zwei junge Männer nutzten das schöne Wetter an diesem Wochenende im April, um auf dem Parkplatz einen alten, aber gut erhaltenen Mustang zu waschen. Sie hatten Gabe bemerkt und fragten sich wahrscheinlich schon, warum er nicht ausstieg.

Er holte tief Atem, öffnete die Tür und hatte gerade den ersten Schritt gemacht, als er eine Frau entdeckte. Sie eilte einen Weg entlang und zog einen Koffer auf Rädern hinter sich her.

Wenn er die Fotos nicht gesehen hätte, dann hätte er sie nicht erkannt. Sie sah ganz anders aus als die Frau, die ihn so lange in seinen Träumen verfolgt hatte. Natürlich hatte auch er sich verändert, aber bei ihm handelte es sich mehr um innere Dinge.

Stirnrunzelnd betrachtete er den Koffer. Offenbar lief sie schon wieder weg. Wieso? Hatte sie erfahren, dass er sie aufgespürt hatte? Und warum wollte sie ihm unbedingt ausweichen?

Was hatte er ihr bloß getan?

Gabe versperrte ihr den Weg. „Hallo, Page.“

Sie war ohnehin schon bleich, aber bei seinem Anblick wurde sie leichenblass, sah ihn entsetzt an und versuchte vergeblich, etwas zu sagen.

„Sieh mich nicht so an, verdammt“, fuhr er sie an. „Ich habe ein Recht auf eine Erklärung.“

„Bitte.“ Ihre Stimme klang atemlos. „Du musst gehen. Sofort!“

„Ich gehe, wann ich will“, erwiderte er grimmig. „Zuerst wirst du meine Fragen beantworten.“

Page schüttelte den Kopf und ließ den Blick von ihm zum Parkplatz wandern. Offenbar schätzte sie die Entfernung zu ihrem Wagen ab.

„Bitte, Gabe“, flüsterte sie. „Fahr wieder nach Hause.“

„Nach Hause?“, wiederholte er bitter. „Glaubst du wirklich, dass ich so einfach weggehe, nachdem ich dich endlich gefunden habe?“

„Du musst!“ Hysterie schwang in ihrer Stimme mit. „Lass mich in Ruhe. Ich will dich nicht in meiner Nähe haben.“

Es war für ihn eine Überraschung, dass sie ihm auch jetzt noch wehtun konnte. Er hatte gedacht, dass es nicht mehr schlimmer als am Tag ihres Verschwindens kommen würde. Offenbar hatte er sich geirrt.

„Warum, Page?“, fragte er schroff. „Was habe ich dir denn getan?“

Sie schüttelte den Kopf und wollte an ihm vorbeigehen. „Ich muss weg.“

Gabe hielt sie am Arm fest. Er war nicht gerade sanft, aber er tat ihr auch nicht weh. Trotzdem begann sie zu schreien.

„Was hast du denn?“, fragte er.

„Hey!“ Die beiden jungen Männer, die den Mustang gewaschen und poliert hatten, ließen alles liegen und stehen und liefen zu ihnen herüber.

„Lassen Sie die Frau los!“, rief der eine.

Gabe gab Page frei und hob abwehrend die Hände. „Ich tue ihr nichts“, erklärte er. „Sie ist …“

Page rannte weg und zerrte den Koffer hinter sich her.

„Bitte!“, rief sie ihren Helfern zu. „Halten Sie ihn eine Weile fest, damit ich wegfahren kann!“

Gabe wollte ihr nachlaufen, aber der eine Mann rannte ihn einfach um. Offenbar hatte er jahrelang Football gespielt. Gabe landete auf dem Asphalt, und der muskulöse junge Mann lag auf ihm.

„Lassen Sie mich los!“, rief Gabe wütend. „Sie ist meine Frau!“ Die Verzweiflung verlieh ihm zusätzliche Kraft. Wenn er Page jetzt aus den Augen verlor, wusste er nicht, wann er sie wiederfinden würde.

„Dave, hilf mir!“, rief der Kerl, der auf ihm lag. „Ich kann ihn nicht mehr halten.“

Prompt warf sich der zweite junge Mann über sie beide. Andere Mieter waren aufmerksam geworden und kamen zu ihnen, um zu helfen oder auch nur zu gaffen.

„Gebt mir eine Viertelstunde!“, schrie Page von ihrem Wagen herüber.

Gabe erkannte den Wagen. Sie hatten ihn eine Woche vor der Hochzeit gemeinsam gekauft.

„Warte, Page!“, schrie er ihr zu. „Bleib hier! Ich will nur mit dir reden!“

Das Dröhnen des Motors übertönte seine verzweifelte Bitte.

2. KAPITEL

Page verließ Des Moines ziellos und fuhr einfach nach Süden. Als sie an dem Autohaus vorbeifuhr, in dem sie in den letzten fünf Monaten gearbeitet hatte, warf sie nicht einmal einen Blick darauf. Am Montag wollte sie anrufen und erklären, dass sie nicht mehr zur Arbeit kommen würde.

Niemand vermisste sie, wenn sie so abrupt verschwand. Dafür hatte sie gesorgt. In den letzten zweieinhalb Jahren hatte es nur einen Menschen gegeben, der ihr nachtrauerte. Sie hatte sich eingeredet, dass er inzwischen längst über sie hinweggekommen sei.

Gewohnheitsmäßig berührte sie die dünne Goldkette, die unter dem Kragen ihrer Bluse verschwand. Unglaublich, dass Gabe sie gefunden hatte. Bei seinem Anblick war ihr fast das Herz stehen geblieben.

Wie hatte er sie nur gefunden? Wie lange suchte er sie schon? Und wie hingen das Zusammentreffen mit ihm und die Fotos in der Post zusammen? Beides war am selben Tag geschehen. Handelte es sich lediglich um einen unglaublichen Zufall, oder steckte mehr dahinter?

Sie stellte das Autoradio an, um sich durch Musik abzulenken. Doch dann hörte sie, was da gespielt wurde. Mark Miller warnte davor, dass man vor der Liebe gar nicht schnell genug davonlaufen kann.

Hastig schaltete sie das Radio ab und wischte sich die Tränen von den Wangen. Sie wollte nicht weinen.

Autor

Gina Wilkins

Die vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin Gina Wilkins (auch Gina Ferris Wilkins) hat über 50 Romances geschrieben, die in 20 Sprachen übersetzt und in 100 Ländern verkauft werden!

Gina stammt aus Arkansas, wo sie Zeit ihres Leben gewohnt hat. Sie verkaufte 1987 ihr erstes Manuskript an den Verlag Harlequin und schreibt...

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