Küsse für die Traumfrau

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

So viele Jahre sind vergangen - und immer noch ist Ginny seine Traumfrau! Wie gerne würde Ben seine ehemalige Jugendliebe ohne ein einziges Wort in seine Arme ziehen! Doch die Schatten der Vergangenheit bedrohen sein Glück mit Ginny ein zweites Mal ...


  • Erscheinungstag 20.03.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506014
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Niemand wusste genau, wie alt Squid Davies war. Die Einheimischen von Kaimotu Island konnten sich kaum noch daran erinnern, wann er seine Fischerei-Lizenz aufgegeben hatte, geschweige denn, wie er als junger Mann gewesen war.

Seit Jahr und Tag lebte er in einer Hütte hinter der Kaimauer, zwischen alten Ölfässern und geflickten Fischernetzen. Hier war es windgeschützt genug, um in Ruhe eine Pfeife zu rauchen, die Sonne wärmte sein wettergegerbtes Gesicht, und ihm entging nicht ein einziges Boot, das in den Hafen von Kaimotu ein- oder auslief. Squid wusste alles über das Meer, die Insel und ihre Bewohner – und er war nur allzu gern bereit, sein Wissen zu teilen.

Lautete seine Prognose „Heute ist ein guter Tag zum Fischen, Jungs“, so setzten die Fischer ihre Segel und fuhren hinaus. Sie wurden nur selten enttäuscht. Und verkündete er, dass noch vor dem Abend ein Sturm aufziehen würde, dann holten die Kollegen zügig ihre Segel ein und vertäuten die Boote. Jahrzehntelange Erfahrungen hatten gezeigt, dass es keinen Grund gab, Squids Einschätzungen zu misstrauen.

Doch nun schien er zu übertreiben …

„Diesmal wird es schlimmer als damals, als der Vater meines Vaters ein kleiner Junge war“, erklärte er mit unheilvoller Stimme. „Mein Großvater hat oft davon gesprochen, wie es damals war, und jetzt ist es genauso. Die Pohutukawa-Bäume sind zum zweiten Mal in diesem Jahr ausgeschlagen. Die Sturmtaucher verlassen ihre Küken nicht, obwohl es längst an der Zeit dafür wäre. Und dann die Wellen am Beck’s Beach. Im April laufen sie sonst noch nicht aus Richtung Norden auf. Das alles ist nicht normal. Ich sag’s euch, die Erde hat 1886 gebebt, und diesmal wird es noch viel, viel schlimmer!“

Er redet Unsinn, versuchten die Einheimischen sich zu beruhigen. Zwei Wochen zuvor hatte es ein leichtes Erdbeben gegeben, gerade heftig genug, um ein paar Pflastersteine zu verschieben und etwas Porzellan herunterfallen zu lassen. Doch die Seismologen auf dem Festland mit all ihren technischen Messgeräten und Computern hatten kurz darauf Entwarnung gegeben und gesagt, es wäre nur ein kleines Zittern gewesen. Sollte es jemals ein heftiges Erdbeben geben, dann würde es zweifellos entlang der Plattengrenze auf dem Festland von Neuseelands Südinsel verlaufen, und nicht hier, auf dieser Insel zwanzig Kilometer entfernt.

Und dennoch …

„Um den Mond herum sind Ringe zu sehen, und die Austernfischer fliegen landeinwärts“, unkte Squid. Obwohl die Einheimischen seine düsteren Prophezeiungen mit einem Lachen abtaten, spürten die meisten doch eine leichte Beklemmung. Die wenigen verbliebenen Sommertouristen reisten überstürzt ab, und die neue Inselärztin, die einen ausgeprägten Hang zur Esoterik hatte, kündigte mit der Begründung, sie spüre negative Schwingungen auf der Insel.

„Würdest du jetzt bitte damit aufhören?“, bat Ben McMahon, der einzige verbliebene Arzt, und sah Squid entnervt an. „Deinetwegen haben wir unsere zweite Ärztin verloren. Sie war zwar etwas durchgeknallt, aber ihren Job hat sie ordentlich gemacht. Deine düsteren Vorahnungen verschrecken nicht nur die Touristen, sondern auch die Einheimischen. Beschränk dich doch bitte wieder auf Wettervorhersagen!“

„Ich weiß, wovon ich spreche. Ihr werdet es schon sehen“, erwiderte Squid störrisch und ließ den Blick über den Horizont wandern. „Es wird ein schlimmes Erdbeben geben. Schlimmer als je zuvor. Ganz sicher.“

1. KAPITEL

Erdbebenwarnungen. Hysterie. Nur ein einziger Arzt vor Ort. Ben McMahon war schon im Normalfall mehr als ausgelastet, doch im Augenblick hatte der Tag einfach nicht genügend Stunden. Er schaffte es nicht mehr, all seine Patienten zu behandeln, und seine Praxis versank von Tag zu Tag mehr im Chaos.

Dies war umso ärgerlicher, als dass er ständig daran denken musste, wie einfach die Lösung wäre. Es gab nämlich durchaus noch eine weitere Ärztin auf Kaimotu Island. Leider hatte sie beschlossen, nicht mehr zu praktizieren. Bis jetzt hatte Ben Ginnys Entscheidung respektiert, doch falls Squids Warnungen berechtigt waren, würde er sie schon bald um Hilfe bitten müssen.

Das letzte Mal, als Ben Guinevere Koestrel um etwas gebeten hatte, war er vor ihr auf die Knie gesunken. Mit der Ernsthaftigkeit eines bis über beide Ohren verliebten Siebzehnjährigen hatte er damals um ihre Hand angehalten.

Warum auch nicht?

Seit ihrem achten Lebensjahr waren sie Freunde gewesen. Damals hatten Ginnys Eltern das wunderschöne Weingut auf der Insel als Ferienhaus gekauft, und Bens Mutter war als Kinderfrau für Ginny engagiert worden.

Gemeinsam hatten Ben und Ginny die Insel unsicher gemacht, waren umhergestreift, schwimmen und surfen gegangen. Sie hatten sich gestritten, wieder vertragen und waren beste Freunde gewesen.

Doch während dieses letzten Sommers hatten ihre Hormone plötzlich verrückt gespielt. Ben konnte sich noch gut an den verhängnisvollen Abend erinnern, an dem er ihr seinen Antrag gemacht hatte. Ginny hatte ein wunderschönes Kleid getragen, das ihre reichen Eltern ihr eigens für den Neujahrsball auf der Insel gekauft hatten. In seinem schlecht sitzenden, von einem Nachbarn geliehenen Anzug hatte er in der Halle auf sie gewartet, und ihr Anblick hatte ihm den Atem verschlagen.

Immer wieder hatte er sich gesagt, das Gerede von den sozialen Unterschieden wäre lächerlich und würde Ginny und ihn auf keinen Fall davon abhalten, für immer ein Paar zu bleiben.

Sie konnte doch einfach statt in Sydney in Auckland Medizin studieren. Mit ihm zusammen. Er wollte ebenfalls Arzt werden und hatte ein Stipendium an der Auckland Medical School gewonnen. Wenn er nachts irgendwo arbeitete, würden sie es schon schaffen. Hauptsache, sie waren zusammen.

Doch Ginny hatte ihn nur traurig angelächelt und ihm erklärt, dass er offenbar den Verstand verloren hatte. Ihr Leben fand in Sydney statt. Die kleine neuseeländische Insel war für sie und ihre Eltern lediglich ein Ferienziel. Und abgesehen davon, hatte sie nicht die Absicht, einen Mann zu heiraten, der sie Carrots nannte.

Diese Unterhaltung hatte vor zwölf Jahren stattgefunden. Schon vor langer Zeit hatte Ben das Trauma seiner verschmähten Teenager-Liebe überwunden, aber nun musste er ihr wieder gegenübertreten. Ginny war vor sechs Monaten auf die Insel zurückgekehrt. Sie hatte unmissverständlich klargemacht, dass sie ihre Ruhe haben wollte, doch sie war Ärztin, und die kleine Inselgemeinde brauchte dringend medizinischen Beistand. Jetzt. Deshalb war er zu ihr gefahren – auch wenn ihr Anblick in ihm alle möglichen lange verschütteten Emotionen auslöste.

„Ginny, ich brauche dich.“

Leider kannte er ihre Antwort bereits. Ginny stand inmitten ihrer Rebstöcke, bewaffnet mit einer großen Spritze, und sah ihn ungeduldig an.

„Es tut mir leid, Ben, aber ich habe nicht vor, wieder als Ärztin zu arbeiten. Und ich werde auch nicht in deine Klinik kommen. Wenn ich diese Rebstöcke nicht spritze, riskiere ich Schwarzfäule. War es das?“

Geschäftig besprühte sie einen weiteren Rebstock – ohne dabei sonderlich professionell vorzugehen, denn sie setzte viel zu hoch an und vergeudete somit mehr als die Hälfte des Pflanzenschutzmittels.

Wortlos nahm Ben ihr die Spritze ab und richtete den Strahl auf das untere Ende der Pflanze, um gezielt Blätter und Stamm zu behandeln.

„Impfungen gehören zu meinem Spezialgebiet“, erklärte er lächelnd und versuchte, seine alberne Befangenheit abzuschütteln. Bestimmt lag es nur an den gemeinsamen Erinnerungen. „So, du warst ein sehr braver Rebstock. Und es hat überhaupt nicht wehgetan, oder?“ Grinsend sah er die verblüffte Ginny an. „So redet man nun einmal mit Patienten, Carrots. Haben sie dir das auf deiner Elite-Uni in Australien nicht beigebracht?“

Ginny wurde rot. „Lass den Quatsch, Ben! Und wag es ja nicht noch mal, mich Carrots zu nennen! Mein Haar ist nicht orange, es ist kastanienbraun!“ Und mit einem wütenden Schwung warf sie ihre leuchtend roten Locken in den Nacken.

„Na gut, dann eben Dr. Ginny.“

„Ich bin keine Ärztin mehr! Ab jetzt bin ich Winzerin.“

„Es ist mir egal, was du gerade sein möchtest.“ Ben war wieder ernst geworden. „Du hast Medizin studiert, und ich bin in einer Notlage. Es hat über ein Jahr gedauert, bis wir eine Nachfolgerin für Dr. Reg gefunden hatten. Dr. Catherine Bolt war zwar auf den ersten Blick sehr nett und kompetent, doch dann hat ein winziges Erdbeben gereicht, und sie hat sich umgehend aus dem Staub gemacht.“

„Du veräppelst mich.“

„Nein, das tue ich nicht.“ Traurig dachte Ben daran, wie glücklich er gewesen war, als Catherine das Angebot auf Kaimotu angenommen hatte. Und wie sehr ihre Abreise ihn entsetzt hatte.

Ohne sie war er wirklich aufgeschmissen.

„Für Neuseeländer sind Erdbeben nichts Besonderes. Unsere Heimat hat nicht aus Versehen den Beinamen Zitternde Inseln. Doch Squid hat es in der letzten Zeit mit seiner Schwarzmalerei ein bisschen übertrieben. Ohne jeden wissenschaftlichen Beweis beharrt er darauf, dass ein schreckliches Beben bevorsteht. Abgesehen davon, dass meine zweite Ärztin weg ist, hat er die Insulaner so aufgescheucht, dass jeder noch schnell seine Medikamentenration für die nächsten Monate zu Hause bunkern möchte. Der Ansturm auf mein Wartezimmer ist unglaublich.“

Ginny lächelte schwach. „Du brauchst mich also, um die Apokalypse vorzubereiten?“

„Unsinn! Es gibt keinen vernünftigen Grund, mit einem großen Beben zu rechnen“, widersprach Ben betont ruhig. „Aber leider gibt es eine Hysterie. Bitte, Ginny, hilf mir!“

„Tut mir leid, Ben. Aber ich kann nicht.“

„Warum zum Teufel hast du Medizin studiert, wenn du dann niemandem helfen willst?“

„Das geht dich nichts an.“

Verwundert schaute er sie an. Dies war nicht mehr die Frau, der er vor zwölf Jahren einen Antrag gemacht hatte. Seine Mutter hatte angedeutet, dass Ginny eine schwierige Zeit hinter sich hatte. Eine tragische Ehe. Aber trotzdem …

Was mochte geschehen sein? Sie war unglaublich privilegiert aufgewachsen. Ihr Vater war ein prominenter Neurochirurg in Sydney gewesen, während ihre Mutter dafür gesorgt hatte, stets im gesellschaftlichen Mittelpunkt zu stehen. Zweimal im Jahr hatten sie einen Monat hier auf ihrem Weingut verbracht und stets eine Menge Freunde zu ihren rauschenden Festen einfliegen lassen.

Als er Ginny das letzte Mal gesehen hatte, war sie eine schlanke, wunderschöne junge Frau voller Optimismus und Energie gewesen, die es kaum erwarten konnte, ihr Medizinstudium aufzunehmen und sich ins Studentenleben zu stürzen.

In den Jahren nach seinem überstützten Antrag war ihm klar geworden, dass es sehr klug von ihr gewesen war, nicht schon mit siebzehn zu heiraten. Er hatte ihr vergeben und war überzeugt, über sie hinweggekommen zu sein. In seiner Erinnerung war sie noch immer lebhaft, strahlend und voller Tatendrang. Doch die Ginny, die nun vor ihm stand, hatte sich verändert. Sehr sogar. Sie sah mitgenommen aus.

Alt?

Sie war noch nicht einmal dreißig. Und dennoch …

„Ginny, bitte …“

„Nein!“, unterbrach sie ihn brüsk. „Ich bin zurückgekommen, um mich um das Weingut zu kümmern. Das ist alles.“

„Aber die Weinlese ist längst vorbei.“

„Ist mir egal. Ich spritze die Rebstöcke gegen … was weiß ich. Irgendwas. Henry hat mir das Mittel gegeben und mir erklärt, dass ich die Pflanzen damit behandeln soll. Danach muss ich mich um das Beschneiden kümmern. Henry hat nämlich beschlossen, in Rente zu gehen. Ich werde also eine Menge lernen müssen. Tut mir leid, Ben, aber ich bin keine Ärztin mehr. Ich bin jetzt Winzerin. Viel Glück bei deiner Suche nach jemandem, der dir helfen kann.“

Als sie ihm die Gartenspritze wieder abnahm, bemerkte Ben einen Wagen, der die Auffahrt heraufgefahren kam.

Bestimmt sind es Freunde von Ginny aus Sydney, dachte Ben. Andererseits war Ginny nicht so gekleidet, als würde sie Gäste erwarten. Sie trug ausgeblichene Jeans, eine alte Windjacke und war nicht geschminkt. Würde ein Mitglied der Koestrel-Familie so seine Gäste begrüßen? Auf keinen Fall.

„Was soll das?“, erkundigte Ginny sich unwirsch, nachdem auch sie das Auto bemerkt hatte. „Hast du dir noch Verstärkung herbestellt, um mich zu überreden?“

„Natürlich nicht. Ich habe keine Ahnung, wer da kommt.“ Interessiert schaute Ben zu dem Mann hinüber, der nun aus dem luxuriösen Wagen stieg. In seinem Maßanzug und mit der eleganten Aktentasche sah er aus wie ein Geschäftsmann.

Der Neuankömmling musterte mit abschätzigem Blick das verfallene Gutshaus, bevor er zunächst aus dem Kofferraum eine große Reisetasche holte und dann die Hintertür des Wagens öffnete, um ein Kind aussteigen zu lassen.

Es war ein kleines Mädchen, vier, höchstens fünf Jahre alt. Sie stolperte, als der Mann sie ohne ein Wort hinter sich her zog.

„Guinevere Koestrel?“, rief er fragend, während er auf Ginny zugeeilt kam. „Ich bin Richard Harris. Von der Kanzlei Harris, Styne und Wilkes in Sydney. Ich nehme an, Sie haben mich und das Kind bereits erwartet?“

Wie vor den Kopf geschlagen starrte Ginny das seltsame Paar an, das sich ihr näherte.

„Ich … ich schätze schon“, stammelte sie schließlich. „Aber ich habe erst später mit Ihnen gerechnet.“

Inzwischen war der Anwalt noch näher gekommen, das Mädchen unsanft hinter sich her zerrend. Die Kleine trug ein hübsches buntes Kleid und dazu passende Haarschleifen in ihrem dunkelbraunen Haar. Doch da war noch etwas. Ben kniff die Augen zusammen.

Sie hatte das Down-Syndrom. Die Anzeichen waren nicht zu übersehen.

Schnell warf er einen Blick auf Ginny, die blass geworden war. Intuitiv streckte er die Hand aus, um sie zu stützen, und Ginny griff danach wie eine Ertrinkende.

„Ich habe das Mädchen noch nicht erwartet“, erklärte sie hilflos. „Ich dachte, es würde noch Monate dauern, bis es kommt. All die Formalitäten …“

„Unsere Klientin hat keine Kosten gescheut, um die Angelegenheit so schnell wie möglich abzuwickeln. Wie Sie vielleicht wissen, ist sie für längere Zeit nach Europa gereist.“ Seine Worte klangen kühl und professionell – als wäre das Mädchen ein erfolgreich gelöstes Problem. „Wir haben Sie per E-Mail darüber informiert. Leider haben Sie uns nicht geantwortet und waren auch nicht telefonisch erreichbar. Unsere Klientin ist letzten Freitag abgeflogen, sodass wir keine andere Wahl hatten, als das Mädchen unverzüglich zu Ihnen zu bringen. Ein Kindermädchen hat uns bis nach Neuseeland begleitet, doch die junge Frau weigerte sich, mit auf die Fähre zu kommen. Offenbar wird sie schnell seekrank.“

Der Anwalt blickte mit gerunzelter Stirn auf seinen Schützling herunter, und Ben überlegte, wie viel er seiner Klientin für diese heikle Aufgabe wohl in Rechnung gestellt hatte.

„Ich … ich checke meine Mails nur selten“, entschuldigte Ginny sich verlegen.

Kopfschüttelnd sah der Anwalt sie an. Eine Frau, die ihre E-Mails nicht las? Seinem Blick nach zu urteilen, hielt er sie für genauso eingeschränkt wie das Mädchen neben sich.

„Kein Problem“, entgegnete er leichthin. „Ich war etwas besorgt, ob ich Sie antreffen würde, doch nun ist ja alles in Ordnung. Hiermit gebe ich das Mädchen offiziell in Ihre Obhut. Sie haben sich laut meinen Unterlagen bereit erklärt, das Sorgerecht für sie zu übernehmen. Die Mutter der Kleinen ist nach Europa abgereist und hat uns beauftragt, ihre Tochter zu Ihnen zu bringen. Das wäre hiermit erledigt.“

Ohne die Kleine anzusehen, schob er sie in Ginnys Richtung. Dem Mädchen war deutlich anzusehen, dass es keine Ahnung hatte, was gerade passierte.

„Oje …“, flüsterte Ginny, woraufhin Ben ihre Hand noch ein wenig fester drückte.

„Ginny, was ist hier los?“

Ginny holte tief Luft und rang um Fassung. „Ich … Das ist …“ Sie brach ab und schaute den Anwalt hilfesuchend an. „Bitte erklären Sie es ihm.“

Dieser Bitte kam der Fremde bereitwillig nach. Offenbar war er der Ansicht, dass Ben der mit Abstand vernünftigste Ansprechpartner in dieser grotesken Situation war.

„Das hier ist Barbara Carmody“, sagte er beflissen, ohne die Kleine auch nur eines Blickes zu würdigen. „Sie ist die Folge einer außerehelichen Affäre meiner Klientin mit dem verstorbenen Ehemann von Dr. Koestrel. Meine Klientin hat sie gemeinsam mit ihren anderen beiden Kindern aufgezogen, doch dann hat ihr Ehemann herausgefunden, dass Barbara nicht von ihm ist. Er hat sich daraufhin von meiner Klientin getrennt.“

„Die Eltern haben die Kleine verstoßen?“, fragte Ben entsetzt.

„Nun, verstoßen ist etwas übertrieben“, widersprach der Anwalt. „Es wurden Vorkehrungen für sie getroffen. Dr. Koestrels verstorbener Mann hat sie in seinem Testament sehr großzügig bedacht, und es gibt zahlreiche Institutionen, die sie sofort aufnehmen würden. Mrs Carmody hat uns gebeten, Dr. Koestrel wegen dieses Fonds zu kontaktieren, damit sie Barbara in einem Behindertenheim unterbringen kann. Doch Dr. Koestrel hat uns mitgeteilt, dass sie sich fortan um das Mädchen kümmern würde. Deshalb habe ich Barbara hergebracht. Alle notwendigen Dokumente befinden sich in dem Koffer dort. Falls Sie mit der leiblichen Mutter Kontakt aufnehmen möchten, wenden Sie sich bitte an uns. So, nun muss ich los, damit ich meine Fähre noch erreiche. Bitte unterschreiben Sie die Formulare und senden Sie sie an unsere Kanzlei. Die Adresse steht bereits auf einem vorfrankierten Umschlag. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden. Einen schönen Tag noch.“

Ohne auf eine Reaktion zu warten, ging er zu seinem Wagen zurück.

Das kleine Mädchen rührte sich nicht von der Stelle. Genauso wenig wie Ginny.

Der Mann würde losfahren und das Kind einfach zurücklassen.

Nein!

Rasch folgte Ben dem Anwalt und hinderte ihn daran, die Wagentür zu öffnen.

Blass vor Schreck sah Ginny ihn an.

„Ein Kind auszusetzen ist ein Straftatbestand“, sagte Ben ruhig. „Es muss irgendwelche Formalitäten geben oder …“

„Ich verpasse meine Fähre!“, zischte der Anwalt wütend. „Dr. Koestrel hat die notwendigen Dokumente bereits unterzeichnet. Alles Weitere kann auch später noch geklärt werden.“

„Sie können doch nicht ein Kind einfach so irgendwo aussetzen, nur weil Sie Ihre Fähre verpassen.“ Bens Stimme bebte vor Wut. Er würde es nicht zulassen, dass dieser schmierige Jurist sich einfach aus dem Staub machte.

„Dr. Koestrel hat sich bereit erklärt, das Mädchen zu nehmen. Von aussetzen kann also keine Rede sein!“

„Und wie war das jetzt? Barbara ist das Ergebnis einer Affäre zwischen irgendeiner Frau und … Ginnys verstorbenem Mann? Ginny, erklär es mir!“

„Warte“, bat Ginny. Hilflos sah sie das kleine Mädchen an, doch plötzlich schien sie sich wieder zu fangen. Sie nahm die Kleine an die Hand und führte sie an den Weinstöcken vorbei in den Gemüsegarten. Auf dem Weg lag ein Gartenschlauch. Ginny drehte das Wasser auf und drückte ihn Barbara in die Hand.

„Barbara, Liebes, würdest du meinen Tomaten zu trinken geben, während ich mit den Männern da rede?“

Das kleine Mädchen schaute interessiert auf den Wasserstrahl und lächelte schüchtern. Was auch immer dieses Kind während der letzten Tage und Wochen erlebt hatte, es würde eine Weile brauchen, bis es sich wieder zurechtfand. Intuitiv hatte Ginny erkannt, dass Barbara erst einmal Ruhe brauchte.

„Ja“, sagte die Kleine und fing gleich mit ihrer Arbeit an. Erleichtert ging Ginny zurück zu Ben und dem Anwalt.

„James … nun, er ist vor sechs Monaten gestorben“, klärte sie Ben mit zitternder Stimme auf. „Er hatte ein Non-Hodgkin-Lymphom.“ Gedankenverloren blickte sie zu Barbara hinüber, die mit einem zufriedenen Lächeln die Tomaten wässerte. Ginny schluckte.

„Was ist mit der Kleinen?“ Fragend sah Ben sie an. Die unbeteiligte Miene des Anwalts ärgerte ihn maßlos, und er musste sich sehr zusammenreißen, um nicht zu explodieren. „Wie lautet ihr voller Name?“

„Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt. Barbara Louise Carmody. Sie finden alle nötigen Informationen in dem Aktenkoffer dort. Und nun lassen Sie mich bitte zu meinem Wagen! Ich möchte losfahren.“

„Ginny?“ Eindringlich sah Ben sie an, doch Ginny schien weder ihn noch den Anwalt wahrzunehmen. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem kleinen dunkeläugigen Mädchen.

„Dieses … dieses Kind hat mir das Herz zerrissen“, flüsterte sie, und plötzlich fing Ben an, alles zu begreifen. Zumindest glaubte er das. Ihr Ehemann hatte mit einer anderen Frau ein Kind bekommen. Sie hatte nicht nur den Tod ihres Mannes verkraften müssen, sondern auch noch die Tatsache, dass er sie betrogen hatte.

Wie konnte irgendjemand von ihr erwarten, dass sie dieses Kind zu sich nahm? Fassungslos schaute er sie an. Bestimmt konnte sie es kaum ertragen, die Kleine auch nur anzusehen.

Nein, so war es nicht. Barbara hatte offenbar sofort Ginnys Beschützerinstinkt geweckt. Außerdem hatte der Anwalt behauptet, sie habe sich freiwillig bereit erklärt, sich um das Kind ihres Mannes zu kümmern.

„Ist ihre Krankenakte auch in dem Koffer?“, fragte Ginny kühl.

„Selbstverständlich. Ich sagte doch bereits, dass alle nötigen Unterlagen dort sind.“

„Wusstest du, dass sie das Down-Syndrom hat?“, erkundigte Ben sich.

„Ja, das wusste ich. Es tut mir leid, dass ich so unvorbereitet bin.“ Sie holte tief Luft. „Sie können ruhig abfahren“, verabschiedete sie den Anwalt. „Danke, dass Sie Barbara hergebracht haben. Bestimmt wollten Sie, dass sie so kurz wie möglich in dem Kinderheim sein muss, nicht wahr?“

Der Anwalt runzelte die Stirn, verzichtete jedoch auf einen Kommentar. Ben trat zur Seite, und der Anwalt stieg ein und startete den Motor.

Ginny hatte sich schon zu Barbara umgedreht und war neben ihr in die Hocke gegangen. Sie nahm die nassen, schmutzigen Hände des Mädchens in ihre und bedachte die Kleine mit einem liebevollen Blick. In diesem Moment entdeckte Ben, dass die Ginny, die er von früher kannte, noch immer existierte. Seine Ginny, die mutig und lächelnd jede Herausforderung annahm.

„Ich war mit deinem Vater verheiratet“, erklärte sie nun dem kleinen Mädchen. „Das bedeutet, ich bin deine Stiefmutter. Wenn es okay für dich ist, kümmere ich mich ab jetzt um dich. Du kannst hier bei mir wohnen und mir helfen, meine Pflanzen zu gießen. Ich brauche bei ganz vielen Sachen Hilfe. Es wäre deshalb toll, wenn du bei mir bleiben würdest. Bestimmt haben wir eine Menge Spaß miteinander. Was meinst du?“

2. KAPITEL

Ben, der sonst nie um Worte verlegen war, sah Ginny sprachlos an. Der Anwalt war in seinen Mietwagen gestiegen und mit quietschenden Reifen davongefahren.

Die darauf folgende Stille kam Ben fast unwirklich vor. Erst allmählich begann er wieder, die Geräusche um sich herum wahrzunehmen. Das Kreischen einer Möwe und das Rauschen der Wellen, das trotz der Entfernung zum Strand leise zu hören war.

Ginnys Welt war also in tausend Scherben zerbrochen. Ben dachte über ihre vehemente Weigerung nach, wieder als Ärztin zu arbeiten. Und über den Tod ihres Ehemanns. Doch am meisten beschäftigte ihn die Frage, weshalb sie die Verantwortung für ein Kind übernommen hatte, das nicht ihres war. Ihm war klar, dass sie eine schlimme Zeit hinter sich haben musste. Eine Zeit, über die er fast nichts wusste.

Während der letzten Jahre hatte Funkstille zwischen ihnen geherrscht. Die wenigen Informationen, die er hatte, kamen von seiner Mutter. Ihr hatte Ginny nach der Rückkehr auf die Insel einiges über die Tragödien ihres Lebens erzählt.

Doch obwohl sie ihm fremd geworden war, löste ihr Anblick irgendetwas in ihm aus. Sie wirkte verletzlich und traurig, wie sie mit Barbara so dastand. Bens Herz zog sich zusammen.

Dies war jedoch nicht der passende Augenblick für Emotionen. Ben klappte den Koffer des kleinen Mädchens auf. Genau wie der Anwalt versprochen hatte, war alles da: eine säuberlich verpackte Krankenakte, ihre Geburtsurkunde, Schriftverkehr der Anwaltskanzlei mit dem Vormundschaftsgericht und sogar Unterlagen von der Kindertagesstätte, die sie besucht hatte.

Die Kleine mochte nicht geliebt worden sein, aber man hatte sich zumindest anständig um sie gekümmert. Grimmig blickte Ben auf die Dokumente.

Wie um alles in der Welt konnte eine Familie einfach so ein Kind weggeben?

„Sie hat eine Mosaik-Trisomie“, erklärte Ben, während er in der Krankenakte blätterte. Ginny nickte. Sie wusste, dass dies eine mildere Form des Gendefekts war.

Ein fremdes Kind aufzunehmen ist immer eine Herausforderung, dachte Ben. Und dann noch eines mit Down-Syndrom …

Barbara war inzwischen wieder zum Tomatenwässern zurückgekehrt. Der Wasserschlauch erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie konnten also reden.

„Ginny, hast du dir das gut überlegt?“, fragte Ben eindringlich. „Noch können wir ihn aufhalten …“

„Und dann?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, kommt nicht infrage. Ich weiß, ich sehe im Augenblick etwas überrumpelt aus, aber im Grunde wusste ich, dass sie früher oder später hergebracht werden würde. Ich habe das Sorgerecht für sie übernommen, und ich werde mich gut um sie kümmern.“

„Niemand kann ein solches Opfer von dir verlangen.“ Besorgt schaute er sie an. Es folgte eine lange Pause, bevor sie entschlossen das Kinn reckte. Eine Geste, an die er sich sofort wieder erinnerte.

„Nein“, stimmte Ginny zu. „Das kann niemand. Niemand außer mir selbst. Veronica und James haben grenzenlos egoistisch gehandelt. Und nun soll dieses arme kleine Mädchen darunter leiden? Auf keinen Fall! Seitdem James tot ist, bin ich wieder frei, und Barbara sollte ebenfalls frei sein – und nicht eingesperrt in irgendeinem Behindertenheim.“ Ginny blickte zu dem kleinen Mädchen hinüber und lächelte zaghaft.

Offenbar war sie völlig überwältigt von den Geschehnissen.

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
Mehr erfahren