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Ein Traum in Weiß: Bewundernd streicht Molly über das Brautkleid, das gespendet wurde - dann schlüpft sie kurzentschlossen hinein. Doch der Traum wird zum Albtraum. Denn der Reißverschluss klemmt - und Sekunden später steht sie ihrem neuen Boss Houston Whitford gegenüber …


  • Erscheinungstag 26.09.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727413
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Missmutig blickte Molly Michaels auf den Inhalt des Kartons, den jemand auf ihren überfüllten Schreibtisch gestellt hatte. Es handelte sich um ein Hochzeitskleid.

Es kam häufig vor, dass übers Wochenende Kleiderspenden einfach vor die Tür gelegt wurden. Das Reinigungspersonal, das vor den übrigen Angestellten kam, deponierte die Sachen dann irgendwo im Büro. Die Kleiderspenden waren für Second Chances Charity Inc. sehr wichtig. Das gemeinnützige Unternehmen, für das Molly arbeitete, unterhielt in New York City drei Second-Hand-Boutiquen, aus deren Gewinnen etliche Wohltätigkeitsprojekte finanziert wurden.

Molly empfand es allerdings als bittere Ironie, dass nun ausgerechnet diese Spende auf ihrem Schreibtisch gelandet war. Ein Hochzeitskleid, sehr witzig!

„Nein, mit der Liebe habe ich nichts mehr am Hut“, murmelte sie vor sich hin. „Das Thema ist für mich abgehakt. Aus Schaden wird man klug.“

Sie hängte ihren Mantel an der Garderobe ihres winzigen Büros auf und ging wieder zum Schreibtisch. Noch einmal hob sie den Deckel der großen Schachtel an, erst nur ganz wenig, dann ein bisschen mehr. Das Hochzeitskleid sah wirklich edel aus. Vielleicht war es sogar eine Maßanfertigung – diese Braut hatte sich einen Traum verwirklicht!

Wie gut, dass die Liebe für mich passé ist, dachte Molly. Sonst hätte sie glatt in Versuchung kommen können, das Kleid anzuprobieren. Versonnen strich sie über den feinen Stoff.

Na ja, das Kleid ein wenig näher anzusehen, konnte ja nicht schaden. So wüsste sie jedenfalls, ob ihre seelischen Wunden schon verheilt waren. Immerhin war es jetzt ein gutes halbes Jahr her, dass ihre Verlobung mit Chuck geplatzt war. Da würde es sie wohl nicht aus der Bahn werfen, ein Hochzeitskleid unter die Lupe zu nehmen. Wahrscheinlich würde sie nichts dabei empfinden. Gar nichts. Außer vielleicht ein wenig Belustigung, weil es so kitschig war.

Nein, für sie gab es seit jener Liebespleite nur noch die Arbeit. Sie steckte ihre ganze Energie in ihren Job als Projektleiterin bei Second Chances, wählte die Hilfsprojekte aus, die den Menschen in den Problemvierteln New Yorks helfen sollten, und betreute sie.

„Ich liebe meinen Job“, sagte sie laut. „Anderen Menschen zu helfen macht mich glücklich und füllt mich voll aus.“

Sie zog das schneeweiße Kleid vorsichtig aus der Schachtel. Wie zart sich der Stoff anfühlte. Ein dezenter Perlenbesatz schmückte den leichten und luftigen Stoff. Das Label eines bekannten Desig­ners verriet, dass es ein Vermögen gekostet haben musste.

Gleichzeitig schien das Kleid sie daran zu erinnern, dass man sich auch mit viel Geld das Glück nicht kaufen konnte, dass romantische Träume platzen konnten. Warum sonst sollte man das eigene Hochzeitskleid, das wohl wichtigste Erinnerungsstück an den vermeintlich glücklichsten Tag im Leben, der Altkleidersammlung spenden? Das tat man doch wohl nur aus Enttäuschung. Aus bitterer Enttäuschung.

Also habe nicht nur ich Pech in der Liebe gehabt, dachte Molly. Das passierte offensichtlich auch anderen Frauen. So spielte das Leben eben manchmal …

Es war die Stimme der Vernunft, die aus diesen Gedanken sprach. Doch verärgert registrierte Molly, dass ihr beim Anblick des prächtigen Kleides trotzdem ganz warm ums Herz wurde. Dass sie automatisch an die ewige Liebe denken musste, an verwandte Seelen, an lange Gespräche im Mondschein, an gemeinsames Lachen. An das Ende der Einsamkeit.

Wütend wischte sie diese Gedanken beiseite. Was sollte die Rührseligkeit? Das Klügste wäre es jetzt, das Kleid ganz schnell wieder einzupacken und so bald wie möglich an eine der drei Second-Hand-Boutiquen weiterzuschicken.

Sicher, es wäre das Klügste gewesen, aber leider verhielt sie sich nicht immer klug. Leider hatte sie bereits festgestellt, dass das Hochzeitskleid genau ihre Größe hatte.

Möglicherweise wäre es ganz heilsam für sie, sich ihrem geplatzten Traum zu stellen, indem sie das Kleid anzog, überlegte Molly. Sie würde im Spiegel die Braut sehen, die sie nie sein würde. Ein Schock, der sie – eventuell – von ihren romantischen Vorstellungen kurieren würde.

Wie kam es überhaupt, dass ausgerechnet sie noch solchen altmodischen Vorstellungen nachhing? Gerade sie musste es doch besser wissen! Ständig hatten ihre Eltern sich gestritten, bis es schließlich zur Scheidung gekommen war. Ihre Mutter hatte danach wieder geheiratet – und nicht nur ein Mal. Aber vielleicht war es gerade diese Anhäufung von Enttäuschungen, die in ihr eine unstillbare Sehnsucht nach einer heilen Familie, nach der wahren Liebe geweckt hatte.

Ja, und diese Sehnsucht war sicher auch schuld daran, dass sie in ihrer Beziehung zu Chuck sämtliche Warnsignale übersehen hatte. Denn die hatte es in der Tat genug gegeben. Natürlich nicht gleich am Anfang, da hatte der Himmel noch voller Geigen gehangen. Aber kaum war der erste Liebesrausch verflogen, kamen die kleinen unerfreulichen Begebenheiten: Ausflüchte, Notlügen, Unzuverlässigkeit, nicht eingehaltene Versprechen.

Alles hatte sie ihm verziehen, immer und immer wieder. Es waren doch nur Kleinigkeiten, hatte sie sich eingeredet, über die ein liebendes Herz hinwegsehen musste. Allerdings häuften sie sich nach einer gewissen Zeit. Mal verletzte Chuck sie mit einer unbedachten Äußerung, mal verhielt er sich launisch, dann wieder zeigte er ein erschreckendes Desinteresse an Dingen, die ihr etwas bedeuteten. Der Verlobungsring, den er ihr schließlich präsentierte, fiel enttäuschend klein und billig aus, und wenn sie auf das Thema Heirat zu sprechen kam, wich er ständig aus.

Mit anderen Worten: Molly war zu sehr in ihren Träumen gefangen gewesen, sie hatte sich etwas vorgemacht. So sehr, dass sie sich von Chuck viel zu viel hatte bieten lassen. Ja, sie hatte sich geradezu demütigen lassen!

Jetzt hielt sie dieses Hochzeitskleid in den Händen und hatte damit die Gelegenheit, sich selbst zu beweisen, dass ein solches Stück Stoff keine Macht mehr über sie besaß. Jetzt nicht und niemals wieder. Sie war keine Träumerin mehr, hatte ihre Naivität abgelegt, war nicht mehr bemitleidenswert rührselig und überromantisch.

Damit war es vorbei, ein für alle Mal. Molly Michaels war eine neue Frau geworden. Sie konnte dieses Kleid anziehen und den Werten, die es repräsentierte, frech ins Gesicht lachen. Lächelnde Babys, Ferien am Meer, mit Kindern Sandburgen bauen, sich abends am Lagerfeuer an den Traummann kuscheln …

„Traummann ist das richtige Wort“, murmelte sie vor sich hin. „Denn den gibt es wirklich nur in Träumen. Nicht in der Wirklichkeit.“

Beim Anziehen musste Molly feststellen, dass sie doch nicht so gut in das Kleid passte, wie sie gedacht hatte. Eigentlich hätte sie den Versuch aufgeben sollen. Doch nun wollte sie es erst recht. Genau so, wie es in ihrer gescheiterten Beziehung gewesen war.

Je schwieriger es mit Chuck geworden war, desto krampfhafter hatte sie versucht, die Beziehung wieder in Ordnung zu bringen.

Aber heute war sie nicht mehr verzweifelt liebessüchtig, und das würde sie sich beweisen, indem sie dieses Kleid anzog und nichts dabei empfand. Es war wie eine Mutprobe …

Doch irgendwie hatte sie sich in den Unmengen weißen Stoffs verfangen. Als ihr Kopf endlich aus der richtigen Öffnung herausschaute, verhedderte sie sich mit ihrem Haar im perlenbesetzten Kragenstück. Nachdem sie sich aus dieser Misslichkeit befreit hatte, gab es noch eine weitere Hürde zu bewältigen. Der Reißverschluss befand sich am Rücken, und um das Hochzeitskleid zu schließen, hätte es eigentlich helfender Hände bedurft.

Doch Molly war schon so weit gekommen, dass sie das Gefühl hatte, jetzt nicht aufgeben zu dürfen. Mit der Geschicklichkeit eines Schlangenmenschen streckte sie ihre Arme nach hinten und zerrte an dem Reißverschluss herum, bis er geschlossen war. Fast hätte sie sich dabei den Arm verrenkt.

Jetzt war sie bereit. Bereit, sich ihrem Spiegelbild zu stellen und dem romantischen Dummchen ein für alle Mal Lebewohl zu sagen. Sie wandte sich um und blickte in den Spiegel, der an der Innenseite ihrer Bürotür angebracht war.

Und dann geschah es. War sie eben noch bereit gewesen, ihr Spiegelbild kühl, ja geradezu zynisch zu betrachten, war es damit urplötzlich vorbei. Alles um sie herum schien zu verschwimmen, der überfüllte Schreibtisch, die Regale mit den Aktenordnern … Die Straßengeräusche der erwachenden Stadt nahm sie kaum noch wahr.

Ungläubig betrachtete sie sich im Spiegel. Fest hatte sie damit gerechnet, sich neutral zu sehen, ohne jede Spur von Romantik. Nur sie, Molly Michaels, ein bisschen zu groß, ein bisschen zu dünn, rothaarig und blass, in einem Kleid. In einem Brautkleid zwar, aber was sollte das schon ändern?

Doch es änderte alles. Es war eine Prinzessin, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. Ihr rotes Haar, durch das Überziehen des Kleides statisch aufgeladen, wirkte jetzt besonders üppig und feurig. Ihre Haut war gegen das Weiß der Hochzeitsrobe nicht etwa zu blass, sondern schimmerte in einem feinen Porzellanteint. Und ihre Augen leuchteten grün wie eine irische Wiese zur Frühlingszeit.

Hatte das Kleid in zusammengefaltetem Zustand eher einen unschuldig-jungfräulichen Eindruck gemacht, wirkte es angezogen ganz anders. Der Ausschnitt war gewagt, der straffe Sitz betonte jede Kurve. Molly fand, dass sie richtig verführerisch aussah!

Sie wusste, es wäre das Klügste, das Kleid schnell wieder auszuziehen, doch sie konnte die Augen nicht von ihrem Spiegelbild lassen. Sie probierte einige Posen aus und gefiel sich immer besser. Ich hätte wirklich eine schöne Braut abgegeben, dachte sie bedauernd.

Ja, in ihrem Leben war wirklich nicht alles rund gelaufen. Etliche ihrer Hoffnungen und Träume hatten sich nicht erfüllt. Aufseufzend wollte sie das Kleid ausziehen und versuchte mit verdrehten Armen, den Reißverschluss auf dem Rücken wieder aufzuziehen. Es gelang ihr nur ein kleines Stück, dann hakte er.

Was jetzt? Irgendwie begann Molly das Kleid zu hassen, weil es ihr bewusst gemacht hatte, dass sie im Herzen doch noch eine unheilbar romantische Seele war. Dennoch brachte sie es nicht über sich, es einfach zu beschädigen, um sich aus der Falle zu befreien.

Verzweifelt versuchte sie, es sich bei geschlossenem Reißverschluss über den Kopf zu ziehen, aber sie scheiterte kläglich. Als sie das Manöver rückgängig machte, hatte sie nur erreicht, dass sich ihr Haar wieder im Perlenaufsatz verheddert hatte.

Fast kam es ihr vor, als klammerte sich das Kleid an sie. Um sie zu ermutigen, ihre Hoffnungen und Träume nicht aufzugeben.

Plötzlich klingelte ihr Telefon. Am Klingelzeichen erkannte sie, dass die Anruferin Vivian Saint Pierre war, die alle nur Miss Viv nannten, die allseits geschätzte und geliebte Gründerin von Second Chances. Miss Viv und Molly waren morgens immer die Ersten im Büro.

Statt ans Telefon zu gehen, verließ Molly ihr Büro und machte sich über den Flur auf den Weg zum Zimmer ihrer Chefin. Miss Viv würde sie retten.

Vor mir selbst, fügte Molly ironisch im Geiste hinzu.

Miss Viv würde ihre Notlage sofort verstehen, würde genau wissen, warum sie das Kleid unbedingt hatte anprobieren müssen. Und dann würde sie etwas Weises und Tröstendes sagen, während sie ihr aus dem Kleid half.

Miss Viv hatte Mollys Verlobten Chuck Howard von Anfang an nicht gemocht. Molly konnte sich noch genau an jenen Tag vor einem halben Jahr erinnern, als sie zum ersten Mal nach der Trennung wieder zur Arbeit erschienen war. Miss Viv hatte sofort bemerkt, dass sie ihren Verlobungsring nicht mehr trug, und nur trocken angemerkt: „Wie gut, dass Sie diesen Nichtsnutz los sind.“

Dabei hatte Miss Viv noch keine Ahnung, dass Chuck auch noch Mollys Bankkonto leer geräumt hatte!

Miss Viv war eben schlau. In jeder Lebenslage wusste sie, was zu tun war. Sie würde ihr auch mit dem Kleid helfen. Molly klopfte nur kurz, dann trat sie ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

Im nächsten Moment wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war. Miss Viv blickte sie erschrocken an. Jetzt sah Molly auch, warum. Obwohl es noch so früh am Morgen war, hatte ihre Chefin schon Besuch. Der Mann saß auf dem einzigen Besucherstuhl in ihrem Büro, das ein kaum zu überbietendes Durcheinander beherbergte.

Und was für ein Mann es war! Er sah nicht nur gut aus, er sah überwältigend aus, atemberaubend. Sein Haar hatte den Farbton von Zartbitterschokolade, seine Lippen zeigten Charme, aber auch Entschlossenheit, und sein Kinn war energisch. Eine winzige Unebenheit sowie eine sehr kleine Narbe verrieten, dass er sich wohl einmal die Nase gebrochen hatte, was ihn aber unerklärlicherweise noch attraktiver machte. Vielleicht, weil es ihm einen leicht verwegenen Ausdruck verlieh.

Der Mann strahlte Selbstsicherheit und Erfolg aus, was durch seine Kleidung noch verstärkt wurde. Sein grauer Anzug war augenscheinlich maßgeschneidert. Dazu trug er ein elfenbeinfarbenes Hemd und eine ebenfalls graue Seidenkrawatte. Der Schnitt seiner Kleidung betonte zudem seinen muskulösen Körperbau.

Auch seine Gesichtszüge zeugten von Macht und Selbstsicherheit, vor allem seine Augen. Und obwohl er überaus elegant und wohlerzogen wirkte, bekam Molly den Eindruck, als würde hinter dieser Fassade ein ganz anderer Mann lauern, ein wagemutiger Revolverheld wie aus dem Wilden Westen.

Seine Augenfarbe verstärkte diesen Eindruck noch – blaugrau schimmernd wie das Metall eines Revolvers. Ein Mann, der immer auf der Hut war, bereit für jede unerwartete – oder auch böse – Überraschung.

Doch er strahlte noch mehr aus, eine Geradlinigkeit und Zuverlässigkeit. Ihm würde man in einer Notsituation vertrauen, egal ob in einem brennenden Haus oder in einer von Gangstern bedrohten Westernstadt. Er würde einen schon retten.

Was für merkwürdige Gedanken, rief sich Molly zur Ordnung. Das lag bestimmt daran, dass sie es noch nicht ganz wieder gewöhnt war, allein auf eigenen Beinen zu stehen. Sicher, sie hatte ihren Beruf und ihre Kolleginnen, aber davon abgesehen war sie einsam. Zu Hause wartete nur ein kleiner Wellensittich auf sie. Eines der vielen verstoßenen Tiere, die sie im Laufe ihres Lebens schon versorgt hatte.

Es ärgerte sie, dass sie sich unwillkürlich zu diesem Fremden mit dem Aussehen eines Filmstars hingezogen fühlte. Mit diesen romantischen Träumereien sollte doch Schluss sein! Eigentlich war sie auf dem besten Wege, eine jener unabhängigen jungen Frauen zu werden, die sich auch ohne Mann wohlfühlten. Eine Frau, die allein an einem Tisch im Straßencafé saß, an ihrem Wein nippte und in einem Buch las. Und die die Männerwelt, die vorbeispazierte, nicht mal eines Blickes würdigte!

Molly empfand es wie einen Test, den das Schicksal ihr auferlegt hatte. Ein Test – genau das war dieser schöne Mann, der jetzt plötzlich hier aufgetaucht war. Ein Test – genau wie das Hochzeitskleid. Jetzt musste sie zeigen, wie weit sie in ihrer Entwicklung schon gekommen war. Dass sie nicht mehr Träumereien nachhing, dass sie schon die neue, die unabhängige Molly Michaels war.

Doch die Nagelprobe fiel nicht gut aus. Schon das Gefühl, dass sie sich diesem Mann in einer Notsituation anvertrauen konnte, war irgendwie unreif. Sie wusste doch überhaupt nichts von ihm, außer dass er gut aussah. Und was Notsituationen anging, musste sie sich eingestehen, dass sie sich immer selbst hineinmanövrierte. Davon abgesehen zog dieser Mann, mit seiner Ausstrahlung und seinem guten Aussehen, bestimmt die Frauen an wie das Licht die Motten. Er war in einem Alter, in dem er sicher schon verheiratet wäre, wenn er es darauf angelegt hätte. Doch er trug keinen Ring. Also legte er es offenbar nicht darauf an.

„Entschuldigung“, sagte Molly zu Miss Viv. „Ich hatte gedacht, Sie wären allein.“ Sie nickte dem Fremden kurz zu.

„Ich hatte Sie gerade angerufen“, erwiderte Miss Viv. „Und Sie haben offenbar auch etwas auf dem Herzen …“

„Ich … Ja“, brachte Molly verlegen hervor. „Der … der Reißverschluss klemmt, aber ich komme schon allein klar. Gar kein Problem.“ Sie wollte sich aus dem Büro schleichen, als der fremde Mann sie plötzlich ansprach.

„Ich glaube, obendrein hat sich Ihr Haar im Perlenaufsatz verheddert.“ Seine Stimme klang männlich, aber trotzdem sanft wie Seide.

Molly spürte, wie sie errötete. „Ach, nur ein bisschen“, erwiderte sie leichthin. „Das ist kein Problem, wirklich nicht.“ Doch als sie bekräftigend den Kopf schütteln wollte, ziepte und zerrte es an ihren Haaren. Sie stieß sogar einen kleinen Schmerzensschrei aus.

„Ich glaube, ich helfe Ihnen lieber mal aus dieser Klemme“, sagte der Mann und erhob sich. Seine Bewegungen waren schnell und gewandt wie die eines Sportlers. Am liebsten hätte sich Molly aus dem Staub gemacht, aber sie konnte sich nicht vom Fleck rühren, und schon stand er vor ihr. Geschickt löste er ihre Haare aus dem Perlenbesatz, als ob er den ganzen Tag nichts anderes täte. Das Ganze geschah mit einer fast unglaublichen Sanftheit.

Molly war verzaubert. Seine Männlichkeit, gepaart mit Sinnlichkeit, überwältigte sie. Als er sie dann noch freundlich anlächelte, schmolz sie vollends dahin.

„Sie hatten gesagt, dass außerdem der Reißverschluss klemmt …“

Himmel, hatte sie das wirklich gesagt? Eigentlich konnte sie es nicht riskieren, noch länger in seiner Nähe zu bleiben – sonst würde sie vor Begehren noch ohnmächtig werden!

Doch sie konnte sich auch nicht rühren. Sie brachte es gerade eben noch fertig, sich umzudrehen und ihm den Rücken mit dem verklemmten Reißverschluss zuzuwenden. So ist es auch in der Hochzeitsnacht, schoss es ihr durch den Kopf, wenn der Bräutigam endlich die Braut entkleidet und …

In diesem Moment spürte sie seine Berührung. Seine Hände auf ihrer Haut. Sie waren unerwartet rau.

Komisch, er sah wie ein wohlhabender Geschäftsmann aus, ein Aktienhändler vielleicht oder ein schwerreicher Wohltäter. Die Kraft und Rauheit seiner Hände ließ jedoch nicht darauf schließen, dass er nur mit Telefon und Computer arbeitete. Sie wusste selbst nicht genau, warum, aber sie vermutete, dass Hände wie seine zu einem Mann gehörten, der mit Seilen zu tun hatte – einem Cowboy vielleicht oder einem Bergsteiger. Oder einem Piraten. Einem Piraten mit einem Herzen aus Gold natürlich.

Vorsichtig, Millimeter für Millimeter, zog er den Reißverschluss herunter. Bei ihm schien es ganz einfach zu gehen. Etwa auf halber Strecke hielt er an, um sie nicht zu sehr zu entblößen. „Ich glaube, den Rest schaffen Sie allein“, sagte er freundlich.

Molly drehte sich um und sah ihn an. Sein Lächeln brachte sie fast um den Verstand. „Vielen Dank“, brachte sie mühsam hervor. „Tut mir leid, dass ich gestört habe …“

„Kein Problem, ich wollte Sie doch sowieso zu mir bitten“, sagte Miss Viv. Erst in diesem Moment wurde Molly wieder klar, dass sie nicht allein mit dem attraktiven Unbekannten war.

„Ich wollte Ihnen nämlich Mr Whitford vorstellen“, fuhr Miss Viv fort. „Ich verreise kurzfristig, und er übernimmt solange das Ruder.“

Bei dieser Nachricht durchrieselte es Molly warm und wohlig. Er übernimmt das Ruder, dachte sie. Das Ruder … Da hatte sie mit dem Piraten ja gar nicht so unrecht gehabt …

„Houston Whitford, Molly Michaels“, machte Miss Viv sie miteinander bekannt.

Molly streckte ihm die Hand entgegen. Erst in diesem Moment fiel ihr etwas Beunruhigendes auf. Er sollte das Geschäft in Vertretung leiten? Warum? Das war doch sonst immer ihre Aufgabe gewesen!

Und warum verreiste Miss Viv so plötzlich? Second Chances war für Molly so etwas wie eine zweite Familie geworden – viel besser eigentlich als ihre wirkliche Familie – und damit auch ein sicherer Hafen, in dem nur selten etwas Unvorhergesehenes geschah.

„Es wird sich einiges ändern“, verkündete Miss Viv. „Und niemand ist besser geeignet als Mr Whitford, diese Änderungen durchzuführen. Second Chances wird sich unter seiner Führung prächtig weiterentwickeln. Ich erwarte geradezu einen Quantensprung. Deshalb übergebe ich ihm nur zu gern die Führung.“

Molly wurde schwindlig. Brachte diese überraschende Ankündigung ihre heile Welt in Gefahr? Übergab Miss Viv die Führung nur zeitweilig, während ihrer Abwesenheit … Oder sollte es auf Dauer sein?

Ihr schlechtes Gefühl verstärkte sich, als Houston Whitford ihre Hand ergriff und kräftig schüttelte. Ein bisschen zu kräftig für ihren Geschmack. Zu hart, zu beherrschend.

Er schien einfach nicht der Typ zu sein, der für wenig Geld – oder gar keins – in einem karitativen Unternehmen arbeitete. Sein Maßanzug verriet etwas über ihn, das seine Hände nicht preisgaben: dass er in die Welt der Hochfinanz gehörte.

So etwas hatte Second Chances nicht zu bieten. Hier gab es höchstens das Hochgefühl, etwas Gutes zu tun, die Welt ein klein wenig besser zu machen.

Allein dieser Maßanzug! Himmel, mit dem Geld, das der gekostet haben musste, konnte man bestimmt die Betriebskosten von Second Chances für einen ganzen Monat decken. Nein, dieser Mann passte einfach nicht in die gemütlichen, aber ein wenig abgenutzten Räumlichkeiten von Second Chances.

Ein kalter Schauer rieselte Molly den Rücken herunter. Wie hieß es doch? Neue Besen kehren gut. Und er hatte bestimmt so einiges vor …

In Gedanken hörte sie wieder die Stimme ihres Vaters. „Molly, es wird sich einiges ändern“, hatte er eines Abends gesagt. Und dann hatte er die Familie für immer verlassen.

Seitdem hasste sie Veränderungen. Sie wollte Beständigkeit und Sicherheit. Umso mehr, seit die geplante große Veränderung mit Chuck so schiefgegangen war. Seit dieser Enttäuschung war Second Chances noch mehr ihr sicheres Zuhause geworden.

„Äh, was für Änderungen denn?“ Molly konnte nur hoffen, dass ihre Chefin das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte.

„Das wird Ihnen Mr Whitford bestimmt gerne erklären, nachdem Sie sich ein bisschen passender angezogen haben“, antwortete Miss Viv und sah zur Uhr. „Oje, höchste Zeit, ich muss los, das Flugzeug wartet nicht. Ich fliege übrigens zu einer Wellness-Oase in Arizona, meine Liebe.“

„Sie besuchen eine Wellness-Oase und haben vorher niemandem davon erzählt?“ Das kam Molly verdächtig vor. Normalerweise wäre Miss Viv gemeinsam mit ihr shoppen gegangen, um für diese Gelegenheit einen neuen Badeanzug zu kaufen.

„Es hat sich ganz plötzlich ergeben“, erklärte Miss Viv. „Eine alte Freundin hat mir den Aufenthalt überraschend spendiert.“

Molly versuchte, sich für ihre Chefin zu freuen. Niemand hatte so eine angenehme Überraschung mehr verdient als sie.

„Wie lange werden Sie fortbleiben?“

Irgendwie gelang es ihr aber nicht, sich für Miss Viv zu freuen. Die Sache mit den Veränderungen nagte an ihr.

„Zwei Wochen, meine Liebe.“

So lange, dachte Molly. Sie hatte maximal mit ein paar Tagen gerechnet.

„Aber wenn Sie zurück sind, läuft alles wieder normal?“, fragte Molly hoffnungsvoll.

Miss Viv lachte auf. „Ach, Schätzchen. Was ist schon normal?“

Entgeistert blickte Molly ihre Chefin ein. Was sollte denn das heißen? Mit so etwas machte man keine Witze! Jedenfalls nicht, wenn man sich so wie sie Normalität ersehnte. Denn die hatte in ihrem Leben immer gefehlt. Eine normale Familie – nie gehabt. Und ihre Verlobung war auch nicht gerade normal verlaufen. Selbst ihre Haustiere waren nie normal gewesen, sondern hatten immer irgendeine Macke gehabt.

Sie hatte immer den Außenseitern ein Heim gegeben, den Tieren, die sonst keiner wollte. Einem dreibeinigen Hund, einer Katze, die nicht miauen konnte. Im Moment beherbergte sie einen Wellensittich mit großen kahlen Stellen im Gefieder.

„Um ehrlich zu sein, habe ich mit dem Gedanken gespielt, mich zur Ruhe zu setzen“, bekannte Miss Viv zu Mollys Entsetzen. „Also wer weiß? Erst mal bin ich zwei Wochen weg, und danach sehen wir weiter.“

Das hörte Molly gar nicht gern. Sie liebte langfristige Planungen, Kalender, die auf Monate im Voraus ausgefüllt waren.

Falls Miss Viv sich zur Ruhe setzte, würde dann etwa Houston Whitford die Geschäfte übernehmen?

Am liebsten hätte sie gefragt. Aber sie hatte Angst, dass er dann merken würde, was sie von dieser Möglichkeit hielt.

Außerdem ist nichts für immer, dachte Molly. Deswegen habe ich ja dieses Hochzeitskleid angezogen. Um mich endlich von der Illusion zu befreien, dass ein Zustand – gut oder schlecht – für immer anhalten kann.

Auf jeden Fall konnte sie nur hoffen, dass dieser Mann, dieser Eindringling in ihre kleine, heile Welt, so schnell wie möglich wieder verschwinden würde. Denn er verunsicherte sie. Er erweckte in ihr ein Begehren, das ihr eine Heidenangst einjagte.

Und das konnte nur böse enden …

2. KAPITEL

Die verwirrte junge Frau im Brautkleid verließ das Büro, und urplötzlich tauchte eine Redewendung in Houstons Gedanken auf, die sich nicht vertreiben ließ.

Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Er verzog den Mund und ärgerte sich über sich selbst. Ja, diese Märchensprüche, an die alle Welt nur zu gerne glauben wollte. Doch die junge Frau im Hochzeitskleid hatte tatsächlich gewirkt, als wäre sie gerade einem jener Märchen entsprungen.

Aber schon die Tatsache, dass ihre Haare sich im Perlenaufsatz verfangen hatten und dass der Reißverschluss nicht richtig funktionierte, zeigte doch die bittere Realität: Im wirklichen Leben gab es immer Komplikationen. Die perfekte romantische Liebe war nur eine Illusion.

Gerade für einen Mann wie ihn, der sich aus schwierigsten Verhältnissen hochgearbeitet hatte, gab es keinerlei Veranlassung, an Märchen zu glauben. Er vertraute nur auf seine eigene Stärke, auf sein Talent zum Überleben. Er betrachtete die Welt realistisch, vielleicht sogar zynisch, und er fand es richtig so.

Dass eine der Angestellten von Second Chances hier im Büro plötzlich im Hochzeitskleid auftauchte, bestätigte ihm nur, was er dank seiner Nachforschungen über das Wohltätigkeitsunternehmen ohnehin schon wusste.

Second Chances erinnerte Houston an einen dieser altmodischen kleinen Buchläden, wo der Besitzer selbst noch an der Kasse stand – und wenn nicht er, dann einer seiner Verwandten. Man trat gerne ein, weil es dort so familiär und gemütlich war, es war immer voll, die Leute unterhielten sich und lachten oder diskutierten. Aber wenn es um die Buchverkäufe ging, um Umsatzzahlen und Gewinne, sah das Ergebnis schwach aus. Mit den auf Effizienz und Profit ausgerichteten Handelsketten konnte so ein Tante-Emma-Buchladen nie im Leben mithalten.

Auch Houston legte Wert auf Effizienz und Profit. Seine Unternehmen mussten funktionieren wie gut geölte Maschinen. Keine Angestellten, die plötzlich Braut spielten, keine uralten, tantenhaften Damen an der Führungsspitze.

Autor

Cara Colter

Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel.
Cara Colter liest und gärtnert gern, aber am liebsten erkundet die begeisterte Reiterin auf ihrer gescheckten Stute...

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