Liebe auf hoher See - Kapitäne der Leidenschaft

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DIE SCHÖNE PARFÜMHÄNDLERIN

Venedig im Jahre 1525: Ein faszinierender Mann betritt das Geschäft der schönen Parfümhändlerin Julietta Bassano an der Piazza. Kapitän Marcos Antonio Velazquez, der einst die Lagunenstadt von Piraten befreite, verlangt ein Duftwasser - und weckt Juliettas Interesse. Auch er scheint von ihr höchst angetan, denn er lädt sie zum Maskenball ein. Im tollen Treiben der Nacht verliert Julietta ihr Herz an den mutigen "Löwen von Venedig", und voller Liebessehnsucht gibt sie sich ihm hin! Aber schon wird in einem Palazzo eine gefährliche Intrige gegen Marcos geschmiedet. Denn ein mächtiger Mann will Julietta für sich …

DER ZAUBER DER DONA MAGDALENA

Als Nicolas Treggaron, Freibeuter und Günstling der englischen Königin, anno 1588 an der spanischen Küste landet, glaubt Don Sebastian de Valermo, dass der Unterhändler Ihrer Majestät kommt, um den drohenden Krieg abzuwenden. Niemand ahnt, dass es Treggaron in Wahrheit nur darum geht, die Feinde auszuspionieren. Und so wäre diese Mission eine leichte, begegnete der verwegene Korsar nicht der verführerischen Donna Magdalena d’Ortega, deren Schicksal durch die Bluttat eines gottlosen Priesters das seine wird: Denn von der erregenden Weiblichkeit der schönen Magdalena zum Wahnsinn getrieben, begeht der gestrauchelte Pater Ludovic einen Mord, um ihn der Unerreichbaren anzuhängen - und sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen brennen zu sehen. In letzter Sekunde kann Nicolas Treggaron das Entsetzliche verhindern und mit Magdalena auf sein Schiff und nach England fliehen. Während der langen Reise reagiert der heißblütige Nicolas immer heftiger auf die betörende Sinnlichkeit Magdalenas, und auch sie quält ruheloses Sehnen. Doch ein dunkles Geheimnis verbietet Treggaron, der Stimme seines Herzens zu folgen…

IM WILDEN MEER DER LEIDENSCHAFT

Santo Domingo, 1532: Bianca glaubt zu träumen, als der Kapitän der berüchtigten "Calypso" ihre kleine Taverne auf einer paradiesischen Karibikinsel betritt. Balthazar Grattiano! Der Mann, den sie geschworen hat zu töten, wenn sie ihn jemals wiedersieht. Doch was sind die kühnsten Rachepläne gegen diese glühend heißen Küsse, die er ihr überraschend stiehlt? Biancas Herz gerät mehr und mehr in Aufruhr. Ihre einzige Chance auf Vergeltung scheint, sich als blinder Passagier auf die "Calypso" zu schleichen. Ein leidenschaftliches Abenteuer, das sie beide umbringen oder für immer aneinanderbinden wird …


  • Erscheinungstag 22.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733788261
  • Seitenanzahl 768
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Amanda Mccabe, Anne Herries

Liebe auf hoher See - Kapitäne der Leidenschaft

Amanda McCabe

Die schöne Parfümhändlerin

IMPRESSUM

HISTORICAL erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2007 by Amanda McCabe
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL
Band 244 - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Dr. Hannelore Wiertz-Louven

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format im 04/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86349-949-5

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

1. KAPITEL

Venedig, 1525

Ja, er war wirklich tot.

Madre di dio“, flüsterte Julietta Bassano, während sie sich über den Leichnam im goldenen Bett beugte. Das einst so blühende Gesicht war fleckig rotblau verfärbt. In dem schwarzen Bart klebten Blut und Erbrochenes, und die weit aufgerissenen Augen starrten ins Leere. Im Todeskampf hatte der arme Mann Arme und Beine weit von sich gestreckt. Sie begannen schon zu erkalten.

Gewiss war es kein leichter Tod gewesen. Julietta kannte diese Qualen, hatte sie bei ihrem eigenen Mann beobachtet. Vor drei Jahren war er auf dem Ehebett zusammengebrochen, hatte sich erbrochen und in Krämpfen gewunden. „Hexe!“, hatte er geschrien. „Zauberin! Ihr habt mich ermordet.“ Mit seinen gichtigen Fingern hatte er an ihrem Gewand gezerrt, überall hatte sein Blut und Erbrochenes geklebt; noch heute war ihr der unerträgliche Gestank gegenwärtig – der Atem des Todes.

Julietta schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung zu verscheuchen. Seitdem war schließlich viel Zeit vergangen, und Giovanni hatte das Ende erlitten, das er verdient hatte. Dieser miese Schurke konnte niemanden mehr verletzen – nie mehr.

Genau wie dieser Mann …

Julietta blickte wieder auf den Leichnam. Ein Mitglied der herrschenden Schicht – fett und verweichlicht, dachte sie. Micheletto Landucci. Patrizier der Serenissima, Mitglied des Savio ai Cerimoniali, des Komitees für Staatsbesuche. Sein vornehmes Brokatwams war aufgerissen und enthüllte den dicken, haarigen Bauch. Julietta zog leise die Luft ein – das einzige Zeichen ihres Unmuts – und deckte das Seidenlaken über den Toten, damit ihr sein Anblick erspart blieb.

Hinter sich hörte sie einen leisen, ängstlichen Schluchzer, ein unterdrücktes, erschrockenes Wimmern. Julietta versuchte sich zu beruhigen und atmete tief durch. Beißend stieg ihr der Dunst des Todes in die Nase. Er hing schon in ihren Kleidern, in ihren Haaren. Wie zum Schutz zog sie ihren schwarzen Samtumhang fester um sich, während sie sich nach der Frau umdrehte, die in die Schatten des prunkvollen Schlafgemachs zurückgewichen war. Cosima Landucci, die Gattin – nein, die Witwe – des Mannes unter dem Laken. Im Gegensatz zu ihrem Gemahl trug sie noch ihre kostbare Robe aus blauer Seide mit Goldstickerei. Das dichte dunkle Haar war nach hinten gekämmt, ein paar Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Ihre weichen, glatten Gesichtszüge waren ein untrügliches Zeichen, dass sie sehr viel jünger war als ihr Mann. Sie war fast noch ein Kind.

Ein Kind, dessen Mann vergiftet in seinem Bett lag. Erstaunlich, dachte Julietta, einen Mord hatte sie der scheuen, kleinen Cosima eigentlich nicht zugetraut. Die Menschen überraschten Julietta immer wieder aufs Neue.

„Was ist geschehen?“, fragte sie so einfühlsam wie möglich. Sie kannte die junge Frau. Seit fast zwei Jahren war Cosima eine treue Kundin in Juliettas Parfümladen. Einmal in der Woche kam sie, um ihr ganz spezielles Parfüm – Jasmin und Lilie – zu kaufen und um sich mit Julietta zu unterhalten. Cosima redete und redete dann, als hätte sie keine andere Freundin als die Parfümhändlerin, der sie ihr Herz ausschütten könnte. Immer hatte Julietta geduldig zugehört. Die junge Frau hatte ihr leidgetan. Sie war ihr so unglücklich und einsam erschienen, trotz all ihrer kostbaren Roben und teuren Juwelen. Irgendwie hatte sie Julietta an sich selbst erinnert, an damals, als all ihre Träume von Ehe und Familie angesichts der rauen Wirklichkeit zerbrochen waren.

Doch das hier – das war etwas ganz anderes.

„Nun, Signora?“, drängte Julietta die junge Frau, die unaufhörlich leise schluchzte.

Cosima hielt sich das Spitzentuch vors Gesicht, ihre Hände zitterten. „Ich … ich weiß nicht, was geschehen ist, Signora Bassano.“

„Ihr wart nicht hier? Euer Gatte war schon tot, als Ihr ins Zimmer kamt?“ Julietta sah nachdenklich auf die zierlichen Schuhe und den juwelenbesetzten Haarschmuck auf dem prächtigen türkischen Bettvorleger.

Cosima, die ihrem Blick gefolgt war, schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr die roten Locken über die Schultern fielen. „Doch, ich war hier. Wir waren gerade von einem Abendessen gekommen, und er … er …“, versuchte sie mit leiser, fast kindlicher Stimme zu erklären.

„… verlangte seine ehelichen Rechte?“

Cosima nickte verlegen.

„Hmm … Und was hat er sonst noch getan?“

„Ge…getan?“

Julietta unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer. Dio mio! Sie hatten wirklich nicht die ganze Nacht Zeit! Es war schon spät genug. In ein paar Stunden war der gesamte Landucci-Haushalt auf den Beinen. Julietta wollte endlich wissen, warum die junge Frau sie hergebeten hatte, und dann schnellstens wieder verschwinden. Schließlich musste sie sich um ihr Geschäft kümmern. Ihr Parfümladen war ihr wichtiger als diese dumme kleine Patrizierin und ihr toter Gemahl, der zweifelsohne seinen Tod verdient hatte.

Was wollte Cosima wirklich von ihr?

Julietta wusste, wenn sie Cosima drängte, würde die junge Frau völlig zusammenbrechen. Sie zitterte bereits wie Espenlaub.

„Also, was hat er getan, bevor er Euch ins Bett befahl? Ihr seid noch nicht entkleidet, Madonna“, fragte Julietta deutlicher und deutete dabei auf Cosimas Robe. Weder an den Ärmeln noch am Mieder waren die goldenen Spitzenbänder gelöst.

Cosima war kreideweiß im Gesicht, die Augen waren rot vom Weinen. Verlegen zerknüllte sie ihr Spitzentuch in der Hand. „Er hat Wein getrunken. Wie immer, bevor … bevor er … Viel Wein.“

Julietta runzelte die Stirn. Sie konnte nirgends einen Weinkelch oder einen Wasserkrug entdecken. Erst als sie mit den Augen Cosimas tränenverhangenen, unruhigen Blick auf den Boden folgte, sah Julietta den glänzenden Fuß eines silbernen Weinkelches unter dem Bettrand hervorlugen. Sie kniete nieder und zog den Kelch unter den schweren Falten des samtenen Bettüberwurfs hervor.

Auf dem Boden des Gefäßes waren noch Reste eines dunklen roten Weines zu erkennen, dickflüssig wie Blut und an den Rändern bereits angetrocknet. Julietta hob das Glas auf und roch vorsichtig daran. Neben der schweren Süße des Rotweins witterte ihre empfindliche Nase einen Hauch von einem feinen grasigen Duft. Und noch etwas. Jasmin und Lilie – Cosimas Parfüm, das Julietta stets selbst zusammenstellte und wöchentlich in Cosimas Flakon aus blauem Muranoglas füllte.

Julietta stellte den Kelch zur Seite und schaute noch einmal unter das Bett. Sie rümpfte die Nase über die Unmengen von Staub. Sehr sorgfältig putzten die Dienerinnen wohl nicht. Doch sie entdeckte noch mehr als nur Staub und Schmutz im Dunkel unter dem Bett: das schwache Glitzern eines hellblauen Glases.

Sie zog es hervor und hielt es ins Licht. Der Flakon war leer, der silberne Stöpsel verloren. Der Duft von Jasmin und Lilie hing noch im Glas und außerdem dieser seltsame Hauch von grasigem Grün.

Ein Geruch, den Julietta nur allzu gut kannte.

„Gift“, wisperte sie. Wie ein Totengeläut hallte das Wort durch das riesige Schlafgemach.

„Nein“, rief Cosima entsetzt, rannte quer durch den Raum und warf sich neben Julietta auf die Knie. Das hübsche Gesicht angstverzerrt, klammerte sie sich verzweifelt an den Arm ihrer Parfümeurin. „Das kann nicht sein. Vergiftet! Ich war es ganz bestimmt nicht. Bitte, Signora Bassano, Ihr müsst mir glauben!“

Julietta war kurz versucht, sich der Umklammerung zu entledigen, doch sie hielt nur den leeren Flakon in die Höhe. „Wenn Ihr es nicht wart, Madonna, dann hat jemand aber keine Mühe gescheut, damit es so aussieht, als wäret Ihr es gewesen.“

Mit großen, vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte Cosima auf das Glas. „Nein, ich war es nicht“, beteuerte sie. „Ja, Signora, Ihr wisst, dass ich meinen Mann nicht so geliebt habe, wie eine gute Ehefrau es sollte. Aber ich bin eine gläubige Christin! Niemals würde ich meine sterbliche Seele beflecken mit einem …“ Sie brach wieder in Tränen aus.

Basta!“ Julietta packte die junge Frau bei den Schultern und schüttelte sie. „Zum Weinen ist jetzt keine Zeit, Madonna! In Kürze wird Eure Dienerschaft wach sein. Bis dahin gibt es eine Menge zu tun.“

Schluchzend sah Cosima zu Julietta auf. „Ihr wollt mir helfen?“, fragte sie voller Hoffnung in der Stimme.

Ernst schaute Julietta die junge Frau an. Und wieder stieg die Erinnerung in ihr auf. So war auch sie einst gewesen: jung, allein und verängstigt. So schrecklich verängstigt. Und nicht ohne Grund. Am liebsten wäre sie jetzt einfach aufgestanden und gegangen, geflüchtet vor dieser unheilvollen jungen Frau und aus diesem Haus, über dem offenbar ein Fluch lag. Aber sie konnte es nicht.

„Ich werde Euch helfen“, sagte sie barsch. „Ihr müsst aber tun, was ich Euch befehle, und zwar schnell und unverzüglich.“

Cosima nickte. „Gewiss, Signora, gewiss! Ich werde tun, was Ihr befehlt, wenn Ihr mich nur nicht im Stich lasst.“

„Ruft meine Dienerin Bianca herein. Sie wartet draußen im Korridor. Ihr zwei müsst ein Feuer im Kamin entfachen. Es muss ein großes, loderndes Feuer sein.“

Cosima nickte wieder, stand auf und eilte still zur Tür. Die Tränen waren offensichtlich vergessen. Nun ja, dachte Julietta, zumindest kann sie sich schnell bewegen, wenn es von ihr verlangt wird.

Als Cosima die Tür hinter sich geschlossen hatte, trat Julietta ans Fenster. Zu so später Nachtstunde war keine Menschenseele mehr unterwegs, nicht einmal ein Gondoliere oder ein Freudenmädchen. Der offizielle Beginn der Karnevalswochen war erst in einigen Tagen. Sie drückte die Fensterflügel auf und schaute hinunter auf den Kanal. Ruhig floss das dunkle Wasser, ab und zu schwappte es leise gegen die Wand des Palazzo, wo es winzige weiße Schaumkrönchen bildete. Das Wasser wusste seine Geheimnisse zu wahren. Für immer! Julietta nahm den Kelch und den Flakon und schleuderte beide weit hinaus.

Glitzernd tanzte einen Moment lang das fahle Mondlicht auf dem Glas. Dann waren die Behältnisse verschwunden, geräuschlos, als hätte es sie nie gegeben.

Madre di dio“, flehte Julietta leise. „Lass es nicht von Neuem beginnen.“

Der Himmel färbte sich schon hell, als Julietta endlich den Palazzo Landucci verließ. Zusammen mit Bianca, die dicht hinter ihr ging, eilte sie durch die menschenleeren Gassen zurück zu ihrer Wohnung nördlich der Rialto-Brücke. Julietta war völlig erschöpft, sie wollte nur noch schlafen. Schlafen und vergessen. Doch sie wusste, dass sie keine Ruhe finden würde, weder heute noch in den kommenden Nächten.

Nicht nach all dem, was sie getan hatte.

Es war ganz still. Nur ihre eigenen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster waren zu hören, gelegentlich schlug ein Fensterladen im Wind. Noch war keine Menschenseele unterwegs, nicht einmal die Händler, die in aller Frühe ihre Waren auf dem Fischmarkt aufbauten. Die Luft war kühl, über dem Wasser hingen Nebel und ein modrig süßer Geruch. Kein Stern war zu sehen, und gräulichweiß erschien im fahlen Schein des untergehenden Mondes der Zierrat an den Häusern, die bei Tageslicht rosa, gelb oder orange in der Sonne strahlten.

Julietta zog die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht und beschleunigte ihre Schritte. Wenn sie doch nur schon zu Hause wäre, wo sie sich sicher fühlen konnte.

„Signora …“, begann Bianca, während sie versuchte, neben Julietta Schritt zu halten.

„Nicht jetzt. Man könnte uns hören“, wisperte Julietta.

Sie bogen in die schmale Gasse, die zu ihrem campo führte, einem kleinen gepflegten Platz mit einem Brunnen in der Mitte, an dem alle Anwohner frisches Wasser holen konnten. Noch ein paar Tage, dann sollte aus diesem Brunnen zum Vergnügen von Scharen Kostümierter wieder der Wein fließen. Vom Kirchturm von San Felice schlugen die Glocken zum Gebet, als Julietta den Brunnen passierte. Schon sah sie die blau getünchte Tür ihres Hauses, in dem sich Laden und Wohnung befanden. Eilig zog sie den Schlüssel aus der Innentasche ihres Umhangs. Gerade wollte sie den Schlüssel ins Messingschloss stecken, da ließ ein scharfes, schepperndes Geräusch sie herumfahren. Angespannt, die Hand am Gürtel unter ihrem Umhang, wo ihr kleiner Dolch steckte, flog ihr Blick über den campo. Jeden Winkel suchte sie nach einem Anzeichen von Gefahr ab.

War ihnen jemand gefolgt? Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Wie Nadelstiche spürte sie die fremden Blicke auf ihrer Haut.

Doch es war niemand zu sehen. In den Nachbarhäusern war alles ruhig. Nur ein einsamer Kater strich gemächlich um den Brunnen.

Hörbar erleichtert atmete Bianca auf. „Ein Kater, Signora“, flüsterte sie.

Sì“, antwortete Julietta, obwohl sie nicht ganz überzeugt war. „Gehen wir lieber schnell hinein.“ Sie drehte sich wieder zur Tür. Mit zittrigen Händen öffnete sie das Schloss und zog Bianca mit sich ins dunkle Innere des Hauses.

Erst als die stabilen Holzläden fest verschlossen waren, konnte Julietta aufatmen.

Geschafft. Fürs Erste fühlte sie sich sicher.

2. KAPITEL

Das war also die berühmt-berüchtigte Julietta Bassano.

Noch lange nachdem er Signora Bassano in ihrem Haus hatte verschwinden sehen, verweilte Marcos Antonio Velazquez in seinem engen Schlupfwinkel zwischen zwei hohen Häusern. Im unteren Stockwerk, wo die Signora ihren Parfümladen betrieb, beobachtete Marcos den schwachen Schein eines goldenen Lichtes. Dann, nach einiger Zeit, verfolgte er, wie das Licht zunächst verschwand, bevor es im Stockwerk darüber wie ein verheißungsvolles Leuchtfeuer im nebelkalten Wintermorgen Venedigs wieder auftauchte.

Sie war ganz anders, als er sie sich vorgestellt hatte. Eine Schönheit hatte er erwartet, so wie es die Mode derzeit in Venedig verlangte: blondes Haar, hellblaue Augen, voller Busen, runde Hüften. Das Bild einer Frau, wie es der Florentiner Botticelli so glorios auf der Leinwand zum Leben erweckt hatte.

Julietta Bassano würde niemals mit der von Botticelli dargestellten Liebesgöttin verwechselt werden. War sie doch groß und schlank und trug ein einfaches schwarz-weißes Gewand, soweit Marcos das unter ihrem weiten Umhang hatte erspähen können. Keine sanften Kurven an Busen, Hüften und Bauch, wie es in diesen anspruchsvollen Zeiten wünschenswert schien. Nur klare Linien hatte er erkannt. Lange Beine, schmale Schultern. Das Haar, das unter ihrer Kapuze hervorlugte, erschien ihm schwarz wie die Nacht. Nicht blond wie das der Damen, die stundenlang ohne Kopfbedeckung in der Sonne saßen, um ihre Haare zu bleichen. Ihre Gesichtszüge hatte er leider nicht genau erkennen können. Doch er glaubte zu wissen, dass ihr Gesicht so schmal wie die übrige Gestalt war: blass, oval, mit scharfen Backenknochen und spitzem Kinn.

Trotz allem! Sie besaß etwas – doch was war es nur? Ein gewisser Zauber umgab sie, eine rätselhafte Traurigkeit hüllte sie ein wie ein zweiter Samtumhang. Nicht zu übersehen und dennoch so verführerisch geheimnisvoll.

Rätseln musste Marcos stets auf den Grund gehen, und Schwierigkeiten forderten seine Kämpfernatur heraus. Dieser Wesenszug war das größte Problem in seinem Leben. Und auch jetzt musste er alles über diese eigenartige Frau herausfinden, gleichgültig, wohin es ihn führen würde. Auf jeden Fall hielt er es für ausgeschlossen, dass sie tatsächlich zu der Sorte Frauen gehören könnte, die sein Auftraggeber Ermano bevorzugte. Diese Frau war keine sanfte, goldgelockte, kichernde Schönheit. Diese Frau umgaben Dunkelheit und – wie er gesehen hatte – verborgene Dolche.

Nein, sie war wirklich nicht die Sorte Frau, die Ermano normalerweise bevorzugte. Aber Marcos, er war bezaubert.

Vielleicht erwies sich seine Aufgabe doch als erfreulicher, als er angenommen hatte. Erfreulich – bis er sie vernichten müsste. Wahrlich sehr bedauerlich.

3. KAPITEL

Julietta stand auf Zehenspitzen auf einem Hocker und stellte vorsichtig den letzten Flakon auf die Glasetagere. Kritisch begutachtete sie die stattliche Reihe von zierlichen Gefäßen aus glänzendem Glas, aus hauchdünn geschliffenem Elfenbein oder leuchtendem Onyx. Meist brachten ihre Kundinnen ihre eigenen Parfümfläschchen zum Füllen mit speziell für sie kreierten Düften, einige wenige jedoch kauften auch gerne neue Flakons und waren willens, für die beste Qualität auch viel zu bezahlen. Julietta war zufrieden. Die neue Sendung, die per Schiff aus Frankreich gekommen war, sah sehr gut aus.

Prüfend legte sie den Kopf zur Seite. „Was meinst du, Bianca? Sieht die Auslage ansprechend aus?“ Bianca, die gerade die lange Platte des Kundentisches polierte, trat neben ihre Herrin und begutachtete die Reihe glänzender Fläschchen. Sie war eine typische Vertreterin eines osmanischen Nomadenstammes, zierlich, schmal, dunkelhäutig und so klein, dass sie Julietta gerade mal bis zur Schulter reichte. Seit Julietta nach leidvollen, düsteren Tagen in Mailand in die Stadt der Masken geflüchtet war, war ihr Bianca stets eine treue Gefährtin.

„Sehr gut, Madonna!“, bestätigte Bianca lächelnd und wedelte mit dem Staublappen kurz über das Regal. „Die Flakons werden uns einen schönen Gewinn bringen, nachdem sie nun endlich eingetroffen sind.“

Sì, nachdem die fremden Piraten endlich vertrieben worden sind“, antwortete Julietta. Für die venezianische Schifffahrt waren die Piraten Anfang des Jahres eine echte Plage gewesen. Immer wieder hatten sie die Handelskonvois mit ihren Ladungen voller Gewürze, Seidenstoffe, Wein und Zucker und schließlich auch mit den kostbaren Parfümphiolen geplündert und am Einlaufen in den Hafen gehindert. Julietta hatte keinen Lavendel mehr aus Frankreich oder weiße Rosen aus England erhalten, ganz zu schweigen von den exotischeren Blüten und Gewürzen aus Spanien und Ägypten. Nun waren die Piraten schließlich besiegt worden. Darüber waren unzählige abenteuerliche und spannende Berichte in Umlauf, die selbst die ansonsten recht sachliche Julietta fesseln konnten. Bei jeder Gelegenheit erzählte man sich immer wieder die Geschichte von Il leone, dem kühnen Kapitän, der die bösen Piraten vernichtet und die ehrwürdige Schifffahrt der Serenissima gerettet habe. Auch Bianca, die letzte Woche die triumphale Ankunft des Kapitäns beobachtet hatte, sprach von nichts anderem mehr.

„Ich würde ein Heldengedicht über Il leone schreiben, Bianca, wenn ich die Gabe dazu hätte“, scherzte Julietta, während sie vom Hocker stieg und sich die Hände an der Leinenschürze abwischte, die sie über ihrem schwarz-weißen Kleid trug. „Damit könnten wir ein Vermögen verdienen. Die Troubadoure würden sich darum reißen, sie würden wetteifern, es mit Musik zu untermalen und in den großen Sälen Venedigs vorzutragen!“

„Ach Madonna, Ihr besitzt doch bereits ein Vermögen“,warf Bianca lachend ein, überrascht von der ansteckenden Fröhlichkeit ihrer sonst so ernsthaften Herrin. Auch Julietta selbst war erstaunt über ihre ausgelassenen Scherze; nur selten gab sie ihre Stimmung preis. Dazu war sie einerseits viel zu sehr die nüchterne Geschäftsfrau und andererseits viel zu vorsichtig. Und nach der vergangenen Nacht im Palazzo Landucci sollte ihr eigentlich noch viel weniger der Sinn nach Fröhlichkeit stehen.

Doch bei Tageslicht sahen die Dinge viel weniger bedrohlich aus. Vielleicht waren es nur die Gedanken an schneidige Seeleute und böse Piraten, die ihre Angst vertrieben hatten. Aber selbst die Stadt, in den Nebelschwaden vor Sonnenaufgang noch so menschenleer und unheimlich, hatte sich im fahlen Winterlicht verändert. Über den kleinen campo eilten die Menschen. Geschäftig gingen sie ihren morgendlichen Besorgungen nach. Lachen und Scherzen ertönten und mischten sich mit dem stets gegenwärtigen Glockenklang von San Felice. Bald war endlich Karneval, für ihren Laden die beste Zeit des Jahres. Sie konnte also froh in die Zukunft sehen. Und morgens in aller Frühe, nach nur zwei Stunden unruhigen Schlafs, war sie ja auch zur Messe in San Felice gegangen und hatte um Absolution für die Sünden der Nacht gebetet.

Ja, wenn mit der Absolution nur auch ewiges Vergessen einherginge … Wenn außerdem Conte Ermano Grattiano ihr heute nicht wieder seine Aufwartung machen würde … Auch ohne seine ständigen und lästigen Aufmerksamkeiten musste sie schon genug Aufregung und Gefahren meistern.

„Du hast recht, Bianca. Wir sind reich genug. Ich werde die Welt lieber doch mit meinen erbärmlichen dichterischen Fähigkeiten verschonen. Irgendwie muss mir der Mangel an Schlaf zu Kopf gestiegen sein.“

Die Dienerin nickte nachdenklich. „Sicher, Madonna. Ihr solltet Euch ausruhen. Geht und legt Euch ein paar Stunden ins Bett.“

„Nein, auf keinen Fall. Wir müssen gleich den Laden öffnen. Vielleicht gönne ich mir heute Mittag eine Pause. Nun sei so gut und hole mir etwas von der Kamillenessenz aus dem Lager. Ich muss noch die Tinktur für Signora Mercanti mischen.“

Bianca nickte wieder. Der Saum ihres langen hellblau-weiß gestreiften Rockes wippte über den frisch geputzten Fliesenboden, so schnell eilte sie davon. Julietta hörte die Tür zum Lagerraum hinter ihrer Dienerin zufallen und schloss die Ladentür auf, bevor sie sich an die restlichen Aufräumarbeiten machte.

Viel zu tun gab es nicht. Schließlich hielt Julietta ihren Laden stets makellos sauber. Sie fürchtete immer, Staub oder Schmutz könnten ihre kostbaren Materialien verunreinigen, aus denen sie in stundenlanger Arbeit ihre Mixturen fertigte. Jeder Flakon, jedes Döschen, jeder Becher und jede Amphore enthielten ein Erzeugnis ihrer Hände Arbeit – Ergebnisse ihrer eigenen sorgfältigen Studien. Und die Damen Venedigs, gleich ob Kurtisane oder Aristokratin, kamen in Scharen, ihre Produkte zu kaufen, oder baten, einen ganz besonderen, magischen Duft für sie zu mischen.

Julietta, die mit dem Rücken zur blauen Eingangstür stand, trat einen Schritt vom Ladentisch zurück und betrachtete ihr kleines Reich. Groß war es nicht, gewiss, aber es gehörte ihr – angefangen von den Mosaikfliesen auf dem Fußboden bis zu der weiß getünchten Decke. Es war das Erste und Einzige, was ihr jemals ganz alleine gehört hatte, und das Einzige, was ihr wirklich am Herzen lag. Ganz besonders aber schätzte sie den kleinen, hinter dem Holzpaneel versteckten Raum.

Ein blaues, mit Silber und Saphiren geschmücktes Fläschchen erregte ihre Aufmerksamkeit. Es stand etwas außerhalb des sorgsam aufgebauten Arrangements auf dem Ladentisch.

Julietta nahm den Flakon und schnupperte daran – Jasmin und Lilie roch ihre geschulte Nase.

Jasmin und Lilie! Eilig stellte sie das Fläschchen, das für Cosima Landucci bestimmt war, zurück auf die Theke. Doch der schwere, süße Duft hing Julietta an den Fingern und erinnerte sie wieder an die vergangene Nacht. Während sie einen Schritt zurücktrat, sah sie sich im goldgerahmten Spiegel, der an der Wand hinter der Ladentheke hing. Ihr Haar lag wie immer in ordentlichen Flechten um den Kopf, und wie immer trug sie einen kleinen schwarzen Spitzenschleier. Und nachdem sie die Schürze abgenommen hatte, erschien ihr auch das schwarzweiße Gewand, das lediglich an den Ärmeln mit einem roten Band ein wenig aufgeputzt war, so sauber und zurückhaltend kleidsam wie immer. Nur ihr Gesicht – sie war bleich wie ein Gespenst.

Oder eine Hexe.

Die Türglocke kündete den ersten Kunden des Tages an. Julietta holte tief Atem, sog die angenehm parfümierte Luft ein, hoffte, so ein wenig Farbe auf die Wangen zu bekommen, und verzog den Mund zu einem liebenswürdigen Lächeln, bevor sie sich umdrehte. „Buon giorno! Willkommen in …“

Der Anblick ihres ersten Kunden verschlug ihr die Sprache. Es war nicht eine blonde Kurtisane oder eine verschleierte Aristokratin, die nach einem besonderen Parfüm oder einer speziellen Lotion suchte oder nach einer Ware verlangte, die nur heimlich unter dem Ladentisch zusammengemischt wurde. Der Kunde war ein Mann. Und was für ein Mann!

Er war groß, mit breiten Schultern über dem vornehmen dunkelroten Samtwams, das eng geschnitten, aber mit keinerlei Spitzen oder Stickerei verziert war. Unter den gezackten Ärmelmanschetten und zwischen den Seidenschließen des Wamses lugte ein leicht glänzendes cremefarbenes Seidenhemd hervor, das unter wenigen kleinen Rüschen den braunen Hals und ein wenig der unbehaarten, wettergegerbten Brust preisgab.

Unwillkürlich glitt Juliettas Blick an den engen schwarzen Beinkleidern entlang bis hinunter zu den Schuhen aus dunklem Leder und mit glänzenden goldenen Schnallen. Keine noch so kunstvoll gearbeitete Schamkapsel in Form einer Muschelschale oder einer Gondel, kein bunt gestreiftes Beinkleid vervollständigten oder betonten seine maskuline Ausstattung. Dieser Mann war kein Schönling. Jedoch auch kein Mann, der nicht an Luxus gewöhnt war. Ihr Blick glitt wieder hoch, über die schmalen Hüften zurück zu den kräftigen Schultern und der starken Brust. Von dem Gesicht des Mannes – das rote Samtbarett hatte er tief in die Stirn gezogen – konnte sie nicht viel erkennen. Doch sie sah den großen blutroten Rubin an der Kopfbedeckung und die tropfenförmige Perle, die an seinem linken Ohrläppchen baumelte. Nein – Luxus war diesem Mann durchaus nicht fremd.

Dunkelbraune, in der Sonne glänzende Locken fielen ihm bis auf die Schultern. Außerdem konnte sie noch ein markantes, glatt rasiertes und von der Sonne gebräuntes Kinn erkennen. Also kein verweichlichter Kaufmann und auch kein Bankier, der seine Tage im Schutz dicker Mauern verbrachte. Sicherlich auch kein Mann der Kirche, aber auch kein armer Seemann oder Schiffsbauer vom Arsenal.

Ganz gewiss war er ein vornehmer Mann, der nicht nur Reichtum und Ansehen, sondern auch Macht besaß. Außerdem erkannte Juliettas empfindliche Nase selbst aus dieser Entfernung, dass dies kein Mann war, der sich mit billigem Parfüm übergoss. Er roch nach frischer, salziger Seeluft, ein wenig nach Limone – ein reiner Duft umgab ihn. Was konnte einen solchen Mann in ihr Geschäft führen?

Ach ja, natürlich. Ein Geschenk für eine Dame. Und sie? Sie stand da, starrte ihn an wie ein Schwachkopf, glotzte auf seine Schultern, seine Brust und seine herrlichen Haare wie ein gewöhnliches Freudenmädchen.

Julietta richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, während sie mit der Hand kurz den Sitz ihres Schleiers überprüfte. „Buon giorno, signore“, wiederholte sie mit einem kurzen, angedeuteten Knicks ihren Gruß.

Buon giorno, madonna“, antwortete er. Seine Stimme klang tiefer und rauer, als Julietta erwartete hatte. „Ich fürchtete, Ihr hättet noch nicht geöffnet.“ Sie vernahm einen leichten fremdländischen Tonfall. Also kein Venezianer.

„Für einen eiligen Kunden haben wir immer geöffnet, Signore“, erwiderte sie und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, denn plötzlich war ihr Mund ganz trocken. In der Stimme dieses Mannes war etwas Seltsames, Geheimnisvolles. Julietta kam es vor, als wolle sie sie schmeichelnd und liebkosend umgarnen. Und dann dazu der Duft, der diesen Mann umgab …

War er vielleicht ein Magier? Ein geheimnisvoller Zauberer aus dem Ausland?

Sei nicht närrisch, Julietta!, rief sie sich streng zur Ordnung. Er ist ein Mann wie jeder andere.

Möglicherweise sogar ein sehr guter Kunde – nach dem Rubin, der Perle und dem vornehmen Samtwams zu urteilen –, wenn sie ihn nicht mit ihren unziemlichen Blicken vertrieb. Julietta trat zurück, hinter ihrer Ladentheke suchte sie Sicherheit.

„Und womit können wir Euch dienen, Signore?“, erkundigte sie sich ein wenig barsch, während sie sich über die bronzene Kohlenpfanne beugte, die auf dem Fliesenboden stand und bereits wohlige Wärme verströmte. Julietta legte parfümierte Holzstäbchen auf die Glut, und sofort erfüllte ein Duft von weißen Rosen die kühle Luft im Raum. „Unsere Auswahl an herausragenden Düften ist in ganz Venedig unübertroffen.“

Mit wenigen entschlossenen Schritten trat er vor die Theke. Den kurzen roten Samtumhang, am Hals nur von einer dünnen Goldkordel gehalten, schlug er dabei über die Schultern zurück und gab ein teures, weiches Zobelfutter preis. Er setzte das Barett ab und strich sich mit der Hand das lockige Haar zur Seite. Im gleichen Moment fiel durch das Fenster ein Lichtstrahl auf ihn.

Julietta verschlug es den Atem. Wie ein Heiliger in einem Buntglasfenster erschien er ihr. Diese Augen! Blau waren sie – nein, nicht blau, türkis wie das Meer. Klar und leuchtend, auffällig strahlend in dem sonnengebräunten Gesicht. Stechend. Alles sehend.

Doch ein Zauberer! Oder gar il diavolo, der Teufel?

Unwillkürlich umklammerten ihre Finger die Räucherstäbchen so fest, dass sie sich einen Span in den Finger stach. Leise seufzend drehte sie sich um und warf die restlichen Stäbchen ins Feuer, nur um nicht mehr in diese Augen sehen zu müssen.

„Das habe ich auch gehört, Madonna“, sagte der Mann hinter ihr. Sie spürte regelrecht, wie er sich gegen die Theke lehnte und sie genau beobachtete.

„Gehört“, murmelte sie ein wenig einfältig. Richtig, ganz und gar einfältig benahm sie sich. Wer war sie denn, eine erwachsene Frau, Witwe zudem und Ladenbesitzerin. Niemand sollte sie verunsichern oder gar aus der Fassung bringen.

Nein! Du fürchtest dich nicht, befahl sie sich, drehte sich um und sah ihm direkt ins Gesicht.

Ein leichtes Lächeln umspielte seinen Mund. Voll und sinnlich waren die Lippen. Er schien jünger zu sein, als sie zunächst angenommen hatte. Kaum sichtbar waren die Fältchen um die Augen und die leicht gekrümmte Nase dieses Zauberers. Egal wie reich oder wie vornehm, wieso konnte ein so junger Mann sie so beunruhigen?

„Ich habe gehört, dass dies die beste Parfümerie von Venedig sein soll. Und dass ich hier unbedingt vorbeischauen sollte“, erklärte er heiter.

„Ich bin geschmeichelt, Signore.“ Julietta ging langsam wieder zum Rand der Theke. Ihre Hände legte sie flach auf die Marmorplatte, direkt neben den weichen Samt seines Gewandes. Der Körper dieses Mannes verströmte eine angenehme Wärme. Und abermals verschlug es Julietta beinahe den Atem, so groß war die Unruhe, die sie in seiner Nähe befiel. Doch dieses Mal hielt sie stand und rückte nicht von ihm ab. „Und womit kann ich Euch nun dienen, Signore? Ein Geschenk für eine entzückende Dame? Keine Frau kann einem Parfüm, das speziell für sie gemischt ist, widerstehen. Vielleicht in einem mit Juwelen besetzten Flakon? Als Zeichen Eurer Bewunderung immer ein hübsches Geschenk.“

Der Fremde lächelte breit, lehnte sich mit den Ellbogen auf den Ladentisch und schaute verführerisch zu Julietta auf. „Ach, ich bin erst seit Kurzem in Venedig. Die entzückende Dame, die meine Geschenke als Zeichen meiner Bewunderung annehmen würde, habe ich bislang noch nicht gefunden. Aber ich suche wirklich ein Geschenk und auch für eine ganz besondere Dame.“

Julietta zog erstaunt die Brauen hoch. „Keine Dame aus Venedig?“

„Nein, aus Sevilla. Wo immer ich bin, suche ich nach einem hübschen Andenken, damit sie weiß, dass ich an sie denke.“

Eine steile Falte bildete sich auf Juliettas Stirn. Plötzlich empfand sie Eifersucht – eine Gefühlsregung, die ihr bislang völlig unbekannt gewesen war. „Eure Gemahlin, Signore?“

Er lachte laut auf, rau klang es, aber musikalisch und warm wie ein Sommertag. Die feinen Fältchen um die Augenwinkel wurden ein wenig tiefer, während die Augen fröhlich und fragend auf sie gerichtet waren. Julietta presste die Lippen fest zusammen, um nicht zu kichern, obwohl sie nicht recht wusste, worüber sie eigentlich lachen musste.

„Nein, Madonna“, sagte er. „Ich bin Seemann. Ich habe keine Frau. Ich suche ein Geschenk für meine Mutter.“

Seine Mutter! Madre di dio!, stöhnte Julietta insgeheim. Oh Gott, heute war sie aber wirklich närrisch. „Ihr sucht ein Geschenk für Eure Mutter?“

Sì, und zwar eines, wie Ihr bereits vorgeschlagen habt, eigens für sie zusammengestellt. Sie ist nämlich eine ganz besondere Frau.“

„Sehr schön?“ Musste sie ja sein, bei so einem Sohn.

„Ja, und sehr gütig und gläubig. Unschuldig wie der junge Morgen. Was würdet Ihr vorschlagen, Madonna?“

Aha. Nun war Julietta in ihrem Element. Den perfekten Duft erschaffen. Das verstand sie. Kühl und nüchtern überlegte sie, während sie bereits unter dem Ladentisch ein Tablett hervorzog, auf dem in einem Elfenbeingestell eine Menge Phiolen voller kostbarer Öle standen. Suchend strich sie mit den Fingerspitzen über die Korkstöpsel der ordentlich beschrifteten Fläschchen. „Rosen natürlich. Und? Vielleicht Veilchen?“, murmelte sie. „Veilchen aus Spanien? Was meint Ihr, Signore?“

Julietta hielt ihm das Fläschchen entgegen. Er lehnte sich herüber und atmete tief ein. Zu tief, er keuchte und hustete.

Julietta lachte leise. „Vorsicht, das ist reine Veilchenessenz. Die riecht sehr stark.“ Sie zog die Spitzenrüschen ihres Ärmels zurück, träufelte einen winzigen Tropfen des Öls auf ihr Handgelenk und hielt es dem Kunden entgegen. „So, riecht jetzt einmal.“

Behutsam, mit zwei Fingern nur, hielt er ihr Handgelenk. Julietta holte erschrocken Luft. Lang und warm waren seine Finger, schwielig und voller kleiner weißer Narben. Am Ringfinger glänzte ein Rubin in einem Goldring. Ganz sanft hielt dieser Mann ihre Hand, und doch spürte Julietta die unterdrückte Kraft, die dieser Berührung innewohnte. Sein Blick war auf ihr Handgelenk gerichtet, und sie konnte seinen Atem warm auf ihrer Haut spüren. Langsam, ganz langsam beugte der Fremde sich über den betörend duftenden Tropfen, die Lippen näherten sich …

„Madonna, habt Ihr die Lotion für Signora Lac…“ Biancas vertraute Stimme brach den Bann, dem Julietta fast erlegen wäre, zerriss das Netz, das der türkisäugige Zauberer um sie gesponnen hatte. Eilig zog sie ihre Hand zurück, strich die Rüschen wieder über das Handgelenk und trat zugleich einen Schritt zurück.

„Ich wusste nicht, dass Ihr bereits Kundschaft habt“, erklärte die Dienerin erstaunt, während sie sich neben Julietta stellte. Fragend richtete Bianca ihre dunklen Augen auf ihre Herrin. „Guten Morgen, Signore. Habt Ihr gefunden, was …“ Verwundert hielt Bianca inne. „Oh!“ Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund. Das Glas mit der Lotion fiel zu Boden. Ein Wunder, dass es nicht zerbrach, sondern lediglich unter den Ladentisch rollte. „Il leone“, flüsterte sie ehrfürchtig.

„Wovon redest du, Bianca?“, fragte Julietta verstört, während sie sich nach dem Glas bückte. Sie fühlte sich plötzlich schrecklich einsam, der Berührung des Zauberers beraubt, zugleich war sie erschüttert und ärgerlich über sich selbst, dass sie solche törichten Gefühle zuließ.

Während sie langsam wieder zu sich kam und sich mit dem Glas in der Hand wieder aufrichtete, glitt Bianca wie unter einem Bann um die Ladentheke.

Ein Zauber, ähnlich wie ihm zuvor auch Julietta erlegen war.

„Ihr seid es, nicht wahr?“, wisperte Bianca. „Ihr seid doch Il leone? Ich sah Euch letzte Woche bei Eurer Ankunft in der Stadt. Fantastisch! Ja, Ihr seid der Held. Il leone!“

Vielleicht war es Einbildung, aber Julietta glaubte, bei dem Fremden ein Erröten zu bemerken. Wahrhaftig, ein leichtes Rot überzog die sonnengebräunte Haut auf seinen Wangenknochen. ll leone? Sollte er es wirklich sein? Der mutige Seefahrer, der den lästigen Piratenschwarm vor Venedigs Küste verjagt hatte? Sie bemerkte ein leichtes Zucken um seine Mundwinkel. Verlegenheit? Schämte er sich seines Ruhms? Oder war es Ärger?

„Ach Signorina.“ Galant nahm er Biancas Hand und hauchte einen Kuss auf ihr Handgelenk. „Ihr seid zu gütig. Ich habe nur meine Pflicht getan. Piraten sind so ein Ärgernis.“

„Aber nein!“, widersprach Bianca heftig. „Ihr selbst habt den Piratenkapitän mit dem Dolch getötet. Ihr habt seine Flotte mit Euren Kanonen vernichtet, ohne selbst einen Mann zu verlieren. Ihr seid … Il leone.“

„Ach, ich ziehe es vor, bei meinem richtigen Namen genannt zu werden: Marcos Antonio Velazquez. Und wer seid Ihr? Mit wem habe ich die Ehre?“

Verzückt schaute Bianca zu ihm auf. „Ich heiße Bianca, Signor Velazquez. Und das ist meine Herrin, Signora Julietta Bassano. Es ist uns eine Ehre, dass Ihr unsere Parfümerie besucht“

„Eine Ehre“, wiederholte Julietta. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass so ein Held uns die Gunst seiner Kundschaft erweisen würde. Erlaubt mir, Signore, Euch das Parfüm als Geschenk des Hauses zu überreichen.“

„Aber nein, Madonna“, widersprach er. „Es ist viel zu wertvoll …“

„Ohne Euren Mut und Eure Kühnheit hätten wir bald keine Ware mehr zu verkaufen gehabt. Bitte, erlaubt mir, Euch dieses Geschenk zu machen. Als Zeichen meiner Dankbarkeit.“

„Habt Dank, Madonna“, sagte er mit einer leichten Verbeugung. Dabei sah er sie so durchdringend an, dass Julietta seinem Blick nicht standhalten konnte. Wie kam es nur, dass sie sich ständig vor ihm zum Narren machte?

„Bianca, der Signore hat einen Duft für seine Mutter in Spanien in Auftrag gegeben. Wenn Ihr die Güte habt, Signor Velazquez, in zwei Tagen wieder vorbeizuschauen, dann wird Euer Parfüm bereitstehen.“

„In zwei Tagen erst?“, fragte er leise. „So lange, bis ich wiederkommen darf?“

Julietta zuckte mit den Schultern. „Die Herstellung eines Parfüms ist eine Kunst, Signore. Eine Kunst, die Feingefühl und Zeit verlangt, da darf man nichts übereilen.“

„Oh ja, Madonna. Das verstehe ich.“

Die kleine Glocke am Eingang läutete, als die Tür aufgestoßen wurde. Signora Mercanti, eine von Juliettas besten Kundinnen, betrat geräuschvoll den Laden. Ihr zerfurchtes, dick gepudertes Gesicht war gerötet vor Aufregung, die dunklen Augen glänzten. Den plötzlichen Trubel, den die in Pelze und flatternde Stoffe gehüllte Signora samt ihren in den kleinen Ladenraum drängenden Dienern und kläffenden Schoßhündchen verursachte, nutzte Signor Velazquez, um ungesehen – außer von Julietta – aus dem Laden zu flüchten. Sie trat ans Fenster und verfolgte, wie er den campo überquerte – ein scharlachroter Farbtupfer inmitten der grauen Menge. An der Zisterne traf er eine große, unauffällig gekleidete Person. Gemeinsam mit dem Fremden verließ er den Platz, bog in eine schmale Gasse und verschwand hinaus in die große Stadt.

Zwei Tage. Dann würde er wiederkommen.

„Habt Ihr es schon gehört, Signora Bassano?“ Aufgeregt packte Signora Mercanti Juliettas Arm und zog sie zurück in die Ladenmitte. Bei solchem Trubel um sich herum blieb Julietta keine Zeit, lange über den Fremden nachzudenken. „Ein riesiger Skandal! Meine Dienerin hat es heute Morgen auf dem Markt erfahren.“

Julietta schüttelte den Kopf. Sie bückte sich, hob einen der kläffenden Hunde hoch und reichte ihn einem Diener, bevor das Tier sich an ihrem Rock oder auf ihren sauberen Fliesen erleichtern konnte. „In Venedig gibt es doch immer irgendeinen Skandal, Signora.“

„Ja, aber das ist wirklich eine ungeheuerliche Angelegenheit! Micheletto Landucci hat man heute Morgen tot in seinem Bett gefunden. Direkt neben seiner schlafenden Gemahlin.“

Julietta wurde eiskalt. Cosima Landucci und ihr toter Gemahl. Wie ein eisiger Schauer überkam sie die Erinnerung an die vergangene Nacht und spülte die letzten Spuren der Hitze, die der aufregende Il leone in ihr hinterlassen hatte, hinweg. Wie konnte die Nachricht von Landuccis Tod schon so schnell die Runde durch die Gassen und Kanäle machen? Ja, das war Venedig. Wie hätte es auch anders sein können?

„Wirklich?“ Julietta versuchte, Ruhe zu bewahren. „Kennt man die Todesursache schon?“

Signora Mercanti zuckte mit den Schultern. „Überanstrengung, vermutet man. Nach einem zu reichlichen Nachtmahl und einem Beischlaf mit einer zu jungen Frau. Landucci ist bereits das dritte Mitglied des Savio ai Cerimoniali, das innerhalb weniger Monate verstorben ist. Seltsam, nicht wahr, Signora Bassano? Ach, da fällt mir gerade was ein! Signora Landucci ist doch auch Eure Kundin, nicht wahr? Natürlich wird sie in den nächsten Tagen das Haus nicht verlassen wollen, aber vielleicht schickt sie ja ihre Dienerin. Dann könnten wir sicher mehr erfahren.“

Signora Mercanti ließ sich auf den gepolsterten Stuhl sinken und nahm von Bianca die dargebotene Süßigkeit entgegen. Es war offensichtlich, dass die Signora sich auf einen langen, gemütlichen Vormittag in Juliettas Parfümerie einstellte. Und immer wenn die Türglocke läutete und neue Kundinnen den Laden betraten, sprach man über nichts anderes als die Landuccis, die bevorstehenden Karnevalsbälle und natürlich von Il leone und seinen Heldentaten.

ll leone. Julietta warf einen letzten Blick zum Fenster, bevor sie sich ins Gefecht stürzte. Sie war erfüllt von einem unbegreiflichen Verlangen, hinter ihm herzurennen. Ihn zu bitten, ihr zur Flucht auf einem seiner großen, schnellen Segler zu verhelfen.

Fliehen. Ja, wenn sie das nur könnte. Wenn Il leone damit so einfach ihre Furcht vertreiben könnte wie diese Piraten. Doch sie wusste genau, dass er dazu nicht in der Lage war. Ihre Dämonen ließen sich nicht vertreiben, auch nicht von dem gefeierten Il leone.

4. KAPITEL

„Habt Ihr sie gesehen?“, fragte Nicolai.

Marcos blieb stehen und schaute kurz zurück. Er sah die blaue Tür, darüber baumelte das Holzschild mit dem Bild einer Parfümflasche. Einen kurzen Moment lang bildete er sich ein, sie, Julietta Bassano, zu sehen – groß, kalt, stolz und zurückhaltend und dennoch, das ahnte er, nicht ganz ohne Leidenschaft. Ein entzückender rosiger Schimmer hatte ihre Wangen überzogen, als er ihr Handgelenk zärtlich gehalten hatte. „Ja, ich habe sie gesehen.“

„Und?“

Marcos zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe nicht, was der alte Ermano an ihr findet“, log er.

Nicolai lachte laut und so herzlich, dass zwei hübsche Mägde stehen blieben und ihm interessierte Blicke zuwarfen. Auch wenn sich daraus vielleicht eine recht aufregende Affäre hätte entwickeln können, jetzt war nicht die Zeit, Aufmerksamkeit zu erregen. Marcos führte seinen Freund in eine fast leere Wirtsstube, wo sie sich bei billigem Bier und einer Fleischpastete in einer dunklen Ecke niederließen.

„Vermutlich will er nur ihren vornehmen Ansitz und ihre fruchtbaren Felder auf dem Festland.“ Träge lehnte sich Nicolai auf dem rohen Holzstuhl zurück. Sein buntes seidenes Harlekinkleid hatte er gegen ein einfaches rotbraunes Wollgewand getauscht, die goldblonden Haare streng zurückgekämmt und am Hinterkopf zusammengebunden. Nur in den ungeduldigen Gesten der schmalen Hände und in seinen blauen Augen zeigte sich nun der stets Aufmerksamkeit heischende Eifer eines geborenen Schauspielers. Marcos fragte sich insgeheim, ob der langjährige Freund seinen Plan auch einhalten würde.

Doch war Nicolai nicht einer der wenigen Freunde, denen Marcos voll und ganz vertrauen konnte? Und der einzige, der ihm bei der Durchführung seiner Vorhaben in Venedig helfen konnte? Als Wanderschauspieler war Nicolai herumgekommen und kannte viele Leute. Ihm war jeder Winkel der Serenissima vertraut, auch die dunklen und schmutzigen. Er konnte dieser Stadt ihre Geheimnisse und Gerüchte auf eine Weise entlocken, wie es Marcos selbst, der bereits mit sechs Venedig verlassen hatte, niemals möglich gewesen wäre.

Bald. Bald sollte diese ernste Stadt unterwürfig vor ihm auf dem Rücken liegen. Alle seine Wünsche, alle seine Forderungen sollte sie ihm erfüllen. Alles, wofür er geplant und gearbeitet hatte, seit er ein Kind war.

Gott mochte dem helfen, der sich ihm in den Weg stellen wollte. Niemand sollte ihn an seinen Plänen hindern, auch nicht die Frau mit nachtschwarzem Haar und weißer Haut, die nach Blüten duftete und nach Traurigkeit.

Marcos nahm einen tiefen Schluck von dem billigen Bier. „Kein Anwesen, kein Landgut sind das Theater wert, das Ermano macht. Besitzt er nicht bereits genug von solchen Gütern?“

„Vielleicht weiß der erlauchte Conte, dass er mit seiner entschlossenen und sehr öffentlichen Jagd auf die Witwe Bassano zum Gespött in Venedigs Gesellschaft wird. Und das macht ihn umso entschlossener“, sagte Nicolai, in dessen Tonfall nur noch ganz selten die Sprache seiner lange verlassenen russischen Heimat herauszuhören war.

„So wird es wohl sein.“ Marcos dachte an Juliettas Augen, dunkel wie die schwärzeste Nacht und doppelt so geheimnisvoll.

Nicolais Blick schweifte prüfend durch die düstere Schankstube, als er einen tiefen Schluck von dem Bier nahm. „Was hast du als Nächstes vor, mein Freund?“

„Na ja, die schöne Signora umwerben“, antwortete Marcos mit einem freudlosen Lachen. „Sie ist der Schlüssel zu der ganzen Angelegenheit.“

„Und mit der Freiheit, die uns der Karneval gestattet, wer weiß, was da geschieht?“

„Genau!“

„Aber sei bitte vorsichtig, Marcos.“

Nicolais Stimme, die sonst immer so heiter und ein wenig spöttisch klang, war plötzlich ganz leise und ernst geworden. Marcos sah ihn verwundert über den Rand seines Bierbechers an.„Das bin ich immer. Wie könnte ich sonst als Kapitän eines Handelsschiffes überleben?“

Nicolai schüttelte den Kopf. „Ermano ist allseits bekannt für seine Heimtücke, selbst in dieser gefährlichen und heuchlerischen Stadt Venedig fürchtet man ihn.“

Plötzlich sah Marcos das Bild vor sich, das ihn überallhin verfolgte, das er niemals würde abschütteln können: das blonde Haar auf dem Marmorboden, diese schrecklich ausdruckslos ins Leere blickenden blauen Augen, am weißen Hals eine rote klaffende Wunde. „Ja, das weiß ich.“

„Und du willst immer noch mit dem Teufel feilschen?“

Marcos leerte den bitteren Rest des Glases. „Ich habe lange gebraucht, bis ich endlich so weit war. Schon viel zu viel Zeit ist vergangen, und nun muss ich endlich das Versprechen erfüllen, das ich einmal gemacht habe.“

„Ich dachte es mir. Du hast dich schon immer wie ein störrischer Esel verhalten. Erinnere dich nur an den Tag, als ich dir zum ersten Mal in dem schäbigen Bordell in Deutschland begegnet bin.“

Marcos lachte. „Du musst ja nicht mitmachen. Ich will nicht schuld sein am Unglück der wenigen Freunde, die ich noch besitze. Letztendlich geht es um mein ganz persönliches Problem.“ Doch Marcos wusste genau, dass er auf Nicolais Hilfe nicht verzichten konnte. Damals, in jenem Bordell, hatte ihm Nicolai das Leben gerettet. Aber er hatte Nicolai dann dafür viele Male das Leben gerettet. Und dieses Mal brauchte er die Rückendeckung des Freundes wirklich mehr als alles andere.

Nicolai grinste. Nun war er wieder ganz der fröhliche Harlekin. „Wie sonst könnte ich mich in diesen Tagen zerstreuen? Die Truppe reist nicht weiter. Während Karneval und der Fastenzeit bleibt sie in Venedig. Erst wenn das Volk wieder nach Fröhlichkeit verlangt, reisen wir weiter nach Mantua. Solange kannst du über mich und meine armseligen Fähigkeiten verfügen, leone.“ Die Traurigkeit, die für einen kurzen Moment in Nicolais Augen lag, überspielte er mit einem unbekümmert klingenden Lachen.„Ich bezweifle übrigens, dass viele Venezianer das für dein persönliches Problem halten würden. Wenn du mich fragst, ich glaube, manch einer würde es gerne und freiwillig mit dir teilen.“

Bevor Marcos nachfragen konnte, wurde die Tür der Schankstube geöffnet und ließ einen kalten Lufthauch und Tageslicht herein – und Julietta Bassanos Dienerin. Zielstrebig ging das Mädchen zur Theke.

„Signora Bassanos Dienerin. Ich glaube, sie heißt Bianca“, flüsterte Marcos.

„Ja, ja“, nickte Nicolai weise. „Die beste Vertraute einer Dame ist oftmals die Zofe. Diese scheint mir … besonders viel zu wissen.“ Ohne ein weiteres Wort stand Nicolai auf, ging quer durch den Schankraum und stellte sich neben Bianca. Es dauerte nicht lange, da wurde gescherzt und geschäkert, helles Lachen tönte durch den dunklen, rauchigen Raum. Da Marcos wusste, dass Nicolai noch eine ganze Weile beschäftigt sein würde, legte er ein paar Münzen neben die leeren Becher und verließ das Gasthaus.

Der beginnende Tag hatte die Nebel vertrieben, ein trübes milchigweißes Licht lag auf dem dunklen Wasser und den pastellfarbenen Häusern. Marcos zog seinen kurzen Umhang enger um die Schultern und die Mütze tief ins Gesicht und tauchte ein in die Menschenmenge, die in Richtung der Werft des Arsenals strömte. Niemand erkannte ihn als Il leone. Er fühlte sich frei, zu gehen, wohin ihn seine Füße trugen.

Doch seltsamerweise wünschte er nichts sehnlicher, als zurück zu der blauen Tür von Julietta Bassano zu wandern. Verweilen und träumen wollte er in ihrem Laden mit den süßen verführerischen Düften, diese schlanke, anmutige Dame beobachten, wie sie hinter ihren Ladentisch ging und sich Veilchenöl auf die weiße Haut träufelte. Wahrlich eine bestrickende, rätselhafte Frau, deren köstliches Geheimnis er mit Freude alsbald lösen wollte.

Doch jetzt noch nicht. Auch wenn er schon auf halbem Weg zu ihrem Laden war, wusste er, noch war es zu früh. In zwei Tagen erst wollte er zurückkommen, hatte er gesagt. Zwei Tage, in denen sie an ihn denken konnte, in denen vorsichtige Neugier ganz allmählich zu Sehnen und Begehren erblühen sollte. Und für ihn selbst zwei Tage, an sie zu denken, sich auszumalen, was er sich von ihr erträumte. Zwei sehr lange Tage.

In der Zwischenzeit galt es Wichtiges zu erledigen. Er trat an den Rand des Kanals und winkte eine Gondel herbei.

Julietta saß aufrecht im Bett und rang nach Luft. Trotz der dicken Bettdecke und des Feuers, das noch im Kamin glühte, war ihr eiskalt. Zitternd fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht und versuchte kopfschüttelnd ihre Träume zu verscheuchen. Es nützte nichts. Das Gefühl, dass irgendjemand sie beobachtete, blieb. Ihr war, als blickte jemand tief in ihre Seele und als kämen all ihre wohlgehüteten Geheimnisse kämen ans Licht.

Sie zündete die Kerze an, die neben ihr auf dem Nachttisch stand. Die flackernde gelb-orange Flamme warf ihr Licht bis in die hinterste Ecke der kleinen Schlafkammer. Natürlich saßen da keine heimtückischen Dämonen, die nach ihrer Seele greifen wollten. Sie war allein, wie immer. Nur Stapel von Büchern häuften sich auf jedem Tisch und jedem Stuhl, ein paar schwarz-weiß gestreifte Kleidungsstücke lagen unordentlich herum, und ein halb geleertes Weinglas stand da.

„Bloß ein Traum“, flüsterte sie. Ein Traum, an den sie sich nicht einmal richtig erinnern konnte. Bunte Farbfetzen … und … ein durchdringendes türkises Augenpaar …

Julietta schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf die Bettkante. Als ihre nackten Füße den kalten Holzboden berührten, stöhnte sie leise auf. Den pelzbesetzten Umhang, der am Fußende lag, ließ sie liegen und trippelte in ihrem Leinenhemd zum Fenster. Die Kälte tat ihr gut. Sie brachte sie zurück in die Wirklichkeit, verscheuchte alle bösen Träume.

In der sternenklaren Nacht hing der Mond wie eine gelblich glänzende Sichel hoch am schwarzen Firmament. Bis zum Tagesanbruch waren es noch Stunden. Stunden, bis die Sonne und des Tages Arbeit sie von ihren trüben Gedanken ablenken würden. Während der Nacht erschien ihr alles noch viel erdrückender, weder der Zukunft noch der Vergangenheit konnte sie in diesen einsamen Stunden entrinnen.

Zu Venedig gehörten die Geheimnisse der Nacht. Dunkelheit, stille Wasser, düstere Durchgänge, die so vieles versprachen. All das machte die Nächte so verführerisch, lockte sie heraus aus der Sicherheit ihres so sorgfältig aufgebauten Lügengebäudes. „Komm“, wisperte das Wasser. „Komm, du weißt doch, dass du zu uns gehörst. Komm, wir werden dir unbekannte Freuden zeigen. Wir erfüllen all deine Wünsche. Komm, ergib dich deinem Schicksal.“

Sich ihrem Schicksal ergeben. Nie und nimmer. Julietta war dazu bestimmt, allein zu leben, immer gegen ihre eigenen Schatten zu kämpfen. Doch in Nächten wie diesen …

In Nächten wie diesen schienen sich in den engen Gassen der Stadt Liebe und Tod, Eros und Thanatos zu vereinigen und erweckten auch in ihr Lust und Leidenschaft. Julietta liebte Venedig. In der Nacht war die Stadt genau wie sie, keiner von beiden zeigte sein wahres Gesicht.

Sie drückte ihre Stirn gegen das kühle Fensterglas, schaute hinunter auf den leeren Platz und dachte an den Mann, der am Morgen in ihrem Laden gewesen war. Il leone. Marcos Antonio Velazquez. Ein gefährlicher Mann. Das war ihr in dem Moment bewusst geworden, als er ihre Hand genommen hatte und ihr Fleisch unter seiner Berührung erwacht war.

Achselzuckend schob Julietta ihren schweren Zopf von der Schulter und öffnete das Fenster. Sie schloss die Augen und genoss den kalten Luftzug, der ihr über das Gesicht, den Hals hinunter in den tiefen Ausschnitt ihres dünnen Gewandes und über die Brüste strich. Einen Moment lang glaubte sie, seine Hand zu spüren, die über ihre nackte Haut strich. Raue, schwielige Seemannsfinger glitten über ihre Schultern, zeichneten eine Feuerspur tiefer und tiefer, sein Atem, kühl und verführerisch, ließ sie erzittern in verzückter Erwartung …

Madre di dio! Julietta riss die Augen auf. Erschrocken blickte sie hinunter auf den Platz. Er war menschenleer. Nur aus der Ferne klangen Lachen und Musik einer fröhlichen Gesellschaft herüber. Kein türkisäugiger Zauberer beobachtete sie. Keine zärtliche Hand streckte sich nach ihr aus.

Das war gefährlich. Vor langer Zeit, als sie noch jung und närrisch gewesen war, da hatte sie ihren Gatten für anziehend und bezaubernd gehalten, hatte sich eingebildet, ihn zu lieben so wie im Heldenepos das Mädchen seinen Ritter. Sie war begierig gewesen nach seinen Küssen, hatte ihn angehimmelt, alles an ihm geliebt, die Stimme, den Blick und seine Berührungen. Doch all ihre Zuneigung hatte er in einem Rausch von bestialischer Gewalt zerstört und damit auch das Mädchen vernichtet, das sie bis dahin gewesen war.

Nach Giovannis Tod war Julietta nach Venedig gezogen und hatte ein neues Leben begonnen. Sie hatte ein paar Liebhaber gehabt. Vornehme, verschwiegene Männer, deren Küsse angenehm und süß waren, die sie aber niemals so wie bei Giovanni in göttliche Höhen trugen. Und keiner von ihnen hatte sie jemals in tiefe Verzweiflung stürzen lassen.

Marcos Antonio Velazquez konnte das. Sie ahnte es. Nein, sie wusste es. Er besaß ein Geheimnis, verborgen hinter seinem guten Aussehen, seiner vornehmen Garderobe und seinen glänzenden Manieren. Nur eine einsame Seele konnte eine andere erkennen. Sich mit ihm einzulassen brächte sie nur in Schwierigkeiten. Schließlich war ihr Leben, wie es jetzt war, gut. Ruhig und sicher.

Sicher?

Männer wie Il leone hatten keinen Platz in ihrem Leben. Darauf musste sie achten.

Julietta zog das Fenster zu und schob den Riegel vor. Dann nahm sie ihren Umhang vom Bett, und während sie ihn überzog, verließ sie leise die Kammer. Bianca schnarchte friedlich auf ihrem Lager im Korridor. Vorsichtig stieg Julietta über sie hinweg, die enge Treppe hinunter in ihren dunklen Ladenraum. Die Schlagläden waren dicht vor die Fenster geschoben, die Tür war verschlossen und verriegelt. Eigentlich war es unmöglich, dass jemand sie beobachten konnte. Dennoch schaute sie sich aufmerksam im Raum um, blickte in jede Ecke, auf jeden Flakon, jede Kiste mit neuen Waren. Erst dann ging sie zu dem in der Wand versteckten Paneel.

Mit den Fingerspitzen fand sie sofort die winzige Erhebung im Holz und drückte darauf. Die Paneele glitten einen Spaltbreit zur Seite, gerade weit genug, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Sie zündete eine Kerze an, bevor sie die Geheimtür hinter sich wieder verschloss und in ihrer eigenen, geheimen Welt verschwand.

Es gab kein Fenster, keine natürliche Lichtquelle in ihrem Versteck. Nur das sanfte Flackern ihrer Kerze. Es war eine winzige Kammer, aber sie enthielt alles, was Julietta benötigte. Entlang den Wänden standen lange, schmale Tische, voll beladen mit Waagen, Bechern, silbernen Schalen, Mörsern und Stößeln, mit Löffeln und Messern in verschiedenen Größen. Dazwischen standen Regale mit Büchern. Es waren meist alte, dicke Folianten, die sie über die letzten drei Jahre mit viel Mühe und teuer erworben oder aber von ihrer Mutter und Großmutter geerbt hatte. Auf dem Boden standen abgedeckte Körbe, Keramiktöpfe und verstöpselte Flaschen. Von den dunklen Sparren an der Decke baumelten getrocknete Gewürzpflanzen neben anderen, seltsameren Zutaten. Es waren Substanzen, die die Kundschaft ihrer Parfümerie nicht unbedingt zu sehen brauchte.

Niemals!

Julietta machte sich sofort an die Arbeit, denn die Nacht war schon halb vorüber. Zunächst breitete sie ihre Hilfsmittel aus. Einen Becher mit klarem Wasser, eine Schere, Mörser und Stößel legte sie sich zurecht. Dann erwärmte sie Öl in einer kleinen Schale. Nachdenklich schaute sie zu den Kräutern, abwägend, welches Kraut ihren Zwecken am dienlichsten sein könnte. Engelwurz … ja. Brennnessel, Raute und Majoran … alles Pflanzen, die große Kräfte entfalten konnten, den Menschen Schutz und Weisheit zu geben. Mit der Schere schnitt sie von jedem Kraut einen Zweig ab und legte ihn auf ein kleines Tablett aus Silber.

Dann kniete sie neben dem Tisch, faltete die Hände und schloss die Augen. „Oh Allmächtiger“, wisperte sie. „Ich bitte, dass die Geheimnisse mir heute Nacht verraten werden und mein Platz in der Welt wiederhergestellt wird. Helft mir, die Wahrheit zu erkennen. Führt mich bei meinem Handeln. Schützt mich.“

Und helft mir, vorherzusehen, was dieser Signor Velazquez hier in Venedig sucht, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Amen.“ Nachdem sie sich bekreuzigt hatte, stand sie auf, nahm Mörser und Stößel und langte nach den zuvor ausgewählten Kräutern. Diese Stunden tief in der Nacht gehörten nur ihr und dem, was sie von Mutter und Großmutter gelernt hatte. Diese Stunden durften nur ihr gehören – wenn nicht, bedeutete es ihr Todesurteil.

Doch trotz all der Gefahr, die mit ihrem Handeln verbunden war, musste sie es tun. Sie musste ihr Wissen nutzen, um anderen Frauen zu helfen. Frauen wie Cosima Landucci – Frauen wie sie selbst. Nicht einmal die Angst vor dem Scheiterhaufen konnte Julietta davon abhalten.

Auch nicht die türkisfarbenen Augen des Zauberers konnten sie von ihrem Vorhaben abbringen. Es war beschlossen und musste getan werden.

5. KAPITEL

„Madonna!“, hallte Biancas Stimme durch den mit Kisten und Kästen gefüllten Lagerraum. Julietta, die in jeder Hand einen Ölkrug hielt, stolperte erschrocken zurück und hätte sich dabei beinahe den Kopf an der Kiste gestoßen, die sie gerade auspackte. Sie war dabei, die neuen Wareneingänge für ihren Laden zu sortieren und zu zählen. Doch eigentlich war sie mit ihren Gedanken woanders. Ständig musste sie an das Gebräu denken, das in ihrer Geheimkammer leise vor sich hin blubberte.

Sie versuchte, nicht an Il leone zu denken.

„Was ist denn, Bianca?“, fragte sie, während sie die Ölkrüge behutsam zurück in ihre gepolsterten Futterale stellte. „Brauchst du meine Hilfe im Laden?“

Bianca schloss eilig die Tür hinter sich und lehnte sich gegen das Türblatt. „Er ist hier“, rief sie atemlos und kicherte.

Julietta verstand sofort und wandte sich ab, um vor der Dienerin ihre plötzlich in die Wangen schießende Röte zu verbergen. Sie blätterte durch die Inventarliste, die neben ihr auf dem Boden lag, um sich zu beruhigen. Sie wusste, wenn sie sich jetzt nicht sofort zusammennahm, würde sie genauso albern loskichern wie ihre närrische Dienerin.

Er kam aus rein geschäftlichen Gründen. Sonst nichts.

„Signor Velazquez?“, fragte sie.

Sì, Madonna. Heute sieht er noch aufregender aus als beim ersten Mal.“

„Gut, Bianca. Das Parfüm, das er bestellt hat, steht hinter dem Ladentisch – in dem violetten Flakon. Du kannst es dem aufregenden Signore einpacken.“ Das hielt sie für die richtige Taktik: den Mann fortschicken, ohne ihn zu sehen.

Doch so einfach war das Leben eben nun mal nicht. „Oh nein, Madonna. Er hat extra darum gebeten, Euch zu sprechen.“

Darum gebeten, sie zu sprechen? Wirklich? Weshalb wohl?

Gerne hätte Julietta länger darüber nachgedacht, doch das musste nun warten. Nachdenken konnte sie später, wenn sie allein in ihrer Kammer war. Im Moment galt es, sich um das Geschäft zu kümmern. Schließlich handelte es sich um einen sehr wichtigen Kunden.

Ein wichtiger Kunde, der ausdrücklich sie zu sehen wünschte.

Julietta stand auf, legte die Schürze ab und bürstete den Lagerraumstaub von ihrem schwarzen Rock. Sie gab sich alle Mühe, die seltsame Beklommenheit, die sie beschlichen hatte, nicht zu beachten, als sie an Bianca vorbeiging und die Tür zum Laden öffnete. Hinter ihr schlug Bianca die Tür wieder zu. Die Dienerin ließ ihre Herrin allein im Laden.

Oder fast allein natürlich.

Den ganzen Morgen war es sehr geschäftig gewesen. So kurz vor Karneval wollten viele Leute ein neues Parfüm ordern. Viele Kunden waren gekommen, um ihre Bestellungen abzuholen und gleichzeitig den neuesten Klatsch über den Landucci-Tod und Il leone zu hören.

Velazquez stand halb abgewandt und betrachtete eingehendden neuen französischen Ölbrenner, den sie ausgestellt hatte. Das gab Julietta etwas Zeit, ihren Kunden genauer zu beobachten. In der Zwischenzeit hatte sie beschlossen, dass ihr Bild, das sie von seiner männlichen Ausstrahlung und seiner Anziehungskraft hatte, übertrieben sein musste. Sie war sicher gewesen, dass sie sich in ihrer überschäumenden Fantasie eine Gestalt ausgemalt hatte, die wesentlich größer, stärker und dunkler als in Wirklichkeit war. Aber nein – er glich genau dem Bild, an das sie sich erinnerte. Heute war er in Grün gekleidet – ebenso unaufdringlich und kostbar wie die Garderobe, die er vor zwei Tagen getragen hatte –, ein dunkles Waldgrün mit silbergeränderten Manschetten an den Ärmeln und Silberfuchsfutter an dem kurzen Umhang. Gelangweilt drehte er ein grünes Samtbarett in der schmalen Hand. Sein glänzendes Haar leuchtete in der Sonne.

Am Ohrläppchen baumelte wie zuvor die Perle und lenkte den Blick auf die energische Wangenpartie. Mit einem leichten Stirnrunzeln blickte er auf den Brenner. Doch sie ahnte, dass sein Interesse gar nicht der Auslage galt, sondern dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war.

Genau wie sie in den letzten zwei Tagen.

Worüber mag er wohl nachdenken, fragte sie sich. Was befand sich hinter der Fassade des glanzvollen Helden, des kühnen Kapitäns, den ganz Venedig verehrte? Zu ihrer eigenen Überraschung brannte wirkliche Neugier in ihr. Wie lange war es her, dass sie ein tiefes Verlangen verspürt hatte, einen anderen Menschen zu verstehen? Sie hatte sich bis eben kaum noch an das sehnsüchtige Wünschen erinnern können, die Gedanken eines anderen Menschen zu teilen. Und nicht mehr allein zu sein.

Aber warum sollte es gerade dieser Mann sein? Wer war er denn? Ein Fremder, den sie nur ein einziges Mal gesehen hatte. Weshalb plötzlich dieses lebhafte Interesse? Ach, sicher war sie auch nur von seiner Schönheit geblendet, so wie in diesen Tagen jedes weibliche Wesen in Venedig. Zurzeit drehte sich jedes Gespräch in ihrem Laden nur um Il leone – mit welcher Dame er getanzt hatte, mit welchen Ehren der Doge ihn überhäufte.

Normalerweise müsste ich das ganze Geschwätz über diesen Mann gründlich satthaben, dachte Julietta. Aber nein, sie lauschte aufmerksam jeder kleinsten Neuigkeit über ihn.

Nichts anderes als Fantasien war das Ganze, Ergebnis schlafloser Nächte und der Vorfreude auf Karneval. Er war nur ein Mann – so wie jeder andere auch.

Buona sera, Signore“, begrüßte sie ihn, indem sie aus dem Dunkel hervortrat. „Willkommen in unserem Laden.“

Velazquez drehte sich um. Das nachdenkliche Stirnrunzeln wich, und ein einnehmendes Lächeln erhellte wieder seine Züge. Irgendwie erschien Julietta die Farbe seiner Augen heute dunkler, blaugrün wie ein tiefer See. Er nahm ihre Hand und führte sie zu einer kurzen Begrüßung an seine Lippen. Kurz – aber nicht ohne Wirkung. Julietta hatte schon von dieser eigenartigen spanischen Sitte gehört, die auch von immer mehr Venezianern übernommen wurde. Dennoch erschien ihr diese Begrüßung ungeheuerlich unpassend – und aufregend. Ganz leicht spürte sie seinen Atem auf ihrer Hand. Dann trat Velazquez zurück, und ein feierlicher Ausdruck veränderte plötzlich seine Gesichtszüge.

Erschrocken wandte sich Julietta ab. „Ich … Euer Parfüm steht bereit, Signore. Ich habe es in ein violettes Muranoglas, die Farbe der Veilchen, gefüllt.“ Um Fassung ringend, bückte sie sich ein wenig länger als nötig unter den Ladentisch nach dem Flakon. Was hatte sie nur gespürt, als er ihre Hand so vertraulich berührt hatte? Ein kurzes Aufwallen von Leidenschaft, gewiss, aber da war noch etwas anderes gewesen. Ein gefährlicher Sog von etwas Dunklem, Geheimnisvollem, Überwältigendem.

Es war lange her, seit die Gabe ihrer Mutter sie heimgesucht hatte. Konnte es sein, dass dieses unheilvolle Erbe nun zurückkam? Nach so langer Zeit und ausgerechnet bei diesem Mann? Was konnte das bedeuten?

Julietta tauchte wieder unter ihrem Ladentisch auf. Die Hand, in der sie das Fläschchen hielt, zitterte unmerklich. Am liebsten wäre Julietta aus dem Laden in die frische kühle Luft geflohen und immer weitergelaufen, hinaus aus Venedig, bis sie sich allein auf freiem Feld befände. Doch das durfte sie nicht. Jetzt noch nicht.

Velazquez kam zum Ladentisch und betrachtete aufmerksam den Flakon. Einen Moment lang konnte Julietta sein Mienenspiel nicht erkennen, weil ihm die Haare wie ein glänzender Vorhang vor das Gesicht gefallen waren. Wie eine Närrin kam sie sich vor. Hatte sie nicht eben noch beschlossen, dass Velazquez ein Mann wie jeder andere sei? Dass keinerlei Magie im Spiel sei, keine dunklen Geheimnisse, die sie mit sich in die Tiefe reißen wollten?

„Das ist wunderschön“, sagte er leise.

Julietta drehte das Glas, sodass es im Licht, das durch das Fenster fiel, glitzerte. Ja, es war wirklich ein wunderschöner Flakon. Eines der feinsten Stücke ihres bevorzugten Glasbläsers in Murano. Das Glas war aus einem besonders tiefen Violett, mit winzigen Amethysten besetzt und einem filigranen Goldstöpsel. Ein besonders ausgewähltes Stück, passend für einen Helden. „Ich hoffe, Eurer Mutter wird es gefallen.“

„Sie wird es lieben. So wie sie ganz Venedig lieben würde, wenn ich es ihr zeigen könnte.“

„Die Stadt besitzt wahrlich viele Sehenswürdigkeiten, besonders um diese Jahreszeit. Die Piazza San Marco, den Dogenpalast, die wunderschönen Brücken …“ erklärte Julietta.

„Und die wunderschönen Frauen?“

Julietta lachte verlegen. „Ja, auch die. Venedigs Frauen sind berühmt für ihre Schönheit und ihre Anmut.“

Sein Blick wanderte von dem Flakon zu Juliettas Gesicht. Unverwandt beobachteten die blaugrünen Augen sie. „Und ganz besonders eine ist hübscher als alle anderen, meine ich.“

Während er sprach, blieb seine Miene unbewegt, sein Mund zeigte nicht einmal die Andeutung eines Lächelns. Welche Dame er wohl meinte? Plötzlich überkam brennende Eifersucht Julietta. „Aha, Signore? Habt Ihr in der Zwischenzeit doch eine Dame gefunden, die ein Geschenk Eurer Bewunderung anzunehmen bereit ist?“

„Leider noch immer nicht“, gestand er und lehnte sich dabei mit federnder Leichtigkeit über den Ladentisch. Sie verstand plötzlich, woher er seinen Beinamen hatte. Seine Bewegungen glichen wahrhaftig denen eines Löwen, geschmeidig und wunderschön, doch gefährlich. „Aber sicherlich bald, hoffe ich.“

„Wenn Ihr ein Geschenk für sie sucht, dann …“

„Wenn ich nur wüsste, was ihr gefallen würde.“ Schnell und doch unendlich behutsam griff er nach Juliettas Hand und strich mit der rauen Innenseite seines Daumens sacht über ihren einfachen Silberring. „Aus Juwelen scheint sie sich nichts zu machen.“ Sein Blick glitt über den einfachen schwarzen Mantel, der am Haken neben der Tür zum Lagerraum hing. „Und für edle Pelze schwärmt sie auch nicht.“

Fast hätte Julietta ungläubig aufgelacht. Sie? Sie wollte er beeindrucken, während alle Damen in der Stadt wetteiferten, ihm Blumen zu Füßen zu legen, und mit ihm das Bett teilen wollten? Doch er schien es tatsächlich ernst zu meinen. Ruhig und entschlossen sah er sie an.

Was ging hier vor? Welche leichtsinnigen, geheimen Wünsche tief in ihrem Herzen auch lauerten, so war sie doch bestimmt kein leichtfertiges, einfältiges Mädchen, das glaubte, er würde es begehren. Aber da war erneut dieses eigenartige Gefühl von Dunkelheit, als er ihre Hand berührte. Etwas ging zwischen ihnen vor. Etwas, das sie unbedingt ergründen wollte.

Julietta zog ihre Hand zurück, beugte sich dann aber näher zu ihm herüber, bis sie den sauberen Duft von Seeluft, der ihn umgab, riechen konnte. „Karneval ist eine ganz besondere Zeit. Man sagt sogar, es sei eine magische Zeit“, flüsterte sie. „Masken machen die Menschen frei, lassen sie die Wahrheit hinter den offensichtlichen Dingen erkennen. In dieser Zeit erfüllen sich Wünsche und Hoffnungen. In den geheimnisvollen Nächten des Karnevals, Signore, findet Ihr vielleicht, wonach Ihr sucht. Und das, wonach Ihr Euch immer gesehnt habt.“

Schweigend blickten sie einander an. Nicht gefühlvoll, sondern hart und durchdringend. Julietta wusste nicht, wie sie dazu gekommen war, so etwas zu sagen. Ihre Mutter hatte immer behauptet, dass sie zu verschwiegen sei, zu viel nachdenken würde und nicht leidenschaftlich sei. Manchmal, meine Tochter, hatte sie gesagt, musst du einfach dein Herz sprechen lassen.

Das war leichter gesagt als getan. Juliettas Mutter hatte stets ihr Herz sprechen lassen. Und was hatte es ihr gebracht? Doch Julietta wusste, dass sie selbst gerade eben genauso gehandelt hatte. Karneval war eine ganz besondere Zeit. Dann war ihr wirkliches Leben – die geheime Kammer, Ermano Grattiano, ihre Vergangenheit in Mailand – alles war dann für kurze Zeit vergessen. Hinter einer Maske war alles möglich.

„Meint Ihr das wirklich, Madonna?“, fragte Marcos ernst.

Julietta nickte.

„Gebt Ihr mir dann die Ehre, mich zur großen Eröffnungsfeier nach dem Festumzug auf der Piazza San Marco zu begleiten?“ Er beobachtete sie genau, sein Blick aber war unergründlich.

Lass dein Herz sprechen, Julietta! „Ja, Signore, ich werde Euch zur ersten Karnevalsfeier begleiten.“

6. KAPITEL

Eine dichte Menschenmenge schob sich an den Ufern des Canale Grande entlang, eine lebendige, fließende Masse, arm und reich, in Samt und Leinen, maskiert und unmaskiert. Der süßlich modrige Gestank, der stets von den Kanälen aufstieg, der Geruch der vielen Menschen, der Duft von vielen verschiedenen Parfüms vermengten und verflochten sich mit dem Lachen, dem Stimmengewirr und der Musik zu einer schwülen Wolke, die schwer über ganz Venedig lag. Es war der Tag, an dem die Karnevalszeit endlich eröffnet wurde. Kein Venezianer wollte dieses Schauspiel missen.

Auch Julietta wollte sich die Zeremonie nicht entgehen lassen. Mühsam bahnte sie sich ihren Weg durch das Getümmel. Sie nutzte ihre ungewöhnliche Körpergröße, um über die Menschenmenge hinwegzuschauen und einen idealen Standort zu finden, von dem aus sie den Festumzug beobachten konnte, bevor dieser außer Sichtweite draußen in der Lagune verschwand. Bianca hielt sich dicht hinter ihrer Herrin. Fest umklammerte sie Juliettas Ärmel, um sie im Gedränge nicht zu verlieren. Schließlich fanden sie ein sicheres Plätzchen am Kanalufer, von wo aus sie den Umzug beobachten konnten.

Julietta hielt sich an einem Pfahl fest, an dem normalerweise Gondeln angebunden wurden. Heute diente er ihr als Halt gegen die wogende Menge, die von hinten und den Seiten drückte. Zu ihrer Linken stand, umringt von einer Schar Bewunderer, eine Kurtisane mit hennarotem Haar und in ein mit Silberpailletten besetztes rotes Gewand gehüllt. Der süßlich schwere Duft von Gardenien und Bergamotte, der sich mit dem Geruch des reichlich fließenden Weines vermischte, wehte von ihnen herüber. Zu Juliettas Rechten stand ein junges Paar mit seinen beiden kleinen Kindern – einfache Leute, wie Julietta aus der schlichten Kleidung und dem Geruch von Kernseife schloss. An einem Tag wie diesem mischten sich alle Stände, Jung und Alt, Arm und Reich, Städter und Bauern, Kurtisanen und Nonnen. So ging es in den folgenden Wochen weiter, bis schließlich der Karneval seinen rauschenden Höhepunkt fand und sie danach alle wieder zurück in ihre eigenen Welten schickte.

Julietta schenkte den beiden aufgeregten Kindern ein freundliches Lächeln und richtete dann ihre volle Aufmerksamkeit auf den breiten Kanal. Obwohl der Doge noch nicht in Sicht war, mangelte es dennoch nicht an Spektakel. Gondeln und Barken schaukelten auf dem dunklen Wasser. Schwarz, gold oder weiß glänzten sie wie fürstliche Juwelenkästen in der Sonne. Jedes Boot war über und über mit Blumen und bunten Bändern geschmückt. Von einigen der größeren Gondeln klangen neben fröhlichem Lachen auch beschwingte Melodien von Lauten und Violen herüber.

Julietta lebte nun schon einige Jahre in Venedig. Viele Male hatte sie diesen festlichen Umzug bereits miterlebt. Und jedes Mal weckte er etwas tief in ihrer Seele: ihr Lachen und ihre Heiterkeit. Jedes Mal bekam sie wieder dieses unbändige Herzflattern. Dann erinnerte sie sich an die Zeiten, als sie noch ein junges, sorgloses Mädchen gewesen war, das sich auf nichts mehr freute als auf ein herrliches Fest, einen Tanz oder ein Minnelied über die höfische Liebe. Natürlich gab sie heute diesem ungezügelten Verlangen nicht mehr nach, aber tief in ihrem Inneren verspürte sie es immer noch.

Sie liebte diesen Tag ganz besonders. Es waren die Freude und all die Erwartungen, die mit ihm verbunden waren, die allgegenwärtige, übersprühende Lebenslust, die, wenn auch nur für kurze Zeit, Tod und Verderben vergessen ließen. Natürlich hing ihre frohe Stimmung dieses Mal zum Teil auch mit dem bevorstehenden Abend zusammen, das wollte sie gar nicht verhehlen. Heute Abend sollte sie ihn wiedertreffen, Il leone, Marcos Antonio Velazquez oder wie auch immer er sich zu nennen pflegte. Seltsam warm wurde ihr ums Herz bei dem Gedanken, dass sie ihn sehen und mit ihm tanzen würde. Er war ein Mann mit vielen Geheimnissen, und gerade das schien sie magisch anzuziehen. Aber sie sollte ihren eigenen Gefühlen besser misstrauen, und bestimmt wäre sie gut beraten, sich gar nicht erst auf ihn einzulassen. Doch an einem Tag wie heute fiel es ihr schwer, die gewohnte Vorsicht walten zu lassen.

Thanatos, der Sohn der Nacht, hatte sich in der Menge vor dem Sonnenlicht versteckt. Aber Eros, der schelmische Gott der Liebe, tauchte überall auf und sorgte in zahlreichen Kostümierungen für ausgelassene Stimmung. Und auch Dionysos war nicht weit, fiel Julietta auf, als sie beobachtete, wie ein junger Galan einer Kurtisane trunken hinterhertaumelte und wie einer seiner Freunde ihn davor bewahrte, in den Kanal zu fallen, indem er ihn bei seinem vornehmen Satinwams packte und zurück auf festen Boden zog. Die Frau und ihre Verehrer brachen in schallendes Gelächter aus und reichten den Weinkelch in die Runde, was im Verlaufe des Tages bestimmt Anlass für weitere ähnliche Szenen werden sollte.

„Signora Bassano! Welch seltenes Vergnügen!“

Augenblicklich schwand Juliettas Lächeln, als sie diese Worte hörte. Die weiche, schmeichelnde Stimme, die vom Wasser direkt unterhalb von Juliettas Pfahl ertönte, trübte ihren strahlenden Tag. Sie hätte schwören können, dass eine graue Wolke die Sonne verdeckte, doch als sie zum Himmel hinaufschaute, war er so strahlend blau und wolkenlos wie zuvor.

So fest, dass es schmerzte, umklammerte sie den Holzpfahl und spürte zugleich, wie sich Bianca dichter an sie drückte. Julietta blickte hinunter aufs Wasser. Conte Ermano Grattiano – wie sie befürchtet hatte. Seine pompöse, schwarz glänzende Gondel, die zur Feier des Tages verschwenderisch mit Goldglitter und schwarzgoldenen Federn geschmückt war, hatte direkt zu ihren Füßen Halt gemacht. Die samtenen Vorhänge am überdachten Aufbau waren zurückgezogen, damit die Insassen freien Blick auf den Festzug hatten.

Wie üblich war Ermano Grattiano nicht weniger prächtig herausgeputzt als seine Gondel. Zum goldfarbenen Seidenwams, abgesetzt mit Hermelin und Goldtressen, trug er weißgolden gestreifte Beinkleider und einen ärmellosen Mantel, der ebenfalls mit dem kostbaren weißen Pelz gefüttert war. An dem Barett aus Goldbrokat funkelte ein riesengroßer Diamant und blendete sie mit seinen Strahlen.

Der Diamant passt ausgezeichnet zu seinem Besitzer, dachte Julietta verstimmt. Obwohl um viele Jahre älter als sie, war der Conte mit seinem dichten weißen Haar und dem gepflegten weißen Bart immer noch ein sehr ansehnlicher Mann. Seine markanten Gesichtszüge waren faltig und die kalten grünen Augen strahlten hell und listig. Er lächelte stets, doch hinter der freundlichen Miene und der glänzenden Schale verbarg sich ein erbarmungsloser Machtmensch. Er hatte sein großes Vermögen in Venetien erworben – dem Gerücht nach mit nicht ganz lauteren Mitteln. Am Hofe des Dogen besaß er eine herausragende Stellung als Mitglied des Savio ai Cerimoniali, des Komitees, das für Staatsbesuche, Botschafter und Minister zuständig war und das in letzter Zeit so viele seiner Mitglieder auf höchst unglückliche Weise – unter anderem auch Signor Landucci – verloren hatte. Der Palazzo des Conte war einer der prächtigsten der Stadt. Vier Mal war Ermano Grattiano bereits verheiratet gewesen. Und jede seiner Angetrauten war eine Dame aus altem Adelsgeschlecht, mit Vermögen und von untadeliger Schönheit gewesen. Alle vier hatten jedoch leider allzu früh das Zeitliche gesegnet.

Nun schien er auch Juliettas kleines Landgut auf dem Festland seinem Reich einverleiben zu wollen. Bevor sie nach dem Tod ihres Gatten Mailand verlassen hatte, war ihr die kleine Villa samt den umliegenden Ländereien von seiner Familie vermacht worden. Vielleicht wollte der Conte sogar Julietta haben, wenn sie sich auch beim besten Willen nicht vorstellen konnte, aus welchem Grund. In Venedig tanzte jede junge vollbusige Kurtisane nach seiner Pfeife, er brauchte nicht so etwas Großes, Dünnes, Dunkelhaariges wie sie. Was immer er auch in Wahrheit begehren mochte, in der Verfolgung seines Ziels zeigte er sich ausgesprochen hartnäckig. Seit dem Tag, als er ihr zum ersten Mal in San Marco begegnet war, erschien er regelmäßig in ihrem Laden, schickte kleine Geschenke oder lud sie zu Zusammenkünften in seinem Anwesen ein.

Und nun störte er sogar ihren fröhlichen Feiertag.

Natürlich musste sie auf seinen Gruß antworten. Viel zu lange schon hatte sie gezögert. Das laute Gelächter und das Stimmengewirr um sie herum erstarben allmählich schon zu einem leisen Raunen. Die Leute begannen sie bereits erstaunt anzustarren. Offensichtlich wunderte man sich, weshalb sie den Gruß eines so bedeutenden Mannes überging.

Ohne Scheu blickte Julietta hinunter zu dem Conte, der sie mit einem kleinen, leicht ungeduldigen Lächeln auf den schmalen Lippen beobachtete. Neben ihm, halb verborgen im Schatten der zurückgezogenen Vorhänge, stand sein Sohn Balthazar. Das schmale jungenhafte Gesicht mürrisch verzogen, die Arme vor dem weißen Samtwams verschränkt, verfolgte er den Festzug. Balthazar war Ermanos einziges Kind. Doch der Erbe des Grattiano-Reiches benahm sich stets wie ein unglücklicher Prinz, anscheinend voller unterdrückter, rasender Wut. Eigentlich war er ein hübscher Junge mit edel geformten hohen Wangenknochen, moosgrünen Augen und seidigdunklem, schulterlangem glatten Haar. Auf eineseltsame Weise kam er ihr vertraut vor, so als würde sie in seiner mürrischen Miene etwas Verlorenes wiedererkennen.

„Guten Tag, Conte Grattiano“, rief sie mit einem angedeuteten höflichen Knicks.

„Wahrlich ein guter Tag, jetzt da ich Euch getroffen habe, Signora Bassano“, antwortete er. Seine Worte und sein Gebaren waren durchaus höflich und korrekt, und dennoch hatte seine Stimme wie stets einen leicht spöttischen Unterton. Grattiano schien ihren Unmut zu spüren und hatte offenbar seine Freude daran. „Vergebt mir, dass ich Euch so lange nicht in Eurem Laden aufgesucht habe. Doch ich habe meine Güter auf dem Festland besucht.“

Verflixt, überlegte Julietta missgelaunt. Hatte sie doch schon geglaubt, ihr Zauber hätte gewirkt. „Ich hoffe, es gibt keinen Anlass zur Klage.“

„Nein, alles tadellos natürlich!“ Der Conte beugte sich über die Seitenwand der Gondel und blickte mit bittenden smaragdgrünen Augen zu ihr hinauf. „Würdet Ihr die Güte haben, uns während des Umzugs Gesellschaft zu leisten, Signora? Es ist genügend Platz hier für Euch und Eure Dienerin.“

Die Vorstellung, zusammen mit den Grattianos in dieser erdrückend luxuriösen Gondel zu sitzen, schnürte Julietta die Brust ein. Sie umklammerte den Pfahl so fest, dass ihr einen Moment lang schwarz vor Augen wurde. Stand sie noch am Ufer des Kanals, oder fantasierte sie? Das war keine gewöhnliche Gondel mit einem Gondoliere aus Fleisch und Blut, sondern Charon, der Fährmann, der sie mit seinem Boot ins Reich der Toten rudern wollte.

Wie aus weiter Ferne hörte sie neben sich Bianca tief Luft holen. Als die Dienerin dann begann, energisch an ihrem Ärmel zu ziehen, wurde Juliettas Blick langsam wieder klar. Die Vision verschwand. Scharf beobachtete der Conte sie, als wolle er ihre Zustimmung erzwingen. Seltsame Augen hatte er …

„Nein, danke …“, begann sie.

„Ach, Signora Bassano, Ihr wollt mir doch keinen Korb geben?“ Theatralisch legte Grattiano eine beringte Hand auf die Brust. „Es sind nur zwei einsame Männer in dieser Gondel, die für eine kurze Weile um die Ehre Eurer reizenden Gesellschaft bitten. Als Dank kann ich Euch eine hervorragende Aussicht auf den Umzug bieten.“

Bevor Julietta erneut ablehnen konnte, ging ein Aufschrei durch die Menge, und es brach ein Jubel aus, der jedes Wort übertönte. Andrea Gritti, der Doge, in prächtiger golddurchwirkter, mit Hermelin gefütterter Brokatrobe – in den Farben, ähnlich wie Ermano sie gewählt hatte, erschien im bucintoro. Langsam glitt er auf der Prunkgaleere an die Spitze des Umzugs, und während sie hinaus zur Lagune trieb, setzten sich die anderen Schiffe in ihrem Gefolge in Bewegung. Die Musik wurde lauter, schwoll zum feierlichen Fortissimo an, und es regnete Blumen in allen Farben. Und hinter dem Dogen stand … Nein! Das konnte nicht sein.

Julietta traute kaum ihren Augen. In der Tat, es war Marcos Velazquez. Das dichte dunkle Haar war von der leichten Brise zerzaust. Wie ein Pirat sah er aus. Das Barett mit dem Edelstein in der Hand, stand er, ganz in vornehmen blauen Samt gekleidet, hinter dem Dogen und blickte hinaus aufs Meer – in erlauchtester Begleitung, vom Scheitel bis zur Sohle der forsche Held.

Sie hatte eingewilligt, mit diesem Mann heute Abend auf das große Fest zu gehen. Konnte sie das? Wollte sie das wirklich? Hatte sie sich nicht die ganze Zeit angestrengt bemüht, so unauffällig wie möglich hier in Venedig zu leben?

Du wirst eine Maske tragen, beruhigte eine innere Stimme sie. Keiner wird dich erkennen. Schau ihn dir doch an. Nur einmal hast du die Gelegenheit, in seinen Armen zu tanzen. Willst du die verpassen? Oh, diese heimtückische innere Stimme! Immer brachte sie sie in Versuchung.

Julietta wagte noch einen Blick. Marcos Velazquez lachte. Sorglos und fröhlich war er. Aber auch stark und geheimnisvoll, ein Teil von Sonne und Meer. Nein, sie konnte der Versuchung nicht widerstehen.

Auch Conte Grattiano und sein Sohn Balthazar hatten sich umgedreht und beobachteten den Umzug. Julietta nutzte die Gelegenheit und tauchte in der Menge unter. Bald – nur allzu bald – musste sie sich ihrer unbezähmbaren Leidenschaft für Marcos Velazquez stellen. Doch jetzt noch nicht.

Nach dem lauten Jubel in den Gassen der Stadt fiel die Stille im Gesellschaftszimmer des Palazzo Grattiano besonders auf. Das spärliche Licht, das vom Kaminfeuer über den weißen Marmorboden flackerte, erschien nach all den hellen bunten Farben draußen in der Stadt besonders düster. Doch Marcos genoss die Stille. Endlich, und wenn auch nur für kurze Zeit, konnte er die Fassade des großen Helden abstreifen, endlich konnte er nachdenken.

Er war allein. Ermano Grattiano war von einem anderen Berater des Dogen aufgehalten worden. Quer durch den Saal ging Marcos zu einem der großen Fenster, die auf den Kanal hinausgingen. Seine Schritte hallten auf dem kalten Marmorboden. Vor den Fenstern sperrten schwere dunkelgrüne Samtvorhänge das letzte Tageslicht aus. Er schob den Stoff ein wenig zur Seite, um einen rosaroten Strahl der untergehenden Sonne hereinzulassen.

Der Raum war nicht besonders groß, wesentlich kleiner als die eindrucksvollen Festsäle des Hauses. Hier fanden keine Tanzfeste oder große Essen statt. Dies war ein Raum, in dem die Familie zum Essen beisammen war oder wo man sich zu einem vertraulichen Gespräch zusammensetzte. Nichtsdestotrotz war es ein prächtig ausgestatteter Ort. Kostbare Seidentapeten mit Bildern aus dem Leben der Lucia von Syrakus bedeckten die Wände, die geschnitzten Sitzmöbel waren vergoldet, die Polster aus hellgrünem Brokat. Der riesige Marmorkamin glich beinahe einem monumentalen Grabmal mit atlasähnlichen Figuren als Stützen an den Seiten und Schnitzereien von Heiligen und Seraphinen auf dem oberen Sims.

Es war lange her, seit Marcos diesen Raum zum letzten Mal betreten hatte. Doch nichts hatte sich verändert. Kein Dekor, kein Kissen, nur an den Wänden hingen ein paar neue Portraits. Ansonsten war es immer noch die gleiche kalte Hölle.

Marcos zog die Vorhänge weit zurück, damit das Licht bis in den hintersten, den finstersten Winkel fluten konnte. Die Arme vor der Brust gekreuzt, lehnte er sich gegen die Marmorfensterbank. Auf dem Kanal drängten sich die Boote mit den Festbesuchern, maskierte, fröhliche Menschen, heiter vom Wein und der Vorfreude auf die Versprechen der kommenden Nacht. Bald werde auch ich einer von ihnen sein, überlegte er. Er würde einen schwarzen Umhang tragen, seine Maske aufsetzen und die hübsche Julietta Bassano einen Abend lang bei Tanz und Musik begleiten – und zu dem, was die Nacht sonst noch bieten würde.

Julietta Bassano. In den letzten Tagen hatte er öfter an sie gedacht, als er sich eingestehen mochte. Ganz plötzlich und völlig unerwartet hatte er immer wieder ihr Bild vor Augen gehabt. Während er mit einflussreichen Familien von goldenen Tellern gegessen hatte, während er in prachtvollen Sälen feierlicher Musik gelauscht hatte und – vor allem nachts – während er im fremden Bett gelegen hatte. Er konnte sie sich genau vorstellen: groß und hellhäutig, aber geheimnisvoll wie die Nacht und ernst wie die Madonna dort drüben über dem Kaminsims. Stets so zurückhaltend und vornehm, niemals ihre Gedanken preisgebend.

Doch in seinen nächtlichen Träumen, da war sie ganz anders. Erst letzte Nacht hatte er von ihr geträumt: Das schwarze Haar fiel ihr über die schmalen Schultern weit über den Rücken. Die strengen schwarz-weißen Kleider hatte sie abgelegt. Nur in einem dünnen Hemd, hell und durchsichtig wie die Mondstrahlen, stand sie da. Sie hatte ein leicht verschämtes Lächeln auf den rosaroten Lippen. Ganz vorsichtig strichen ihre Fingerspitzen über seine Kehle, glitten über seine Schultern und die entblößte Brust und hinterließen eine feurige Spur. Ihr Haar kitzelte sanft über seine Wangen, als sie sich über ihn beugte und ihm leise fremde Worte ins Ohr flüsterte.

Er wusste noch, dass sie ihm aufregende Geheimnisse verraten hatte, die der Schlüssel zu seinen geheimsten Wünschen waren. Doch was sie gesagt hatte, daran konnte er sich nicht erinnern. Nur an ihre Berührungen, ihre magischen Berührungen, konnte er sich erinnern, und er sehnte sich danach, wieder die Süße ihrer Lippen auf den seinen zu spüren und ihren Busen auf seiner nackten Brust …

Maledizione!“ Marcos schlug mit der flachen schwieligen Hand auf die steinerne Fensterbank. Einen Moment lang gab er sich dem Schmerz hin. Dann, in dem Gefühl, ersticken zu müssen, entriegelte er das Fenster, riss den Flügel weit auf und ließ eine kühle Brise hinein. Er öffnete den hohen, juwelenbesetzten Kragen an seinem Wams und fuhr sich mit den Fingern durch das offene, zerzauste Haar.

Die kühle Luft tat gut. Dennoch konnte er den nächtlichen Traum nicht vergessen. Er war so wirklich gewesen und aufwühlend wie kaum ein Traum zuvor. Als er aufgewacht war und die Kurtisane, die er für die Nacht bestellt hatte, schlafend, den roten Haarschopf auf den schwarzen Laken ausgebreitet, neben sich fand, hatte er sie in die Arme genommen und wach geküsst. Doch selbst mit ihren meisterhaft vollkommenen Liebeskünsten war es ihr nicht gelungen, ihn seine Träume von Julietta Bassano vergessen zu lassen.

Dabei sollte diese Parfümeurin nur ein Mittel zum Zweck sein. Nur ein Glied in der Kette von Plänen, die er über Jahre so sorgfältig geschmiedet hatte. Nichts durfte ihm dabei im Wege stehen.

Dennoch … da war etwas in ihren geheimnisvollen, dunklen Augen …

Das Quietschen einer Tür riss Marcos aus seinen Gedanken über die rätselhafte Julietta Bassano. Er drehte sich um. Es war nicht Ermano Grattiano, sondern sein Sohn Balthazar, der da stand. Zögerlich verharrte er an der Türschwelle, so zaudernd, wie er möglicherweise auch sein Leben betrachtete. Er war ein großer Junge, unbeholfen in seinen Bewegungen, doch voller Feuer, voller unerfüllter Sehnsüchte und Wünsche, die er weder verstehen noch kontrollieren konnte, ärgerlich und ruhelos schien er.

Marcos kannte diese Gefühle. Mit achtzehn war er genau wie Balthazar gewesen. Damals hatte auch er voller Leidenschaft darauf gebrannt, die Welt zu erobern. Doch er war nur der Adoptivsohn eines spanischen Handelskapitäns gewesen. Er hatte sich nur auf seinen eigenen Verstand und seinen Ehrgeiz verlassen können. Balthazar Grattiano aber sollte einmal all die Besitztümer seines Vaters erben. Geld, Ländereien, Handelsflotten und Juwelen.

Und Frauen. Vielleicht eine besondere? Eine dunkelhaarige Witwe voller Geheimnisse? Nachdenklich beobachtete Marcos den jungen Balthazar einen Moment lang. Nein, dieser schlaksige Jüngling konnte noch kein Verständnis für die verborgenen Rätsel einer Frau wie Julietta Bassano besitzen. Eines Tages vielleicht, wenn er nicht in die Fußstapfen seines Vaters trat und wie dieser ein unbändiges Verlangen, zu besitzen und zu zerstören, entwickelte.

Mit Balthazar hatte Marcos keinen Streit. Im Gegenteil, er verspürte großes Mitleid mit dem Jüngling – trotz seines zukünftigen großen Erbes. Aber Marcos konnte und wollte auch nicht zulassen, dass Balthazar ihm im Weg stand. Er musste erreichen, worauf er sich so lange und so gründlich vorbereitet hatte. Niemand sollte ihn daran hindern.

„Signor Balthazar, seid gegrüßt“, sprach er den Jüngling an, der immer noch unschlüssig an der Türe stand.

Balthazar hob das Kinn, die blassgrünen Augen bekamen einen eigenartigen Glanz.„Ich sehe, mein Vater hat Euch warten lassen, Signor Velazquez.“

Marcos zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Es ist keinsonderliches Ärgernis, in einer so prunkvollen Umgebung und mit einer so grandiosen Aussicht warten zu müssen.“

Balthazar kam näher und stellte sich neben Marcos ans Fenster. Die vielen kleinen Diamanten auf seinem weißen Samtwams funkelten in der untergehenden Sonne. Auch sein breiter Gürtel war mit Diamanten und dunkelroten Amethysten besetzt. Sein Ohr schmückte ein daumennagelgroßer Diamant in filigraner Goldfassung. Aber all dieser Reichtum konnte nicht die Verzweiflung verbergen, die den jungen Mann quälte.

Marcos überlegte kurz, ob er ihn vielleicht mit der blassen Kurtisane der letzten Nacht bekannt machen sollte. Sie war hübsch und verstand ihr Handwerk, doch hatte er leider ihren Namen vergessen. Außerdem glaubte er nicht, dass Balthazar Schwierigkeiten hatte, selbst die Aufmerksamkeit reizvoller Damen auf sich zu ziehen. Richtete sich doch gerade jetzt unter ihnen auf dem Kanal eine silbrig blonde Schönheit in ihrer Gondel auf, winkte und schenkte dem Jüngling ein verführerisches Lächeln. Dabei streckte sie kokett ihre rotbestrumpften Beine aus. Balthazar nickte nur kurz zurück. Aha, dachte Marcos, der unterdrückte Groll ist also nicht leidenschaftlicher Natur.

Es musste etwas Ernsteres sein.

„Es heißt, Ihr stehet hoch in der Gunst des Dogen“, sagte Balthazar, während er weiter die Frau mit den roten Strümpfen beobachtete. Seine Stimme klang fast gleichgültig. Nur seine steife Körperhaltung verriet ein wenig von seinen wahren Gefühlen.

„Ja, ich schätze mich sehr glücklich, seit ich in Venedig bin. Viele Menschen begegnen mir mit Freundlichkeit.“

„Warum auch nicht? Ihr seid Il leone. Selbst mein Vater ist Euch sehr gewogen.“

Marcos sah den jungen Mann nachdenklich an und schluckte den Anflug von Unmut über die venezianische Heuchelei hinunter. „Euer Vater und ich führen Geschäfte miteinander.“

„Natürlich, Geschäfte zum beiderseitigen Nutzen.“

„Gibt es noch eine andere Art von Geschäften?“

„In der Tat.“ Balthazar wandte sich von der blonden Schönen ab und sah Marcos direkt ins Gesicht. Meergrün, fast schillernd waren die Augen des Jünglings plötzlich. „Nicht ein jeder schätzt die Gunst, die man Euch erweist. Man hält Euch nur für einen condottiere, einen Heerführer, angeheuert von einer fremden Seemacht.“

„Ich habe gewiss schon mehr als genug Neid im Leben erfahren müssen, Signor Balthazar. Jeder bedeutende Mann, ob arm oder reich, hat Neider. Aber ich weiß Eure Warnung zu schätzen.“

Von der Marmortreppe her waren Schritte und das verhaltene Lachen eines Mannes zu hören. Balthazar blickte zur Tür. „Mein Vater toleriert es nicht, wenn man seine Position infrage stellt. Auch nicht, wenn Geschäftspartner es tun.“

„Ich habe nicht den Wunsch, Berater des Dogen zu werden. Im Gegenteil, ich werde Venedig schon recht bald wieder verlassen.“

Balthazar nickte. „Dennoch, Signor Velazquez, man kann nie vorsichtig genug im Leben sein.“ Sagte es und durchquerte mit jugendlich federnden Schritten den Raum. An der Türschwelle ging er wortlos an seinem Vater vorbei, der gerade eintreten wollte.

„Ah, Signor Velazquez“, grüßte Ermano erfreut. „Ich hatte noch Geschäfte zu erledigen. Aber wie ich sehe, hat mein Sohn Euch in der Zwischenzeit Gesellschaft geleistet. Wein und Zuckerwerk sind geordert.“

„Euer Sohn scheint ein hoffnungsvoller junger Mann zu sein“, erwiderte Marcos und drehte sich um, das Fenster zu schließen, denn mittlerweile war es kühl geworden. Unten sah er im Fackellicht die Diamanten an Balthazars weißem Wams aufleuchten. Der junge Mann stieg gerade zu der blonden Kurtisane in die Gondel. Die Schöne umarmte ihn und schmiegte sich eng an ihren Liebhaber. So entglitt das Boot langsam Marcos’ Blicken.

„Hoffnungsvoll?“ Ermano starrte wütend hinunter auf den Kanal. „Liebenswürdig, wenn Ihr das so bezeichnen wollt. Aber selbstverständlich setze ich große Hoffnungen in ihn. Schließlich ist er mein einziger Sohn. Ich fürchte allerdings, er gerät zu sehr nach seiner Mutter. Sie kam zwar aus bestem Hause, war aber ohne viel Verstand.“

Mit seiner beringten Hand deutete er auf eines der neueren Portraits an der Wand. Es zeigte das Bildnis einer hellhäutigen, dicklichen Dame, überladen mit Seiden, Zobel und Juwelen. Contessa Grattiano, die vierte. Während Marcos so tat, als betrachte er eingehend das Bild, beobachtete er den Conte. Sie waren beide etwa gleich groß, etwas größer als der Durchschnitt. Doch Ermano war stämmiger, seine einst recht muskulöse Gestalt wurde allmählich schwammig. Das weiße Haar und der Bart waren noch dicht, sein Blick war listig. Ein alternder Wolf, aber kraftvoll und wachsam und noch nicht bereit, Macht und Ruhm an seinen unzulänglichen Nachwuchs abzutreten.

„Vier Mal war ich verheiratet“, erklärte Ermano nachdenklich. „Es waren selbstverständlich Damen aus reichen, einflussreichen Familien. Sie alle haben meinen Reichtum vermehrt, aber nur eine konnte mir ein Kind schenken, das auch überlebte. Er ist ein mürrisches Kind, ein Weichling. Ich fürchte um alles, was ich aufgebaut habe, wenn ich einmal gegangen bin.“

„Viele junge Männer machen solche unerfreulichen Zeiten durch. Signor Balthazar hat sein Leben noch vor sich. Mit der Zeit wird er sich bestimmt ändern.“

„Ich bete darum.“ Ermano drehte sich um und blickte Marcos an. Die Augen des Conte hatten die gleiche grüne Farbe wie die seines Sohnes, aber sein Blick war zielgerichteter, ohne die unterdrückte Wut des Jünglings. „Ich wette, eine solche unerfreuliche Zeit, wie Ihr es nennt, habt Ihr nie durchgemacht, Signor Velazquez. Eure Eltern können sich glücklich schätzen mit so einem Sohn.“

Fast hätte Marcos laut gelacht. Welch eine Äußerung aus diesem Munde, dachte er bei sich. „Habt Dank, Conte Grattiano, ich werde meiner Mutter Eure freundlichen Worte ausrichten. Vielleicht werden sie ihr helfen, die Tage meiner jugendlichen Aufsässigkeit zu vergessen. Damals, als ich ihren Plan ablehnte, ein Mann der Kirche zu werden.“

„Euer Vater lebt nicht mehr?“

Marcos dachte kurz an Juan Velazquez. Groß und dunkelhäutig war er gewesen, ein Mann, der schnell gereizt, aber noch schneller zum Lachen zu bringen war. Er hatte Marcos alles über Schiffe und die Segelschifffahrt gelehrt, hatte seinem Adoptivsohn seine große Liebe zum Meer vererbt.

„Ja, leider. Nur meine Mutter lebt noch. Sie wohnt in einem Konvent nahe Sevilla.“

„Sie ist gesegnet mit einem Sohn, den man Il leone nennt.“ Diener betraten den Raum und stellten Schüsseln mit Zuckerwerk auf. Schweigend goss ein großer, dunkelhäutiger Türke gewürzten Wein ein. Danach verließ er, sich unterwürfig verbeugend, den Raum, während Marcos und Ermano auf den Brokatstühlen neben dem gewaltigen Kamin Platz nahmen.

„Ich habe die Hoffnung allerdings noch nicht aufgegeben“, fuhr Ermano fort. „Ich bin gewiss kein junger Mann mehr, aber so alt bin ich denn auch noch nicht. Ich kann immer noch Söhne zeugen oder vielleicht auch Töchter, die durch eine vorteilhafte Heirat zum Ruhm des Hauses Grattiano beitragen werden.“

Der Conte hatte vor, wieder zu heiraten? Um weitere Nachkommen zu zeugen? Um noch mehr Ärger in Norditalien zu stiften? Eine ungeheure Vorstellung. „Ich wünsche Euch viel Glück bei Eurem Vorhaben, Conte Grattiano“, brachte Marcos mit Mühe heraus.

Ermano nickte bedächtig. „Die Mutter müsste natürlich von kräftiger Natur sein. Keine zarte, blaublütige signorina. Außerdem klug und mit feurigem Temperament. Wie ich gehört habe, habt Ihr Signora Bassanos Laden aufgesucht. Zwei Mal sogar.“

Aha … daher weht der Wind. Der Conte hielt also tatsächlich die große rätselhafte Julietta für die geeignete Frau als Mutter für seine fabelhafte neue Brut. Marcos stellte seinen Weinkelch auf den mit Intarsien verzierten Tisch und sah Ermano an. „Stimmt. Habe ich. Sie scheint eine sehr … beeindruckende Dame zu sein.“

Sì, sì“, kicherte Ermano. „Da habt Ihr recht. Und sehr unnahbar, stachelig wie eine Artischocke. Doch ich bin sicher, wenn man erst einmal an ihr Herz rührt, dann ist es ganz … weich.“

Marcos musste sich zusammennehmen. Allein der Gedanke, Ermano könnte seine plumpen beringten Finger auf Juliettas weiches Herz legen, machte ihn wütend.

Doch der Conte schien Marcos’ aufkommenden Ärger nicht wahrzunehmen. „Mag sie Euch?“, erkundigte er sich. „Wird sie mit Euch aufrichtig reden?“

Marcos atmete tief die Luft ein, die geschwängert war vom Duft des Zuckerwerks und Ermanos süßlichem Parfüm. „Das ist schwer zu sagen. Sie ist, wie Ihr schon sagtet, ziemlich stachelig. Und sehr vorsichtig.“

Ermano machte eine sorglos abwertende Handbewegung. „Ach, sie wird ihre Meinung schon ändern. Ihr seid Il leone, der Held der ganzen Stadt. Besucht sie nur weiter, gewinnt ihr Vertrauen. Dann werden wir mit der nächsten Phase unseres Plans beginnen.“ Ernst blickte er über den Rand seines Kelches auf Marcos. „Es soll nicht zu Eurem Schaden sein, Signor Velazquez, wenn Ihr einwilligt, mir zu helfen. Ich besitze großen Einfluss in Venedig. Ich kann ein großartiger Freund – aber auch ein grausamer Feind sein.“

Marcos erwiderte den Blick, fest und ohne mit der Wimper zu zucken. So wie ich, dachte er kalt. So wie ich, Ermano Grattiano.

7. KAPITEL

„Nun, Bianca? Was meinst du? Bereite ich meiner Begleitung Schande?“ Julietta drehte sich langsam vor dem Spiegel, schaute sich über die Schulter und vergewisserte sich, ob ihr Rock richtig fiel.

Bianca stand mit gefalteten Händen da. Ihre dunklen Augen strahlten vor Begeisterung. „Oh Madonna! Die Robe ist wunderschön. Wo habt Ihr die denn nur versteckt gehabt?“

„In der Kleidertruhe natürlich.“ Die ganzen letzten Jahre hatte das Kleid in der Truhe gelegen. Sie hatte es nicht getragen, nicht gebraucht. Julietta war nicht einmal sicher, weshalb sie es behalten hatte. Die meisten ihrer kostbaren Roben hatte sie in Mailand zurückgelassen. Aufwendig bestickte Samt- und Seidenstoffe waren im Laden unpraktisch, viel zu luxuriös und viel zu auffällig. Vielleicht hatte sie diese Robe aus reiner Rührseligkeit behalten. Vielleicht hatte sie aber auch geahnt, dass sie dieses Kleid einen Tages doch noch tragen wollte.

Julietta drehte sich wieder um und betrachtete sich von vorne im Spiegel. Duftig leicht war das Unterkleid aus hellgelber, mit Goldfäden durchwirkter Seide. Mieder und Überrock waren aus Goldsatin und mit goldener Spitze verziert. Schmale weiße Bänder, die mit winzigen Goldkugeln besetzt waren, hielten die Ärmel aus Goldbrokat. Ganz entsprach ihr Gewand nicht mehr der Mode. Die Ärmel waren etwas enger, die Taille etwas höher und der Rock etwas weiter, als man es derzeit trug. Aber mit der kostbaren Spitze war es dennoch eine festliche Robe.

Während Bianca mit Nadel und Faden einen kleinen Riss am Saum ausbesserte, beschäftigte sich Julietta mit ihrer Frisur. Normalerweise widmete sie ihren Haaren nicht so viel Aufmerksamkeit. Morgens wurden sie gebürstet, zu einem Zopf geflochten, hochgesteckt und unter einem hauchdünnen Schleier versteckt, damit sie bei der Arbeit nicht störten. Das war schnell gemacht. Die kunstvollen Frisuren mit gedrehten Zöpfen und geölten Locken ihrer ersten Ehejahre fehlten Julietta ganz und gar nicht. Doch heute Nacht – sie konnte sich selbst den Grund nicht erklären – heute Nacht wollte sie ihr Haar offen wie ein junges Mädchen tragen. Wie ein schwarzer Vorhang fiel es ihr bis zur Hüfte. Als einzigen Schmuck hatte sie weiße und goldene Bänder hineingeflochten.

Bianca biss den Faden ab und trat zurück. „Ihr seht aus wie die leibhaftige Sonne, Madonna.“

„Ich hoffe, ich sehe nicht aus wie ein Schaf, das sich als Lamm verkleidet“, murmelte Julietta, die sich plötzlich an ein lange vergessenes, oft gebrauchtes Sprichwort ihres schottischen Kindermädchens erinnerte.

„Madonna?“ Bianca sah ihre Herrin fragend an.

„Das soll heißen, ich hoffe, dass die Leute nicht glauben, ich sei eine alte Witwe, die versucht, ihre verlorene Jugend zurückzuholen.“

„Aber nein! So alt seid Ihr doch noch gar nicht, Madonna. Außerdem werdet Ihr ja sowieso eine Maske tragen.“

„Um meine Hexenfalten zu verbergen!“, scherzte Julietta und langte nach der Maske auf dem Tisch. Es war eine Katzenmaske aus weichem weißen Ziegenleder, das leicht mit Goldstaub überzogen war. Sie hielt sie sich vors Gesicht. In der Tat, die Maske verwandelte. Was sie sah, war nicht mehr Julietta Bassano, die freundliche Ladenbesitzerin und achtbare Witwe. Doch wer war sie?

Das konnte ihr nur die Nacht verraten. Und was würde Signor Velazquez von ihrem veränderten Äußeren halten? Würde er stolz sein, ihre Hand zu halten, sie durch die Menge zu geleiten, zum Tanz zu führen? Oder bedauerte er vielleicht sogar schon, sie aus einer Laune heraus für heute Nacht eingeladen zu haben?

Langsam ließ Julietta die Maske sinken. Im Spiegelbild sah sie ihre braunen Augen, die sie nachdenklich anblickten. Was hatte ihn nur dazu gebracht, sie zu dem Fest einzuladen? Unverständlich. Besonders nachdem sie ihn heute zusammen mit dem Dogen gesehen hatte. Offenbar wurde Velazquez sehr geschätzt. Ganz Venedig suchte seinen Rat und hofierte ihn. Jede Frau wäre stolz, ihn auf das Fest begleiten zu dürfen. Doch er hatte ausgerechnet sie gewählt.

Weshalb?

Argwohn war ihr zur zweiten Natur geworden. Stets musste sie sich fragen, welche verborgenen Motive hinter den Worten und Handlungen ihrer Mitmenschen steckten. Unter jeder ruhigen, geheimnisvollen Oberfläche konnten sich schließlich die wildesten und gefährlichsten Strömungen verbergen – genau wie auch unter den Wassern der Kanäle Venedigs. Nichts war so, wie es schien. Auch Marcos Velazquez war da keine Ausnahme. Sie musste ja nur in die tiefblauen Augen schauen, um das zu wissen. So blau wie der Himmel waren sie, aber auch so veränderlich. Ein klarer Himmel am Morgen konnte durchaus heftige Stürme am Abend bedeuten. Eine kluge Frau, eine Frau, die ihre eigenen Geheimnisse hatte, sollte Stürme der Art, wie sie Männer wie Il leone herbeiführen konnten, meiden. Sie könnten sich als tödlich herausstellen.

Und doch …

Sie konnte dieses seltsame Gefühl nicht vergessen, als er ihre Hand gehalten und ihr tief in die Augen geschaut hatte. Es war ein Sturm einer ganz besonderen Art gewesen – warm und verlockend, aber dennoch nicht minder gefährlich. Nein, es ließ sich nicht leugnen. Dieser völlig neue, unbekannte Gefühlswirbel zog sie mit und ließ sie nicht mehr los.

Sie wollte auch gar nicht losgelassen werden. Jetzt noch nicht. Wahrscheinlich lag es an der Karnevalszeit. In ihr wallte eine Lebenslust hoch, die sie glaubte, lange begraben zu haben. Die Maske und die Robe bewirkten, dass sie für diese Nacht einmal ihr wahres Wesen vergessen konnte.

Sie schlüpfte in ihre Schuhe, ein neues Paar hochhackiger Goldbrokatstiefeletten, die mit weißen Riemen geschlossen wurden, und ging durch die Kammer zum offenen Fenster. Das Gedränge auf dem Platz war riesig, die Menschen waren nicht so vornehm wie auf der Piazza San Marco, aber genauso fröhlich. Sie waren maskiert und kostümiert, tanzten auf dem Kopfsteinpflaster und tranken den Wein, der aus dem Brunnen floss.

Heute Nacht begann die Zeit der unbekümmerten Nächte. Eine Zeit, in der alle Nöte und Sorgen des Lebens vergessen werden konnten, in der nur Freude und Frohsinn regierten. Alle Venezianer gaben sich diesem Rausch hin. Warum nicht auch sie? Lange war sie vorsichtig gewesen. Sie wollte auch einmal wieder lachen, fröhlich und ausgelassen sein, tanzen und Wein trinken, bis ihr schwindelig wurde.

„Nur für diese eine Nacht. Was kann schon passieren?“,flüsterte sie.

Wie als Antwort auf ihre Fragen traf ein zerbrechliches

Wurfgeschoss mit einem Knall den Fensterrahmen. Gleichzeitig ging ein bunter Konfettiregen nieder, und süßlicher Rosenduft erfüllte die Luft. Lächelnd beugte sich Julietta über die Brüstung und verfolgte, wie die Papierfetzen und Schalenstücke langsam unter ihr zu Boden rieselten. Offenbar hatte jemand ein mit Parfüm und Papier gefülltes Karnevalsei nach ihr geworfen! Sie hielt sich die Hand vor den Mund, doch das Lachen ließ sich nicht zurückhalten.

Neugierig kam nun auch Bianca zum Fenster, um zu sehen, was da draußen so lustig war, während Julietta über den Platz nach dem Schuldigen Ausschau hielt. Lange musste sie nicht suchen. Er stand nahe bei ihrer Haustür. Eine große Gestalt in schwarzem Samtwams und silbernen Beinlingen. Der schwarze Umhang war mit funkelnden silbernen Sternen und sichelförmigen Monden bedeckt. Obwohl der Mann eine schmale silberne Mondmaske trug und das dunkle Haar zu einem Zopf zurückgebunden hatte, erkannte sie ihn sofort.

Marcos Antonio Velazquez. Il leone. Selbst im trüben Licht der Fackel strahlten seine makellosen weißen Zähne. Spitzbübisch grinsend schaute er zu ihr herauf. Es war das breite, wilde Grinsen eines Piraten, der dabei ist, ein feindliches Schiff zu entern.

Kopfschüttelnd beugte sich Julietta weiter aus dem Fenster und fuhr mit den Fingerspitzen über den Parfümfleck an der Mauer. Dann hob sie die Hand unter ihre Nase. Der Rosenduft war kaum wahrnehmbar, so stark roch der Moschus. „Ein minderwertiges Erzeugnis, Signore“, rief sie hinunter.

Er lachte, ein raues, tiefes Lachen, bei dem ihr ein Schauer über den Rücken lief. „Madonna! Eure Wohlgerüche sind viel zu kostbar, um sie auf Mauerwerk zu verschwenden. Doch wenn es Euch erfreut, wäre ich glücklich, Euch Myrrhe und Veilchen zu Füßen streuen zu dürfen, zusammen mit den schönsten Perlen des Orients, Bernstein aus Russland und Saphiren aus Indien …“

„Dann wäret Ihr ein rechter Narr“, unterbrach Julietta ihn mit unterdrücktem Kichern. „Zertretene Perlen haben noch nie jemandem genützt.“

„Dann erlaubt mir, schöne Frau, Zutritt zu Eurem Heim. Ich werde Euch die Perlen um den schlanken weißen Hals legen, Euer Haar mit Smaragden schmücken und jede Kammer mit Saphiren dekorieren, wenn Ihr mir nur noch einmal dieses bezaubernde Lächeln schenkt.“

Doch noch versagte Julietta ihm das erbetene Lächeln – wenn auch nur mit Mühe – und kicherte wie Bianca hinter ihrer vorgehaltenen Schürze. Noch wollte Julietta nicht nachgeben, für solch eine sorglose Tändelei war es noch viel zu früh am Abend. Später vielleicht, nach Wein und Musik …

„Ein wahrhaft sprachgewaltiger Verführer seid Ihr, Signor Luna“, antwortete sie.

„Ich bin bei ausgezeichneten Lehrmeistern in die Schule gegangen, Signora Sole“, gab er zurück. „Bei Dichtern und Komödianten, den besten ihrer Zunft.“

„Ach, dann solltet Ihr Euer Können aber nicht bei einer wie mir verschwenden. Perlen und Saphire brauche ich nicht und Zutritt zu meinem Heim erlaube ich niemandem. Nicht einmal Dichtern.“

„Oh meine Sonne! Ich bin verletzt!“ In einer dramatischen Geste legte er die Hand auf seine Brust. „Kann ich Euch denn mit gar nichts zu Diensten sein? Gibt es nichts, was Euch in Versuchung führen könnte?“

Kokett legte Julietta den Finger aufs Kinn und tat, als denke sie nach. „Ein Tanz vielleicht.“

„Oh ja, gerne stehe ich Euch damit zur Verfügung! Denn auch das Tanzen habe ich bei den besten Lehrern ihrer Zunft gelernt. Eine elegante Pavane, eine Gaillarde, ein maurischer …“

Lachend schlug Julietta das Fenster zu. Und als sie den Riegel vorschob, flogen noch zwei Eier gegen die Scheiben. Öl und Eierschalen hinterließen ihre Spuren auf dem Glas.

Ich muss wahrhaftig mondsüchtig sein, schimpfte sie mit sich. Wenn sie wirklich klug wäre, dann bliebe sie zu Hause in ihrer sicheren Geheimkammer. Aber es war schließlich eine verzauberte Nacht, und sie fühlte sich so anders als sonst.

Julietta setzte sich die Maske vors Gesicht, band die goldenen Bänder zu und eilte die Treppe hinunter – bereit für die Umarmung eines Zauberers.

Die Piazza San Marco entfaltete all ihre Pracht für das Fest. Ringsherum säumten Fackeln den Platz und warfen ihr rotgoldenes Licht auf die fröhlich feiernden Menschen. Kaufleute und Bankiers hatten ihre Stände entfernt und Platz für die tanzende Menge geschaffen. Jeder auf dem Platz war maskiert und kostümiert. Alle Arten von Verkleidungen waren zu sehen, angefangen von einfachen schwarzen Umhängen bis hin zu raffinierten, juwelenbesetzten Kostümen aus Seide und Organza. Wie in einem riesigen Strudel mischten sich all die verschiedenen Kostüme; goldene, silberne und kalkweiße Masken wirbelten in einer die Sinne verwirrenden Hemmungslosigkeit durcheinander. Unzählige Musikanten spielten zum Tanz auf. Schneller und schneller, immer wilder erklangen Flöten, Lauten und Trommeln, während die Tänzer „La volta!“ riefen und die Männer ihre Frauen hoch in die Luft warfen. Akrobaten und Komödianten in hautengen, bunten, mit Bändern versehenen Kostümen tanzten und sprangen mit lauten Schellen, Ratschen und Rasseln durch die Menge. Über ihren Köpfen tanzten besonders waghalsige Artisten auf gespannten Seilen.

Julietta genoss das Spektakel, während sie im Schatten stand und sich an Marcos’ Arm festhielt. All das kam ihr vor wie ein riesiger heidnischer Mummenschanz aus längst vergangenen Zeiten. Staunend und mit offenem Mund wie eine Bäuerin stand sie da. Einen Moment lang fürchtete sie sogar, die Vorbeigehenden könnten sich über sie belustigen. Doch dann erinnerte sie sich, dass ihr Gesicht hinter der Maske verborgen war. Es war alles so … so wunderbar. Ein verzauberter Traum.

Natürlich hatte sie zuvor auch schon am Karneval teilgenommen. Wenn man in Venedig lebte, ließ sich das kaum vermeiden. Zur Zeit des Karnevals brach der Frohsinn aus jedem Winkel. Aber für gewöhnlich war sie in diesen Tagen immer nahe bei ihrem Haus geblieben und hatte nur auf dem campo ihres Wohnviertels getanzt. Höchstens war sie manchmal zu einem maskierten Abendessen gegangen, zu dem ein Kunde oder ein Freund sie eingeladen hatte. Niemals jedoch hatte sie so grandiose Feste wie dieses besucht. Schon gar nicht in Gesellschaft einer solchen Begleitung.

Julietta blickte zu Marcos auf. Im Licht der Fackeln studierte sie sein Gesicht. Sein Mienenspiel konnte sie unter der silbernen Maske leider nicht erkennen, aber sie war sich sicher, dass auch er die Menge aufmerksam beobachtete.

Als ob er ihren Blick gespürt hatte, wandte er sich ihr zu. Ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während er sich zur ihr hinunterbeugte und ihr ins Ohr flüsterte: „Wie eine Szene aus Ovid, nicht wahr? Die heidnischen Horden feiern ihre Götter.“

Julietta lächelte zurück. „Genau das habe ich auch gerade gedacht.“ In dem Moment tanzte ein Paar vorbei, verkleidet als Apollo und Aphrodite in weiten, wehenden rot-weißen Kostümen, goldene Lorbeerkränze auf den Köpfen und die Gesichter hinter roten Masken verborgen. „Auch die beiden dort scheinen direkt aus Ovids Werken entsprungen zu sein, Signor Velazquez.“

„Ach, meine Sonne, könnt Ihr nicht Marcos zu mir sagen? Nur für diese eine Nacht?“

Obwohl Julietta die Tänzer beobachtete, war sie sich seines fragenden Blickes und seiner Nähe nur allzu bewusst. Sein Arm fühlte sich unter ihrer Hand hart und stählern an. Durch den Samt seines Ärmels spürte sie seine Wärme und Kraft.

Es schien so einfach für ihn gewesen zu sein, sie zu bitten, ihn beim Vornamen zu nennen – aber dennoch fiel ihr die Antwort schwer.

„Ich … denke schon“, murmelte sie.

Er beugte sich noch weiter zu ihr herunter. Sie fühlte, wie eine sanfte kühle Brise die Locken an ihrer Schläfe berührte, und erzitterte. „Ich denke schon, Marcos“, sprach er leise vor.

Gegen ihren Willen, gegen ihre feste Absicht, immer kühl zu bleiben und Abstand zu bewahren, schwankte sie ein wenig und lehnte sich für den Bruchteil einer Sekunde an seine Schulter. „Ich denke schon, Marcos. Nur für diese Nacht.“

Va bene!“ Er lachte leise. „Und ich werde Euch weiter ‚meine Sonne‘ nennen. Nur für diese Nacht.“ Suchend streckte er den Arm aus, bis er ihre Hand fassen konnte und sich ihre Finger miteinander verbanden. Die seinen waren rau und ein wenig schwielig, was sie wieder daran erinnerte, dass unter seinem kostbaren Samtkostüm ein Seemann steckte. Ein Mann, dessen Leben das Meer und der Wind waren. Und ein Mann, der weniger und zugleich mehr war, als er vorgab zu sein.

Ein Mann, der in diese Nacht der Masken passte.

„Kommt“, sagte er und zog sie bei der Hand. „Lasst uns tanzen.“

Richtig getanzt hatte Julietta lange nicht. Ein Tanz wie eine Volta, mit vielen komplizierten Schritten, war etwas anderes als ein einfacher Reigen. Doch sie folgte Marcos leichtfüßig, bis sie schließlich einen Platz in der Menge fanden.

Die Musik war hier lauter, die Luft heißer und geschwängert mit unzähligen Gerüchen: Der Duft von Rosen, Veilchen, Bergamotte, Orangenblüten und die Ausdünstungen menschlicher Haut trafen auf Juliettas empfindliche Nase. Marcos schlug seinen kurzen Mond- und Sternenumhang nach hinten über die Schultern, legte den Arm um Juliettas Taille und tanzte mit ihr zum Takt der Musik. Ein guter Tänzer war er, stellte sie erstaunt fest. Gewandt, leichtfüßig und dennoch sicher in der Schrittfolge, führte er sie. Weshalb sie darüber so erstaunt war, wusste sie selbst nicht. Bislang hatte er sich doch in allem, was er tat, als äußerst erfahren erwiesen. Im Kampf gegen die Piraten, im Taktieren am Hof des Dogen, beim Schäkern mit Parfümhändlerinnen und deren Dienerinnen – weshalb sollte es beim Tanzen anders sein?

La volta!“, rief die Menge. Marcos umfasste ihre Taille fester und hob Julietta hoch in die Luft, am ausgestreckten Arm hielt er sie dort, während er sich drehte. Schneller und schneller ließ er sie so im Kreis fliegen, bis ihr der Kopf schwirrte und die Menge um sie herum verschwamm. Sie hielt sich an Marcos’ Schulter, legte den Kopf in den Nacken und lachte, während Marcos sie unaufhaltsam herumwirbelte, als sei sie leicht wie eine Feder.

Kaum hatte ihr Schuh wieder den Boden berührt, als erneut der Ruf „La volta!“ ertönte. Und wieder und noch höher diesmal wurde sie in die Lüfte gehoben und gehalten von Marcos’ starkem Arm.

Es war berauschend! Seit ihrer Kindheit glaubte sich Julietta nicht so leicht gefühlt zu haben, so frei, so schwindelerregend glücklich. Nein, nicht einmal als Kind hatte sie sich so gefühlt. Nie zuvor. Und alles nur hervorgerufen durch einen Tanz, ein ungeheures Spektakel von Musik, Licht und Menschen. Unglaublich.

Oder vielleicht doch nicht? Die Musik kam zum Höhepunkt, wurde leiser, und Marcos ließ Julietta wieder auf den Boden. Sie hielt sich an seinen Schultern fest, einen Moment lang spürte sie seinen Körper gegen den ihren gepresst, hart und kräftig. So jung und stark, so warm und lebendig, so vollkommen in ihrer Umarmung. Aber gefährlich, sehr gefährlich.

Julietta sah, dass er sie hinter seiner Maske genau beobachtete. Im Fackellicht leuchteten seine blauen Augen. Eine dunkle Locke hatte sich aus seinem schwarzen Haarband gelöst und lag ihm wie ein schwarzes Fragezeichen auf der Stirn. Julietta spürte, wie ihr Mund plötzlich trocken wurde, und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen.

„Ihr seid ein guter Tänzer“, wisperte sie.

„So wie Ihr, meine Sonne“, gab er zurück.

Von allen Seiten drückten und drängten die Leute, als die Musik zu Ende war. Julietta stolperte. Marcos fing sie auf, hielt sie und drückte sie gegen seine mit Samt bedeckte Brust. Ein reines Bukett von Meerwasser stieg Julietta in die Nase, und obwohl sie doch fest auf dem Boden stand, begann sich die Welt sofort wieder zu drehen.

„Möchtet Ihr noch einmal tanzen?“, fragte Marcos, der fast einen Kopf größer als Julietta war. Dabei war sie schon größer als die meisten Venezianerinnen.

„Ich würde lieber einen Wein trinken.“

Er nahm sie bei der Hand und führte sie sicher vorbei an drängelnden Menschen und sich umarmenden Paaren. „Die Moriska!“, rief jemand, und zugleich waren der helle Klang der Schellen und fröhliches Lachen zu hören.

Am Rande der Piazza fanden sie einen Weinbrunnen. Marcos warf einem Diener eine Münze zu, der ihm sofort zwei Kelche mit dem süßen roten Trunk füllte.

Einen der beiden silbernen Kelche reichte Marcos Julietta, mit dem anderen prostete er ihr zu: „Durmiendo, en fin, fui bien aventurado, y es justo en la mentira ser dichoso quien siempre en la verdad fue desdichado“, zitierte er in melodischem Spanisch.

Julietta nippte an ihrem Wein. Er war mit Zimt gewürzt. „Und was wollt Ihr mir damit sagen?“

„Es ist ein Vers aus einem Gedicht: Im Schlaf fand kurz ich Glückseligkeit. Wahr ist, im Lügen liegt Segen, in der Wahrheit Unglück.“

„In der Wahrheit Unglück“, wiederholte Julietta nachdenklich. „Das stimmt.“

„Es ist aus einem der Sonette von Juan Boscán Almogaver. Er schreibt über den Sinn des Lebens, die Bedeutung von Liebe und Fantasie, Wahrheit und Lüge. All das ist sehr bewegend.“

Also doch nicht nur ein einfacher Seemann. Verbündeter des Dogen, Tänzer, Schöngeist. Was sonst mochte sich wohl noch tief in seiner Seele verbergen? „Ja, das klingt sehr bewegend. Doch leider kenne ich zu wenig von den spanischen Dichtern. Unsere italienischen Dichter, die liebe ich natürlich. Insbesondere Petrarca.“

„Eine äußerst scharfsichtige Wahl, das muss man sagen. Ich wäre gespannt, Eure Meinung über seine Deutung der Mythen von Daphne und Actaeon zu hören“, meinte er grinsend und verlangte zugleich nach einem zweiten Becher Wein, den er in einem Zuge leerte. „Aber nicht heute Nacht, Signora Sole“, fügte er hinzu, während er den Becher beiseitestellte. „Das Thema ist viel zu ernst für ein Fest. Kommt, lasst uns tanzen.“

Lachend und nur allzu gerne ließ sich Julietta von ihm bei der Hand nehmen. Der Wein war ihr zu Kopf gestiegen. Plötzlich fühlte sie sich so unbeschwert und frei, ein wenig schwindelig, aber glücklich. Einfach nur glücklich.

Die Moriska war zu Ende. Die schwungvollen maurischen Klänge mit Schellen und Glöckchen waren übergegangen in den Branle, einen Rundtanz, dessen Schrittfolge außer Schnelligkeit keinerlei Ordnung verlangte. Rasch fanden Julietta und Marcos ihren Platz zwischen den anderen Tänzern. Sie hörte Marcos lachen, ein tiefes fröhliches Lachen, berauschender noch als der Wein, während sie sich an ihm festhielt und ihre Schritte schneller und schneller wurden.

Über der Menge leuchtete im Licht der vielen Fackeln die Basilika–golden, übergroßund unvergänglich. Wie eine göttliche Mahnung, dass menschliches Tun nicht ohne Folgen bleibt, stand sie da. Und dennoch schien sie nicht zu richten. „Seid fröhlich, genießt die Nacht“, schien sie zu sagen. „Ich werde auch morgen noch hier stehen und auf Euch warten. Wie ich immer auf Euch warten werde.“

Auch Juliettas wirkliches Leben würde morgen wieder auf sie warten. So wie es immer auf sie warten würde. Doch heute Nacht – heute Nacht war alles anders. Heute Nacht erlebte sie einen Traum.

Sie tanzten an den Rand der Menge, bis zu einem der Marmorpfeiler an der Terrasse des Dogenpalastes. Lockend schallten das Lachen der Menschen und die Musik zu ihnen herüber, doch hier war es still, hier waren sie allein. Julietta war es heiß. Sie schob ihre Maske zurück, bis sie an den Bändern auf ihrem Rücken baumelte, und lehnte ihren Kopf erschöpft gegen den kühlen Stein.

Auch Marcos nahm seine Maske ab und beobachtete Julietta. Sein Gesicht lag halb im Schatten, sodass sie sein Mienenspiel nicht erkennen konnte. Doch sie fürchtete, dass ihre eigenen Gefühle, eine Mischung aus ablehnender Furcht und aufkeimender Begierde, ihr deutlich im Gesicht geschrieben standen.

Ganz behutsam führte er ihre beiden Hände an seine Lippen und drückte einen Kuss erst auf die eine und dann auf die andere Hand. Einen Moment lang verweilten seine Lippen warm und verführerisch über ihrem Handrücken und hinterließen eine feurige Hitze auf der Haut. Dann, ganz langsam, legte er ihre Handflächen auf seine Wangen. Die Haut fühlte sich weich an und war nur ein wenig rau von seinen Bartstoppeln. Wie kühle Seide strich eine Haarlocke verführerisch über ihr Handgelenk.

„Wer seid Ihr, Julietta Bassano?“, raunte er. „Woher kommt Ihr? Ich könnte schwören, Ihr seid nicht von dieser Welt.“

Juliettas Herz begann wild zu schlagen. Beruhigend drückte er einen Kuss auf ihre zitternde Hand. Was geschah hier? In den dunklen Fängen der Nacht? Sie verstand ihre Gefühle nicht mehr, verstand sich selbst nicht. Nie zuvor hatte sie sich so gefühlt. Kein Spiegel der Wahrheit, keine Karten konnten ihr jetzt helfen. Sie musste sich allein auf ihr verwirrtes, lusterfülltes Inneres verlassen.

„Ich … kam aus Mailand“, wisperte sie schließlich.

Er lachte leise in ihre Hand, und der Klang hallte in ihrem Herzen wider. „Oh nein, Signora Sole. Ihr kamt vom Land der Duende, dem Land der spanischen Elfen. An Euren Augen erkenne ich es. Die Augen einer Sterblichen sind es nicht. Hoffnungslos bin ich Eurem Zauber erlegen.“

Unter ihrem Zauber stand er? Nein, unmöglich! Es war eher andersherum.

Marcos legte seinen Arm um ihre Taille. Näher und näher zog er Julietta zu sich heran, bis nicht einmal Platz für einen Seufzer blieb. Die Spitzen ihrer Robe rieben sich an seinem Samtwams, und seine Lippen, sie waren so nahe. Julietta schloss die Augen, legte den Kopf zurück …

„Ein Liebhaber und sein Mädel, ach ja, ach ja, ein Freier und eine Hur’!“, klang es plötzlich in ihren Ohren, und eine Tamburine wurde über ihnen geschlagen.

Mit einem Satz sprang Julietta zurück. Unmittelbar griff sie nach ihrem Dolch, doch er war nicht da. Ihr ganzer Körper war aufs Äußerste angespannt, ihr war kalt und heiß zugleich. Es war wie ein Hieb mit einem Schwert nach einem so süßen und unbeschwerten Lustgefühl.

Als Marcos’ Umarmung sich lockerte, drückte sich Julietta fest gegen den Steinpfeiler und versuchte, auf Zehenspitzen balancierend über seine Schulter hinweg den Angreifer zu erspähen. Es war kein Soldat und auch kein Mörder. Es war ein Komödiant, ein Harlekin im buntseidenen Narrenkleid, das eng seinen schlanken, großen Körper umspannte. Glänzend fiel ihm das blonde Haar über die Schultern, unterhalb der schwarzen Halbmaske war der breite Clownsmund zu einem schelmischen Grinsen verzogen. Während Julietta den Spaßvogel anstarrte, tanzte er unentwegt um sie und Marcos herum und schlug dabei sein winziges Tamburin.

Schließlich beruhigte sich Julietta. Sie wusste nicht recht, ob sie dem Fremden lieber den Hals umdrehen oder ihm dafür danken sollte, dass er sie aus den fantastischen Karnevalsträumen zurück in die Wirklichkeit gezerrt hatte. Während eines ausgelassenen Festes mochte es verlockend sein, sich selbst im Freudentaumel seiner Begierde für Marcos Antonio Velazquez zu verlieren. Nüchtern betrachtet erschien die Idee aber nicht so weise zu sein. Wie die Akrobaten auf der Piazza über ein Seil balancierten, so war ihr Leben auch ein Wandeln auf schmaler Spur. Ein Fehltritt konnte sich als fatal erweisen.

Sie blickte auf zu Marcos, der schützend den Arm um sie gelegt hatte. Ein leichter rosa Hauch auf den Wangenknochen war das einzige Zeichen von Unmut, das sie erkennen konnte.

„Ich habe selten einen Komödianten erlebt, der so wenig Sinn für den rechten Zeitpunkt besitzt, Nicolai“, sagte Marcos mit täuschend ruhiger Stimme.

Der Harlekin … Nicolai? … hielt lachend in seinem Tanz inne. Die bunten Bänder an seinen Schultern flatterten im flackernden Licht. „Ihr kennt diesen Schurken?“, fragte Julietta verwirrt.

„Leider“, stöhnte Marcos. „Seine eigene Mutter würde ihn bestimmt nicht wiedererkennen, wenn ich ihn jetzt in den Kanal werfen könnte.“ Blitzschnell wollte er mit der freien Hand den Narren bei seinen Bändern packen, aber ebenso geschwind wich ihm Nicolai mit leichten Schritten tänzelnd aus.

„Oho, Il leone! Ist das die rechte Art, einen Freund zu behandeln? Ich fürchtete nur, der Abend sei noch zu früh für dererlei Sittenlosigkeit. Ich wollte nur, dass Ihr Euch Eure Kraft für spätere Unternehmungen bewahrt.“ Geschwind drehte sich Nicolai zu Julietta und grüßte sie mit einer tiefen, gestenreichen Verbeugung.„Ihr seid wohl die liebliche Julietta Bassano. Ein nie zuvor gehabtes Vergnügen, Madonna.“

Unwillkürlich musste Julietta über seine Possen lächeln. Auch wenn sie sie einen dummen, aber dennoch lang ersehnten Kuss gekostet hatten. „Ihr seid im Vorteil, Signore. Ihr kennt meinen Namen, ich den Euren aber nicht.“

„Oh Madonna!“, säuselte Nicolai, dabei hörte sie den leicht fremden Tonfall des kalten Nordens heraus. „Ich zweifle, dass Euch gegenüber jemals jemand im Vorteil sein könnte.“

Julietta runzelte erstaunt die Stirn, als Marcos dem Possenreißer einen herzhaften Stoß versetzte. „Dieser Schurke, wie Ihr ihn so richtig bezeichnet habt, ist Nicolai Ostrovsky, der Leiter jener Gauklertruppe dort drüben.“ Er deutete auf eine Gruppe Schausteller: purzelnde Akrobaten, eine Kolumbine im schwarz-weißen Seidenkostüm, die vorgab, sie nicht zu beobachten, ein Zwerg, der auf einem Seil balancierte, ein dünner Mann mit einer Pestarztmaske und noch einige andere Darsteller.

„Die besten Schausteller des ganzen Landes, Signora“, erklärte Nicolai mit einer erneuten tiefen Verbeugung.

„Da bin ich sicher“, erwiderte Julietta leise.

„Nun habt Ihr genug von unserer Zeit gestohlen, werter Freund“, sagte Marcos und gab Nicolai einen weiteren Schubs. „Ich kam mit der Dame zum Tanzen her.“

„Ach ja, sind wir deshalb nicht alle hier? Doch dieses Fest ist farblos und langweilig. Wir wollten uns gerade auf den Weg machen zu einem ganz anderen, weitaus reizvolleren geselligen Vergnügen. Habt Ihr nicht Lust, uns zu folgen?“

Die beiden Männer sahen einander aufmerksam an, ruhig und beherrscht, so als ständen sie kurz vor … Ja, was nur? Plötzlich wurde Julietta von einer unbändigen Neugier ergriffen. Was verband die beiden Männer? Was ging unter dieser ausgelassenen Oberfläche vor? Was für Pläne konnten ein Kapitän und ein Komödiant miteinander aushecken?

„Oh ja“, willigte sie ein, bevor Marcos antworten konnte. „Sehr gerne würden wir mitkommen, Signor Nicolai. Zeigt uns den Weg.“

8. KAPITEL

Die Gasse, die Nicolai sie entlangführte, war schmal und düster. Von den feuchten Mauern blätterte der Putz, das Kopfsteinpflaster unter Juliettas Schuhen war glatt und glitschig. Selbst bis hier, weit entfernt von den prächtigen Palästen, waren Musik und das ausgelassene Lachen der fröhlichen Menschen zu hören. Aber hier wurde nicht getanzt, die Türen waren verriegelt, die Fensterläden fest verschlossen. Die Gegend war finster und beklemmend still. Das einzige Licht kam von Nicolais Fackel, der einzige Laut von den Schellen an seinem Kostüm.

Julietta blickte nach oben zu den Sternen. Zwischen den hohen stillen Häusern flatterte Wäsche mattweiß auf den Leinen. Es lebten also doch Menschen hier. Menschen, die Hemden, Roben und Beinkleider trugen, und keine Gnomen, die sich in Häute und Felle hüllten.

Schließlich kamen sie zu einer schmalen Mauer, die an einem Kanal entlangführte, und der Blick weitete sich etwas. In der Ferne konnte Julietta die Brücke erkennen, die zum jüdischen Getto führte. Einige Lichter blinkten von dort, und leise, wie von einem anderen Stern klang Musik herüber.

Nicolai sah sich um. Im Schein der flackernden Fackel war ein kurzes Lächeln zu erkennen. „Ihr seid noch da?“, erkundigte er sich mit einem leicht spöttischen Unterton. Vielleicht war es aber auch nur sein eigenartiger fremdländischer Tonfall, der so geheimnisvoll klang. „Keine Angst, wir sind bald am Ziel.“

Einen Moment lang griff Julietta fester in den weichen Samt an Marcos’ Arm. War sie närrisch, diesen Männern zu folgen? Es wäre nicht das erste Mal, dass ihre Neugierde sie in Schwierigkeiten brachte. Mit den Jahren hatte sie doch eigentlich gelernt, ihren Drang zu beherrschen, die Welt in all ihren Facetten kennenlernen zu wollen. Für Menschen, die in einer Welt wie der ihren lebten, konnten solche Wünsche nichts anderes als Ärger und Gefahr, ja letztendlich sogar den Tod bedeuten. Julietta wusste dies alles nur zu genau, und sie hatte durchaus nicht den Drang, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.

Doch manchmal, insbesondere in Nächten wie diesen, da brodelte die Neugier heiß und fordernd in ihr. Obwohl sie nur einen Becher Wein getrunken hatte, fühlte sie sich, als hätte sie sich an einem ganzen Krug gütlich getan. Ihr Kopf war leicht, ihr war warm, und ihr Magen flatterte in Erwartung dessen, was sie hinter der nächsten Ecke erwartete.

Irgendwie schien sie heute Nacht nicht sie selbst zu sein – nicht mehr jener Mensch, zu dem sie sich während der letzten Jahre so beharrlich entwickelt hatte. Sie war wieder besessen von den Geistern ihrer Mutter und ihrer Großmutter, trunken vom Zauber des Monds und der Sterne – und vom Karneval. Entflammt von der Hitze, die Marcos’ Körper ausstrahlte. Eng aneinandergeschmiegt gingen sie durch einen schmalen Durchgang. Morgen würde sie wieder zu sich selbst finden. Und das würde schnell genug sein.

Plötzlich bemerkte sie, dass sie mit den Fingern unablässigüber Marcos’ Ärmel strich. Er lächelte verhalten unter seiner Maske. „Alles in Ordnung, Julietta?“

Sie nickte, ohne ihn anzuschauen. „Ja.“

„Ich kenne Nicolai seit vielen Jahren. Er würde uns niemals in Gefahr bringen. Aber er weiß stets, wo die aufregendsten Feste stattfinden. Seine Freunde sind niemals langweilig.“

„Aufregende Feste mag ich“,antwortete Julietta leise.„Meistens jedenfalls.“

Marcos lachte. Sofort blieb Nicolai stehen und drehte sich um. „Keine Späße, meine Freunde. Nur wenn Ihr mich teilhaben lasst.“ Er ging noch ein paar Schritte, blieb dann vor einer Tür stehen und hielt seine Fackel in die Höhe. Bei Tageslicht war die Tür höchstwahrscheinlich hellgelb. An einigen Stellen war die Farbe abgeblättert. Hoch oben im Holz befand sich ein kleines vergittertes Fenster. „Wir sind da!“

Stille folgte auf sein kurzes stakkatoartiges Klopfen. Es geschah so lange nichts, dass Julietta anfing, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Schon machte sich Enttäuschung in ihr breit. Bilder, wie sie den langen Weg zur Piazza San Marco wieder zurücklegen mussten, ohne auch nur einen kurzen Blick hinter diese Tür geworfen zu haben, gingen ihr durch den Kopf.

Schließlich ein quietschendes Geräusch, ein Klicken, und das Fensterchen wurde aufgeschoben. Hinter dem Gitter tauchte ein blasses Gesicht auf. „Was ist Euer Begehren?“, wisperte eine Stimme.

Salto portego“, antwortete Nicolai. Mit lautem Knall wurde das Fenster geschlossen, und die Türe öffnete sich.

Ängstlich blinzelte Julietta über Nicolais Schultern hinweg in die düstere Behausung. Nur Kerzenlicht an den weiß gekalkten Wänden konnte sie erkennen und eine behandschuhte Hand, die sie hereinwinkte. Es kam ihr vor wie in einer dieser alten Geschichten, in denen die Prinzessin aus unerfindlichen Gründen gefangen gehalten und schließlich von einem tapferen Ritter gerettet wird. Es kam ihr vor wie …

Ja, wie eine der Geschichten, die ihr ihre Großmutter einst erzählt hatte. Unglaubliche Begebenheiten, von denen die alte Frau fest behauptet hatte, sie hätten sich wirklich ereignet. Nie hatte Julietta Derartiges gesehen, geschweige denn davon geträumt, sie würde es einmal erleben. Was würde heute Nacht mit ihr geschehen?

Sie ließ Marcos’ Arm los. Entschlossen trat sie nun über die Schwelle, folgte Nicolai und der schwarz gekleideten Gestalt, die ihnen Einlass gewährt hatte. Marcos war dicht hinter ihr. Seine Hand, die leicht auf ihrer Taille ruhte, gab ihr Sicherheit. In diesem kurzen Moment fühlte sie sich auf ihrem seltsamen Lebensweg einmal bei ihrer Suche nicht allein.

Sie wusste allerdings nicht recht, was sie von der Situation halten sollte. Geschweige denn von Marcos. Alles an ihm erschien ihr geheimnisvoll und eigenartig. Doch über dieses Rätsel nachzudenken war jetzt nicht die Zeit. Ihr Führer lotste sie eine steile Steinstiege hinunter. Die Luft war nasskalt und modrig, so als ob sie geradewegs unter die Stadt oder gar direkt ins Wasser gingen. Selbst Nicolais Schellen waren verstummt.

Am Fuße der Stiege befand sich eine weitere Tür, die ihr Führer schnell aufschloss und dann aufstieß. Auf ihrem Rücken spürte Julietta Marcos’ Hand, die sie durch die Pforte in eine andere Welt schob.

Das Fest auf der Piazza war für Julietta ein Traum gewesen. Doch das hier? Was war das? Ein Trugbild, erzeugt durch opiumgeschwängerten Rauch? Vielleicht eine Traumwelt, heraufbeschworen von einem Zauberer, der versuchte, sie auf Wege zu führen, denen sie nicht folgen durfte. Und wenn sie es doch täte, dann wäre sie verloren.

Unsicher blickte sie zurück zu Marcos, der dicht hinter ihr stand. Seine Miene war völlig ausdruckslos. Und doch erschien er ihr irgendwie erwartungsvoll, als ob er – genau wie sie – am Rande eines Abgrunds stände. Bei der ersten Begegnung war er ihr wie ein Zauberer vorgekommen, mit verführerischem Blick und Magie in den Fingerspitzen. Genau diesen Eindruck hatte sie nun wieder. War er nicht doch ein Zauberer, der Mann mit den hinter der Maske glühenden Augen und dem schwarzen Umhang, auf dem Mond und Sterne leuchteten?

Was geschah mit ihr?

„Schaut, Madonna“, flüsterte Nicolai ihr ins Ohr, während er sie zugleich von ihrem verführerischen Magier fortzog. „Habe ich Euch nicht versprochen, dass unser Fest noch viel verheißungsvoller sein würde als das farbenfrohe Treiben auf der Piazza? Stimmt es nicht?“

Er trat zurück und gewährte ihr den vollen Blick auf die Feier. Sie standen in einem großen rechteckigen Raum ohne Fenster. An den weiß gekalkten Wänden hingen dicke Teppiche, um die Feuchtigkeit zu vertreiben. Dazwischen hingen einige Leuchter, deren Feuerschein die eigenartigen Motive auf den Wandbehängen in schummriges Licht tauchte. Nicht die gemeinhin üblichen Bilder aus der biblischen Geschichte oder den klassischen Mythen waren hier dargestellt. Stattdessen waren seltsame Kreaturen zu sehen, riesige Katzen, Drachen und Einhörner, alle in grellen Farben und umrankt von verschlungenen Figuren aus fremdartigen Blumen und Pflanzen.

Auf dem gefliesten Boden tanzte wie auf der Piazza eine farbenfrohe, ausgelassene Schar zu den melodischen Klängen von Laute, Zimbel und Trommeln. Doch die Tänzer bewegten sich nicht in geordneter Schrittfolge, sondern sie folgten dem wilden Takt der dumpfen Trommeln in eigener Weise. Ungestüm folgten sie der Musik, wirbelten stampfend umher, dass ihre Umhänge und Roben durch den Raum flatterten und flogen wie eine Schar bunter Vögel. Dazu erklangen hell die silbernen Glöckchen, die manche Frauen um die Hand- und Fußgelenke oder am Rocksaum trugen, und folgten genau dem Takt der Instrumente.

In den Ecken des Raumes standen Bronzepfannen, aus denen ein süßlicher Rauch strömte und ein wenig die feuchtkalte Luft vertrieb. Außer ein paar großen Sitzkissen auf dem Boden gab es kein Mobiliar. Julietta ließ ihren Blick über die Kissen schweifen, an den Wänden entlang bis hin zu der niedrigen Decke, die durch einen schwarz-roten Stoffbehang noch niedriger wirkte. Alle Gäste waren maskiert und kostümiert, und auch die, die nicht tanzten, waren offenbar in ausgelassener Stimmung. Noch nie hatte Julietta eine so unbeschwerte Vergnügtheit, eine derartig erfrischend ansteckende Unbekümmertheit erlebt.

Allmählich löste sich ihre Anspannung. Sie lächelte Nicolai zu. „Oh ja, Signore. Ihr habt recht.“

„Ich wusste, dass es Euch hier gefallen würde“, antwortete er. „Ich täusche mich selten in den Menschen. Fragt nur Il leone, Euren Freund.“ Die Kolumbine von der Piazza trat neben Nicolai und schmiegte sich eng an ihn.

„Wir haben auf Euch gewartet, Nicolasha“, säuselte sie, während sie buhlend mit den Fingern über die Bänder an seiner Schulter strich.

Er legte den Arm um ihre schmale Taille. „Tut mir leid, dass ich Euch habe warten lassen, moja dushka. Freunde, genießt den Abend“, rief er, als ein Harlekin ihm seine Kolumbine zum Tanz entführte.

Julietta drehte sich suchend zu Marcos um. Seine tiefblauen Augen beobachteten sie. Mit den Jahren hatte sie eine recht gute Kenntnis im Lesen der menschlichen Mienen entwickelt. Jeder Kunde betrat ihren Laden mit einem speziellen Wunsch, und meist wusste sie, bevor er den Mund aufmachte, was er wollte. Nur Marcos’ Mienenspiel blieb ihr ein Rätsel.

Sehr beunruhigend.

Lächelnd nahm er ihre Hand fest in die seine und drückte einen Kuss auf ihren Handrücken. „Wollt Ihr tanzen?“

Julietta schluckte. Diese hemmungslose Feier, die Berührung seiner Lippen auf ihrer Haut, die wilde, stampfende Musik, der parfümierte Rauch aus dem Kohlebecken, das alles verstärkte das berauschende Gefühl, das sie schon auf dem Weg hierher verspürt hatte. „Jetzt noch nicht“, lehnte sie deshalb ab. „Ich würde mich gerne setzen.“

Marcos nickte und geleitete sie zu einem der Kissen, die an der Wand lagen. Sittsam zog sie den Rock über die Beine, nachdem sie sich auf dem weichen Sitz niedergelassen hatte. Einen kurzen Augenblick lang überkam sie der Wunsch, sich der Länge nach in das seidige Federkissen sinken zu lassen und liegen zu bleiben, bis alle Furcht und Anspannung aus ihr gewichen waren. Doch sie durfte sich nicht gehen lassen. Nicht solange sie sich der Leute um sich herum nicht sicher war.

Marcos hegte solche Zweifel anscheinend nicht. Er machte es sich auf dem Kissen neben ihr bequem, streckte die Beine aus und legte seinen Kopf auf Juliettas spitzenbedeckten Schoß. Mit einer Hand spielte er ganz entspannt mit den Wollfransen am Kissen, und die Augen hinter der Maske fielen ihm zu. Fast erwartete Julietta, ihn wohlig schnurren zu hören, ganz so wie sein Namensvetter, der Löwe. Wie eine Raubkatze lag er da, die sich, zurück von einem siegreichen Beutezug, glücklich und zufrieden ausruhte.

Von diesem Anblick gefesselt, beobachtete Julietta ihn. Eine Weile verfolgte sie das Spiel seiner Finger mit den Fransen. Sie stellte sich vor, wie diese Hand über ihre Haut strich, über ihren Nacken und die Schulter entlang, und wie er ihre Brüste liebkoste, die nach seinen Küssen verlangten …

Julietta holte tief Luft, schloss die Augen und versuchte der Versuchung zu widerstehen. Die Luft war schwer vom Wohlgeruch des Jasmins, von Wein, Rauch und Schweiß. Doch die Augen zu schließen half nicht, ihre Begierde zu vertreiben. Sie wurde nur noch stärker. Schneller und lauter wurde die Trommel geschlagen. Bilder, wie ihre Körper sich in feuchter Hitze im Takt der Musik vereinten, tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Vielleicht war es das, was sie fürchtete. Sie durfte niemals wieder erlauben, dass er sie berührte. Dann würde nämlich die winzige Knospe, die sie mit aller Macht niederhielt, aufbrechen und zu einer vollen, unkontrollierbaren Blüte heranreifen. Sie hatte Angst, die Kontrolle über sich zu verlieren und diesem Zauberer ganz und gar zu verfallen.

„Wein, Madonna?“, schreckte sie eine sanfte Stimme aus ihren Gedanken. Julietta öffnete die Augen. Vor ihr stand eine maskierte Frau, die ein Tablett mit Bechern aus buntem Muranoglas hielt.

Grazie“, dankte Julietta und nahm einen dunkelroten Becher mit weißem Wein entgegen. Während sie vorsichtig daran nippte, bahnte sich die Dienerin wieder ihren Weg durch die fröhliche Menge.

Nie zuvor hatte Julietta einen Wein wie diesen probiert. So verführerisch süß und doch säuerlich wie ein Apfel. Sofort berauschte er sie, heiß strömte er durch ihren Körper. Benommen lehnte sie den Kopf zurück gegen die Wand und streichelte, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit der freien Hand den Kopf auf ihrem Schoß.

Sie öffnete das Band, mit dem das Haar zurückgebunden war, strich mit den Fingern durch die offenen Locken und breitete sie auf ihrem Rock aus. Weich und seidig fühlten sie sich an und doch so dicht und wellig. Wieder fielen ihr die Augen zu. Der klare Duft von Meerwasser stieg ihr in die Nase und vermischte sich mit dem Aroma des Weins und dem süßlichen Rauch im Raum. Sanft drückte sie ihre Finger gegen seine Schläfe, spürte sein pulsierendes Blut.

Wie lebendig er war! Warm und stark und jung. All ihre Sehnsüchte ließ er neu in ihr erwachen, ihren Hunger nach Leben. So lange war sie halb tot gewesen, stets wachsam, aber sicher in der Welt, die sie sich selbst geschaffen hatte. Nie zuvor war sie jemandem begegnet, der so lebendig, so voller Leben wie dieser Mann war. Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass er sie beobachtete. Seine Pupillen waren geweitet, im trüben Licht wirkten seine Augen dunkler und noch unergründlicher.

„Woran denkt Ihr, meine Sonne?“, fragte er leise.

Ja, woran dachte sie? Wie könnte sie ihm erklären, dass sie an ihn dachte, an das Leben, das in seinen Adern pulsierte, an ein Leben, nach dem sie sich verzehrte, das sie in sich aufsaugen und für immer besitzen wollte? Niemals durfte sie ihm das verraten. „Ich denke daran, wie froh ich bin, dass wir heute Nacht Euren Freund Nicolai getroffen haben und dass er uns an diesen Ort gebracht hat.“

„Euch gefällt es hier?“

„Sehr.“ Sie schaute zu den Tänzern, weg von seinem beunruhigend durchdringenden Blick. Die Musik war jetzt noch lauter und ausgelassener, die Trommeln dröhnten, dass selbst die Verstorbenen in ihren Särgen auf der Toteninsel es hören konnten. Mitten in der Menge entdeckte sie Nicolai, mit weit geöffnetem Wams und fliegenden Bändern, die Kolumbine in den Armen. Er sang im Takt der Musik, in seiner eigenen melodischen, fremden Sprache. Julietta verstand die Worte zwar nicht, aber die Melodie sprach zu ihr, spiegelte ihre verwirrten Gefühle wider.

Langsam glitten ihre Finger über Marcos’ leicht stoppelige Wangen und über sein scharfes Kinn. Etwas fester strich sie über die sinnlichen Lippen. Sie waren ein wenig rau, doch weicher, als sie erwartete hatte, fast wie Blütenblätter fühlten sie sich an. Er schluckte hart. Kühl strömte sein Atem über ihre Hand.

Zärtlich streichelte sie ihn weiter bis zu seinen Schultern, erahnte die Muskeln unter dem Samt. Marcos, der bis dahin ganz still gelegen hatte, öffnete die goldenen Ösen an seinem Wams. Die Bänder an dem feinen Leinenhemd waren bereits gelöst. Unter dem weißen Stoff konnte Julietta seine sonnengebräunte Brust erkennen. Sie stellte sich vor, wie er auf seinem Schiff hoch oben im Ausguck thronte, sich in den Wind lehnte und den salzigen Schaum …

In einem Zug leerte sie den restlichen Wein und stellte den Becher neben sich auf den Boden. Sofort kam ein Diener, der den Becher gegen einen vollen tauschte. Wider besseres Wissen – heute Nacht wollte sie übermütig sein – trank sie auch diesen Wein.

Er war süßsauer und anregend wie der letzte. Teufelswein, dachte sie, während sie kichernd daran nippte. Doch eigentlich wusste sie genau, dass es nicht allein der Wein war, der sie so schwindelig machte.

„Habt Ihr einen Schluck übrig für einen durstigen Seemann, Signora?“, bat Marcos und hielt sie am Handgelenk fest.

Julietta blickte in den halb geleerten Becher. „Aber nur, weil der Seemann so freundlich war, mich heute Nacht hierherzubringen.“

Sie hielt den Becher an seine Lippen. Marcos hob den Kopf, um zu trinken. Als der Becher geleert war, bettete er seinen Kopf wieder in ihren Schoß und langte spielerisch nach der goldenen Spitze an einer Falte ihres Rockes.

„Schön, dass es Euch hier gefällt. Nicolai spürt in jeder Stadt die geheimnisvollsten Orte auf.“

Beide Hände in seinen Locken vergraben, lehnte sich Julietta gegen die Wand, schloss die Augen und bewegte sich leicht im Takt der Musik. „Ihr kennt ihn wohl schon lange?“

„Sehr lange“, antwortete er träge. „In einem Bordell in Deutschland haben wir uns kennengelernt. Bei einem Streit … hat Nicolai mir das Leben gerettet. Er hat mir auch einige der … nun ja, weniger anrüchigen Freudenhäuser entlang dem Rhein gezeigt.“

Julietta musste bei der Vorstellung lachen, wie die beiden den Rhein rauf und runter segelten, auf der Suche nach Huren, die keinen Streit vom Zaune brachen und ihren Kunden nicht das Genick brechen wollten.

Marcos grinste.„Ja, ich weiß.Wir waren Narren. Jugendliche Unreife war unsere einzige Entschuldigung. Wir waren sehr jung und dumm.“

„Und jetzt?“

„Jetzt bin ich älter und eine Spur weniger dumm.“

Julietta strich mit einer Fingerspitze über seine leicht gerunzelte Stirn. „Oh ja, Marcos, Ihr seid uralt. Doch sagt, was macht ein Seeheld in Deutschland?“

„Ich habe nicht immer mein Schiff und meine Fähigkeiten im Kampf dem angeboten, der sie sich leisten kann. Einst habe ich für meinen Vater gearbeitet.“

„Euren Vater?“

Er war Kaufmann, ein sehr erfolgreicher. Ihm gehörten viele Schiffe, die in alle Welt segelten, um seltene und kostbare Waren ausfindig zu machen. Schon als Kind nahm er mich mit auf seine Reisen, lehrte mich, das Meer zu beobachten und unseren Kurs nach den Launen der See zu bestimmen. Zusammen mit ihm habe ich viele Länder der Welt kennengelernt, Deutschland war nur eines davon.“

Schweigend hörte Julietta zu. Anregend und fesselnd war dieser winzige Blick in das Leben des Il leone. Er war ein Mensch, geboren von sterblichen Eltern! Eine Kindheit mit Reisen und Abenteuern. Beneidenswert. Er hatte die Welt gesehen, sie kannte nur den Palazzo ihrer Familie in Mailand. Ihre Sinne waren nur von den Geschichten ihrer Großmutter genährt worden. „Das hört sich fantastisch an.“

Marcos lachte. „Oh ja, das war es. Aber manchmal war es auch hart. Das Meer ist eine fantastische Geliebte, aber zugleich auch eine launische Göttin, die den Seefahrer in einem Moment liebkost und im nächsten sein Schiff zum Kentern bringt. Mein Vater pflegte immer zu sagen: Das Meer weiß,was es will, es hat seinen eigenen Kopf.“

„Und was wollte er damit sagen?“

„Wenn man für ein Leben auf See geboren ist, dann kann man nicht gegen das Meer kämpfen und ihm auch nicht entrinnen. Und er hatte recht. Ich liebe das Leben auf dem Meer und auf den Schiffen. Für mich besitzt die See eine Anziehungskraft, von der ich mich nicht befreien kann. Nicht ganz. Doch …“ Er verstummte, und Julietta sah, wie seine Mundwinkel nach unten sanken.

„Doch was?“, fragte sie ungeduldig.

„Doch es ist ein hartes Leben. Das wusste mein Vater nur zu gut. Am Ende hat ihn die See auch zu sich geholt. Meine Mutter wünschte, dass ich ein Mann der Kirche würde. Ich denke, mein Vater wäre auch erleichtert gewesen, wenn ich diesen Weg gegangen wäre. Es wäre ein sicheres, ein regelmäßigeres Leben gewesen. Aber er wusste auch, dass ich, genauso wie er, die See in meiner Seele habe und dass man dagegen nichts machen kann.“

Belustigt stellte Julietta sich ihn mit Tonsur und in derber schwarzer Kutte vor, wie er einer verzückten weiblichen Gemeinde die Hostie austeilte. „Wäret Ihr ein guter Kirchenmann geworden, Il leone?“

„Zweifelt Ihr etwa daran?“, fragte er mit breitem Piraten-grinsen. Er hörte auf, mit der Falte an ihrem Kleid zu spielen, und begann, in zarten, verführerisch kreisenden Bewegungen über den Stoff an ihrem Bein zu streichen. Ein Gefühl, das Julietta zitternd nach Atem ringen ließ.

„Ich denke, Ihr hättet einen guten Kardinal in Rom abgegeben“, wisperte sie und ließ sich mit geschlossenen Augen auf einer Gefühlswoge davontragen. „Vielleicht sogar einen guten Papst.“

„Ja, Papst wäre ich schon ganz gerne. Aber noch lieber bin ich ein Seemann, insbesondere in diesem Moment.“ Sie spürte, wie er sich neben ihr auf dem Kissen aufsetzte. Dann legte er seine Hand um ihre Taille und zog sie fest an sich.

„Und weshalb?“, murmelte sie. Der Wein, seine Umarmung, sein Duft und seine Körperwärme machten sie erneut ganz schwindelig.

„Weil ich als Kirchenmann jetzt nicht hier in Venedig wäre, nicht in diesem Raum und nicht bei Euch.“

„Na, dann wäret Ihr in Eurem päpstlichen Palast mit einer viel schöneren Frau zusammen.“

Seine Lippen berührten ihre Schläfe direkt über ihrer Maske. „Unmöglich. Es gibt keine schönere Frau als die Sonne.“ Seine Hand glitt von ihrer Taille hinunter, er griff nach dem Saum ihres Kleides und zog ihn ganz langsam in die Höhe, bis er das Strumpfband an der empfindlichen Stelle über ihrem Knie erreicht hatte.

„Wollt Ihr mich verführen?“, raunte sie.

Er lachte in ihr Haar hinein. „Warum nicht?“

Autor

Amanda McCabe
Amanda McCabe schrieb ihren ersten romantischen Roman – ein gewaltiges Epos, in den Hauptrollen ihre Freunde – im Alter von sechzehn Jahren heimlich in den Mathematikstunden.
Seitdem hatte sie mit Algebra nicht mehr viel am Hut, aber ihre Werke waren nominiert für zahlreiche Auszeichnungen unter anderem den RITA Award.
Mit einer...
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Anne Herries

Anne Herries ist die Tochter einer Lehrerin und eines Damen Friseurs. Nachdem sie mit 15 von der High School abging, arbeitete sie bis zu ihrer Hochzeit bei ihrem Vater im Laden. Dann führte sie ihren eigenen Friseur Salon, welchen sie jedoch aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen und ihrem...

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