Liebe ist nichts für Idioten

– oder –

 

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Bei der Suche nach der großen Liebe verlässt sich Mel auf die Dating-App Fluttr - bislang war Mr. Perfect noch nicht dabei. Nach einer schiefgelaufenen Verabredung und einem unerwünschten dick pic zu viel reicht es Mel. Um ihren Geschlechtsgenossinnen einen Liebesreinfall zu ersparen, programmiert sie eine Webseite namens »IdiotenAlarm«. Über Nacht wird das Männerwarnsystem zu einem riesigen Erfolg. Selbst in Herzensdingen scheint es einen Lichtblick zu geben, in der Gestalt des attraktiven Alex. Aber dann entdeckt Mel ausgerechnet Alex auf der Webseite. Spielt er vielleicht nur mit ihr?


  • Erscheinungstag 17.12.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750553
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Emilio.

Ich bin so dankbar,
dass uns das Internet zusammengebracht hat.

1

Glaube nichts, was du im Internet liest.

Das ist ein vernünftiger Ratschlag. Ich hatte ihn irgendwo gelesen; möglicherweise im Internet. Aber ich hatte ihn, bis zu dem Abend, an dem ich von Brandon, 26, aus Brooklyn versetzt wurde, nicht ernst genommen.

Laut Selbstbeschreibung war Brandon »ein Adrenalinjunkie, der den Nervenkitzel suchte, der für den Moment lebte und mit ganzer Seele liebte«. Das hätte schon der erste Hinweis für mich sein müssen, dass er nur Mist laberte.

Während ich allein an der Theke saß und in mein leeres Cocktailglas starrte, verfluchte ich mich zunächst erst einmal selbst dafür, dass ich mich auf dieses Date eingelassen hatte. Normalerweise verplemperte ich keinen Freitagabend, indem ich mich mit irgendeinem Typen traf, mit dem ich laut Internet angeblich zusammenpasste. Für ein erstes Date waren normalerweise Dienstag- oder Mittwochabende reserviert, weil da fast nie etwas Besseres los war. Doch als Brandons schönes, bärtiges Gesicht auf meinem Display auftauchte und mich fragte, ob ich mit ihm in einer Bar im Financial District, kurz FiDi, etwas trinken gehen wolle, fand ich, dass es nicht schaden konnte, einmal eine Ausnahme von meiner Regel zu machen.

Das war ein Anfängerfehler.

Ich tippte auf meinem Handy herum und starrte auf das Display. Es war achtzehn Minuten nach sechs. Die letzte Nachricht von Brandon hatte ich um 14.37 Uhr erhalten: Wir treffen uns um sechs im Barley House.

Vielleicht hatte er sich einfach nur verspätet. Ich schrieb ihm zurück: Bleibt es bei heute Abend?

Ich wartete vergebens auf eine Antwort.

»Noch einen Wodka Soda?« Der Barkeeper räumte mein Glas ab und säuberte die lackierte Holzoberfläche des Tresens. Ich hatte die Wahl: In Würde fliehen und Whitney suchen, die wahrscheinlich irgendwo die Lower East Side aufmischte. Oder Brandon aus Brooklyn doch einen Vertrauensbonus gewähren und ein weiteres Getränk zu mir nehmen, während ich auf ihn wartete. Ich wischte durch seine Profilfotos und verspürte beim Anblick seiner Schmolllippen und seiner Augen ein Kribbeln.

»Klar, ich trinke noch einen.« Ja, er hatte sich vermutlich nur verspätet. Schließlich waren wir hier in New York. Da gab es Millionen Dinge, die ihn daran hindern konnten, pünktlich zu sein: Zugausfälle wegen irgendwelcher Pannen, Staus, Straßensperrungen wegen polizeilicher Maßnahmen. Ich musste aufhören, so misstrauisch zu sein.

Dennoch schwirrten mir Whitneys Worte durch den Kopf: nicht alles auf eine Karte setzen. Also stürzte ich mich auf die Fluttr-App und sah nach, ob es in meiner unmittelbaren Nähe noch ein paar potenzielle Liebeskandidaten gab.

Fluttr war dieser Tage die erste Wahl. Die App war nichts Besonderes – sie funktionierte wie jede andere Dating-App, die ich schon ausprobiert hatte: Man postete ein paar nicht-ganz-so-schreckliche Fotos von sich. Gab Namen, Alter und Ort ein. Dann wischte man durch das scheinbar nie enden wollende Heer von verfügbaren Männern. Nach links hieß Nein, nach rechts Ja, und wenn man einen Typen nach rechts wischte, der ebenfalls nach rechts gewischt hatte, konnte man sich über die App direkt schreiben. Einfach, geradeheraus und kein bisschen originell, doch aus unerfindlichen Gründen total beliebt. Es waren mehr Menschen bei Fluttr registriert als bei irgendeiner anderen Dating-App in der Stadt.

Bis jetzt hatte ich noch nicht viel Glück damit gehabt. Die meisten meiner Matches hatten zu enttäuschenden ersten Dates geführt. Oder zu end- und sinnlosen Nachrichten, oder gelegentlich auch zu einem ungebetenen Schwanzfoto. Aber bei so vielen Männern, die zur Auswahl standen, war ich mir noch immer sicher, dass Mr. Right nur einen Wisch von mir entfernt war.

»Bitte schön.« Der Barkeeper stellte das Getränk auf einen frischen Papieruntersetzer. Der erste Schluck machte mich ganz benebelt. Zeit weiterzuwischen.

Typ Nummer eins war oben ohne. Wisch nach links.

Typ Nummer zwei hing an einer Bierbong. Wisch nach links.

Typ Nummer drei stand zwischen zwei Bikinischönheiten. Wisch nach links.

Endlich gab es Hoffnung. Und zwar in Form von Joe, 25, aus Murray Hill. Haselnussbraune Augen, dichtes schwarzes Haar und ein perfekter Drei-Tage-Bart. Weit und breit weder Alkohol noch Mädchen zu entdecken. Und er trug einen Pulli. Wisch nach rechts.

Über mein Display rieselte digitales Konfetti. Fluttr verkündete: Das ist ein Match!

»Melanie?«

Aha! Meine Geduld und mein Vertrauen zahlten sich aus. Ich sperrte schnell mein Handy und drehte mich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Der Typ, der mich angesprochen hatte, war allerdings gar nicht Brandon aus Brooklyn. Es war Alex Hernandez, ein neuer Kollege aus meinem Büro und ein nettes Männerexemplar.

»Hallo.« Das Wort schien mir über die Stimmbänder zu stolpern. Ich war überrascht, dass er sich an meinen Namen erinnerte. Wir waren uns vor ein paar Wochen anlässlich seiner Begrüßungsrunde durch die Firma kurz vorgestellt worden, hatten seitdem jedoch nicht mehr miteinander gesprochen.

Dennoch hatte er bei mir einen großen Eindruck hinterlassen. In einem Büro voller Computernerds war Alex’ Stil außergewöhnlich: hinreißend zerzaustes Haar, perfekt verwaschene Jeans, Button-Down-Hemd, das makellos an seinem schlanken, festen Oberkörper saß. Ich hatte ihn wiedersehen wollen, aber mir war nie ein guter Grund eingefallen, ihn an seinem Platz zu besuchen oder eine nette Unterhaltung mit ihm anzufangen. Wenn ich gewusst hätte, dass er im Barley House abhing, dann wäre ich schon viel früher mal hierhergekommen.

»Macht es dir was aus, wenn ich mich zu dir setze?«, fragte er.

»Natürlich nicht.«

Er hängte die Laptoptasche über die Lehne des Barhockers und glitt auf den Sitz. Ich spielte mit meinem Ohrring und bemühte mich, möglichst lässig zu wirken. Das war schwierig, wenn man bedachte, dass Alex Hernandez bloß wenige Zentimeter von mir entfernt war. Er roch nach Leder und Nelken. Ich hätte gewettet, dass sich seine Haut warm anfühlte.

»Wie ist es so beim Helpdesk?«

Alex bezog sich natürlich auf meine Rolle bei Hatch. Wenn irgendein Mitarbeiter Ärger mit seinem PC hatte – eine kaputte Maus, eine veraltete Word-Version, ein Virus, den er sich aus Versehen von einer infizierten Website runtergeladen hatte –, war ich diejenige, die das Problem löste.

»Normal«, erwiderte ich. »Gut. Viel los. Nichts Besonderes.«

»Cool. Was machst du so allein hier?«

»Ich bin nicht allein.« Natürlich war ich ganz offensichtlich allein, aber ich wollte nicht, dass Alex mich für eine Versagerin hielt, die freitagabends einsam in Bars herumhing. Dann erinnerte ich mich, weshalb ich tatsächlich hier war: um einen Typen von Fluttr zu treffen, der wahrscheinlich gerade dabei war, mich zu versetzen. »Ich treffe mich mit jemandem. Vielleicht.«

»Vielleicht.«

Ein weiterer Fehler: sich mit einem Date in fußläufiger Nähe des Büros zu verabreden. Ich arbeitete in der Water Street, gleich beim South Street Seaport, was hieß, dass sich die meisten meiner Kollegen hier in den Bars in der kopfsteingepflasterten Straße rings um Pier 17 ihre Happy-Hour-Drinks genehmigten. Das Barley House lag weiter westlich, näher an der Börse, in einem versteckten Winkel der Maiden Lane, weshalb ich gehofft hatte, ich wäre hier in Sicherheit. Ich dachte, ich würde in ein Meer von Brokern im Feierabendmodus eintauchen, die das Ende ihrer Arbeitswoche feierten. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Laden halb leer sein würde oder dass mein heimlicher Büroschwarm reinkommen und sich neben mich setzen würde.

Statt ihm ehrlich zu antworten und die beschämende Wahrheit zu sagen, konterte ich mit einer Gegenfrage. »Ist das hier ein heimlicher Treffpunkt von Hatch, von dem ich noch nie gehört habe?«

»Nee, außer mir geht hier nie jemand hin. Ich wohne die Straße runter und bin immer hier. Nach dem Tag heute brauche ich was Ordentliches zu trinken.« Er winkte dem Barkeeper und bestellte einen Maker’s Mark auf Eis, danach wandte er sich wieder mir zu. »Möchtest du noch etwas?«

»Nein, danke.« Mir war bereits der zweite Wodka Soda zu Kopf gestiegen. Ich bezweifelte, dass ich in der Lage sein würde, ihn auszutrinken. »Warum hattest du einen schlechten Tag?«

Verzweifelt stöhnte er auf. »Eine Entwicklung ging voll in die Hose. Ich musste in letzter Minute noch eine Fehlerbehebung programmieren, aber dabei habe ich einen weiteren Fehler reingebaut.« Der Barkeeper brachte Alex’ Whiskey, und Alex trank hastig einen Schluck. »Am Ende habe ich es zwar dennoch alles noch hingekriegt, aber da waren alle schon ziemlich angefressen.«

»Das ist Mist.«

»Nicht witzig.« Er strich sich durch die dichten dunklen Locken. »Und es war auch nicht gerade hilfreich, dass Greg eine riesige Tasse Kaffee über seinen brandneuen Laptop gekippt hat.«

»Ja. Das Teil ist hinüber.«

Die Kaffee-Geschichte hatte mich tatsächlich den ganzen Vormittag beschäftigt. Greg war mit einem langen Gesicht und seinem Viertausend-Dollar-Laptop, den er an der Ecke des gesprungenen Bildschirms festhielt, in mein Büro gekommen. »Äh … ich habe was verschüttet«, hatte er gesagt, als ob man das nicht auch so schon gesehen hätte, weil aus der Tastatur Flüssigkeit auf den Teppich tropfte.

»Und was ist mit dem gesprungenen Bildschirm?«, fragte ich und nahm ihm freundlich das Notebook aus den Händen, um es auf meinem Tisch abzustellen.

»Ach … ist mir runtergefallen.«

Für einen Mann, der das Hirn eines florierenden Unternehmens sein wollte, wirkte Greg nicht besonders helle.

»Gib mir ein paar Stunden«, bat ich ihn. »Ich kann versuchen, die Festplatte zu retten und in einen neuen Computer einzubauen.«

»Äh … aha.« Er war schon wieder mit seinem Handy beschäftigt und scrollte durch etwas, das aussah wie ein Reddit-Thread. »Schick mir eine Nachricht, wenn du fertig bist. Ich bin … unterwegs.« Beim Weggehen war er gegen die Trennwand meines Büros gestoßen.

Offen gestanden, war die ganze Sache zum Lachen, wenn man bedachte, dass Greg es immer wieder schaffte, sich hunderttausend Dollar an Fördermitteln von Investoren zu sichern, ohne viel Ahnung von irgendwas zu haben. Aber als ich Alex’ Gesicht sah, verkniff ich mir das Lachen. Für ihn war das natürlich nicht lustig.

Obwohl Alex und ich im selben Büro arbeiteten, hatten wir sehr unterschiedliche Aufgabenbereiche. Ich arbeitete für Hatch, ein Start-up-Gründerzentrum, das App-Entwicklern mit großen Ideen Anschubfinanzierung und Büroplätze zur Verfügung stellte. Diese App-Entwickler wurden bei Hatch dermaßen gehätschelt, dass man sie auch Hätschelkinder nannte. Meine Aufgabe war es, diese Hätschelkinder bei ihrer täglichen Arbeit zu unterstützen. Ich bezog ein regelmäßiges Gehalt, hatte zwei Wochen bezahlten Urlaub und eine tolle Zahnzusatzversicherung.

Alex gehörte ebenfalls zu diesen App-Entwicklern mit den großen Ideen. Greg war sein Partner. Sie befanden sich schon seit ein paar Wochen in ihrer dreimonatigen Gründungsphase, was hieß, dass ihnen nur noch eine kurze Zeit blieb, ihre App zu perfektionieren. Dann würden sie ihr finales Projekt wichtigen Investoren von Venture-Capital-Firmen aus dem ganzen Land vorstellen. Wenn ihr Demo versagte, wäre das dann das Aus. Sie würden aus dem Hatch-Programm rausfliegen und müssten mit etwas Neuem woanders von vorne anfangen. Ich wäre allerdings immer noch bei Hatch und würde mein Gehalt kriegen, und die kaputten Laptops von neuen Möchtegern-Start-up-Gründern reparieren.

»Wie geht es mit eurem Projekt voran?«, fragte ich. »Wie heißt eure App noch mal? Sorry, das sollte ich vermutlich längst wissen.«

Er machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. »Es gibt im Augenblick gut zwei Dutzend Start-ups bei Hatch. Ich nehme es dir nicht übel, wenn du da nicht alle im Kopf hast. Wir heißen Fizz.«

»Fizz. Und … was macht Fizz?«

»Es ist eine Fahrgemeinschafts-App.«

»Das ist cool.« Wenn auch nicht sonderlich originell.

»Es ist ganz in Ordnung.« Er zuckte mit den Schultern und trank einen großen Schluck Bourbon. »Um ehrlich zu sein, es geht nicht so gut voran.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Schon gut. Selbst bei einem Totalversagen bedeutet Hatch auf jeden Fall, einen Fuß in der Tür zu haben. Kontakt zur Start-up-Community. Ich bin erst sechsundzwanzig. Es wird noch eine Menge anderer Gelegenheiten geben.« Er runzelte leicht die Stirn, als ob ihm gerade aufging, dass Versagen keineswegs eine Option wäre. »Ich meine, das ist vermutlich der Grund, weshalb du beim Helpdesk arbeitest, stimmt’s? Ein erster Karriereschritt vor der nächsten Stufe.«

»Stimmt.« Eigentlich stimmte das nicht. Ich arbeitete bei Hatch, weil Hatch das erste Unternehmen gewesen war, das mir nach der Uni einen Job angeboten hatte, und ich dem Gehaltsgaul nicht ins Maul schauen wollte. Nicht, solange mich die Rückzahlung des Studentendarlehens erdrückte. Außerdem konnte man sich die Mieten in New York auch nicht gerade eben mal so leisten. Ich machte mir keine Gedanken über meine Karriereplanung. Ich war vielmehr darüber besorgt, wie ich meine Rechnungen bezahlen sollte. Ich hatte vor vier Jahren bei Hatch angefangen. Jetzt war ich genauso alt wie Alex und immer noch in derselben Position wie nach dem College, ohne Ziele oder Träume, die über meinen Sackgassen-Job hinausgingen.

Manchmal dachte ich, es wäre nett, eine Vision zu haben, anstatt kaputte Laptops von Visionären wieder zum Laufen zu bringen. Doch es war auch nicht so, dass ich eine tolle Idee gehabt hätte, die es wert gewesen wäre, sie zu verfolgen. Daher war die Arbeit beim Helpdesk genau mein Platz.

»Also«, sagte er, »wo ist der, mit dem du dich vielleicht treffen wolltest?«

Ich blickte auf mein Handy, tippte gegen das Display, in der Hoffnung, eine Nachricht von Brandon erhalten zu haben. »Ich bin mir nicht sicher.«

»Ich bin jedenfalls froh, dass wir mal ein bisschen Zeit haben, uns zu unterhalten.«

Unwillkürlich musste ich lächeln. »Echt?«

»Ja.« Er erwiderte mein Grinsen. »Du weißt, dass wir erst einmal miteinander gesprochen haben, und das auch nur flüchtig. Ich wollte immer mal bei dir vorbeikommen und Hallo sagen, aber mir fiel nie ein guter Grund ein. Vielleicht können wir nächste Woche mal zusammen die Mittagspause verbringen? Falls du Lust hast.«

»Klar.« Ich musste mich zusammenreißen, um nicht loszukreischen. Alex Hernandez flirtete mit mir. Ich meine, das passierte hier doch gerade, oder? Nach anderthalb Wodka Soda war das schwer zu beurteilen. Vielleicht spielte der Alkohol meinem Ego Streiche. Vielleicht war nur der Wunsch der Vater des Gedankens.

Dennoch wich er meinem Blick nicht aus, nicht einmal als er das Glas Bourbon an den Mund führte und einen langen Schluck trank. Er schluckte und leckte sich über die Lippen. Mein Blick verfolgte die Bewegungen seiner Zungenspitze. Er flirtete mit mir. Da gab es keine Zweifel.

Vielleicht war es ein Segen, dass ich versetzt worden war. Ich war tatsächlich froh, dass Brandon aus Brooklyn nicht auftauchte. Denn Alex war hier. Aus Fleisch und Blut. Das war weitaus besser als ein virtueller Fluttr-Flirt.

Gerade als ich anfing, mir den Verlauf des restlichen Abends auszumalen – Essen bei Kerzenschein, romantischer Spaziergang am Fluss, eine Taxifahrt, bei der es zwischen uns nur so knisterte, zu ihm nach Hause –, rief eine näselnde Stimme von der anderen Seite der Bar seinen Namen. Er richtete sich sofort auf. Ich drehte mich um und entdeckte eine langbeinige Brünette, die auf uns zustöckelte. Oder besser, die auf Alex zu stöckelte.

»Hallo.« Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund und hinterließ einen himbeerfarbenen Lippenstiftabdruck. Alex wirkte wie belämmert. Das war ja auch klar. Er hatte hinter dem Rücken seiner Freundin mit einer Kollegin geflirtet. Arschloch.

Er wischte sich den Lippenstift mit den Fingerspitzen weg. »Jenny, das ist Melanie. Wir arbeiten zusammen. Melanie, das ist Jenny.«

Sie lächelte höflich, und wir reichten uns die Hand. »Hallo.«

»Hallo.«

Jenny setzte sich auf den Barhocker neben Alex, der mit geschlossenen Augen den Rest seines Maker’s Mark herunterkippte. Sie sah mich an ihm vorbei an und verzog die himbeerfarbenen Lippen zu einem höflichen, aber dennoch kühlen Lächeln. Das war vermutlich ein Zeichen, dass ich jetzt verschwinden sollte.

Ich tippte auf meinem Handy herum. Es war zwanzig vor sieben. Jetzt konnte man mit Sicherheit sagen, dass Brandon aus Brooklyn nicht mehr auftauchen würde. Arschloch.

»Kann ich zahlen, bitte?« Ich wedelte wie eine Verrückte mit dem Arm, um die Aufmerksamkeit des Barkeepers auf mich zu ziehen. Danach schrieb ich Whitney eine Nachricht: »Wo bist du?«

In der Zwischenzeit flüsterte Alex etwas, und Jenny lachte wie blöd. Der Barkeeper brachte mir die Rechnung. Ich knallte ihm meine Kreditkarte hin und tat so, als ob ich das, was vermutlich das Vorspiel war, gar nicht bemerkte.

Gott, war ich eine Idiotin.

Mein Handy vibrierte. Eine Nachricht von Whitney.

Ist deine Verabredung schon vorbei? Muss übel gewesen sein. Wir sind im Verlaine. Komm!!!

Ich antwortete: Schon unterwegs.

Rasch unterschrieb ich die Rechnung. Als ich aufstand, schabten die Füße des Barhockers über den Boden. Bei dem Geräusch wandte Alex den Kopf. »Gehst du?«, fragte er und wirkte irgendwie überrascht.

»Jep.« Unfähig, ihm in die Augen zu schauen, sah ich stattdessen Jenny an. »Schön, dich kennengelernt zu haben, Jenny.«

Ihr Lächeln wurde weicher. »Gleichfalls.«

Ich hatte schon den halben Weg nach draußen geschafft, da rief Alex hinter mir her: »Wir sehen uns Montag, Melanie.« Zu erschrocken, eine passende Antwort zu formulieren, winkte ich ihm halbherzig zu und flüchtete aus der Bar. Nie wieder Fluttr, dachte ich.

2

Sobald ich das Verlaine betrat, entdeckte ich sie auch schon. Sie gluckten an einem Ende der langen Plüschbank, die über die ganze Wand der Bar reichte, zusammen. Lia redete, und dem sehnsüchtigen Lächeln auf ihren Lippen nach zu urteilen, hatte es vermutlich etwas mit ihrem neuen Freund Jay zu tun. Dani hockte neben ihr, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und hörte ihr aufmerksam zu. Daneben saß Whitney, den Raum mit Blicken nach etwas Interessanterem absuchend. Als sie mich sah, riss sie ihren mit Armreifen behängten Arm nach oben.

»Mel!« Ihre Stimme erhob sich über Musik und Stimmengewirr. Dani und Lia schauten hoch, und ich winkte ihnen über die Köpfe der Menge hinweg zu.

»Hey.« Ich quetschte mich neben Whit und stieß dabei aus Versehen gegen den Mann, der sich neben ihr befand. »Entschuldigung«, sagte ich.

»Keine Ursache«, erwiderte er. Dem glasigen Blick nach zu urteilen, hatte er bereits eindeutig die Vorteile des Happy-Hour-Specials ausgekostet. »Du darfst mich jederzeit anstoßen, Baby.«

Eklig.

Ich wich vor ihm zurück und rückte näher an meine Freundinnen heran. »Was geht?«

»Lia hat uns gerade von ihrem bevorstehenden Mexiko-Abenteuer erzählt«, informierte Dani mich.

»Mexiko? Wow.«

»Cabo«, erwiderte Lia. »Jay nimmt mich in seinen superexklusiven Club direkt am Strand mit.«

Natürlich tat er das. Jay überschüttete Lia immer mit wohlüberlegten, teuren Geschenken. Abendessen in hippen Restaurants. Erste-Reihe-Plätze in Broadwayshows, die eigentlich seit Monaten ausverkauft waren. Schmuck, der mehr kostet als ein Semester am College. Da waren Luxusferien der nächste logische Schritt.

Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich nicht ein bisschen eifersüchtig gewesen wäre. Nachdem ich mich seit Jahren mit einem Versager nach dem anderen traf, war es hart, Lias glücklichen Gesichtsausdruck zu sehen und nicht zu denken: Warum passiert mir das nicht? Aber ihre Beziehung gab mir auch Hoffnung. Vor kaum zweieinhalb Monaten hatte Lia Jay auf Fluttr kennnengelernt. Jetzt waren sie also auf dem Weg an den Strand von Mexiko. Wenn das bei ihr geklappt hatte, dann müsste es auch bei mir klappen können. Es existierte doch sicher noch mindestens ein vernünftiger Mann, der mit dieser App aufgespürt werden konnte. Vielleicht sollte ich einfach nicht so schnell aufgeben.

Vor uns auf dem Tisch verkümmerte eine einsame Frühlingsrolle auf einem Porzellanteller. Es sah aus, als ob sie schon eine Weile so daläge. Die Kräuter waren verwelkt, und auf der Soße zum Dippen hatte sich schon eine Haut gebildet. Doch angesichts der Tatsache, dass ich seit meinem üblichen Erdnussbuttersandwich am Nachmittag nichts mehr gegessen hatte, fing mein Magen bei dem Anblick an zu knurren.

»Isst das noch jemand?« Ich wartete die Antwort gar nicht erst ab, nahm die Frühlingsrolle und stopfte sie mir in den Mund. Nicht die frischste Frühlingsrolle, die ich je gegessen hatte, die Karotten allerdings waren immer noch ein bisschen knackig, und mein Magen verstummte.

Als Lia nicht müde wurde, vom Schnorcheln und Spaziergängen bei Sonnenuntergang zu schwärmen, fragte ich mich, ob ich je in meinem Leben die Gelegenheit dazu bekommen würde, in einem exklusiven Ferienresort in Cabo zu übernachten. Vermutlich nicht. Denn das hätte vorausgesetzt, dass man Geld hatte, oder, falls das nicht der Fall war, einen Mann, der einem so etwas bezahlte. So wie die Sache bisher aussah, würde ich jedoch bis an mein Lebensende eher Single und verschuldet bleiben.

Ein Kellner näherte sich und räumte Gläser und Teller weg. »Noch eine Runde, Ladys?«

»Na klar!«, rief Whitney begeistert, bevor sie sich zu mir umdrehte. »Du hattest heute also wieder mal ein richtig mieses Date?«

»So in etwa. Aber wiederum auch nicht.«

»Was bedeutet das? Entweder war es mies oder nicht.«

Daraufhin fixierten mich drei neugierige Augenpaare. Ich erstarrte, weil es mir plötzlich unangenehm war zuzugeben, dass man mich versetzt hatte. Ich hatte das Gefühl, dass das ein wenig schmeichelhaftes Licht auf mich warf. Obwohl das lächerlich war, weil Brandon aus Brooklyn außer meinem Namen, dem Alter und dem Ort, an dem wir uns treffen wollten, nichts über mich wusste. Unsere kurze Unterhaltung hatte sich vollständig in der virtuellen Welt abgespielt. Doch wenn man es laut aussprach, wurde es real.

Unglücklicherweise durchschaute mich Lia sofort. »Er ist gar nicht gekommen, stimmt’s?«

Ich seufzte. »Nee.«

Meine Freundinnen stöhnten alle gleichzeitig auf. »Scheißkerl!«, schrie Whit. Lia streckte den Arm aus, legte mir tröstlich die Hand aufs Knie. »Tut mir leid«, meinte sie. »Wenn es dich irgendwie tröstet, das ist mir auch schon passiert.«

»Echt?«

»Ja. Kurz bevor ich Jay kennenlernte. Dieser Typ und ich hatten uns auf einen Drink im Village verabredet. Aber dann hat er mich total versetzt.«

»Hieß er zufällig Brandon?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, kann ich mich jetzt nicht mehr daran erinnern. Es kommt mir vor, als wäre das in einem anderen Leben passiert.«

»Männer sind schrecklich«, fiel Whit ihr ins Wort.

»Nicht alle Männer«, korrigierte Lia sie. »Du kennst den Spruch – dass du eine Menge Frösche küssen musst, bevor du deinen Prinzen findest.«

Oh, stimmt. Das Märchen von Prinz Charming. Die absurde Vorstellung, dass es da draußen den perfekten Mann gab, der dir all deine Wünsche und Träume erfüllen würde. Es schien ein bisschen weit hergeholt zu sein, zu glauben, dass da draußen genügend dieser Prinzen herumliefen, um alle Frauen dieser Welt zufriedenzustellen. Auch war es doch eher unwahrscheinlich, dass sie auf Fluttr herumhingen und darauf warteten, dass du mit einem Zeigefingerwisch über sie stolperst.

»Nein. Whit hat recht«, entgegnete ich. »Männer sind schrecklich.«

»Obwohl das nicht nur auf Männer zutrifft«, mischte sich Dani ein. »Ich werde auf Iris ständig von irgendwelchen komischen Frauen heimgesucht.«

»Was ist Iris?«, fragte Lia.

»Eine neue Dating-App für lesbische Frauen.«

»Also hast du Fluttr aufgegeben?«

»Nein«, sagte Dani. »Ich wollte nur mal was anderes ausprobieren. Fluttr hat ein ordentliches Interface für LGBTQ-Nutzer, aber mein Gedanke war, dass auf einer Plattform nur für Frauen eine andere Stimmung herrscht – weniger Mist, mehr Taktgefühl. Aber bis jetzt hatte ich noch nicht viel Glück.«

»Warum ist Online-Dating so furchtbar?«, fragte ich stöhnend.

»Ich habe den Verdacht, es hat etwas damit zu tun, dass man sich zunächst nur in der virtuellen Welt begegnet und es sehr schwer ist, ohne körperliche Interaktionen eine echte Beziehung aufzubauen. Philip Brixton hat zahlreiche Studien über die Bedeutung nonverbaler Kommunikation durchgeführt. Die Resultate sind faszinierend.«

Nur Dani war in der Lage, eine Freitagabend-Mädelsrunde in eine akademische Auseinandersetzung zum Thema menschliches Verhalten zu verwandeln. Man verstehe mich nicht falsch: Ich war stolz auf sie, weil sie so etwas Kluges gesagt hatte, aber der Rest von uns hatte keinen Doktor in Soziologie. Ihre schlauen Worte und Verweise auf irgendwelche Studien waren an uns komplett vergeudet. Doch ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, deshalb entgegnete ich »Interessant«, obwohl ich keinen Schimmer hatte, wovon sie überhaupt sprach.

Whit war weniger subtil. »Rede Klartext mit uns, du Streberin.«

Dani warf ihre Zöpfe über die Schulter und schob sich die Brille am Nasenrücken hoch. »Das bedeutet, dass es wirklich schwer ist, sich für jemanden wirklich zu interessieren, wenn man ihm noch nicht einmal in die Augen gesehen hat. Körpersprache ist beim Aufbau von Beziehungen entscheidend.«

»Siehst du? Ich sage doch immer, dass Körpersprache wichtig ist.« Whit rückte ihren Push-up-BH dermaßen energisch zurecht, dass ihr beinahe die Brüste aus dem tiefen V-Ausschnitt hüpften. Der betrunkene Mann neben mir murmelte etwas Lüsternes, Whit allerdings ignorierte ihn und fuhr fort. »Obwohl ich noch nie ein Problem hatte, mit einem Fluttr-Typen eine Beziehung zu entwickeln. Tatsächlich erwische ich ab und zu mal den üblichen Spinner mit Asiatinnen-Fetisch, aber das ist sicher kein spezifisches Fluttr-Phänomen. Also fällt deine komplette Theorie damit in sich zusammen.«

»Ich würde das, was du auf Fluttr machst, nicht unbedingt als ›Beziehung entwickeln‹ bezeichnen«, erwiderte Dani, als der Kellner uns unsere Getränke brachte. Lia und ich prusteten vor Lachen, Whit jedoch grinste hämisch. Sie hatte einen Riesenerfolg mit Dating-Apps, weil sie sie nur zum Aufreißen nutzte. Kein Kerl, der auch nur halbwegs bei Verstand war, hätte Whitney Hwangs Foto nach links gewischt. Volle rote Lippen, seidiges schwarzes Haar, meilenweit ausgeschnittene Shirts. Als Hauptbeschäftigung hatte sie »Provozieren« angegeben. Wenn man berücksichtigte, dass sie als PR-Frau arbeitete, war das nicht einmal unpassend. Ich hatte den Überblick darüber verloren, wie viele One-Night-Stands sie dank Fluttr schon zu verzeichnen hatte.

Was toll für sie war. Aber ich wollte etwas, das länger hielt als eine Nacht.

»Ich wünschte halt nur, dass es eine Möglichkeit gäbe, diejenigen auszusieben, die kein Interesse an einer echten Beziehung haben«, sagte ich. »Oder diejenigen, die behaupten, dass sie gern eine echte Beziehung hätten, obwohl das Gegenteil der Fall ist.«

»So wie die Leute, die plötzlich nach Wochen sinnloser Nachrichten spurlos verschwinden«, ergänzte Lia.

»Oder Leute, die einen einfach versetzen«, sagte Dani und trank einen Schluck Martini.

»Oder Leute, die einem Schwanzfotos schicken«, meinte ich.

Dani erschauderte. »Das Problem hatte ich noch nie.«

»Natürlich nicht. Du triffst dich ja auch nur mit Frauen.«

»Ich liebe auch diese unlogischen Schlussfolgerungen«, entgegnete Lia. »Man schickt sich Nachrichten über das Wetter und plötzlich, aus dem Nichts – Überraschung! Es ist ein Schwanz. Was soll das?«

»Das ist purer Exhibitionismus«, erklärte Dani.

»Das grenzt an sexuelle Belästigung.«

Whit schüttelte den Kopf. »Wisst ihr, mir macht so ein gelegentliches Schwanzfoto nichts aus.«

»Männer sind schrecklich.« Ich trank den Rest meines Martinis auf Ex und knallte das Glas dann mit Schwung so laut auf den Tisch, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn es in tausend Scherben zersprungen wäre.

»Das Problem«, sagte Whit, »ist, dass ihr das alle falsch versteht. Fluttr ist kein Ort, um nach einem Happy End zu suchen.«

Lia hob einen Finger. »Gut, aber da habe ich Jay kennengelernt.«

»Das wissen wir.« Whit verdrehte die Augen.

»Ich suche nicht mal nach einem Happy End«, warf ich ein. »Ein Happy Jetzt würde mir schon reichen. Ich würde gerne mal jemanden kennenlernen, der sich tatsächlich die Zeit nimmt, mich kennenzulernen, der aufrichtig ist und mich mit Respekt behandelt.«

»So jemanden wirst du auf Fluttr nicht finden.« Whit angelte sich die Litschi vom Grund ihres Martiniglases und steckte sie sich in den Mund. Dann wurden ihre Augen groß und fingen an zu glitzern. »Hey, warum programmierst du nicht deine eigene Dating-App?«

Lia und Dani machten Oh und Ah.

»Das ist eine tolle Idee!«

»Ja, du könntest eine superselektive App entwickeln. Die ganzen Arschlöcher ausschließen.«

»Du könntest Fluttr vollkommen vom Markt drängen.«

»Bist du nicht den ganzen Tag von Start-up-Investoren umgeben? Ich bin mir sicher, sie wären ganz verrückt auf eine neue Dating-App.«

»So einfach ist das nicht«, erwiderte ich.

»Wer hat denn was von einfach gesagt?«, fragte Whitney. »Nur, weil es nicht einfach ist, heißt das ja nicht, dass es unmöglich ist.«

»Ich kann dir helfen, ein Front-End zu designen, wenn es das ist, was dich beunruhigt«, bot Lia an. Das war süß von ihr, weil sie schon in ihrem Job als Grafikdesignerin in einer großen Agentur überlastet war.

Aber eine Benutzeroberfläche zu gestalten, schreckte mich nicht. Es ging um etwas anderes. Ich sah, was diese Gründer alles durchmachten. Monate endloser Arbeit und schlafloser Nächte. Enttäuschung. Versagen. Ablehnung. Am Ende der dreimonatigen Entwicklungszeit bekam nur etwa die Hälfte aller Hätschelkinder noch einmal zusätzliche finanzielle Unterstützung. Der Rest der Küken starb einfach.

Ganz zu schweigen davon, dass es eine Menge Verantwortung war, eine App unter meinem Namen herauszubringen. Wenn es schiefginge, könnte ich es niemandem außer mir selbst in die Schuhe schieben. Klar, beim Helpdesk zu arbeiten, war nicht so schick. Dafür endete mein Arbeitstag um fünf, und ich ließ den ganzen Stress im Büro und nahm ihn nicht mit nach Hause.

»Ich kann das nicht«, erklärte ich.

Whitney seufzte und stützte das Kinn auf die ineinander verschränkten Finger. Ich wusste, was als Nächstes kommen würde. Einer ihrer Vorträge zum Thema »Sich endlich einmal aus der Deckung trauen und sich auch ein Stück vom Kuchen schnappen«. Oder Ratschläge, wie ich mein Leben ändern konnte.

Ich wollte mich jetzt aber nicht damit beschäftigen. Ich wollte nur einen ganz unkomplizierten freitäglichen Mädelsabend. Warum war das denn so schwer?

Bevor Whitney loslegen konnte, kehrte der Kellner mit einem Tablett voller Kurzer zurück. »Die haben wir nicht bestellt, oder?«, sagte ich, als er die Shots für uns abstellte.

»Nein«, erwiderte er und klemmte sich das Tablett unter den Arm. »Die sind von dem netten Herrn neben euch.«

Toll.

Ich linste vorsichtig in seine Richtung und sah, wie der betrunkene Kerl lüstern in Whitneys Ausschnitt starrte. »Zum Wohl, Ladys«, lallte er.

Es gab noch etwas, auf das ich keinen Bock hatte: die Annäherungsversuche eines fremden Arschgesichts. Wenn wir die Schnäpse akzeptierten, würde er erwarten, dass wir mit ihm sprachen, oder uns wenigstens bei ihm bedankten. Und mir war nicht danach, jemandem zu danken, der uns den ganzen Abend aggressiv begaffte.

»Die wollen wir nicht«, erklärte ich dem Kellner. »Die gehen zurück.«

»Warte mal«, meinte Whitney. »Warum lehnst du ein Getränk ab, das umsonst ist?«

»Ich will nicht mit dem Typen reden. Du etwa?«

»Nein, doch wir müssen nicht mit ihm reden, nur weil er uns einen Drink spendiert. So funktioniert das nicht.«

Der betrunkene Mann beugte sich zu uns und fiel mir beinahe in den Schoß. »Ein einfaches Danke reicht, Ladys.«

Whit wandte sich an den Kellner, der so aussah, als ob er am liebsten vom Ort des Geschehens, ganz gleich, was da gespielt wurde, geflohen wäre. »Nach näherem Nachdenken«, sagte Whit, »möchten wir die Drinks nicht annehmen.«

»Ihr hättet ruhig mal ein wenig Dankbarkeit zeigen können«, grummelte der betrunkene Kerl, während der Kellner die Kurzen artig wieder aufs Tablett zurückstellte.

»Wie bitte?«, fragte Lia.

»Ihr habt mich verstanden.« Als er Lia ansprach, regnete es Spucke. »Ihr könnt von Glück sagen, dass euch überhaupt irgendwer einen Drink spendiert. Wenn eure Freundin, die ihre Möpse raushängen lässt, nicht wäre, hätte ich euch nicht einmal angeguckt.«

Bevor ich auch nur Luft holen konnte, war Whit schon auf den Beinen, schnappte sich zwei Kurze vom Tablett des Kellners und kippte sie dem Kerl ins Gesicht. Bräunliche Flüssigkeit tropfte ihm über die Wangen auf sein enges Polo-Shirt. Er erstarrte vor Schreck. Das und der Alkohol lähmten seine Reflexe. Die Leute vom Nachbartisch verstummten. Sie starrten uns neugierig an und warteten auf das, was als Nächstes passieren würde.

Aber wir wussten aus Erfahrung, dass es, wenn Whitney anfing, mit Getränken um sich zu werfen, höchste Zeit war zu gehen. Wir rafften unsere Taschen und Jacken zusammen und drängten sie zum Ausgang, wo sie noch ein finales »Arschloch!« über die Schulter in den Laden brüllte.

Draußen auf der Straße strichen wir uns Röcke und Haare glatt. »Alles gut bei euch?«, fragte Dani.

Wir versicherten uns gegenseitig, dass das der Fall war. Es war nicht das erste Mal, dass eine von uns von einem Betrunkenen belästigt worden war, und mit Sicherheit auch nicht das letzte Mal.

Ich drückte mir meine Tasche gegen die Brust und schaute mich um. Die Rivington Street war voll. Wochenendstimmung. Die Leute kamen lächelnd aus den Restaurants oder strömten lachend in die Bars. Die Partynacht fing erst an. Dennoch wollte ich nur noch nach Hause und mir die Decke über den Kopf ziehen. Die ganze Nacht nach links wischen, um sie aus meiner Erinnerung zu verbannen: Brandon, Alex, alles.

»Ich glaube, ich gehe nach Hause.«

»Himmel, nein. Das tust du nicht.« Whit fasste mich am Handgelenk und zog mich weiter in Richtung Ludlow Street. »Bei Arlenes ist heute Rock-’n’-Roll-Karaoke-Abend.«

Lia kreischte. »Ooh! Los geht’s. Ich will rechtzeitig da sein, damit wir uns noch auf die Liste eintragen können.«

»Ich weiß nicht, ob mir danach ist«, wandte ich ein.

»Komm schon.« Dani drückte mir die Schulter. »Denk dran, wie viel besser du dich fühlen wirst, sobald du ›Life on Mars‹ herausgebrüllt hast.«

Guter Punkt. Es gab keinen Schmerz, den man nicht mit ein bisschen Bowie heilen konnte. Oder kein besseres Mittel, als ein paar neue Erinnerungen mit meinen wunderbaren Freundinnen zu schaffen, um die elenden Männer, die mir mein Leben versauten, zu vergessen.

3

Unglücklicherweise wusste ich nicht mehr so gut, was noch passiert war, nachdem wir das Verlaine verlassen hatten. Das Einzige, an das ich mich jedoch deutlich erinnerte, war die Übermenge an Coors-Light-Bier.

So wie mir die Kehle brannte, hatte ich mir meinen Frust offenbar beim Karaoke herausgebrüllt. Und ich erinnerte mich vage an eine rätselhafte Mahlzeit, die ich an einem Stand in der Stanton Street gekauft und heruntergeschlungen hatte. Tatsächlich hatte ich immer noch ein paar knoblauchige Fleischfasern zwischen den Zähnen. Offensichtlich hatte ich es nicht mal mehr für nötig gehalten, mir die Zähne zu putzen, bevor ich zu Bett gegangen war.

Die Sonnenstrahlen drangen durch die Schlitze der Fensterläden meines Schlafzimmers. Ich blinzelte und bemühte mich, mich aufzurichten, aber für meinen Geschmack drehte sich das Zimmer immer noch viel zu schnell. Also nahm ich das Ladekabel aus meinem Handy und legte mich wieder unter die Decke.

Nachdem wir uns am frühen Morgen voneinander verabschiedet hatten, hatten die Mädchen einen Gruppenchat angefangen. Mein Handy, das schon ziemlich alt war, hatte sich mittendrin verabschiedet. Deshalb schaltete ich es jetzt an, um die Unterhaltung nachzulesen.

DANI  2.25 Uhr

Weiß jemand, was mit Whit passiert ist?

LIA  2.27 Uhr

Das Letzte, was ich von ihr gesehen habe, war, wie sie in einer Ecke bei Arlene mit einem Hipster geknutscht hat.

DANI  2.28 Uhr

Aber nicht mit dem Typen mit dem gezwirbelten Schnurrbart????

LIA  2.30 Uhr

Yep.

WHITNEY  3.45 Uhr

Zu eurer Info, gezwirbelte Schnurrbärte sind im Augenblick total angesagt.

WHITNEY  3.46 Uhr

Außerdem ist er Schauspieler.

WHITNEY  3.47 Uhr

Jedenfalls glaube ich das.

LIA  11.52 Uhr

Hast du seine # gekriegt?

WHITNEY  11.52 Uhr

Warum sollte ich?

DANI  12.12 Uhr

Hat sonst noch wer einen Mörderschädel?

LIA  12.15 Uhr

Ich hab dich vor diesen Shots gewarnt!

DANI  12.18 Uhr

Ääääääääähhhhhh

WHITNEY  12.25 Uhr

Mel, was ist mit dir los?

LIA  12.27 Uhr

Ja. Wie geht’s dir? Alles ok?

LIA  12.28 Uhr

Der Kebab, den du gegessen hast, bevor du ins Taxi gestiegen bist, sah ziemlich dubios aus.

Ah, jetzt fiel es mir wieder ein. Lustig, auf mich hatte er überhaupt nicht dubios gewirkt. Klar, ich war zu diesem Zeitpunkt auch so ausgehungert gewesen, dass ich alles gegessen hätte.

MEL  12.40 Uhr

Ich hab einen kleinen Kater, aber sonst geht’s mir gut.

Ich schloss die Augen, als ich spürte, wie eine Welle der Übelkeit mich überrollte. Vielleicht war das mit dem Kebab vom Straßenstand wirklich nicht gerade die beste Idee gewesen. Ich hätte auf Lia hören sollen.

Mein Handy summte, und ich machte ein Auge auf, um die Antwort von den Mädchen zu lesen. Doch es war keine Nachricht von ihnen; sondern eine Fluttr-Meldung.

NEUE NACHRICHT VON JOE!

Ach ja! Der Typ, mit dem ich gestern Abend bei Fluttr ein Match hatte, bevor die Demütigungsparade angefangen hatte. Mochte ich überhaupt lesen, was er zu melden hatte? Whit hatte mich gewarnt: Fluttr war kein Ort, um einen vernünftigen Mann kennenzulernen.

Aber ich dachte auch wieder an Lia und Jay. Auf Fluttr waren auch nette Jungs unterwegs. Man brauchte vielleicht ein bisschen Ausdauer, bis man auf sie stieß.

Hoffnungsvoll tippte ich auf die Fluttr-Meldung, um die Nachricht zu lesen. Und da, in all seiner geschwollenen und dickadrigen Pracht, eine verschwommene Nahaufnahme von Joes Schwanz.

Verdammt.

Ich schleuderte das Handy quer durch den Raum. Es prallte von der Wand ab und zerschmetterte an meiner Kommode. Die Reparatur würde mich ein hübsches Sümmchen kosten.

Ich barg das Gesicht in den Händen und atmete langsam ein und aus, damit sich mein rasender Pulsschlag beruhigte. Normalerweise hätte ich Joes Schwanzfoto einfach ignoriert. Manche Männer waren einfach bescheuert und vulgär. Wenn ich in der Online-Welt aktiv bleiben wollte, waren Schwanzfotos einfach etwas, womit ich klarzukommen lernen musste.

Eigentlich löschte ich solche Nachrichten sofort, entfreundete den Typen und fertig. Plötzlich allerdings schien mir das nicht mehr ausreichend zu sein. Obwohl ich nie wieder von Joe aus Murray Hill hören würde, wäre er dennoch weiter bei Fluttr und würde anderen arglosen Frauen seine Schwanzfotos schicken.

Ihm die Meinung zu sagen, war eine verlockende Option. Das hätte mich sicherlich erleichtert, aber ich bezweifelte, dass es ihn tatsächlich beeindrucken würde. Ein Mann, der fremden Menschen Penisbilder schickte, hatte bereits schon kein Schamgefühl mehr. Wenn ich ihm noch mal eine Nachricht senden würde, würde ihm das Wissen, dass er mich auf die Palme gebracht hatte, wahrscheinlich nur eine kranke Befriedigung verschaffen.

In Wahrheit wollte ich eigentlich, dass man diesen Kerl von Fluttr verbannte, damit er keine Plattform mehr für seinen Exhibitionismus hatte. Theoretisch gab es Möglichkeiten, Leute zu melden, die beleidigten oder sexuell belästigten, aber soweit ich wusste, hatte Fluttr noch nie darauf reagiert.

Mein Gedankengang wurde durch ein Klopfen an meine Schlafzimmertür unterbrochen. Toll. Als ob ich mich nicht schon mies genug gefühlt hätte, musste ich mich jetzt auch noch mit was auch immer Vanessa von mir wollte auseinandersetzen.

Erneutes Klopfen. »Melanie? Geht es dir gut da drinnen?«

»Ja.« Meine Stimme klang unerwartet heiser. Ich räusperte mich, während ich die Decke zurückschlug und mich mit wackligen Beinen anderthalb Schritte vom Bett wegbewegte, um die Tür zu öffnen. Vanessa stand im Flur. Ihre braunen Augen waren klar. Kein Härchen stand von ihrem schlichten rötlichen Haarknoten ab.

»Alles in Ordnung?« Sie musterte mich von Kopf bis Fuß mit einem Ausdruck, der irgendwo zwischen Ekel und Sorge lag. »Ich dachte, ich hätte es krachen hören.«

»Es geht mir gut.« Ich habe nur kurz einen empfindlichen Gegenstand durch mein Zimmer geschleudert. Keine große Sache. »Was ist los?«

»Hast du meine E-Mail bekommen?«

»Welche E-Mail?«

»Wegen der Party?«

»Welcher Party?«

Vanessa verdrehte die Augen. »Wenn du die Mail gelesen hättest, wüsstest du es.«

»Findet die Party gerade statt?«

Sie kniff die Augen zusammen. »Nein, natürlich nicht. Sie ist am nächsten Wochenende.«

»Kann es dann nicht warten?«

»Nein. Ich möchte sicher sein, dass die Mail angekommen ist.«

Ihre Wimpern-Extensions flatterten wie die Flügel eines Kolibris. Ich wischte mir den Schlaf aus den Augenwinkeln. »Aber ich bin gerade erst aufgewacht.«

»Bitte!«, flehte sie mich an. »Ich habe sie erst vor einer Sekunde verschickt, doch dann fing mein PC an zu spinnen. Deshalb weiß ich jetzt nicht, ob die Mail durchgegangen ist. Was mich daran erinnert, dass du dir das später unbedingt mal anschauen musst.«

Es war klar, dass sie nicht eher verschwinden würde, bis ich ihr ihre Frage beantwortet hatte. »Lass mich mal nachsehen.«

Sie wippte auf Zehenspitzen auf und ab. »Danke.«

Ich griff mir mein Telefon von der Kommode, wo es mit dem Display nach unten gelandet war. Zu meinem Erstaunen und großer Freude war es nicht halb so kaputt, wie ich erwartet hatte. Keine Splitter, keine Kratzer. Nur ein kleiner Haarriss unten rechts in der Ecke des Displays. Ich hatte Glück gehabt!

»Ooh.« Vanessa spitzte missbilligend die Lippen. »Was ist mit deinem Handy passiert?«

»Ach … ich habe es fallen lassen.«

»Das ist blöd.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Hier um die Ecke gibt es einen Laden, der so was günstig repariert. So um die neunundneunzig Dollar oder so.«

»Danke. Sehe ich mir mal an.« Als ob ich hundert Mäuse für einen kleinen Kratzer ausgeben würde. Das Handy funktionierte immer noch. Wenn ich auf die Starttaste drückte, erwachte das Display zum Leben und enthüllte Joes Penis in allen Einzelheiten.

Vanessa schrie auf und wich zurück, als ob sie Angst hätte, dass das Ding sie anspringen könnte. »Was ist das denn?«

»Das ist von Joe aus Murray Hill.« Ich hielt das Handy hoch, um sie das Foto besser sehen zu lassen, und sie zog sich noch weiter in den Flur zurück.

»Warum hast du das auf deinem Telefon?«

»Nicht weil ich darum gebeten hätte.« Die steilen Falten auf Vanessas Stirn verrieten deutlich, dass sie mir nicht glaubte. »Habe ich wirklich nicht! Hast du noch nie ungefragt Schwanzfotos gekriegt?«

»Was?« Ihr Haarknoten wackelte, während sie fieberhaft den Kopf schüttelte. »Nein, natürlich nicht. Für wen hältst du mich denn?«

»Mit der Art von Mensch, die du bist, hat das nichts zu tun.« Oder mit der Art Mensch, die ich bin, wo wir schon dabei sind. »Männer schicken so etwas, nach einem Match, einfach aus heiterem Himmel. Bist du nicht auf Fluttr?«

Abfällig kräuselte sie die Lippen. »Ihh. Nein. Die Vorstellung, so einen gewöhnlichen Typen aus dem Internet kennenzulernen, ist …« Sie beendete den Satz mit einem übertriebenen Erschaudern.

»Es ist nicht anders, als jemanden in einer Bar oder auf einer Party oder in der Schlange bei Starbucks kennenzulernen. Am Anfang ist man sich immer fremd.«

Obwohl die Chancen, dass ein Unbekannter in einem Café vor einem blankzog, zugegebenermaßen ziemlich gering waren.

»Das klingt alles schrecklich. So will ich keine Männer kennenlernen.« Sie verschränkte die schlanken Arme vor der Brust und reckte das Kinn. »Bevor ich mir von einem fremden Mann die Zunge in den Mund stecken lasse, muss ich vorher erst mal seine Referenzen checken.«

»Referenzen?«

»Du würdest doch auch keinen neuen Mitarbeiter einstellen, ohne seine vorherigen Arbeitgeber anzurufen, um zu überprüfen, ob es zutrifft, was er von sich behauptet. Warum solltest du dich also mit einem Mann treffen, von dem du absolut nichts weißt?«

Es schmerzte mich, zugeben zu müssen, dass Vanessa in diesem Punkt recht hatte. Dennoch erschien mir die Idee irgendwie verrückt. Ich stellte mir Vanessa vor, wie sie eine Anzeige bei Craigslist aufgab, um Lebensläufe von potenziellen Bewerbern zu erhalten. Sie würde Exfreundinnen, Familienangehörige, Finanzberater anrufen. Erst, wenn die Geschichte des Mannes sich als stimmig herausstellte, würde sie ein erstes Date festlegen.

Anders als ich, die sich bei der geringsten Aussicht auf ein Date sofort mit dem erstbesten netten Gesicht auf dem Display einließ.

»Aber wie funktioniert das denn genau?«, fragte ich. »Wie überprüfst du die Referenzen von jemandem?«

»Ich gehe zu einer Heiratsvermittlerin. Sie befragt den Mann, und wenn sie jemanden findet, der meinen Ansprüchen genügt, arrangiert sie ein Treffen.«

Ich hatte Vanessa in der Wohnung noch nie mit einem Mann gesehen, der auf mich wie ihr Liebhaber gewirkt hätte. »Hast du schon mal jemanden kennengelernt, der es wert gewesen wäre?«

Sie rümpfte die Nase. »Es gab ein paar zweite Verabredungen, aber nichts Ernstes. Jedenfalls noch nicht. Ich mache das aber auch erst seit einem Jahr.«

Ein Jahr. Ihre Strategie war anscheinend auch nicht effektiver als meine. Dann wiederum fragte ich mich, wie hoch ihre Ansprüche waren.

»Sie heißt Vilma«, fuhr sie fort. »Sie nimmt neue Kunden nur auf Empfehlung, aber wenn du magst, könnte ich ein gutes Wort für dich einlegen.«

Ich konnte mir nur vorstellen, wie viel Vilma für ihre Dienste berechnete. Vermutlich mehr als wir für unser Schrott-Apartment Miete zahlten. Die Idee schien in der Theorie ganz nett zu sein, doch wir konnten uns nicht alle unsere persönliche Vilma leisten, die den Hintergrund jedes Mannes überprüfte, den wir kennenlernten. Woher hatte Vanessa so viel Geld? Wurde man als freiberufliche virtuelle Assistentin besser bezahlt, als ich vermutete? In diesem Fall sollte ich wohl mal darüber nachdenken, den Job zu wechseln.

»Das ist schon in Ordnung. Lass mich mal nach der Mail suchen.« Ich wischte Joes untere Regionen weg und fand, oben in meiner Mailbox, eine ungelesene Nachricht von Vanessa.


Von: Vanessa Pratt

Bcc: Melanie Strickland

Betreff: Dachterrassen-Rendezvous!

Hey Leute!

Der Frühling ist da. Das heißt, es ist Zeit, dieses wunderbare Wetter in NYC für eine Outdoor-Soiree zu nutzen. Kommt nächsten Samstag, dem 14. April, um 20.00 Uhr auf ein paar Drinks und Snacks und wegen der guten Aussicht auf meine Dachterrasse.

Bis dahin

XO

V


»Dürfen wir denn Partys auf der Dachterrasse feiern?«, fragte ich.

»Streng genommen nicht. Aber da kümmert sich niemand drum.«

»Manche Menschen vielleicht schon.«

»Dann sollen sie sich beim Vermieter beschweren. Na und?«

Ich wünschte, ich wäre in der Lage, wie Vanessa durchs Leben zu gehen, ohne sich um Dinge wie private Insolvenz und Zwangsräumung Gedanken machen zu müssen.

»Okay. Sieht so aus, als wäre die Mail ganz prima durchgegangen.«

»Toll. Danke. Fühl dich bitte so frei einzuladen, wen auch immer du möchtest. Und sag mir Bescheid, wenn du willst, dass ich dich mit Vilma bekannt mache.« Dann tippelte sie ohne ein weiteres Wort davon.

Ich schloss die Tür und legte mich, bereit, auch den Rest des Samstagnachmittags zu verschlafen, wieder mit dem Gesicht nach unten ins Bett. Sekunden später summte mein Handy.

NEUE NACHRICHT VON JOE!

Ich wusste, dass ich sie ignorieren sollte. Nichts, das Joe aus Murray Hill zu sagen oder zu zeigen hatte, bedeutete etwas Gutes. Aber ich konnte nicht anders. Jahre der Abhängigkeit von digitalen Geräten hatten meine Unfähigkeit, Nachrichten ungelesen zu lassen, verstärkt. Meine Finger entschieden für mich, bevor mein Hirn die Chance hatte, einzuschreiten.

Und, natürlich, es war ein weiteres Penisbild. Oder besser exakt dasselbe Schwanzfoto wie vor wenigen Minuten. Als ob er sich darum sorgte, ich könnte es beim ersten Mal nicht erhalten haben, und es mir, nur um ganz sicherzugehen, noch einmal schickte.

Mein Daumen bewegte sich auf die Entfreunden-Taste. Joe aus meinem virtuellen Leben zu streichen, wäre eine vernünftige Sache gewesen. Ihm zu antworten, schenkte ihm nur die Aufmerksamkeit, nach der er gierte. Aber ich wollte auch nicht, dass er glaubte, dass das, was er tat, in Ordnung war.

Ich hatte genug von den skrupellosen Männern in dieser Stadt. Männer, die schamlos mit ihren Kolleginnen flirteten, wenn ihre Freundinnen nicht da waren. Männer, die Verabredungen trafen, die sie nie vorhatten einzuhalten. Männer, die Unterhaltungen mit Frauen anfingen, mit denen sie im Internet ein Match hatten, um ihnen dann sofort Schwanzfotos zu schicken.

Das Schlimmste war, dass ich ständig auf ihren Scheiß hereinfiel. Ein ums andere Mal ließ ich Männer mit meinen Gefühlen spielen, mich zum Narren halten und redete mir immer wieder ein, dass dieser Mann vielleicht anders war als alle anderen. Aber kein Mann war je anders. Und ich hatte mich bei ihnen noch nie wegen ihres Benehmens beklagt. Ich ließ sie einfach ruhig ihr Leben weiterleben, ohne sie wegen ihres Benehmens zur Rechenschaft zu ziehen.

Das würde jetzt aufhören. Sofort.

Ich schrieb nur ein Wort:

Warum?

Einen Augenblick später erhielt ich seine Antwort:

Warum nicht?

Joe aus Murray Hill hatte keine Ahnung, auf wen er sich eingelassen hatte.

Mel: Weil ich kein Interesse habe. Weil du ein Schwein bist. Weil dein Penis nicht halb so beeindruckend ist, wie du glaubst. Soll ich weitermachen?

Joe: Chill mal, Babe. Das ist nur Spaß.

Mel: Vielleicht für dich. Aber ich wollte weder den ersten Schnappschuss von deinem erbärmlichen Schwanz und schon gar nicht den zweiten.

An diesem Punkt beschloss Joe, mir das Foto zum dritten Mal zu schicken.

Mel: Weißt du was? Ich werde allen von dir erzählen. Ich werde deinen Ruf ruinieren. Und du wirst in dieser Stadt niemals wieder ein Date haben.

Joe: LOL. Viel Glück damit, Babe.

Ich fing an, eine Antwort zu tippen, aber die App fror ein, und die ganze Unterhaltung verschwand von meinem Display. Stattdessen tauchte die Nachricht auf:

Die Unterhaltung konnte nicht hochgeladen werden. Fluttr-User hat sich von dir entfreundet.

Dieser Arsch.

Falls Joe glaubte, damit wäre die Sache beendet, hatte er sich bitter getäuscht. Denn jetzt ging es mir um Rache. Nicht nur meinetwegen, sondern wegen jeder einzelnen Frau in New York.

Es war an der Zeit, den Typen klarzumachen, dass sie nicht ungeschoren davonkommen würden.

So wurde #IdiotenAlarm geboren.

4

Einige Leute glauben, ich hätte IdiotenAlarm als Teil eines bösartigen, vorsätzlichen Plans zur langfristigen Demütigung von Männern erfunden. Doch in Wirklichkeit war es nur eine spontane Reaktion auf den frustrierenden Stand der Dinge. Ich hatte ein paar wirklich schlechte Tage hinter mir, mit ein paar wirklich schlimmen Typen. Also tat ich, was jede aufgebrachte Programmiererin getan hätte: Ich entwickelte eine Website, auf der Frauen anonym ihre Dating-Erfahrungen mit Männern, die sie auf Fluttr kennengelernt hatten, bewerten konnten. So etwas wie Yelp, aber anstatt Restaurants oder Nailart-Studios zu bewerten, bewertete man seine Dates.

Ich brauchte nicht lange, um die Seite hochgeladen zu haben und zum Laufen zu bringen. Wegen meines übergroßen Katers hatte ich keine Lust gehabt, aufzustehen, und den restlichen Samstag damit verbracht, das Programm zu schreiben. Dann packte ich am Sonntag noch ein paar Grafiken dazu, lud alles auf meinem Discount-Web-Host hoch und investierte 9,99 Dollar in den Kauf von IdiotenAlarm.biz. (Unglücklicherweise war IdiotenAlarm.com schon weg und führte auf eine Seite, die anscheinend noch im Aufbau war.)

Am Sonntagabend, als ich alles fertig hatte, schrieb ich meinen ersten Eintrag.

Name: Joe

Alter: 25

Wohnort: Murray Hill

Bewertung: Hat dreimal hintereinander ungebetene Schwanzfotos geschickt. Und das Wort chillax benutzt.

Nachdem ich auf Senden gedrückt hatte, fühlte ich mich um mehrere Zentner erleichtert. Als ob sich alle Wut aus meinem Körper gelöst hätte und weggeflossen wäre. Das war befreiend.

Und es hatte irgendwie auch Suchtpotenzial.

Ich meldete einen anderen Mann.

Name: Brandon

Alter: 26

Wohnort: Brooklyn

Bewertung: Hat mich bei der ersten Verabredung ohne Vorwarnung oder Erklärung versetzt.

Der simple Akt, ihren Namen zu tippen und ihr Fehlverhalten in Pixel übersetzt auf meinem Bildschirm zu sehen, reichte dafür aus, dass ich mich besser fühlte. Ich hatte meinen ganzen Schmerz in das große Loch Internet geschüttet, damit er mich nicht länger auffressen konnte.

Die nächsten Minuten verbrachte ich damit, Infos über weitere Männer einzugeben, die ich über Fluttr kennengelernt hatte und die mich bedrängt oder irgendwie anderweitig verarscht hatten.

Autor

Kristin Rockaway
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