Liebeserklärung im Capitol

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Abby will einige Wochen auf ihrer kleinen Insel, die sie gerade geerbt hat, Urlaub machen. Als sie dort eintrifft, stellt sie fest, dass ihre Tante das Haus für diese Zeit an den Abgeordneten Selby Farnsworth vermietet hat. Für Abby beginnen die schönsten Ferien ihres Lebens - sie verliert ihr Herz an Selby …


  • Erscheinungstag 30.06.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733757724
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Abigail Constance Spencer bog dehnend den schmerzenden Rücken, schürzte dann ihren Rock und ließ sich auf den Steinstufen nieder, die zur vorderen Veranda des Hauses hinaufführten. Hinter ihr, durch die offene Haustür, verkündeten eine blitzsaubere Eingangshalle und Küche den Erfolg ihrer Anstrengungen. Um sechs Uhr früh an diesem Morgen hatte Abby sich mit entschlossener Miene und voller Elan an die Arbeit gemacht, denn das Haus hatte ausgesehen, als ob Attila der Hunne dort eingefallen sei. Jetzt glänzte und blitzte es im sanften Licht der Spätnachmittagssonne, aber Abby hatte all ihre Energie verpulvert.

Seufzend ließ sie den Kopf nach vorn auf die Arme sinken, sodass ihre strohblonden Locken wie ein Schleier über ihr Gesicht fielen. Die Sache war es wert gewesen, überlegte sie. Nach einem erfüllten, streitlustigen Leben von neunundachtzig Jahren war Onkel Theodore von der Bühne abgetreten und hatte seiner Großnichte Abigail Spencer die winzige Insel zusammen mit seinen besten Wünschen hinterlassen.

Er hätte es sicher nicht als einen Vorteil angesehen, dass sein Haus völlig abgeschieden oben auf einem der beiden keinen Hügel auf Umatec Island stand mit Blick auf die bewegten Gewässer der Narraganset Bay und des Atlantischen Ozeans. Gerade diese Abgeschiedenheit war jedoch ideal für eine Frau, die sich ihren unsicheren Lebensunterhalt mit der Rezension jener endlosen Massen mittelmäßiger Romane verdiente, die tagtäglich in Druck gingen, und das alles zur Erbauung der Leser des Washington Sunday Mirror.

Jetzt war sie hier, um sich zu erholen.

Etwas Weiches, Warmes streichelte ihr Fußgelenk. Abby öffnete prüfend eins ihrer grünen Augen. Cleo, ihre fast reinrassige Collie-Hündin rieb ihren silbergrauen Kopf an Abbys nackten Füßen. „Reinrassig!“, sagte Abby neckend. „Ha! Dein Vater war ein Schäferhund, und deine Mutter stammte von den Südseeinseln … oder so.“ Cleo starrte sie unbewegt an, wandte sich geringschätzig ab und trottete davon.

Na toll! dachte Abby, nicht einmal dein eigener Hund will mit dir reden! Onkel Theodore hatte Hunde gehasst. Ganz sicher hatte er von Cleos Existenz keine Ahnung gehabt. Müde ließ Abby den Kopf wieder auf die Arme sinken und döste vor sich hin.

„Was suchst du in meinem Haus?“

Beim unerwarteten Klang dieser jungen, aber nicht weniger energischen männlichen Stimme blickte Abby überraschend auf. Umatec war ein winziges Fleckchen Erde, das zu den Elizabeth Islands gehörte, jener Inselkette, die sich unterhalb von Cape Cod in den Long Island Sund erstreckte. Ganz gewiss war dies nicht der Ort, an dem man erwartete, einem Dreikäsehoch zu begegnen, der neben einem hellbraunen Wuschelkopf und einer schmuddeligen Badehose vor allem eine äußerst angriffslustige Haltung zur Schau trug.

Abby hatte mehr als genug Erfahrung mit streitlustigen Vertretern des männlichen Geschlechts. Das war einer der Gründe, warum sie mit ihrer zum Bersten vollen Aktentasche aus der Stadt geflüchtet war. Nichts schien die Seele der unzähligen männlichen Krimiautoren mehr zu verletzen als ihre gewöhnlich milden Kommentare im Mirror. Es würde ihr für immer ein Rätsel sein, warum sie in der Redaktion als die „Lady mit der giftigen Feder“ geführt wurde. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die Autoren je entdeckten, dass „Cicero“ eine Frau war.

Dieser kleine Mann aber, mochte er auf Umatec auch nichts zu suchen haben, schien nicht groß genug zu sein, um ihr ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten. Abby entschied sich deshalb, die Herausforderung anzunehmen. „Zufällig ist dies mein Haus, junger Mann, und ich putze es. Aber was suchst du hier?“

„Nein, das ist nicht dein Haus! Ich wohne hier. Ich und mein Dad.“ Ein argwöhnischer Ausdruck huschte über das kleine, sommersprossige Gesicht. „Hat mein Dad dir mein Haus verkauft?“

„Wohl kaum.“ Abby klopfte einladend neben sich auf die Treppenstufe, ein Gesprächsangebot, dem der Junge mit sichtlichem Misstrauen begegnete. Er wich einen Schritt zurück und versteckte beide Hände hinter dem Rücken. „Ich habe dieses Haus, und die ganze Insel übrigens auch, von meinem Onkel Theodore geerbt“, fuhr Abby sanft fort. „Und nachdem ich das Haus jetzt geputzt habe, beabsichtige ich, hier zu wohnen.“

„Das kannst du mit meinem Haus nicht machen!“, rief der Junge heftig aus. „Ich sag es meinem Dad. Er wird dich verhaften und einsperren lassen. Was hältst du davon?“

„Nun, ich bin nicht gerade begeistert. Wo ist denn dein Dad überhaupt? Versteckt er sich?“

„Mein Dad ist der stärkste Mann auf der Welt. Er würde sich nicht vor einem Mädchen verstecken.“

Abby stand langsam auf. Der Junge folgte jeder ihrer Bewegungen mit kugelrunden Augen. Barfuß maß Abby stolz ein Meter achtundsiebzig, und in ihren Lieblingsschuhen schaute sie leicht auf viele Männer von über ein Meter achtzig herab.

Beeindruckt wich der Kleine noch ein, zwei Schritte zurück. „Mein Dad ist auch schrecklich tapfer“, fügte er rasch hinzu. „Er würde sich vor keinem Mädchen fürchten. Auch nicht vor einem großen Mädchen.“

„Aber sicher“, sagte Abby begütigend. Wie alt mochte der Junge sein? Acht? Schwer zu sagen. Abby war als einziges Mädchen in einer großen Familie aufgewachsen, in der die Meinung vorherrschte, eine Frau, mit anderen Worten Abigail, habe die Männer zu bedienen, sich zu benehmen und ansonsten möglichst nicht in Erscheinung zu treten. Dementsprechend hatte sie ihre eigenen Ansichten zu dominierenden Vertretern des männlichen Geschlechts. Dieser Kleine hier glaubte tatsächlich, sein großer Dad habe vielleicht hinter seinem Rücken „sein“ Haus verkauft! Daraus sprach ein beachtliches Selbstbewusstsein.

„Ich bin durstig, müde und verschwitzt. Deshalb werde ich als erstes ein Bad nehmen … in meiner Badewanne, junger Mann! Warum läufst du nicht zu deinem Daddy, wo immer er stecken mag?“

„Mensch, das wird dir leidtun!“ Der Junge wich weiter zurück und stolperte fast über Cleo, die, angelockt von den Stimmen, wieder herangekommen war. Die Hündin war kein kleines Kaliber. Rein äußerlich erinnerte sie an einen mittleren Wolf, wozu jedoch ihr träges, sanftes Gemüt nicht recht passen wollte. Das allerdings konnte der Junge nicht ahnen. Er sah nur die scharfen Zähne, schluckte und suchte sein Heil in der Flucht. Als er über dem Kamm des benachbarten Hügels verschwand, hörte Abby ihn rufen: „Warte! Das wird dir noch leidtun!“

Achselzuckend ging Abigail ins Haus zurück. Auf dem oberen Treppenabsatz blieb sie stehen und sah sich um. Es war ein riesiges Haus mit unzähligen Räumen, die alle nach und nach hinzugefügt worden waren. Da die meisten der Anbauten nicht ganz zu der ursprünglichen Konstruktion passten, stieß man überall an den Verbindungspunkten auf Stufen und Rampen, die auf und ab führten. Der Hausflur im Obergeschoss war als Teil des Ursprungsbaus jedoch völlig gerade und eben und erinnerte in seinen Ausmaßen an eine Bowling-Bahn.

Abby kraulte Cleos Nacken. Gemeinsam gingen sie den langen Flur entlang und schauten auf dem Weg in die angrenzenden Räume. Abby hatte nur das Zimmer geputzt, das sie bei ihren Besuchen auf Umatec Island immer benutzt hatte. Es lag gleich zu Beginn des Flurs und am weitesten von dem Bad entfernt. Nun entdeckte sie in zwei der übrigen Räume Gepäck und andere Hinweise auf die Anwesenheit weiterer Personen im Haus. Dabei wohnte in Onkel Theodores altem Schlafzimmer offensichtlich ein sehr ordentlicher, im Zimmer neben ihrem dagegen ein ziemlich unordentlicher Mensch. Höchst interessant!

Das Badezimmer nahm das gesamte Ostende des Hauses ein. Prunkstück war die Wanne aus Vermont-Marmor, groß genug für drei oder vier Personen, die sich auf einem Podest über dem gefliesten Boden erhob. Die Ostseite des Hauses war völlig verglast. Der alte Mann hatte es genossen, mit einem Drink in der einen und einer Zigarre in der anderen Hand in der Wanne zu liegen und den Booten auf dem Kanal zuzusehen.

Abby drehte den Warmwasserhahn auf und hörte aus der Ferne, wie der Generator ansprang. Einen Augenblick später sprudelte das warme Wasser in die Wanne. „Eines muss man Onkel Teddy lassen“, wandte Abby sich an Cleo, die sich in der Ecke neben der Tür auf den kühlen Fliesen niedergelassen hatte. „Er war nie knauserig bei Dingen, die ihm wirklich etwas wert waren.“ Ein heißes Bad galt bei den Spencers gemeinhin als das Rezept zum Entspannen und Abschalten. Abby verfiel jetzt in diese Familientradition und vergaß zunächst die unerklärliche Anwesenheit anderer Personen auf der Insel. Das konnte warten, das Bad aber war ein Muss!

Großzügig streute sie Badesalz in das Wasser, und als die Schaumberge über den Wannenrand quollen, stieg sie hinein, streckte sich seufzend aus und schloss die Augen. Sogleich spürte sie die wohltuende, entspannende Wirkung des warmen, duftenden Wassers. Genüsslich strich sie über die sanften Rundungen ihres schlanken Körpers und blies den Schaum fort, der ihr in die Nase zu steigen drohte. „Ich bin verliebt in Harry Farnsworth“, bemerkte sie wiederum zu Cleo und lächelte im nächsten Moment über ihre eigene Torheit. Harry Farnsworth war ein Held in einem der Krimis von Selby Jones. Eine Romanfigur. Groß, blond und stark mit einem kleinen Säbelschmiss auf der linken Wange. Gab es etwas Dümmeres, als sich in eine Romanfigur zu verlieben? Verächtlich verdrängte Abby diese Gedanken und begann, sich zu waschen.

Das Zuschlagen einer Tür unten im Haus ließ Abby erschrocken hochfahren. Auf Umatec gab es nur dieses eine Haus. Die Insel war nur mit einem kleinen Boot zu erreichen, und Abby hatte niemand eingeladen. Deshalb hatte sie es nicht für nötig gehalten, die Haustür abzuschließen. Automatisch kamen ihr der kleine Junge und das Gepäck in den beiden Schlafzimmern in den Sinn. Der Junge, wo zum Teufel kam er her? Und wer war dieser Vater, mit dem er sich so brüstete? Vielleicht gar ein entflohener Schwerverbrecher?

Schritte. Polternd kamen sie die Treppe hinauf. Lieber Himmel! Abby sank so tief wie möglich in die Schaumberge und wünschte sich einen Schnorchel oder eine Waffe … oder besser beides.

„Aha. Da versteckst du dich also!“ Gerechte Empörung schwang in der Stimme des zornigen kleinen Jungen.

„Ich verstecke mich nicht, ich bade. Was zum Teufel suchst du in meinem Badezimmer? Wie heißt du überhaupt?“

„Ich heiße Harry. Mein Vater kommt jeden Moment. Du solltest besser verschwinden. Wenn er dich hier findet … und mich!“

Abby setzte sich auf und schob den Schaum von ihrem Gesicht fort. Der kleine Kerl zitterte. Vor Angst oder Kälte? Er war barfuß und trug immer noch nichts außer seiner schmuddeligen Badehose.

„Dein Vater wird dir nichts tun“, sagte Abby. „Das verstößt gegen das Gesetz.“

„Mein Vater kümmert sich nicht um Gesetze. Du kennst ihn nicht, er wird mich umbringen, wenn er mich erwischt.“

„Das fällt mir schwer zu glauben. Immerhin leben wir in einer zivilisierten Gesellschaft.“

„Ha! Ich habe mir gestern von seinem Manuskriptpapier genommen und darauf gemalt, und er hat es eben bemerkt. Er wird mich umbringen, glaub mir! Wo kann ich mich verstecken?“

„Er würde es nicht wagen …“ Abby verstummte mitten im Satz, als unten die Haustür erneut zugeschlagen wurde. Aber diesmal so, dass das alte Haus in seinen Grundfesten erbebte.

„Harry? Harry!“ Den Geräuschen nach zu urteilen, stampfte der Mann ins Wohnzimmer, die Küche, das Arbeitszimmer und dann wieder zum Fuß der Treppe zurück. „Harry Farnsworth, du kommst besser herunter, bevor ich dich hole! Harry!“

Harry Farnsworth? Das konnte nicht wahr sein! Ich träume, dachte Abby. Harry Farnsworth ist ein Romanheld!

Der Junge aber hielt Harry für Realität. Er lauschte besorgt, als Schritte die Treppe hochkamen … schwere Schritte, die an King Kong erinnerten. Panikerfüllt sah der Junge sich nach einem Versteck um. Die Schritte erreichten den oberen Treppenabsatz. Die nun folgende Szene hätte aus einem alten Slapstick-Film stammen können. Der Junge schaute rasch über die Schulter auf die schaumgefüllte Wanne, dann noch einmal in Richtung der offenen Badezimmertür. Abby, die seine Absicht begriff, aber nicht gewillt war, die Wanne mit jemand zu teilen, sprang aus dem Wasser, glitt auf dem glatten Marmorboden aus und landete in einer Ecke … notdürftig eingehüllt in ein großes Badetuch, das sie im Vorbeirutschen zu fassen bekommen hatte.

Fast gleichzeitig sprang der Junge mit dem Kopf voran in die Wanne und verschwand unter den Bergen von Schaum.

„Und ich dachte, der Junge hätte gelogen“, bemerkte eine tiefe Männerstimme von der Türschwelle her. Der Sprecher trug neben einem Paar beeindruckend breiter Schultern einen so strengen Blick zur Schau, wie ihn Abby seit Verlassen der katholischen High School St. Alban nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Die gute Mutter Oberin hatte sich jahrelang vergeblich abgemüht, das hoch aufgeschossene Mädchen zu einem niedlichen, folgsamen Püppchen zu erziehen. Und nun das … in ihrem Badezimmer! Abby setzte sich kerzengerade auf und wischte sich den Schaum aus dem Gesicht, um klarer sehen zu können.

„Was suchen Sie in meinem Badezimmer?“

„Ihr Badezimmer?“

„Ja, mein Badezimmer. Dies ist keine Hauptverkehrsstraße, falls Sie das meinen, und ich nehme gerade ein Bad.“

„Ihr Badezimmer?“

„Das haben wir doch bereits geklärt. Hören Sie schlecht?“

„Möglich.“

Was für eine angenehme Stimme, dachte Abby. Wenn ich nicht so wütend auf ihn wäre … stopp! Er sieht auch gut aus. Gute Figur, sonnengebräunt … vielleicht lässt sich die Sache ja bereden?

„Mein Badezimmer“, wiederholte sie. „Ich habe es von meinem Onkel geerbt. Natürlich nicht nur das Badezimmer, sondern auch das Haus und die Insel und … na ja, alles eben. Wenn Sie jetzt so freundlich wären zu gehen, dann ziehe ich mich an und … he, was haben Sie vor?“

„Sie behaupten, ein Bad zu nehmen, aber Sie sitzen nur dort in der Ecke“, sagte der Mann und kam entschlossen näher. „Warum also ist da noch eine Hand in der Wanne? Und wenn das, was zu dieser Hand gehört, mein Sohn Harry ist, dann gnade ihm Gott!“ Er stieg auf das Podest und beugte sich über den Wannenrand.

„Nein!“, protestierte Abby. „Lassen Sie …“

Cleo, die das gesamte Spiel bislang interessiert verfolgt hatte, glaubte plötzlich, die Spielregeln verstanden zu haben. Sie erhob sich, näherte sich dem Mann von hinten und bellte. Der Mann zögerte.

„Beißt der?“

„Aber ja, ständig. Sie beißt alles und jeden!“

„Harry, komm sofort da raus!“ Es klang wie heraufziehendes Donnergrollen.

„Oh nein!“, rief Abby. „Cleo wird …“

Was immer sie hatte androhen wollen, war nichts im Vergleich zu dem, was im nächsten Moment geschah. „Wuff“ machte Cleo und sprang dem Mann ohne Vorwarnung in den Rücken. Er verlor die Balance, ruderte hilflos mit den Armen und stürzte dann kopfüber in die Wanne. Eine Woge von Wasser und Schaum schwappte über den Wannenrand und ergoss sich auf den Badezimmerboden. Mit einem Aufschrei rappelte Abby sich auf die Füße, wickelte sich das Badetuch fest um den Körper und bewegte sich auf den nassen Fliesen vorsichtig in Richtung Tür.

„Hab ich dich!“, ertönte es keuchend aus der Wanne. Am ausgestreckten Arm seines Vaters tauchte der Junge aus den Schaumbergen auf. Sekunden später erschien prustend und Schaum spuckend der Vater selbst, tastete nach der nassen Podeststufe und stellte den Jungen auf die Fliesen. Sobald Harry Boden unter den Füßen spürte, begann er zu laufen. Da sein Vater ihn aber an der Badehose festhielt, kam der Junge notgedrungen nicht von der Stelle. Begleitet von einer neuerlichen Welle Badewassers, stieg nun der Mann aus der Wanne. Er starrte Abby an, die angesichts dieser Überschwemmung wie angewurzelt dastand.

„Ziehen Sie sich etwas an!“, befahl Harrys Vater, drehte den Kopf seines Sohnes energisch in die andere Richtung und schob den Jungen zur Tür. „Hinaus, mein Sohn.“

Zorn und Empörung hatten Abby bis dahin keine Zeit gelassen, an etwas anderes zu denken. Die Bemerkung des Mannes veranlasste sie nun, hastig an sich herabzuschauen. Das Handtuch bedeckte ihre Blöße … notdürftig zwar, aber immerhin. Sie suchte ihr Heil im Angriff. „Es wäre keine schlechte Idee, wenn Sie ebenfalls gehen würden, Mr. Wer-immer-Sie-sind!“, sagte sie hochmütig. Bei diesen Worten rutschte ihr das Handtuch von der linken Schulter.

Der Mann riss die Augen auf und schluckte. „Hören Sie, Mrs. …“

„Miss“, unterbrach Abby ihn. „Miss. Und wären Sie jetzt vielleicht so freundlich, mein Badezimmer zu verlassen?“ Ihr Ton strafte ihre höfliche Formulierung Lügen, denn der Blick des Mannes verriet ihr, dass das nasse Badetuch, das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte, weit mehr erahnen ließ, als ihr lieb sein konnte.

„Daddy?“ Der Junge drehte sich neugierig um, wurde jedoch von seinem Vater sofort wieder in Richtung Tür befördert.

„Entschuldigen Sie, Miss …“

„Spencer“, schrie Abby ihn an. „Würden Sie jetzt die Güte haben zu verschwinden?“

„Verschwinden? Oh, ja, natürlich …“ Ein breites, jungenhaftes Lächeln erhellte sein Gesicht und brachte Abbys Zorn fast zum Schmelzen. Mit einem letzten Blick auf Abby schob er seinen Sohn ohne Hast aus dem Badezimmer.

Die beiden hatten die Tür offen gelassen, und Abby fröstelte. Das lag allerdings nicht nur an dem kühlen Luftzug, wie sie sich ehrlich eingestand, sondern vor allem auch an dem Mann. Abgesehen von seiner Unverfrorenheit, entsprach er so ziemlich ihrer Vorstellung von einem Traummann und übte eine reichlich irritierende Wirkung auf sie aus.

Abby verdrängte diese unbequemen Gedanken und machte sich lieber daran, das Chaos in ihrem Badezimmer zu beseitigen. Sie drehte den Hebel, der den Stöpsel aus dem Wannenabfluss zog, und besah sich dann die Überschwemmung auf dem Boden. Bei genauerer Betrachtung schien der Boden ein leichtes Gefälle aufzuweisen, sodass das Wasser ganz von selbst in einen in einer Ecke befindlichen Abfluss floss. „Oh Onkel Teddy“, kicherte Abby. „Was hast du in dieser tollen Badewanne eigentlich getrieben?“

Aus dem Erdgeschoss drangen scharfe Worte herauf. Anscheinend war der kleine Harry zum Zuhören verdonnert, während sein Vater ihm kräftig die Leviten verlas. Neugier zählte zu Abbys größten Schwächen. Rasch eilte sie über den Flur in ihr Schlafzimmer und griff sich einen grünen, bodenlangen Bademantel. Cleo wich wie üblich nicht von ihrer Seite.

Abby sah keinen Grund, sich richtig anzuziehen. Ihre beiden „Gäste“ würden sowieso nicht mehr lange da sein. Sie zog den Gürtel des Bademantels um ihre schmale Taille und hielt sich nicht damit auf, ihr Haar zu föhnen. Ihre Neugier war stärker als ihre Eitelkeit. So schnell sie konnte, rannte sie mit Cleo im Gefolge die Treppe hinunter.

Harry und sein Vater hatten sich in das Wohnzimmer zurückgezogen. Das „blaue Zimmer“, wie Abby es nannte. Es war ein dunkler Raum mit nur wenigen Fenstern, aber umso mehr Vorhängen, allesamt blau. Das gab dem Raum den Anstrich einer Höhle, einer blauen Höhle. Da es außer dem Hausgenerator keine Stromquelle auf der Insel gab, sorgten zwei Propangaslampen für gedämpftes Licht.

Die beiden Herren schienen ihre Auseinandersetzung inzwischen beigelegt zu haben. Der Ältere saß, immer noch tropfnass, auf einem der altmodischen Lehnstühle und frottierte den Jungen ab, der schelmisch grinsend zwischen seinen Knien stand.

„Da“, sagte der Junge bei Abbys Eintreten. „Jetzt sind wir vier in diesem Zimmer, und nur einer von uns hat Schuhe an. Zieh deine Schuhe aus, Daddy.“

„Wieso vier?“

„Du und ich und sie und ihr Hund.“

„Ach ja, ich hatte den Hund vergessen. Aber ich kann meine Schuhe nicht ausziehen“, fügte der Mann hinzu. „Denn sie wird gleich aufbrechen, und dann braucht sie meine Hilfe. Das ist immer so: Wir Männer helfen den Frauen.“

Abby machte es sich auf der riesigen alten Couch bequem und sah die beiden herausfordernd an. „Also schön, Mr. …?“

„Farnsworth“, erwiderte er sofort. „Selby Farnsworth, und dies ist mein Sohn Harry …“

„Richtig heiße ich Henry“, unterbrach der Junge ihn. „Henry Farnsworth.“

Was für ein reizendes Schwindlerpärchen, dachte Abby. Harry Farnsworth war ein Romanheld, niemand wusste das besser als sie. Selby Jones hatte drei Bücher geschrieben, und sie hatte die ersten beiden verrissen. Aber das Dritte war fast perfekt.

„Farnsworth …“, überlegte sie laut und gab sich keine Mühe, ihren Argwohn zu verbergen. „Nun gut, Mr. Farnsworth, wie lange befinden sie sich schon auf dieser Insel? Ich habe den ganzen Tag das Haus geputzt und nicht die Spur von ihnen beiden bemerkt. Die Insel ist sehr klein. Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie sich den ganzen Tag auf meiner Insel aufgehalten haben sollen, ohne in die Nähe des Hauses zu kommen.“

„Mein Sohn und ich wohnen seit drei Wochen auf der Insel“, antwortete Harrys Vater. „Heute haben wir uns nach Hyannis übersetzen lassen, um ein paar Einkäufe zu erledigen und einen Ausflug zu machen. Ich habe diese Insel und dieses Haus für sechs Wochen bis einschließlich fünfzehnten September gepachtet.“

„Ausgeschlossen“, sagte Abby. „Das sind noch drei Wochen, und ich habe ganz gewiss keinen Pachtvertrag mit Ihnen unterschrieben. Ich habe auch nicht die Absicht, so lange zu warten, bis ich Sie wieder los bin. Am Besten packen Sie sofort, nehmen das Boot, mit dem Sie von Hyannis herübergekommen sind, und fahren zum Festland zurück. Ihren sogenannten Vertrag sollten Sie sich einmal genauer ansehen.“

„Ich besitze kein Boot. Wir hatten jemand angeheuert, der uns übersetzte, und ihn beauftragt, uns in drei Wochen hier abzuholen. Und ich brauche den Vertrag nicht zu überprüfen. Er ist legal und wasserdicht, dessen habe ich mich vor der Unterzeichnung versichert“

„Mein Dad ist …“

„Halt den Mund, Harry!“

Der Junge schlug sich mit der Hand auf den Mund. „Ich soll es nicht verraten“, flüsterte er.

„Ich bin Rechtsanwalt“, erklärte sein Vater. „Ich habe den Pachtvertrag bereits nachgeprüft.“

„Soso.“ Abby unterdrückte ein Lächeln. Es machte ihr Spaß, diesen „Rechtsanwalt“ in die Schranken zu weisen. „Und wer, bitte schön, hat ihn unterschrieben?“

„Miss Spencer …“ Selby Farnsworth setzte sich kerzengerade auf und sah Abby argwöhnisch an. „Miss Abigail Spencer?“

„Hat eine Miss A. L. Spencer unterschrieben?“, fragte Abby und lächelte triumphierend, als er nickte. „Eine kleine alte Dame mit weißem Haar und beachtlichem Temperament?“

„Genau. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?“

„Oh, auf nichts Besonderes“, sagte Abby vergnügt. „Aber zufällig bin ich die einzige Abigail in der Spencer-Familie. Sie dagegen sprechen von meiner Großtante Amaryllis Letitis. Wirklich Pech für Sie. Tante Letty wettet leidenschaftlich gern beim Pferderennen. Ich vermute also, dass sie sich mit Ihrem Geld bereits in Richtung Florida abgesetzt hat oder wo immer die Pferdchen im Augenblick laufen.“

„Dann sind Sie also diejenige …“

„Die dies hier mit allem Drum und Dran geerbt hat.“ Abby nickte. „Es ist mein Haus, meine Insel …“

„Und vergiss nicht den Schatz“, warf der Junge ein. „Hier gibt es doch einen großen Schatz, nicht wahr?“

„Keine Ahnung. Mein Onkel sprach mal davon, aber er hat nie erlaubt, dass jemand herkommt und danach gräbt.“ Ein heftiger Windstoß ließ die Fensterscheiben scheppern. Abby stand auf und trat ans Fenster. „Nun, er war ein seltsamer Kauz, mein Onkel, aber immerhin hat er mir die Insel vererbt“, fuhr sie fort. „Hören Sie, es ist schon spät, und draußen braut sich ein Sturm zusammen. Sollten Sie und Ihr Sohn nicht besser überlegen, wie Sie von hier fortkommen?“

„Das wäre ja noch schöner! Sie, oder zumindest Ihre Familie, schulden mir drei weitere Wochen Urlaub auf der Insel!“

„Verklagen Sie mich“, sagte Abby unerschrocken.

„Das werde ich. Wir verlassen die Insel erst, wenn der Vertrag abgelaufen ist.“

Lautes Donnergrollen veranlasste Abby, die Gardine beiseite zu ziehen und hinauszuspähen. Schwarze, tief hängende Wolken fegten über den Himmel, und die wenigen Bäume auf der Insel bogen sich im Wind. „Schön, an einem solchen Abend würde ich nicht einmal einen Hund hinausjagen“, sagte Abby, während sie den Vorhang wieder zuzog. „Sie können heute Nacht hier bleiben. Morgen regeln wir dann die Sache wie vernünftige Menschen.“

„Das Boot ist für den fünfzehnten September bestellt“, wiederholte Selby scharf. „So lange werden wir bleiben.“

„Ich besitze ein kleines Boot und kann Sie morgen früh zum Festland übersetzen.“

„Das würde bestimmt Spaß machen“, warf Harry mit einem Unschuldslächeln ein. „Gehört dir das kleine weiße Boot mit dem gelben Streifen?“

„Ja, warum?“, fragte Abby argwöhnisch.

„Na ja, es kann nicht sehr gut angebunden gewesen sein. Als ich es vor einer halben Stunde zuletzt sah, trieb es auf den Kanal hinaus.“

„Es trieb … hinaus?“ Alles, wonach Abby sich sehnte, war ein ruhiges, friedliches Leben. Boote trieben nicht einfach davon, zumal, wenn sie das einzige Transportmittel waren, um von Umatec Island fortzukommen. Fremde Männer tauchten nicht aus dem Nichts auf und behaupteten, Romanhelden zu sein. Und eine erwachsene, bodenständige Frau von neunundzwanzig Jahren strandete nicht auf einer einsamen Insel in Gesellschaft eines kleinen Jungen und eines Piraten!

Selby beäugte seinen Sohn misstrauisch. „Das Boot ist also einfach davongetrieben?“

„Na ja, die Leine hat sich jedenfalls gelöst und …“

„Ich weiß, wie man ein Boot festmacht.“ Abby blickte zwischen Vater und Sohn hin und her. „Der Knoten hat sich nicht von selbst gelöst.“

„Harry!“

Der kleine Junge errötete und starrte auf seine Zehen. „Ich wollte es mir doch nur ansehen. Es hatte einen Motor, und ich dachte, ich könnte es nur mal kurz ausprobieren, und …“

„Und was?“, donnerte sein Vater, als habe er einen Angeklagten im Kreuzverhör.

Abby zuckte bei diesem gnadenlosen Ton mitfühlend zusammen. Harry machte auf sie den Eindruck, als habe er besonders viel Verständnis und Mitgefühl nötig. Selbst ein Blinder konnte sehen, dass der Junge zwischen gefühlsmäßigen Extremen hin- und herpendelte. Überschäumende Fröhlichkeit wechselte mit heftigen Zornausbrüchen. Sein Vater, mochte er auch noch so attraktiv sein, schien nicht geeignet, mit den Problemen seines Sohnes fertig zu werden.

Autor

Emma Goldrick
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