Liebeserwachen im Windermere Park

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Atemlos vor Erregung schmiegt der Duke of Windermere sich an seine betörende Frau. Lange Jahre hat er Miranda vernachlässigt - doch in dieser heißen Sommernacht verliert er abermals sein Herz an sie. Ausgerechnet jetzt, da er sicher ist, dass sein Ende naht - und da er beschlossen hat, einen neuen Mann für sie zu suchen!


  • Erscheinungstag 25.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746636
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Er drang mit der routinierten Selbstverständlichkeit in sie ein, die sich im Laufe der Jahre ergeben hatte. Und obgleich sie bereitwillig nachgab, zeigte sie nicht, dass sie die Vereinigung genoss, wie sie es in den frühen Tagen ihrer Ehe getan hatte. Nach ihren Reaktionen zu urteilen, empfand sie nicht mehr so wie damals.

Zielstrebig steuerte Adrian dem Höhepunkt entgegen, und während sie leise aufseufzte, sprach er ein stummes Gebet, dass es ihm diesmal gelungen war, den Erben zu zeugen, den er so dringend benötigte. Für das Herzogtum, betete er, als er sich in ihr verströmte. Für den Namen und die Ehre der Familie, feuerte er sich an. Damit mein Name weiter fortlebt! flehte er, an wen auch immer gewandt, in dessen höherer Macht diese Angelegenheiten standen.

Wortlos zog er sich aus ihr zurück, kletterte aus dem Bett, streifte sich den Morgenrock über und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Als sie hörbar mit den Laken raschelte, drehte er sich zu ihr um und nickte.

„Ich danke dir, meine Liebe“, sagte er. Stets sprach er dieselben Worte, weil er das Entgegenkommen seiner Gattin in Bezug auf die Zeugung eines Erben zu würdigen wusste.

„Windermere“, entgegnete sie leise, ohne ihn anzusehen.

Erneut nickte er ihr zu und begab sich in sein Ankleidezimmer. Keine Stunde später befand er sich in seinem Club und genoss einen besonders guten Portwein. Und da man ihm das Getränk ohne jede Aufforderung gebracht hatte, wurde ihm schmerzlich bewusst, wie vorhersehbar alles in seinem Leben war.

1. KAPITEL

Drehen Sie bitte den Kopf zur Seite, Euer Gnaden.“

Schweigend ertrug Adrian Warfield, Duke of Windermere, die unangenehme Untersuchung. Gleich drei von Englands führenden Ärzten waren zu einem Hausbesuch gekommen, und nur seine tadellose Erziehung hielt ihn davon ab, die Flüche auszustoßen, die ihm auf der Zunge lagen. Wenn ihm diese drei Männer keine beruhigende Erklärung für seine zunehmenden Beschwerden geben konnten, sah seine Zukunft, die seiner Familie und die des Herzogtums düster aus. Der Reihe nach gab Adrian den Doktoren die Möglichkeit, ihn abzuhorchen und abzuklopfen. Als sich die Konsultation immer weiter in die Länge zog, begann er die Geduld zu verlieren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit beendeten die Ärzte ihre Untersuchungen, sodass er das Hemd und die Weste wieder anziehen konnte. Nervös wartete er auf die Urteilsverkündigung der Mediziner. Wie eine Art Geheimgesellschaft standen sie als Grüppchen neben seinem Schreibtisch und flüsterten miteinander, wobei sie ihm Blicke zuwarfen, während sie sich über seinen Zustand berieten.

„Nun, meine Herren, wie lautet Ihre Diagnose?“ Die Mienen, die sich ihm anstelle einer Antwort zeigten, gefielen ihm ganz und gar nicht. Das bedrückende Schweigen, das folgte, brachte ihn schließlich aus der Fassung, und er stieß einen der Flüche aus, die er bis dahin zurückgehalten hatte. „Zum Teufel! Nun rücken Sie schon mit der Wahrheit heraus!“

Sie tauschten Blicke aus, bevor sie ihn ansahen.

„Euer Gnaden, wir können Ihnen nichts Neues über Ihren Zustand mitteilen“, erklärte Dr. Penworthy. Die zuckenden buschigen Brauen verliehen ihm große Ähnlichkeit mit einem Pelztier.

„Aber er hat sich verschlechtert?“ Adrian machte sich auf das Schlimmste gefasst.

„Ja, er hat sich verschlechtert, Euer Gnaden. Doch nicht in so gravierender Weise, dass wir darüber besorgt wären.“ Dr. Lloyd zog ein kleines Notizbuch hervor und nickte in Richtung Schreibtisch. „Die eine oder andere Veränderung der Dosierung bei den Tropfen und Elixieren, die Sie regelmäßig einnehmen, dürfte genügen, um den Beschwerden entgegenzuwirken.“

Mit einer Geste erlaubte Adrian dem Arzt, auf dem Schreibtischstuhl Platz zu nehmen, um die Anweisungen für den Apotheker aufzuschreiben. Obgleich die Doktoren Penworthy und Wilkins erneut vielsagende Blicke austauschten, hatte keiner von ihnen andere Empfehlungen. Sie bestätigten lediglich, dass Dr. Lloyd in ihrem Namen spreche.

„Euer Gnaden, lassen Sie sich von den Veränderungen nicht zu sehr beunruhigen. Nervosität und psychische Anspannung wirken sich nur negativ auf den Zustand Ihrer Lunge aus“, versuchte Dr. Lloyd ihn zu beruhigen. Die beiden anderen Mediziner nickten zustimmend. Adrian runzelte die Stirn. Dr. Lloyd reichte ihm das Papier, auf das er die neuen Verordnungen gekritzelt hatte. „Machen Sie in diesem Sommer eine Kur – möglichst an der Küste – und Sie werden sich wie neugeboren fühlen.“

Adrian schloss einen Moment die Augen und kämpfte gegen seinen Zorn an. Er wollte nicht den Eindruck vermitteln, eine nervöse Persönlichkeit zu sein, und nicht durchblicken lassen, dass er sie alle drei am liebsten erwürgt hätte. Doch innerlich kochte er vor Wut. Die drei älteren Männer schauten ihn nachsichtig an. Sie wussten, dass er aufgebracht war, weil er sich angesichts seiner Krankheit hilflos fühlte. Hilflosigkeit war kein Gefühl, das sich ein Mann wünschte.

„Wir werden nun gehen, Euer Gnaden“, kündigte Dr. Wilkins an. „Aber falls Sie unsere Hilfe benötigen sollten, stehen wir Ihnen jederzeit zu Diensten.“

Schweigend beobachtete Adrian, wie sich die drei Ärzte zum Abschied verbeugten, die Tür öffneten und sein Arbeitszimmer verließen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er den Zettel mit den veränderten Dosierungen in der rechten Faust zerknüllt hielt. Er glättete ihn und warf ihn auf den Schreibtisch. Anschließend ging er zum anderen Ende des Zimmers und schaute aus dem geöffneten Fenster. Ein strahlend heller Tag war angebrochen. Er setzte sich auf den Lehnstuhl in der Nähe des Fensters und versuchte, sich zu entspannen. Denn in einem Punkt hatten die Mediziner zweifellos recht – starke Emotionen wie Wut und Enttäuschung erhöhten die Anzahl und die Heftigkeit der Anfälle.

Er lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und horchte auf die Geräusche vor dem Haus. Das Getrappel der Pferdehufe, das Rascheln der Blätter in der milden Frühlingsbrise, das zarte Vogelgezwitscher und die Stimmen der Ärzte.

Die Stimmen der Ärzte?

Adrian stand auf und stellte sich direkt neben das offene Fenster, sodass er etwas erkennen und zugleich selbst nicht bemerkt werden konnte. Die drei Doktoren standen wenige Meter von ihm entfernt, und obgleich sie ihre Stimmen leicht gesenkt hatten, verstand er jedes Wort.

„Wirklich jammerschade.“ Lloyd?

„Und man kann leider nichts mehr tun.“ Das war eindeutig Wilkins. Adrian horchte angespannt. Über wen sprachen sie?

„Und in der Blüte seines Lebens. Ein trauriger Fall.“ Er hatte genau vor Augen, wie Penworthys pelzige Brauen bei diesen Worten zuckten.

„Aber sollte man es ihm nicht besser sagen? Der Gedanke bereitet mir Sorge“, räumte Lloyd mit verdrießlicher Stimme ein. „Es sind Vorbereitungen und wichtige Regelungen zu treffen, und so viele Menschen sind von ihm und seinen Entscheidungen abhängig.“

Ein eisiger Schauder lief ihm den Rücken hinunter, und erschrocken wich Adrian vom Fenster zurück. Schweiß stand ihm auf der Stirn und rann ihm das Gesicht und den Hals hinunter. Dabei war es im Zimmer nicht heißer geworden. Furcht, ja schiere Panik, erfasste ihn. Die böse Vorahnung, die schon während der Untersuchung in ihm gewachsen war, schien sich zu bestätigen.

Es konnte nicht sein …

Es konnte einfach nicht um ihn gehen. Wieder versuchte er, genau hinzuhören.

„Angesichts seiner Titel und Ländereien ist davon auszugehen, dass die wichtigsten Dinge längst geregelt worden sind“, bekundete Penworthy. „Ein Mann von seinem Rang und mit seiner Verantwortung und insbesondere einer ohne leiblichen Erben ist auf alles vorbereitet und überlässt die nötigen Entscheidungen nicht dem Zufall. Nein, ich denke, es ist besser, ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation nicht zu offenbaren.“

Es folgte eine Pause, als ob die Männer über Penworthys Empfehlung nachdächten.

Ausweglosigkeit?

Adrian schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste ihre Worte falsch verstanden haben. Eben noch hatten sie ihm ins Gesicht gesagt, dass sich sein Zustand nur ein wenig verschlechtert habe. Sie hatten die Dosierungen verändert und ihm zu einer Kur geraten. Sie hatten ihn nicht davor gewarnt, dass er bald sterben würde.

„Wie viel Zeit bleibt ihm Ihrer Ansicht nach?“, fragte Wilkins. „Eine so deutliche Verschlechterung ist kein gutes Zeichen.“

„Ein halbes Jahr vielleicht? Es ist schwer, Genaueres zu sagen, ohne in den Bereich der Spekulation zu geraten, aber ich glaube nicht, dass er das Jahresende erleben wird“, erklärte Lloyd. „Wir werden seinen Zustand überwachen und alles in unserer Macht Stehende tun, um seine Beschwerden zu lindern. Insbesondere wenn sie in absehbarer Zeit schlimmer werden.“

Dann schwiegen die drei Männer eine Weile, und Adrian wischte sich mit dem rechten Handrücken den Schweiß von der Stirn. Während ihre Worte in sein Bewusstsein drangen, schüttelte er erneut den Kopf. Es konnte nicht sein! Es durfte einfach nicht wahr sein!

„Der arme Mann“, sagte Penworthy. „Auch das edelste Blut schützt einen Menschen nicht, wenn der Tod ihn auf seiner Liste notiert hat.“

Das Rattern von Rädern auf dem Kopfsteinpflaster und die vertraute Stimme seines Kutschers verrieten Adrian, dass seine Chaise gerade vor dem Haus hielt, um die Mediziner zurück zu ihren jeweiligen Praxen zu bringen. Wenig später fuhr die Kutsche die Straße hinunter, und er blieb mit der schrecklichen Wahrheit allein zurück.

Er, Adrian Warfield, Duke of Windermere, würde noch vor Ende des Jahres tot sein.

Es kam ihm vor, als würde die Zeit stillstehen, derweil das Todesurteil in seinen Ohren nachhallte. Wie betäubt von den Worten der Ärzte vermochte Adrian nicht, einen klaren Kopf zu behalten. Zu viele Gedanken, Bilder und Erinnerungen strömten auf ihn ein, während er sich bemühte, das Schreckliche seiner Lage zu begreifen.

Vor langer Zeit hatte er mit seinem älteren Bruder über die Tapferkeit von Soldaten angesichts des Todes diskutiert. Damals hatte er sich vorgestellt, wie er sich selbst in einer solchen Situation verhalten würde. Nun lagen all der Mut und das verwegene Gerede in weiter Ferne, und eine qualvolle Furcht hatte von ihm Besitz ergriffen, die seine Beine zittern ließ und eine nie geahnte Übelkeit verursachte.

Adrian wusste nicht, wie lange der Schock ihn regungslos auf dem Stuhl gefangen hielt und er nichts tat, außer zu atmen. Vor ihm schwebten Staubpartikel durch die Luft, und die Geräusche der Straße, die von draußen ins Zimmer drangen, schienen zu verstummen. Er spürte nur noch das innere Chaos, starrte in die Ferne und wartete darauf, dass die grausame Wahrheit in sein Bewusstsein drang.

Und wie ein unerwarteter Schlag in den Magen traf sie ihn.

Als Adrian die Nachricht allmählich in ihrer ganzen Tragweite erfasste, schleppte er sich taumelnd zur Anrichte, ergriff die kristallene Portweinkaraffe und stolperte mit ihr aus dem Arbeitszimmer. Er ignorierte die verwunderten Blicke seines Sekretärs und des Butlers, ging zur Treppe und stieg die Stufen in den zweiten Stock hoch, in dem sich seine privaten Räume befanden. Er eilte an seinem Kammerdiener vorbei, schlug die Tür hinter sich zu und schloss ab.

Dann stellte er den Portwein auf dem Tischchen neben dem Bett ab und riss sich das Krawattentuch vom Hals. An den Knöpfen zerrend entledigte er sich der Weste und warf sie dann quer durch das Zimmer. Er öffnete das Hemd und versuchte, tief Luft zu holen. Der krampfartige Husten, den er so fürchtete, setzte augenblicklich und in großer Heftigkeit ein, sodass er sich vor Schmerzen krümmte.

Die Minuten kamen ihm wie Stunden vor, während sich seine Lungen bei jedem Atemzug zusammenzogen. Doch schließlich spürte er, dass die Krämpfe nachließen. Er sank auf das Bett und kämpfte gegen die drohende Bewusstlosigkeit an, indem er so gleichmäßig wie möglich Luft holte, um den Körper wieder mit Sauerstoff zu versorgen. Schließlich nahm er das Klopfen an der Tür wahr und hörte den Kammerdiener durch den Türspalt fragen:

„Euer Gnaden? Euer Gnaden?“ Thompson klang besorgt – eine Besorgnis, die Adrian in diesem Augenblick nicht ertragen konnte.

„Lassen Sie mich in Ruhe, Thompson! Mir geht es gut!“, rief er.

Er hustete erneut und wartete flach auf dem Bett liegend ab, bis der Anfall ganz vorüber war. Nach ein paar weiteren Krämpfen hörte die Atemnot endlich auf. Adrian setzte sich gerade hin und ergriff den Portwein. Obgleich er wusste, dass es die Bediensteten und seine Frau schockieren würde, wenn sie ihn so sähen, führte er die Karaffe an den Mund und trank in tiefen Zügen von dem schweren Wein.

Ermattet lehnte er sich gegen das Kopfende aus Mahagoni und lauschte den Stimmen vor seiner Zimmertür. Zwei – nein drei – Leute standen dort und berieten, was sie mit ihm machen sollten. Vermutlich setzte sich die Gruppe aus seinem Kammerdiener Thompson, Sherman, dem Butler, und Webb, seinem Sekretär, zusammen, den er bei Ankunft der Ärzte aus dem Arbeitszimmer geschickt hatte.

Wie auch immer, er konnte ihnen jetzt nicht in die Augen sehen. Erst musste er sich wieder sammeln und akzeptieren, was die Ärzte verkündet hatten. Um das zu bewerkstelligen, gedachte er sich aller alkoholischen Getränke zu bedienen, die sich in Reichweite befanden. Er betrachtete die Karaffe, die er in Händen hielt, und zweifelte, dass der Portwein der Sache Genüge tun würde. Es befand sich jedoch stets ein fünfundzwanzigjähriger Whisky im Vitrinenschrank – der würde den ersten Bedarf decken.

Erneut hob Adrian das Kristallgefäß zum Mund und trank einen tiefen Schluck. Wärme breitete sich in seinem Magen und in den Gliedern aus. Da er sich unfähig fühlte, Überlegungen über seine allzu kurze Zukunft anzustellen, beschloss er zu trinken, bis die Nachricht aus seinen Gedanken getilgt war.

Freudlos lächelnd wurde ihm klar, dass er auch noch das alte Schloss zu den heimlichen Alkoholvorräten seines verstorbenen Vaters würde aufbrechen müssen, um den Schock über seinen bevorstehenden Untergang zu betäuben. Dem Tod ins Auge zu blicken, war nicht so leicht, wie er es sich vor etlichen Jahren vorgestellt hatte.

2. KAPITEL

Miranda Warfield, Duchess of Windermere, stand schweigend da, als Fisk die Tür zum Ankleidezimmer öffnete und eintrat. Sie zögerte einen Moment. Dann ließ sie zu, dass die Zofe ein letztes Mal am Stoff des Abendkleides zupfte und ihr ein paar Haarsträhnen befestigte, die sich gelöst hatten. Erst danach begab sie sich auf den immer gleichen Weg über den Gang, der an den Privatgemächern ihres Gemahls vorbei und hinunter in das Speisezimmer führte, wo sie gemeinsam mit ihm das Dinner einnehmen würde.

Ihr Alltag bestand aus sich stets wiederholenden Abläufen dieser und ähnlicher Art: aufstehen, Mahlzeiten einnehmen, sich für Verabredungen ankleiden, Veranstaltungen aufsuchen und wieder schlafen gehen. Alles im Leben der Duchess of Windermere unterlag einem streng definierten Zeitplan. Als sie vor der Zimmertür ihres Gatten stehen blieb, wurde ihr bewusst, dass heute Donnerstag war. Daher würde der Abend mit Windermeres wöchentlichem Besuch in ihrem Bett enden. Und am nächsten Morgen, wenn sie mit den bohrenden Fragen der Herzoginmutter konfrontiert war, die sich wie jeden Freitagmorgen nach ihrem Gesundheitszustand erkundigte, würde sie sittsam nicken, womit sie stumm bekundete, dass sie in allen Bereichen des Ehelebens ihre Pflicht tat.

Sie stand vor Windermeres Tür und wartete darauf, dass sein Kammerdiener öffnete. Doch die Sekunden verstrichen, und nach mehr als einer Minute neigte sie verwundert den Kopf und lauschte, ob aus dem Inneren Geräusche zu vernehmen waren. Dabei handelte es sich um eine bedauerliche Angewohnheit aus ihrer Vergangenheit, allerdings eine, die manchmal von Nutzen war. Lautes Geflüster und schlurfende Schritte waren zu vernehmen, ohne dass die tiefe Stimme des Dukes herauszuhören war. Gerade wollte sie anklopfen, als Fisk an ihre Seite eilte.

„Erlauben Sie, dass ich das übernehme, Euer Gnaden“, sagte die diensteifrige Zofe, machte einen Schritt an ihr vorbei und klopfte an die Tür.

Werde ich mich wohl jemals daran gewöhnen, dass für beinahe jeden Handgriff ein Bediensteter zur Verfügung steht? fragte sich Miranda. Selbst etwas so Simples wie das Anklopfen an eine Tür lag nach Ansicht der Herzoginmutter unter der Würde einer Duchess. Während sie ruhig dastand und auf eine Reaktion wartete, kam ihr die Situation immer seltsamer vor. In solchen Momenten sehnte sie sich danach, wieder die Tochter eines einfachen Gutsherrn zu sein und ein Leben zu führen, das nicht von Heuchelei und Getue geprägt war. Sie schüttelte den Kopf und vertrieb diese Gedanken, bevor sie Überhand gewinnen konnten.

Die Tür wurde aufgerissen, doch an Windermeres Stelle trat sein Kammerdiener heraus. Das war ebenfalls sehr sonderbar.

„Euer Gnaden“, sagte er und verbeugte sich tief vor ihr.

„Thompson.“

„Seine Gnaden kann Ihnen leider heute beim Dinner nicht Gesellschaft leisten, wünscht Ihnen jedoch einen schönen Abend.“ Die angespannte Stimme des Mannes verriet, dass etwas nicht stimmte. Außerdem hätte sie schwören können, dass sein linkes Augenlid beim Sprechen zuckte. War dies ein weiteres Anzeichen für eine Störung der üblichen Etikette?

Der Kammerdiener und die Zofe sahen sie an und warteten offenbar auf ihre Antwort. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, ertönte ein lautes Krachen, und eine ganze Reihe derber Flüche waren aus Windermeres Schlafzimmer zu hören. Thompson hustete laut, in dem vergeblichen Versuch, die wüsten Verwünschungen, die nicht für die Ohren einer Dame bestimmt waren, zu überlagern. Es war zweifellos Windermeres Stimme, auch wenn es viele Jahre her war, dass sie ihn derartig laut und zornig vernommen hatte.

„Verzeihen Sie, Euer Gnaden. Seine Gnaden ist indisponiert.“

Etikette ist wichtiger als alles andere im Leben eines Dukes oder einer Duchess!

Sofort kamen ihr die mahnenden Worte der Herzoginmutter in den Sinn, und Miranda wusste, was von ihr erwartet wurde. Sie nickte Thompson zu und wandte sich von der Tür ab. Dann ging sie den Gang entlang und die Treppe hinunter ins Speisezimmer. Längst hatte sie gelernt, ihre Gefühle zu verbergen. Niemand sollte ihr anmerken, in welche Aufregung sie der Zustand ihres Gatten versetzte.

Nachdenklich nahm sie auf dem Stuhl Platz, den der Butler für sie hervorgezogen hatte. Sie hatte Windermere das letzte Mal zornig brüllen hören, als er noch nicht der Erbe des Titels gewesen war. Damals hatte sie ihn Adrian genannt, und da er der zweitgeborene Sohn war, hatte sie noch nicht als gänzlich ungeeignete Ehefrau gegolten. Seit er nach dem Unfalltod seines älteren Bruders Duke geworden war, hatte er in ihrer Gegenwart nie wieder laut die Stimme erhoben oder in Gesprächen mehr als höfliche Begeisterung bekundet. Das eben Gehörte war also außergewöhnlich.

Ihr wurde der erste Gang serviert, doch sie nahm keinerlei Notiz davon, um was es sich handelte. Wie auch? Die Frage, weshalb sich der Duke an diesem Abend so sonderbar verhielt, nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sherman wiederholte den Namen des Gerichts, doch es hätte sich um Dreck mit einer Prise Arsen handeln können, es hätte sie gleichgültig gelassen. Während sie die Gabel zum Mund führte, wurde ihr endlich klar, worin die eigentliche Überraschung bestand.

Ihr Gatte, der Duke of Windermere, war betrunken!

Es war, als ob sich das Essen in ihrem Mund zu Staub verwandelte, als sie sich diese Erkenntnis vor Augen führte. In all den Jahren, in denen sie ihn kannte – sowohl vor ihrer Heirat als auch danach – hatte sie ihn niemals betrunken erlebt. Doch jetzt bestand daran kein Zweifel. Miranda trank einen Schluck aus ihrem Weinglas, um den Bissen hinunterzuspülen.

„Ist etwas mit den Jakobsmuscheln nicht in Ordnung, Euer Gnaden?“ Der Butler hatte sich vorgebeugt, um ihr die Frage zuzuflüstern. Es hätte sich nicht geziemt, sich lauter als im Flüsterton zu erkundigen.

„Sie sind gut, Sherman. Bitte bringen Sie den nächsten Gang.“

Als sie weiter über den Zustand des Dukes nachdachte, wurde ihr klar, dass ihn etwas außergewöhnlich wütend gemacht haben musste – derartig zornig, dass er bis zum Exzess getrunken hatte und absichtlich Gegenstände in seinem Zimmer zerbrach. Doch was konnte ihn so verärgert haben?

Es ist unverzeihlich für eine Ehefrau, sich nach den Angelegenheiten ihres Gatten oder seinen Interessen zu erkundigen, geschweige denn sich in sie einzumischen!

Miranda blinzelte, als ihr wieder die Stimme der Herzoginmutter in den Sinn kam, die sie vor unpassendem Benehmen warnte. Die Worte hallten so deutlich in ihren Ohren wider, als ob die Frau mit ihr am Tisch säße. Miranda setzte sich noch gerader hin und versuchte, sich auf das Essen zu konzentrieren.

Doch das überraschende Verhalten des Dukes hatte sie gänzlich aus dem Konzept gebracht. Es lag nicht allein an seinem betrunkenen Zustand. Sie wusste, dass Männer tranken und es manchmal damit übertrieben. Und es lag auch nicht daran, dass er erzürnt war, obgleich es nicht im Einklang mit der würdevollen und reservierten Haltung stand, die ihr Gemahl in den letzten Jahren in jeder Situation aufrechterhalten hatte.

Nein, was sie durcheinanderbrachte, war die Tatsache, dass ihr Leben erstmals nach so langer Zeit nicht nach dem strikt reglementierten Plan ablief, der einmal festgelegt worden war. Zum ersten Mal war sie überrascht und ein wenig schockiert worden – ein Vorfall, zu dem es in all den Ehejahren zuvor nie gekommen war. Erstmals nach viel zu langer Zeit zeigte sich der Duke als ein normaler Mann mit Fehlern und Schwächen.

Die verlockende Vorstellung, hinter der unnahbaren Fassade des Herzogs könne sich noch immer ein echter Mensch verbergen, versetzte sie in Aufregung. Einen Augenblick erinnerte sie sich an den vielversprechenden Beginn ihrer Ehe, und sie wünschte sich ein wirkliches Zusammenleben, anstelle dieser vorgetäuschten und ritualisierten Höflichkeiten. Natürlich wusste sie nicht, aus welchem Grund der Duke so außer sich geraten war. Aber selbst wenn der Anlass bedauerlich sein mochte, freute sie sich insgeheim über die allzu menschliche Reaktion, die dadurch ausgelöst worden war. Es gab also doch noch Leben in Adrian!

Ein sonniger und klarer Tag brach an, und Miranda erwachte vom Duft heißer Schokolade. Sie richtete sich im Bett auf, lehnte sich gegen die Kissen, die das Zimmermädchen ihr in den Rücken schob, und beobachtete, wie das Frühstückstablett mit heißer Schokolade und Toast über ihrem Schoß aufgestellt wurde. Erst nachdem sie einen Schluck des dickflüssigen heißen Getränks gekostet hatte, wurde ihr bewusst, dass sie noch immer ihren Morgenmantel über dem Nachtgewand trug.

Ihr Gatte war nicht zu der wöchentlichen Verabredung erschienen!

Trotz seiner Abwesenheit beim Dinner hatte sie gedacht, er würde sie später aufsuchen. Also war sie so zu Bett gegangen, wie sie es jeden Donnerstagabend zu tun pflegte – mit einem Morgenmantel über dem Nachtgewand. Sie war davon ausgegangen, der Duke würde wie jeden Donnerstag die Kerze auf dem Betttisch löschen, unter die Decken schlüpfen, ihr den Morgenmantel von den Schultern streifen und seiner ehelichen Pflicht nachkommen. Sobald er gegangen war, begab sie sich stets in ihr Ankleidezimmer, wusch sich, ließ den Morgenmantel am Fuße des Bettes liegen und legte sich schlafen.

Kopfschüttelnd machte sie sich klar, dass er sie erstmals in Monaten, wenn nicht Jahren, nicht aufgesucht hatte.

„Euer Gnaden?“, flüsterte das Zimmermädchen und näherte sich knicksend der Bettkante. „Ist etwas mit Ihrer Schokolade nicht in Ordnung? Soll ich Ihnen eine neue Tasse bringen?“

„Nein, Betsy“, antwortete sie kopfschüttelnd. „Ist Seine Gnaden … noch immer …?“

„Indisponiert, Euer Gnaden?“, fügte die junge Dienstmagd hinzu, womit sie sich der höflichen Umschreibung für den gestrigen Zustand des Hausherrn bediente.

„Ja, indisponiert … oder ist er heute Morgen ausgeritten?“ Miranda verlagerte die Position im Bett und stellte die Porzellantasse wieder auf dem Tablett ab. „Es sieht nach günstigem Wetter für einen Ritt durch den Park aus.“

Verstand das Zimmermädchen ihre Neugier? Miranda hatte sich bemüht, einen desinteressierten Ton anzuschlagen, auch wenn Betsy gewiss ahnte, was der Frage zugrunde lag.

Bevor das Zimmermädchen antworten konnte, öffnete sich die Tür und Fisk trat ein. Nachdem sie einen Blick auf ihre Herrin geworfen hatte, entließ die erfahrene Zofe die junge Bedienstete mit einem Nicken und wartete ab, bis sie das Zimmer verlassen hatte. Erst dann ergriff sie das Wort.

„Seine Gnaden ist noch immer im Bett und hat das Haus gestern Abend nicht verlassen.“

„Das ist äußerst seltsam.“

Bevor sie sich recht besann, hatte sie ihrer Verwunderung Ausdruck verliehen. Fisk schwieg und wirkte ein wenig verlegen. Es war erstaunlich, wie leicht eine Veränderung im Verhalten des Dukes an einem einzigen Abend den ganzen Haushalt in Verwirrung stürzen konnte.

Miranda gab der Zofe ein Zeichen, dass sie das Frühstück beendet hatte, und wartete ab, bis das Tablett abgeräumt wurde. Dann stand sie auf und ging in das Ankleidezimmer. Die Garderobe war bereits für sie herausgelegt worden. Fisk half ihr beim Ankleiden und Frisieren, sodass sie wenig später bereit war, der wöchentlichen Befragung durch die Mutter des Dukes ins Auge zu blicken.

Die Zofe öffnete für sie die Zimmertür, und Miranda musste daran denken, dass sie sich niemals an diese bedrückende Begegnung mit der Herzoginwitwe gewöhnen würde. Jedenfalls nicht, solange sie nicht die Nachricht mitbrachte, Windermeres Erben unter dem Herzen zu tragen. Und mit jedem Monat und Jahr, die verstrichen, wurde diese Ankündigung unwahrscheinlicher.

Die Fahrt zum Stadthaus der Herzoginmutter dauerte nicht lang genug, um über die vielen Fragen nachzudenken, die ihr an diesem Morgen durch den Kopf schossen.

Nachdem Miranda das Gesellschaftszimmer betreten hatte, setzte sie sich auf das Sofa neben dem Fenster. Von hier konnte sie wenigstens in den Garten blicken. Sie holte tief Luft und versuchte, sich für die Begegnung mit ihrem Drachen von Schwiegermutter zu wappnen.

„Miranda!“

Allein der Befehlston, in dem die Herzoginwitwe sprach, veranlasste sie aufzustehen und zu nicken. Niemand blieb einfach sitzen, wenn Cordelia Warfield, Dowager Duchess of Windermere, einen Raum betrat. Dabei war es vollkommen unerheblich, welchen Alters oder gesellschaftlichen Ranges man war. Jeder erhob sich, wenn Ihre Gnaden durch die Tür schritt. Miranda wusste aus zuverlässiger Quelle, dass selbst der Prinzregent nicht anders reagierte, sobald er die Dame erblickte.

Mit einer Körperhaltung, die selbst die strengste Gouvernante nicht zu tadeln vermocht hätte, stolzierte die alte Frau durch das weitläufige Zimmer bis zu dem Stuhl, der Miranda gegenüberstand.

Bei einer anderen Frau hätten das fast weiß gewordene Haar und die klaren blauen Augen vermutlich etwas Herzliches und Warmes ausgestrahlt. Bei der Dowager Duchess hingegen betonten sie nur die verbitterten Züge um die Mundwinkel und die Kälte des Blicks.

Ihre Gnaden nahm würdevoll Platz und faltete die Hände auf dem Schoß. Der Abstand zwischen ihrem Rücken und der Stuhllehne betrug genau sechs Zoll. Miranda wusste, dass der Abstand sechs Zoll betrug, da die Herzoginmutter dies für die einzig korrekte Sitzhaltung einer Duchess hielt – egal ob in der Öffentlichkeit oder im Privaten.

Miranda setzte sich wieder kerzengerade auf das Sofa und legte ebenfalls die Hände in den Schoß. Da die alte Dame sich nur räusperte, anstatt dezent zu husten, wusste Miranda, dass sie die gewünschte Körperhaltung eingenommen hatte. Das anschließende Hüsteln signalisierte dem Butler, den Tee zu servieren.

Da es für ein ländliches Frühstück zu spät und für ein städtisches zu früh war, erwartete Miranda nicht mehr als Tee und Gebäck. Ihre Schwiegermutter hasste die Zeiten, die in der Stadt Gültigkeit besaßen, und war seit Sonnenaufgang auf den Beinen. Stets beschwerte sie sich über den Mangel an Disziplin, der andere Menschen veranlasste, den halben Morgen zu verschlafen. Da Miranda mit dieser Frau in einem Haus gelebt hatte, bevor ihr Gatte den Titel erlangte, wusste sie genau, was von ihr erwartet wurde. Die Witwe wünschte ihren wöchentlichen Bericht. Anschließend würde sie die ungeliebte Schwiegertochter wie eine Bedienstete aus dem Zimmer entlassen. Da der erhoffte Erbe bisher ausgeblieben war, bemühte die Mutter des Dukes sich nicht einmal um einen Anschein von Zuneigung.

„Wie befinden Sie sich heute, Miranda?“ Auch wenn die Herzoginmutter in ihrem Tee rührte, ließ sie das Gesicht der Schwiegertochter nicht aus dem Blick. Sie suchte nach Anzeichen … für ganz besondere Umstände.

„Mir geht es gut, Euer Gnaden. Und wie geht es Ihnen?“ Miranda schaute zur Seite. Nach wie vor war sie unfruchtbar. Als sie den Kopf wieder zurückwandte, bestimmte noch immer dieselbe Grimasse die harten Züge der alten Frau.

„Meine Patentochter Juliet wird nächste Woche den Ball von Lady Crispin besuchen. Haben Sie vor, ebenfalls dort zu erscheinen?“ Geschickt hatte die die Dowager Duchess das Gesprächsthema gewechselt.

Anscheinend ist sie ohnehin davon ausgegangen, dass ich sie wieder enttäuschen werde.

Miranda nickte nur.

„Und mein Sohn?“

„Euer Gnaden, ich würde mir niemals anmaßen, über Windermeres Tagesplanung im Bilde zu sein.“ Die Herzoginwitwe musterte sie skeptisch, als ob sie hinter den Worten eine Respektlosigkeit vermutete. Doch Miranda erwiderte den Blick mit Arglosigkeit. „Falls Sie es wünschen, kann ich gern den Sekretär Seiner Gnaden danach fragen.“

Miranda hatte ihre Schwiegermutter dabei unterstützt, Juliet Stevenson, deren Patentochter, in die Gesellschaft einzuführen und war nach wie vor dazu bereit. Schließlich wollte sie die hilflose Wut, die sie gegenüber der alten Dame empfand, nicht an einem unschuldigen Mädchen auslassen.

„Ich werde seinen Sekretär selbst benachrichtigen“, verkündete die Dowager Duchess, erhob sich und glättete das aufwendig verzierte Morgenkleid.

„Worüber, Mutter?“

Miranda zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres Gatten vernahm. Sie drehte sich langsam um und beobachtete, wie Adrian das Gesellschaftszimmer betrat und Herzoginwitwe mit einem höflichen Nicken begrüßte. Sein Gang und die Art, wie er den Kopf hielt, verrieten ihr, dass er erheblich unter den Nachwirkungen seiner vorabendlichen Unpässlichkeit litt.

„Ich wüsste es zu schätzen, wenn du beim Ball der Crispins in der nächsten Woche zugegen wärst, Adrian. Es ist erst der dritte Ball seit Juliet bei Hofe vorgestellt wurde, und als Teil ihrer Familie ziemt es sich für uns, dort gemeinsam mit ihr zu erscheinen.“ Die Herzoginmutter hielt inne und musterte den Sohn mit kritischer Miene. „Du siehst reichlich mitgenommen aus.“

Auch Miranda warf einen Blick ihren Gatten. Sein Hemd aus feinstem Leinen und die übrige Kleidung waren untadelig und modisch wie immer. Erst vor wenigen Tagen hatte er sich das Haar kürzer schneiden lassen, sodass die schwarzen Locken nicht mehr bis zum Kragen reichten. Er war noch immer ein attraktiver Mann, wie damals, als sie sich erstmals begegnet waren.

Der Eindruck, den er heute vermittelte, hatte nichts mit seiner Bekleidung zu tun. Trotz seiner leicht gebräunten Haut wirkte er ungewöhnlich blass, und rote Adern durchzogen das Weiß seiner Augen. Ohne Frage sah er an diesem Vormittag wie ein Mann aus, der unter den üblen Nachwirkungen übermäßigen Alkoholgenusses litt.

„Es geht mir gut, Mutter. Ich bin nur müde“, sagte er. Er sah fragend zu Miranda. Würde sie die Wahrheit enthüllen? Als sie nur ganz leicht nickte, fuhr er fort: „Ich bin mir über meine Pläne für die kommenden Wochen noch nicht hundertprozentig im Klaren. Ich muss auf jeden Fall nach Windermere Park, um … Geschäftsangelegenheiten zu regeln, und ich weiß noch nicht genau, wann ich zurückkehren werde.“

Ihm fiel auf, dass seine Frau ihn aufgrund der zögerlichen Reaktion musterte, und er wartete ab, ob sie nachfragte. Doch selbstverständlich schwieg sie. Miranda war von seiner Mutter zu einer perfekten Duchess erzogen worden und würde es niemals wagen, ihm in der Öffentlichkeit eine Frage zu stellen. Und seit sie sich unter der Fuchtel der resoluten alten Dame befand, traute sie sich ebenso wenig, ihn privat zur Rede zu stellen.

Wie würde sie auf die Nachricht ihrer bevorstehenden Witwenschaft reagieren? Würde sie überhaupt eine Regung zeigen? Doch jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, um solche Dinge zur Sprache zu bringen. Erst einmal musste er in Ruhe klären, welche rechtlichen Folgen sein Tod haben würde. Dann würde er mit seiner Frau reden. Oder lagen die Ärzte mit ihrer Ansicht vielleicht ganz richtig, dass es besser war, nicht im Voraus über derartig fatale Schicksalsschläge unterrichtet zu sein?

„Während das Parlament tagt? Ich dachte, du wolltest unbedingt zu verschiedenen Themen das Wort ergreifen“, sagte seine Mutter.

Als er ihre eisigen Blicke spürte, versuchte er trotz der Kopfschmerzen, der Übelkeit und der brennenden Augen seine Gedanken zu ordnen. Er strich sich mit einer Hand durch das Haar und holte tief Luft, bevor er antwortete.

„Es gibt dringende Probleme, die das Gut betreffen und die keinen Aufschub erlauben. Ich werde nur ein paar Sitzungen verpassen, während ich mich um unsere Familieninteressen im Norden kümmere.“ Gnadenlos spielte er die Trumpfkarte aus – Familieninteressen.

Zu seinem Erschrecken stieg ein Hustenreiz in seinen Lungen auf. Er ging zur Terrassentür, die zum Garten hin geöffnet war, und hielt die rechte Hand vor den Mund, um das Schlimmste zu verbergen. Dieses eine Mal hatte das Schicksal Mitleid mit ihm, und der Hustenreiz verflog.

„Möchtest du, dass ich dich begleite?“ Er vernahm Mirandas leise Stimme, blieb jedoch mit dem Rücken zu ihr stehen. „Ich habe derzeit in der Stadt keine zwingenden Verpflichtungen.“

Wusste sie, wie betrunken er gestern Abend gewesen war? Er entsann sich, sein Schicksal in ziemlich lauter und ordinärer Weise verflucht zu haben … Hatte sie es gehört? Angesichts der Ungewissheiten, die vor ihm lagen, beschloss er, die Reise allein anzutreten.

„Ich sehen keinen Anlass für dich, mitten in der Saison aufs öde Land zu gehen, meine Liebe. Ich werde höchstens eine Woche fort sein.“

Nun sah er sie direkt an und bemerkte das strahlende Blau ihrer Augen und die Fülle ihrer Lippen, die sie zu einem Schmollmund verzog, als ob sie über seine Entscheidung enttäuscht wäre. Jede Entgegnung, die sie hätte machen können, wurde durch das leise Hüsteln seiner Mutter unterbunden, die Miranda vorwurfsvoll anstarrte. In diesem Moment fand eine Art wortloser Kommunikation zwischen den beiden Frauen statt, und er beobachtete, wie Miranda eine noch aufrechtere Haltung einnahm – als ob dies noch möglich gewesen wäre – und den Mund fest zusammenpresste.

Kurz kam ihm eine Erinnerung in den Sinn, und er hatte Miranda bei ihrer ersten Begegnung vor Augen. Als einzige Tochter eines Nachbarn – ein reicher Gutsbesitzer mit einem unbedeutenden Titel – war sie zu einem ländlichen Ball auf dem Familienstammsitz der Windermeres eingeladen worden. Fasziniert von ihrer lebhaften Persönlichkeit und ihrem warmherzigen Lächeln hatte er sie zum Tanz aufgefordert. Er erinnerte sich noch genau, wie ihre dunkelblonden Locken im Schein der Kerzen schimmerten, als sie miteinander getanzt hatten. Sie hatte ihn angelächelt, und lachend hatten sie den Tanz beendet und waren anschließend gemeinsam zum Souper gegangen.

Ihre gesellschaftliche Stellung und vor allem die beachtliche Mitgift, die sie in die Ehe einbringen würde, wurden damals als ausreichend erachtet, weil er nur der zweitgeborene Sohn eines Dukes war. Also heirateten sie bereits im Jahr darauf, sogar noch bevor sein älterer Bruder und Erbe der Familie eine Ehe eingegangen war. Adrian wurde bewusst, dass er seine Frau anstarrte, und er versuchte, die Bilder aus der Vergangenheit zu verdrängen. Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern, und was ihm in naher Zukunft drohte, verstärkte sein Unbehagen. Mit einem Nicken verabschiedete er sich zuerst von seiner Mutter und dann von seiner Gattin. „Ich habe noch viel zu erledigen, bevor ich mich auf den Weg machen kann.“ Er verbeugte sich höflich vor den beiden Frauen und ging zur Tür, die ein Lakai für ihn öffnete. „Ich wünsche euch beiden einen guten Tag“, sagte er zum Abschied und empfand zum ersten Mal eine gewisse Beklemmung, Miranda in den Klauen der Herzoginwitwe zurückzulassen.

3. KAPITEL

Nachdem Adrian gegangen war, gab es nichts mehr zu sagen. Die Herzoginmutter wäre lieber erstickt, als sich die Blöße zu geben, ihre Schwiegertochter nach dem Befinden des Sohnes zu fragen. Die wöchentliche Vorladung war beendet, und Miranda ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie sich darauf freute, dem Haus der verbitterten alten Frau den Rücken zuzukehren. Sie stellte die halbvolle Tasse mit Tee vor sich auf dem Tisch ab und erhob sich. Obgleich sie als Gemahlin des derzeitigen Dukes im Rang höher stand als die verwitwete Herzogin, entschied sich Miranda, der Älteren bei der Verabschiedung ihren Respekt zu erweisen.

Bevor sie nicht einen Erben zur Welt brachte oder wenigstens eine Tochter, würde die Mutter ihres Gatten in ihr weiterhin nichts anderes sehen als die gänzlich ungeeignete Frau ihres zweiten Sohnes. Keine Macht der Welt würde etwas an dieser Betrachtungsweise ändern. Miranda senkte den Kopf, womit sie eine höfliche Verneigung andeutete, ging zur Tür und zögerte nur einen kurzen Moment, als der eifrige Butler der Dowager Duchess die Tür für sie öffnete.

Nach einem solchen Besuch musste Miranda jedes Mal gegen den Drang ankämpfen, sich den Hut vom Kopf zu reißen und schreiend die Straße hinunterzulaufen, wie eine Wahnsinnige, der nur noch der Weg ins Irrenhaus blieb. Doch ihre jahrelange Selbstbeherrschung gewann die Oberhand. Sie überquerte den Gehweg und stieg in die wartende Kutsche. Nachdem sie sich gesetzt hatte und Fisk, die während des Gesprächs im Dienstbotenquartier gewartet hatte, ihr gegenüber Platz nahm, strafte nur das leichte Zittern ihrer verschränkten Hände die ausdrucklose Miene Lügen, die sie aufzusetzen wusste, wenn es nötig war.

Und jetzt war es nötig.

„Wenn du dich bewegst, als ob du eiserne Korsettstangen trügest, weiß ich immer sofort, dass du gerade die Witwe besucht hast.“

Miranda versuchte, nicht zu lachen, doch die respektlose Haltung ihrer Freundin machte alle Anstrengungen zunichte. Ihr entfuhr ein seltenes Kichern, sie lächelte und nahm den Hut vom Kopf.

„Ich versichere dir, mein Korselett ist aus ganz normalem Material, Sophie“, sagte sie und schmunzelte noch immer, als sie auf dem Stuhl mit dem gestreiften Seidenbezug Platz nahm. „Obgleich ich zugebe, dass ich mich in Gegenwart Ihrer Gnaden nie wohlfühle.“

Autor

Terri Brisbin
Das geschriebene Wort begleitet Terri Brisbin schon ihr ganzes Leben lang. So verfasste sie zunächst Gedichte und Kurzgeschichten, bis sie 1994 anfing Romane zu schreiben. Seit 1998 hat sie mehr als 18 historische und übersinnliche Romane veröffentlicht. Wenn sie nicht gerade ihr Leben als Liebesromanautorin in New Jersey genießt, verbringt...
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