Miss Blacks gefährliches Geheimnis

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„Geh zum Earl.“ Nancy gehorcht ihrem sterbenden Vater und sucht ihren entfremdeten Großvater auf, den Earl of Brampton. Tatsächlich bietet dieser ihr an, sich um sie zu kümmern und sogar als Debütantin in die feine Gesellschaft einzuführen. Doch dort fühlt Nancy sich wie in einem goldenen Käfig! Bis sie dem rebellischen Lord Matthew Stringham begegnet. Sein unkonventioneller Lebensstil zieht sie magisch an, und seine charmanten Verführungskünste lassen ihr Herz schneller schlagen. Aber kann sie es wagen, ihm ihr gefährliches Geheimnis zu gestehen – dass ihr Vater ein Verbrecher war und sie selbst als Bandenmitglied die Aristokratie bestahl?


  • Erscheinungstag 24.06.2025
  • Bandnummer 430
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531665
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

Samantha Hastings

Miss Blacks gefährliches Geheimnis

1. KAPITEL

London, England, Februar 1813

Lord Matthew Stringham ließ sich auf den Stuhl sinken und legte gähnend seine Ledermappe auf den Schreibtisch. Den größten Teil des Tages hatte er in einer Kutsche zugebracht. Die Rückreise aus Leeds hatte sich in die Länge gezogen.

Klack, schlurf, schlurf.

Klack, schlurf, schlurf.

Matthew stand auf. Eigentlich hatte er seinen eifrigen Sekretär Mr. Howitt erwartet, doch diese Geräusche stammten eindeutig von Matthews Großvater, der sich schon lange auf einen Gehstock stützte. Der alte Herr machte sich gar nicht erst die Mühe, zu klopfen, bevor er das Büro seines Enkels betrat.

„Höchste Zeit, dass du zur Arbeit erscheinst.“

„Setz dich, Großvater“, sagte Matthew und half dem alten Mann in den weich gepolsterten Sessel am Fenster. „Du wusstest doch, wo ich heute war.“

Der Großvater schnaubte und lehnte seinen Stock gegen die Armlehne. „Dampflokomotiven, ha!“

Matthew nahm wieder hinter dem Schreibtisch Platz. „Sie sind die Zukunft. Eines Tages werden sie mir ein Vermögen einbringen, das noch größer ist als deins.“

Ein müdes Lächeln umspielte den Mund des Großvaters. „Das sagst du.“

„Dampflokomotiven werden Güter und Menschen in jedes Dorf auf dieser Insel und eines Tages sogar in die ganze Welt bringen.“

„Nun, während du deinen Träumereien nachhingst, habe ich mich um unser Geschäft gekümmert“, entgegnete Großvater Stubbs. „Es scheint, dass die Horse Guards von der hervorragenden Qualität unserer Waren gehört haben. Sie sind daran interessiert, dass wir die britische Armee auf der Halbinsel beliefern.“

Matthew beugte sich vor. „Das ist großartig! Wir verdreifachen unsere Investitionen in unser Schifffahrtsunternehmen.“

„Mindestens.“

Der alte Mann strich sich über den Zipfel seines langen weißen Barts. Das tat er immer, wenn er nachdachte.

„Was ist los?“

Der Großvater schwieg einen Moment. „Ich denke, es wäre das Beste, wenn du die Verhandlungen mit dem Kriegsminister führtest. Schließlich betrachtet er dich als ebenbürtig.“

Matthew knirschte mit den Zähnen. Sein Großvater mütterlicherseits war ein wohlhabender Geschäftsmann, der seine Tochter mit dem Erben eines Herzogtums verheiratet hatte. Doch obgleich diese längst Duchess war, wurde der alte Stubbs in den feinen Kreisen nicht willkommen geheißen. Matthew, zweitgeborener Sohn eines Duke, war genauso ein Kaufmann wie sein Großvater. Er liebte es, Geschäfte zu machen und spitzfindige Verträge auszuarbeiten. Er beschäftigte sich mit denselben Dingen wie sein Großvater. Sie unterschrieben sogar dieselben Papiere.

Doch Matthew wurde von der feinen Gesellschaft akzeptiert und sein Großvater nicht. Das ärgerte ihn zutiefst.

„Der alte Rübenlutscher will also keine Geschäfte mit dir machen“, bemerkte Matthew spöttisch.

Großvater Stubbs nickte.

„Er ist ein Narr.“

„Ich weiß.“

„Für seine Überheblichkeit werde ich ihn einen Wucherpreis bezahlen lassen.“

Der alte Mann lachte. „Oh, ich weiß, Matthew. Und es erfüllt mich mit großer Genugtuung.“

Miss Nancy Black duckte sich und fluchte leise, als eine Kugel pfeifend über ihrem Kopf hinwegsauste. Jemand musste sie verraten haben. Es hatte ein unkomplizierter Diebstahl werden sollen: ein paar englische Regierungsdokumente, die an einen französischen Spion verkauft werden sollten. Die Bezahlung war gut, und das Risiko schien gering. Der Hausherr sollte erst in frühestens zwei Stunden zurück sein. Giselle hätte dafür sorgen müssen. Doch nun stand er mit einer rauchenden Pistole vor ihr. Gut, dass sie die Papiere längst eingesteckt hatte.

Bevor er nachladen konnte, stürmte Nancy auf ihn zu und riss ihn mit sich zu Boden. Rasch schlug sie ihm die Pistole aus der Hand, sprang auf und hastete auf den Gang. Das offene Fenster, durch das sie eingestiegen war, kam für die Flucht nicht mehr infrage. Schon in wenigen Augenblicken würde der feine Pinkel mit neu geladener Waffe auf sie zielen. Sie erreichte die Treppe und nahm zwei Stufen auf einmal. Die letzten vier sprang sie einfach hinunter, wobei sie den beleibten Butler umwarf, der sich ihr in den Weg stellte. Ein Kandelaber fiel scheppernd auf den Marmorboden. Sie stieß dem Butler ihren rechten Ellbogen gegen die Nase, rappelte sich hoch und rannte zur Haustür. An den Riegeln zerrend gelang es ihr, die Tür zu öffnen. Hinter sich hörte sie das Stöhnen des Butlers und ein zischendes Geräusch. Eine Kugel streifte ihren linken Arm. Sie legte die rechte Hand auf die Wunde, unterdrückte einen Schmerzensschrei und eilte auf die Straße. Sie lief zickzack durch die Stadt, bis sie die besseren Gegenden verlassen hatte. Als sie den Rand ihres Elendsviertels erreicht hatte, ließ sie sich in einer dunklen Ecke auf einen Mauervorsprung sinken und rang nach Atem. Blut durchtränkte ihren linken Ärmel und besudelte die gesamte Jungenkleidung, die sie für den Diebstahl angezogen hatte. Mit zitternden Fingern riss sie einen Stoffstreifen vom unteren Rand des Hemdes. Ein Unterkleid wäre jetzt nützlich gewesen, aber bei Einbrüchen trug sie nie ein Kleid. Es war zu schwierig, damit in ein Gebäude hineinzuklettern. Sie umwickelte die Wunde am Oberarm mit dem Stoffstreifen, den sie mithilfe der Zähne zuknotete. Vor Schmerz keuchend lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Mauer und atmete tief durch.

Jemand hatte sie verraten.

Aber wer?

Ihr Vater und sie gehörten seit fast zehn Jahren zu einer kriminellen Bande – seit Nancys vierzehntem Lebensjahr. Nur neun von ihnen waren noch am Leben: Alastair, Bones, Mick, Charles, Giselle, Lily, Peter, Vater, und sie selbst. Bisher hatte sie den anderen aus der Bande vertraut. Die Aufträge waren oft riskant gewesen, und ihr war gar nichts anderes übrig geblieben, als sich auf die anderen zu verlassen. Meist hatte sie Bettlerinnen oder feine Damen gespielt oder war wie jetzt in Jungenkleidung geschlüpft.

War Alastair wütend auf sie?

Sie schloss die Augen und zerbrach sich den Kopf. Ihr Vater hatte ihr den Plan für den Einbruch erläutert. Giselle sollte ihre weiblichen Reize einsetzen, um den Aristokraten abzulenken.

Nancy hatte sich hinter das Haus geschlichen, war bis in den ersten Stock an der Mauer hochgeklettert und hatte ein Fenster zur Bibliothek erreicht, das sich mühelos öffnen ließ. Praktischerweise lagen die begehrten Dokumente auf dem Schreibtisch. Alles war reibungslos verlaufen, bis der Hausherr plötzlich mit seiner Waffe in die Bibliothek gestürmt war.

Giselle war es wohl nicht gelungen, ihn abzulenken.

Nancy schüttelte den Kopf. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Giselle jemals einen Fehler gemacht hatte. Hatte sie die Bande verraten?

Wenn ja, musste Nancy dringend zurück in das Zimmer, das sie sich mit ihrem Vater teilte. Wankend rappelte sich Nancy auf und schleppte sich die schummrig beleuchtete Straße entlang, bis sie das heruntergekommene Gebäude erreichte, in dem sie seit einer Woche wohnten. Das Glück am Spieltisch hatte ihren Vater in den letzten Monaten fast vollständig verlassen, und alle vierzehn Tage waren sie von einer schäbigen Unterkunft in eine noch schlechtere gezogen. Nancy hatte gehofft, dass sie mit diesem Diebstahl genug Geld verdienen würden, um sich endlich wieder ein sauberes Zimmer leisten zu können – eine Unterkunft ohne Bettwanzen, Ratten und stinkendem Abwasser vor der Tür.

Nancy umfasste ihren pochenden Arm, während sie hinter das Haus eilte. Sie befürchtete, dass an der Vorderseite jemand auf sie wartete. Ihr Zimmer lag im ersten Stock, und es gab keine Hintertreppe. Sie blickte hoch und sah, dass in ihrem Zimmer ein Licht brannte. Das Fenster stand offen. Sie zitterte, weil sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Es war kalt und windig. Ihr Vater hätte das Fenster nicht geöffnet. Das musste ein anderer getan haben, der vermutlich durch das Fenster eingedrungen war – auf ähnliche Weise wie sie in das Haus des Adligen.

Nancy holte ihr Messer heraus und klemmte es sich zwischen die Zähne. Den unversehrten Arm brauchte sie zum Klettern. Sie ignorierte die stechenden Schmerzen und legte entschlossen die rechte Hand auf einen Ziegelstein des Mauerwerks. Obwohl es ihr mit dem verletzten Arm kaum gelang, sich an der anderen Seite festzuhalten, war sie geübt genug, mit den Füßen die nötigen Kerben und Ritzen im Mauerwerk zu finden, um nach oben zu klettern. Mit letzter Kraft hievte sie sich über den Rahmen des geöffneten Fensters. Sofort nahm sie mit dem Messer eine Verteidigungshaltung ein. Sie war auf einen Angreifer vorbereitet.

Doch die einzige Person in dem Zimmer war ihr Vater.

Er lag in einer Blutlache auf dem Boden.

Nancy erstarrte, und ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr größter Albtraum war wahr geworden. Der Einzige aus ihrer Familie, der ihr geblieben war, war tot, und ihre Bande hatte sie offenbar verraten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch dann sah sie, dass sich der Brustkorb ihres Vaters ganz leicht hob und senkte.

Er war noch am Leben!

Sie ließ das Messer fallen, griff nach dem Bettlaken und drückte es auf die Wunde. Sie musste verhindern, dass er verblutete.

Ihr Vater legte eine blutverschmierte Hand auf ihre. „Es hat keinen Sinn, mein Liebling“, sagte er hustend. „Ich habe keine Karte mehr im Ärmel stecken, die ich ausspielen könnte. Ich bin ein toter Mann.“

Ihr Herz zog sich vor Schmerz zusammen, und Tränen liefen ihr über die Wangen. „Nein, Papa. Das ist nur ein Kratzer. Ich bringe dich zu einem Arzt, der wird dich wieder zusammenflicken.“

„Nein“, krächzte er. „Du wirst sonst auch getötet. Heaps Männer suchen nach dir.“

Ihr stockte der Atem. Es gab nur wenige Männer in London, die gefährlicher waren als der Geldverleiher Harry Heap. Die Furcht kroch ihr in die Knochen, und ihr war, als ob die Welt zusammenbrechen würde. „Papa, ich liebe dich! Ich kann dich nicht zum Sterben zurücklassen.“

Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Kraftlos ließ er die Hand von ihrer gleiten. „Du musst. Ich bin bereits ein toter Mann, aber du wirst leben. Du verdienst ein besseres Leben. Geh zu deinem Großvater. Er wird dir jetzt helfen …“

Der Kopf des Vaters sank nach hinten. Seine Augen waren noch geöffnet, doch er war bereits tot. Behutsam schloss Nancy seine Lider und drückte ihm einen letzten Kuss auf die Stirn.

Ihr Körper fühlte sich wie betäubt an. Sie war nun vollkommen allein, und niemand würde sich darum scheren, wenn ihr etwas zustieß. Nancy unterdrückte ein Schluchzen. Heaps Männer konnten noch immer in der Nähe sein. Sie wischte sich über die Nase und richtete sich auf.

2. KAPITEL

Matthew wartete nun zum zweiten Mal im Gebäude der Horse Guards auf ein Gespräch mit Lord Brampton. Der Kriegsminister hatte erneut darauf bestanden, Geschäfte nur mit Matthew und nicht mit dessen Großvater abzuschließen. Matthew war der zweitgeborene Sohn eines Duke. Es war allerdings unwahrscheinlich, dass er das Herzogtum Hampford erben würde. Seine Schwägerin Louisa, die Frau seines älteren Bruders Wick, Lord Cheswick, hatte gerade ihren zweiten Sohn zur Welt gebracht. Der Kleine war rotgesichtig und rothaarig und das süßeste kleine Baby, das Matthew je im Arm gehalten hatte – möglicherweise, weil sie den Neffen nach ihm benannt hatten. Als er den kleinen Matt in seinen Armen geschaukelt hatte, war ihm sogar in den Sinn gekommen, sich eine Frau zu suchen und eine eigene Familie zu gründen.

Kaum nach London zurückgekehrt war er bei einem Ausritt durch den Hyde Park von nicht weniger als acht Müttern in Kutschen angehalten worden, die ihm unbedingt ihre heiratswilligen Töchter vorstellen wollten. Daraufhin hatte er beschlossen, dass er es doch nicht eilig hatte, eine Ehe einzugehen. Schließlich war er erst sechsundzwanzig Jahre alt und wollte nicht wegen seines Geldes geheiratet werden. Denn obgleich er ein kluger Geschäftsmann war, glaubte er an das Heiraten aus Liebe. Er war mit Eltern aufgewachsen, die sehr ineinander verliebt gewesen waren. Selbst sein Bruder Wick, der ein eingefleischter Junggeselle gewesen war, hatte schließlich mit Louisa seine Frau fürs Leben gefunden. Matthew war überzeugt, dass es sich lohnte, auf die wahre Liebe zu warten.

Ganz anders verhielt es sich mit dem Kriegsminister. Matthew wartete nun schon fast eine halbe Stunde vor Bramptons Büro, und allmählich verlor er die Geduld. Als der alte Mann endlich die Tür öffnete, war Matthews gute Laune verflogen. Der Kriegsminister war ein großer hagerer Mann mit runzeligem Gesicht und einem Schopf weißer Haare. Er entschuldigte sich nicht dafür, dass sein Besucher hatte warten müssen. Davon war Matthew allerdings auch nicht ausgegangen, und ihm war auch gar nicht daran gelegen. Denn wenn der Mann es getan hätte, hätte Matthew vielleicht Gewissensbisse bekommen, weil er von der Regierung viel zu viel Geld für die Lieferungen verlangte. Lord Brampton ließ sich zu keinerlei Höflichkeit herab, und Matthew fügte mit Freuden zusätzliche Kosten für den Transport, die Bearbeitung, die Aufgeblasenheit und sogar für das Warten hinzu.

Der Earl of Brampton setzte sich hinter den Schreibtisch und räusperte sich. „Nehmen Sie Platz, Lord Matthew.“

Matthew tat wie ihm geheißen. „Vielen Dank, Mylord.“

„Ich habe Sie hergebeten, weil ich die Frühjahrsbestellung der Armee für Ausrüstung und Nahrungsmittel verdoppeln möchte.“

Matthew stieß einen leisen Pfiff aus. „Ich bin gern bereit, Ihnen entgegenzukommen, Mylord. Aber innerhalb eines Monats doppelt so viel Ware zu beschaffen, könnte sehr schwierig werden. Meine Leute werden die Nächte durcharbeiten müssen. Ich muss Ihnen doppelt so viel für diese zweite Lieferung berechnen und auf eine beträchtliche Anzahlung bestehen.“

Der Kriegsminister verengte die Augen zu Schlitzen. „Sind Sie denn kein echter Engländer?“

„Sie wissen sehr wohl, dass ich es bin.“

„Und wollen Sie etwa nicht, dass wir den Krieg gegen Frankreich gewinnen?“

Matthew zuckte mit den Schultern. Er war nicht besonders an Politik und Kriegsführung interessiert. „Selbstverständlich liegt mir der Sieg Großbritanniens über Napoleon sehr am Herzen.“

Lord Brampton schlug mit der rechten Faust auf den Schreibtisch. „Warum helfen Sie uns dann nicht?“

„Ich bin bereit, unserer Armee einen Großteil der Ausrüstung und Verpflegung zu liefern“, erwiderte Matthew. „Ich kann mir kaum vorstellen, was ich noch für mein Land tun könnte.“

„Weniger dafür zu berechnen!“

Matthew unterdrückte ein Lächeln. Er war kein großer Patriot – er war ein Geschäftsmann. „Ich werde den Preis für die Waren nicht senken. Aber dieses eine Mal könnte ich auf alle Bearbeitungsgebühren verzichten.“

Abgesehen von der besonderen Gebühr für Aufgeblasenheit.

Der Minister ließ ein Schnauben vernehmen. „Ich nehme an, das ist Ihr letztes Wort.“

„Ja, in der Tat.“

„Dann lassen Sie uns die Abmachung mit einem Handschlag besiegeln“, sagte Lord Brampton und stand auf. „Ich erwarte, dass die Waren Ende des Monats auf den Schiffen unterwegs nach Spanien sind.“

Matthew ergriff die faltige Hand des Ministers und drückte sie etwas fester als nötig.

„Darauf können Sie sich verlassen, Brampton. Und ich erwarte bis Ende der Woche einen entsprechenden Bankwechsel. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Matthew tippte sich gegen die Hutkrempe, bevor er dem hochmütigen Kabinettsmitglied den Rücken zuwandte und das Büro verließ.

Nancy hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Man war nicht sicher, wenn man in den Straßen Londons die Augen verschloss. Als die Sonne aufging, versteckte sie sich in einer abgelegenen Gasse und versuchte, ihre Wunde neu zu verbinden. Sie hatte kein Geld und kannte keinen Ort, an dem sie Unterschlupf finden würde. Es gab niemanden außer ihrem Großvater, der sich schon geweigert hatte, ihr zu helfen, als sie vierzehn Jahre alt gewesen war. Nancy war zu stolz, um zu betteln, also würde sie die gestohlenen Regierungspapiere dazu nutzen, ihn zu erpressen. Ihm würde keine andere Wahl bleiben, als ihr dieses Mal zu helfen.

Die Soldaten, die das Tor zum Gebäude der Horse Guards bewachten, starrten sie an. Nancy vermutete, dass selten Frauen zum Hauptquartier der britischen Armee kamen. Sie hätte es im Stadthaus ihres Großvaters versucht, aber dort war sie vor vielen Jahren wie eine Bettlerin an der Küchentür abgewiesen worden. Nancy achtete nicht auf die Blicke der Männer und ging auf den ersten Wachhabenden zu.

„Ich bin hier, um mit Lord Brampton zu sprechen. Ich bin seine Enkelin.“

Einer der Soldaten stieß einen Pfiff aus.

„Und ich bin hier, um die Queen zu sehen!“, spottete ein anderer höhnisch. „Wenn Sie eine echte Lady sind, wo sind dann Ihre Zofe und Ihr Lakai?“

Nancy umklammerte die Tasche, die ihre ganzen Habseligkeiten enthielt, bevor sie auf den nächsten Wachhabenden zuging. Er grinste sie anzüglich an.

Sie deutete an ihm vorbei und rief laut: „Oh, nein! Die arme Frau dort hinten wird gerade ausgeraubt!“

Die Soldaten drängten sich an ihr vorbei, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu bekommen. Sie schlüpfte durch das Tor und lief so schnell sie konnte zum nächstgelegenen Eingang. Die Wachen hatte sie nur für einen kurzen Moment abgelenkt, und vermutlich würden sie gleich Alarm schlagen und sie verfolgen. Sie hastete durch die Eingangshalle und erreichte eine Marmortreppe. Keuchend stolperte sie die Stufen hinauf. Ihr verwundeter Arm schmerzte höllisch.

Am oberen Ende der Treppe hielt Nancy inne und sah nach links und nach rechts.

„Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?“

Nancy stockte der Atem, als sie in die blauen Augen des attraktivsten Mannes blickte, dem sie je begegnet war. Er war groß, hatte blondes Haar und trug einen teuren grauen Anzug. Aus Gewohnheit warf sie einen Blick auf die Lederbörse, die aus der Innentasche seines Gehrocks ragte und schätzte, dass sich darin mindestens zehn Pfund befanden. Wenn ihr Arm nicht so verletzt gewesen wäre, hätte sie ihm das Portemonnaie mit Leichtigkeit stehlen können. Ihre Blicke trafen sich, und als er sie anlächelte, sah sie seine strahlend weißen Zähne. Er tippte sich zum Gruß gegen die Hutkrempe. Nancy war von seinem Anblick so verzaubert, dass sie sich zusammenreißen musste, wenn sie nicht den Wachen in die Hände fallen wollte.

„Vielen Dank“, antwortete sie und lächelte kokett. „Ich glaube, ich habe mich verlaufen. Könnten Sie mich vielleicht zu Lord Bramptons Büro führen?“

„Selbstverständlich“, sagte er und bot ihr den Arm.

Als Nancy die linke Hand auf seinen Ärmel legte, spürte sie etwas, was sie so noch nie erlebt hatte. Es war wie eine knisternde Anziehung, die von ihren Fingerspitzen direkt zu ihrem Herzen geleitet wurde. Sein Duft war betörend – er roch nach Zedernholz, frischem Grün und Moschus.

„Darf ich Ihnen die Tasche abnehmen?“

„Nein.“ Sie klemmte sich die Tasche noch fester unter den gesunden Arm. Dieser Mann war wirklich ein Gentleman. „Ich meine, das ist nicht nötig. Vielen Dank.“

„Wie Sie wünschen“, entgegnete er mit einem umwerfenden Lächeln.

Er führte sie einen Gang entlang, bevor er vor einer der Türen aus Eichenholz stehen blieb und anklopfte.

„Herein!“

Der unbekannte Gentleman begleitete Nancy in ein prunkvoll ausgestattetes Zimmer mit einem großen Marmorkamin und einem dunklen Mahagonischreibtisch von der Größe eines Bettes. Alles roch nach Reichtum. Nancy ließ seinen Arm los.

„Lord Secretary, diese junge Lady bat mich, sie zu Ihnen zu bringen.“

Der Earl of Brampton war auf sie zugegangen und blickte Nancy und ihren Begleiter fragend an. Nancy war ihrem Großvater noch nie begegnet, und er sah ganz und gar nicht so aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Er war ein hochgewachsener Mann mit dunklen Augenbrauen, einer langen Nase, einem schmalen Mund und weißem Haar. Er trug einen schwarzen Anzug, eine schwarze Weste und ein kunstvoll gebundenes Krawattentuch. Ein Siegelring prunkte an seinem Ringfinger.

„Danke, Lord Matthew“, sagte er mit gedehnter Stimme. „Das können Sie mir jetzt allein überlassen.“

Der Gentleman verbeugte sich vor ihr, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

„Waren wir zu einem Gespräch verabredet, Miss?“, fragte Lord Brampton spöttisch.

„Nicht ganz, Mylord“, erwiderte Nancy und zwang sich, zu lächeln. „Aber ich bin erfreut, dich kennenzulernen, Großvater.“

Er erblasste und wurde weißer im Gesicht als das Weiß seines feinen Hemdes.

„Meine Enkelin ist tot.“

„Ich bin Nancy Black. Das einzige Kind deiner verstorbenen Tochter Susan.“

Mit der rechten Hand zog Nancy das goldene Gedenkmedaillon hervor, das sie an einer Kette um den Hals trug. Darin befand sich eine Locke ihrer Großmutter, die kunstvoll um die eingravierte Darstellung einer Begräbnisurne gelegt worden war. Auf deren Sockel standen die Initialen DC: Dianetha Kammern. Das Haar war braun und glatt, ganz im Gegensatz zu Nancys schwarzen Locken. Sie öffnete den Verschluss der Kette, nahm das Medaillon ab und reichte es dem alten Mann. Er hielt es nah an sein Gesicht, als würde er seinen Augen nicht trauen.

„Das Haar deiner Frau“, sagte sie und berührte ihre eigenen Locken. „Meinem Vater zufolge war dieses Medaillon das Einzige, was meine Mutter auf keinen Fall verkaufen wollte, nachdem sie mit ihm durchgebrannt war.“

Der Earl of Brampton trat näher an sie heran und musterte sie. „Wie lautet der Name Ihres Vaters?“

„Der Geburtsname meines Vaters war Felix Black, aber im Laufe seines Lebens trug er viele verschiedene Namen.“

Lord Bramptons Adamsapfel hüpfte. „Ist er tot?“

Sofort hatte sie den Körper ihres Vaters umgeben von einer Blutlache vor Augen, und sie musste schwer schlucken. Um sich selbst zu retten, hatte sie seinen Leichnam zurückgelassen. Sie hoffte, die Gemeinde würde ihn in einem Armengrab beerdigen, sobald die Vermieterin ihn fand. Doch den Ort seines Grabes würde sie nie erfahren. Es würde keinen Grabstein mit seinem Namen geben. „Ja“, flüsterte sie.

„Und ich wage zu behaupten, dass er Ihnen nichts zum Leben hinterlassen hat“, sagte der alte Mann verächtlich.

Seine Worte waren schmerzhafter als jede Ohrfeige. Nancy hob das Kinn. „Oh, nichts würde ich nicht sagen. Papa hinterließ mir diese Dokumente, die in den richtigen Händen ein Vermögen wert sind.“

Sie holte eines der Papiere, die sie gestohlen hatte, aus der Tasche und reichte es ihrem Großvater.

Brampton warf einen Blick auf das Dokument und wies Nancy mit einer Geste an, sich hinzusetzen. Sie nahm Platz und umklammerte ihre Tasche.

Die dunklen Augenbrauen des alten Mannes hoben sich, bis sie sein weißes Stirnhaar berührten. „Ist dies das einzige Regierungsdokument in Ihrem Besitz, Miss Black?“

„Nein, Großvater. Wie viel sind sie dir wert?“, fragte Nancy, und ohne ihm Zeit für eine Antwort zu geben, fuhr sie fort: „Ich bin mir sicher, dass die Franzosen mir ein Vermögen dafür geben würden.“

„Es könnte sehr schwierig für Sie sein, Frankreich zu erreichen, solange wir uns im Krieg befinden“, erwiderte er ungerührt.

Sie zuckte mit der rechten Schulter. „Das ist auch gar nicht nötig. Bis heute Nachmittag würde ich einen französischen Agenten finden.“

Für einen kurzen Augenblick fiel dem Kriegsminister die Kinnlade herunter, doch rasch setzte er wieder einen hochmütigen Blick auf. Es war töricht von ihr zu glauben, dass er ihr entgegenkommen würde.

„Nur wenn ich Ihnen erlaube, dieses Zimmer zu verlassen.“

Obgleich sich ihr die Nackenhaare sträubten, lachte sie und umklammerte die Tasche mit dem Messer und den restlichen Papieren noch fester. „In weiser Voraussicht habe ich die restlichen Dokumente nicht mitgebracht. Wenn du versuchst, mich gegen meinen Willen festzuhalten, wird ein Komplize von mir sie an die Franzosen verkaufen.“

Er wandte den Blick von ihr ab. „Zehntausend Pfund.“

Ihr Arm pochte vor Schmerzen, doch es gelang ihr erneut, ein Lächeln aufzusetzen. „Und in welcher Form würdest du mir die zehntausend Pfund geben, Großvater? Ein Bankwechsel wäre so etwas wie ein ausgestellter Haftbefehl für meine Person. Nein. Ich will zwanzigtausend Pfund in Gold.“

Lord Brampton sah von dem Medaillon auf seiner Handfläche zu Nancy.

Unter seinem prüfenden Blick errötete sie ein wenig. Sie ahnte, dass er versuchte, in ihr die Züge seiner Tochter wiederzuerkennen. „Papa hat immer gesagt, dass ich nicht meiner Mutter, sondern meiner schottischen Oma ähnele. Das Einzige, was ich von meiner Mutter geerbt habe, ist die Augenfarbe.“

„Susans blaue Augen.“

Die Farbe ihrer Augen hatte Nancy schon oft in Schwierigkeiten gebracht. Sie waren zu auffällig. Ihre blauen Augen waren hell und kontrastierten zu sehr mit ihrem stiefschwarzen Haar.

Nancy rieb sich behutsam den verwundeten Arm: „Gib mir das Gold, und ich werde verschwinden. Du wirst mich nie wiedersehen. Das verspreche ich dir.“

Er starrte sie an. „Weshalb nimmst du an, dass ich dich nie wiedersehen möchte?“

Nancy lachte verbittert. „Deine Begrüßung kann wohl kaum als warmherzig bezeichnet werden, Großvater. Und die Tatsache, dass du dich in den letzten dreiundzwanzig Jahren nicht um mich geschert hast, spricht Bände.“

„Ich hielt dich für tot“, entgegnete er leise.

Sie erschauderte, doch sie schüttelte entschieden den Kopf. „Das glaube ich nicht.“

Lord Brampton nickte zögerlich. „Ich verstehe. Was, wenn ich dir etwas anderes für die gestohlenen Regierungsdokumente anbiete? Etwas Besseres?“

Nancy sah ihn überrascht an. „Ich will nicht weniger als zwanzigtausend Pfund.“

„Du bekommst die zwanzigtausend Pfund“, sagte er mit fester Stimme. „Als Mitgift, wenn du einen Mann aus gutem Hause heiratest.“

Sie blickte hinunter auf ihr schönstes Kleid. Ihr Großvater wollte sie wohl an der Nase herumführen! Selbst in dem Kleid, das Alastair ihr für die Rolle als seine Braut gekauft hatte, glaubten ihr nicht einmal die Wachsoldaten, dass sie eine Lady war. In der feinen Gesellschaft würde sie niemand akzeptieren. „Auf diesen Trick falle ich nicht herein. Kein Gentleman würde mich heiraten. Es sei denn, er wollte das Geld noch mehr als ich, und in diesem Fall würde ich ihn nicht haben wollen.“

Der alte Mann gab ihr das Medaillon zurück, als wäre es eine heiße Kartoffel, an der er sich die Finger verbrannte. War es die Erinnerung an seine verstorbene Frau oder an seine verstoßene Tochter, die ihn so sehr berührte? Sie wusste es nicht.

„Wenn du von meiner Schwiegertochter, der Viscountess Delfarthing, in die Gesellschaft eingeführt würdest, stünden dir die besten Häuser Englands offen, und die angesehensten Familien würden dich willkommen heißen. Deine Tante könnte dir beibringen, wie man sich zu benehmen hat. Sie ist Witwe, und ihre Söhne sind bereits erwachsen. Überlege es dir gut. Anstatt ein Leben auf der Flucht unter Abschaum zu führen, könntest du als meine Enkelin zu den höchsten Kreisen gehören.“

Nancy umklammerte das Medaillon in ihrer rechten Hand. Sie atmete tief ein und aus, während sie nachdachte. Der Vorschlag ihres Großvaters klang verlockend, und es bestand keine Aussicht, dass sie irgendwo ein besseres Leben finden würde.

Und zwanzigtausend Pfund als Mitgift war eine enorme Summe. Sie konnte einen Gentleman heiraten, der ein eigenes Haus und wahrscheinlich sogar ein Anwesen auf dem Land besaß. Sie würde nie mehr obdachlos sein, hungern oder um ihr Leben bangen müssen. Sie würde die Art von Leben führen können, die ihre Mutter aufgegeben hatte, als sie mit Nancys Vater durchgebrannt war. Lady Susan hatte ihn aus Liebe geheiratet, aber ihre Tochter gab sich nicht solchen Illusionen hin. Wenn sie heiratete, würde es um Geld, Sicherheit und bestenfalls ein wenig Geborgenheit gehen. Nur verwöhnte Debütantinnen glaubten an die Liebe. Ihre Mutter war kurz nach Nancys Geburt im Kindbett gestorben. Die Flucht aus dem Elternhaus hatte rasch in die Verarmung geführt. Der Erfolg von Nancys Vater beim Kartenspiel war nie von Dauer gewesen.

Und nun war er tot.

Schmerz und Verzweiflung stiegen in ihr hoch. Er hatte gewollt, dass sie ihren Großvater um Hilfe bat. Dieser feine Pinkel mit all seinem Geld und seinen Privilegien hatte sich nie die Mühe gemacht, seine einzige Enkelin zu unterstützen. Wenn er ihr schon früher geholfen hätte, hätte sie sich bestimmt nicht dazu verleiten lassen, einen Vertrag mit einer Puffmutter zu unterschreiben, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Und sie wäre auch nicht gezwungen gewesen, kriminell zu werden. Lord Bramptons Anblick erfüllte sie mit Abscheu, und sie traute ihm nicht über den Weg.

Sie strich mit dem Daumen über das Medaillon und befestigte es erneut an der Kette. „Ich werde dir die Regierungsdokumente erst geben, wenn ich verheiratet bin und mein Ehemann im Besitz der zwanzigtausend Pfund ist. Und falls mir bis dahin etwas zustößt, wird mein Komplize sie an die Franzosen verkaufen.“

Er verbeugte sich vor ihr. „Einverstanden, Enkelin.“

Nancy erhob sich und ging zur Tür. „Dann sehen wir uns morgen in deinem Haus. Sagen wir um vier Uhr?“

„Brauchst du nicht die Adresse?“

Sie hob die Brauen und schüttelte den Kopf. Sie war schon einmal dort am Berkley Square gewesen und wie Ungeziefer vertrieben worden.

3. KAPITEL

Matthew hatte seine eigenen Junggesellenzimmer in London, denen er normalerweise den Vorzug gab. Aber da sich seine Eltern anlässlich des Debüts seiner jüngeren Schwester Frederica mit ihr in der Stadt aufhielten, begab er sich zum Hampford House am Berkley Square. An der Tür wurde er von Mr. Harper, dem würdevollen Butler, empfangen und in das Gesellschaftszimmer geführt. Frederica hämmerte gerade auf das Pianoforte ein, als wollte sie die Tasten zerstören. Die Musik klang rau und dissonant, besaß aber etwas Faszinierendes. In der Regel spiegelten die eigenwilligen Kompositionen seiner Schwester ihre jeweilige Stimmung wider. Heute hatte sie eindeutig schlechte Laune, und die Eltern hatten vermutlich längst die Flucht ergriffen.

Frederica schlug einen letzten schrägen Ton an und ließ ihn genüsslich ausklingen. „So, du bist also gekommen, um mich in meinem ganzen Elend zu bewundern?“

Matthew setzte sich in einen Sessel. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Ja. Darauf habe ich jahrelang gewartet.“

Frederica war neunzehn, zwei Jahre älter als die meisten Debütantinnen, und ihre voll entwickelte Figur in Kombination mit den dunkelbraunen Augen und Haaren ließ sie reifer aussehen. Möglicherweise lag es auch an ihrer selbstbewussten Ausstrahlung. Matthew nahm an, dass seine Eltern mit ihr bewusst ein wenig länger gewartet hatten als mit seiner Schwester Mantheria. Mantheria hatte schon im Alter von siebzehn geheiratet, die Ehe war eine Katastrophe gewesen, drei Jahre später war die Trennung erfolgt. Ihr Mann Alexander war mehr als doppelt so alt wie sie und hatte es nicht für nötig befunden, sich nach der Heirat von seiner Mätresse zu verabschieden. Das einzig Gute aus der kurzen Verbindung war Matthews Neffe Andrew.

Möglicherweise hatte seine Mutter auch beschlossen, Frederica erst später debütieren zu lassen, weil sie bereits eine Ehe mit Lord Samuel Corbin arrangiert hatte, dem Erben des Herzogtums von Pelford. Der besagte Erbe war nur ein paar Jahre älter als Frederica und für einen Mann noch etwas zu jung zum Heiraten.

„Wo sind Mama und Papa?“, fragte er.

Frederica zuckte lässig mit einer Schulter. „Papa ist heute ausnahmsweise im Parlament, weil es um seinen Gesetzesentwurf zum Tierschutz geht, und Mama ist in ihrer Parfümmanufaktur und wollte auch ihr Geschäft in der Bond Street inspizieren.“

Matthew nickte. Auch wenn sein Vater ein Duke war, nahm er nur selten an Parlamentsdebatten teil. Die Regierungsgeschäfte interessierten ihn nicht, umso mehr lag ihm das Wohl von Tieren am Herzen. Er kaufte anderen Aristokraten ihre exotischen Kreaturen ab und erwarb auch Tiere von Jahrmärkten, um sie auszuwildern. Die Tiere, die schon zu domestiziert waren, um sie freizulassen, hielt er in seiner Menagerie auf Animal Island bei Hampford Castle. Matthews Mutter besaß ihr eigenes Parfümgewerbe und war damit in der britischen Adelsgesellschaft eine echte Ausnahmeerscheinung. Sie kümmerte sich sogar persönlich um die Geschäftsführung und stellte ihre eigenen Parfüms her.

„Dann können wir uns hier frei entfalten.“

Sie lachte. „Ich muss dich warnen. Mama war heute Morgen äußerst schlechter Stimmung. Samuel ist noch nicht vom Kontinent zurückgekehrt. Man hat ihn zum Adjutanten von General Wellington in Spanien befördert.“

Matthew hob eine Braue. „Weiß der arme Kerl nicht, dass er dir eigentlich einen Heiratsantrag machen soll?“

Frederica brach in Gelächter aus. „Ja, nicht wahr? Ein Krieg sollte ihn nicht davon abhalten, Mamas Plan in die Tat umzusetzen. Außerdem könnte man meinen, dass er eine regelrechte Abneigung gegen mich entwickelt hat, da er seit fast fünf Jahren keinen Fuß mehr auf englischen Boden gesetzt hat.“

„Da war doch dieser kleine Zwischenfall mit dem jungen Bären“, bemerkte Matthew.

Seine Schwester lächelte. „Er hat doch nur gespielt.“

„Aber ich bin mir nicht sicher, ob du das dem Bären oder dem armen Samuel ausreichend erklärt hast. Wenn ich mich recht erinnere, vermeinte er, in Lebensgefahr zu schweben.“

„Dieser hasenfüßige Löwe mit Taubenherz!“

Matthew konnte sich das Lachen nicht verkneifen. „Du denkst dir also schon tierische Kosenamen für ihn aus, was?“

„Ja, und ich kann doch auch nichts dafür, dass er ein Einfaltspinsel ist.“

„Der bedauernswerte Kerl“, sagte er. „Ich glaube, du hast ihn bei seinem letzten Besuch in Hampford Castle vor fünf Jahren zu Tode erschreckt.“

Frederica grinste. „Offenbar so sehr, dass er seinen Vater bat, ihm einen Posten in der Armee zu verschaffen.“

„Er kann kein allzu großer Narr sein, sonst hätte Lord Wellington ihn nicht in seinen Stab aufgenommen.“

Seine Schwester schüttelte den Kopf. „Nein, er ist dumm wie ein Emu.“

„Vielleicht hat er sich inzwischen gemacht, ebenso wie du, wie ich zugeben muss. Anders als früher siehst du nicht mehr wie ein Storch aus.“

Sie ergriff die Porzellanfigurine eines pflügenden Landmanns, die auf dem Pianoforte stand, und schleuderte sie in Matthews Richtung. Geschickt fing er sie auf. Er hatte eine Menge Erfahrung mit dem Auffangen von Gegenständen, die ihm an den Kopf geschleudert wurden. Immerhin hatte er vier jüngere Schwestern.

Frederica verschränkte die Hände und warf ihm einen verschlagenen Blick zu. „Wenn du so unliebsam bist, sollte ich dich wohl nicht vor Mamas Plänen warnen.“

Matthew stöhnte, während er die Porzellanfigur neben sich auf den Tisch stellte. „Oh nein.“

„Oh doch“, sagte Frederica mit boshaftem Entzücken und beugte sich zu ihm vor. „Da Samuel nicht hier ist, um mich zu umwerben, hat sie beschlossen, sich in dieser Saison darauf zu konzentrieren, eine Frau für dich zu finden …“

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und stöhnte erneut. Er wollte nicht zu einer Ehe gezwungen werden, wie sie seiner Mutter vorschwebte: eine junge Dame aus gutem Hause mit entsprechender Erziehung und Mitgift im Tausch gegen sein Vermögen und die herzoglichen Verbindungen. Matthew war Geschäftsmann und wusste, dass man Liebe nicht kaufen oder erhandeln konnte. Wahre Liebe beruhte einzig auf den freiwilligen Empfindungen beider Seiten. Er war auf der Suche nach dieser Art von Liebe und bezweifelte, dass man sie in einem Ballsaal finden konnte. Dort zeigte kaum jemand sein wahres Gesicht. Als junger Mann war er von einer berechnenden Debütantin in die Irre geführt worden, und das war keine Erfahrung, die er wiederholen wollte. 

Frederica lachte. „Mama hat bereits Einladungen für meinen Debütball verschickt, und dabei hat sie besonderen Wert auf Heiratskandidatinnen für dich gelegt.“

Verärgert blickte er seine Schwester an. „Ich wette, du hast nicht einmal versucht, sie davon abzubringen.“

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Wenn ich schon all diese Bälle und steifen Festivitäten ertragen muss, sehe ich nicht ein, warum du nicht auch ein bisschen leiden solltest.“

Matthew streckte die Beine aus. Es würde in der Tat eine Qual werden. Er hatte keine Lust, auch nur einen Abend mit albernen Siebzehnjährigen zu verbringen, deren einziger Lebensinhalt die Suche nach einem Ehemann von Rang war. Nein, viel lieber würde er seine Abende mit einer Frau verbringen, die interessant war und ihren eigenen Kopf hatte – eine Frau wie die verwegene dunkelhaarige Schönheit, die er tags zuvor in Lord Bramptons Büro geführt hatte. Selbst in ihrer schlichten Kleidung war sie eine Augenweide gewesen. „Ich dachte, junge Ladys lieben es, Bälle zu besuchen.“

Frederica blies sich eine Locke aus dem Gesicht. „Das tue ich auch. Es ist nur so, Matthew, dass jeder Mamas Heiratspläne für mich zu kennen scheint. Ich fürchte, dass mich gar keiner zum Tanzen auffordert.“

„Doch, das werden einige sein, Freddie.“

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