Mit den Waffen eines Kavaliers

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Ein unerhörtes Risiko: Verwegen steigt Laura bei Philip Rathbone ein, dem Gläubiger ihrer Familie. Mit vorgehaltener Pistole will sie ihn erpressen! Doch sie überrascht ihn im Bad, und der Anblick des schönen nackten Mannes bringt die Waffe in ihrer Hand zum Beben …


  • Erscheinungstag 01.05.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506717
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

London, Frühling 1817

Was machen Sie hier?“ Mr. Rathbone musterte Laura durch die Dampfwolken, die aus einem kupfernen Badezuber emporstiegen. Aus seinem nassen dunkelbraunen Haar lief ein Tropfen über sein Gesicht und fiel ins Wasser.

Laura nahm den Finger vom Abzug der Pistole, weil sie fürchtete, sie könnte versehentlich eine Kugel in die Brust des Mannes feuern. Natürlich wollte sie ihn nicht töten, nur erschrecken und zwingen, wenigstens einen Teil der Ware zurückzugeben, die er konfisziert hatte. Aber nach dem harten Glanz in Mr. Rathbones tiefblauen Augen zu schließen, ließ er sich nicht so leicht Angst einjagen.

„Nun?“, fragte er, und sie zuckte erschrocken zusammen.

Als sie durch die offene Terrassentür ins Haus geschlichen war, hatte sie erwartet, ihn im Arbeitsraum an seinem Schreibtisch anzutreffen, wo er einen Haufen Münzen zählen würde, oder was immer sonst ein Geldverleiher am späten Abend tat. Stattdessen badete er in seinem Schlafzimmer. Nur ein bisschen Seifenwasser verhüllte den unteren Teil seines Körpers und schützte ihre Tugend. Was Laura in den kalten, armseligen Räumen, die sie mit ihrer Mutter und ihrem Onkel Robert bewohnte, für einen verheißungsvollen Plan gehalten hatte, erschien ihr jetzt absurd und verwerflich.

Trotzdem straffte sie die Schultern und bot ihren ganzen Mut auf. Jenseits dieses warmen Zimmers voller Dampf lagen nur bittere Armut und drohender Ruin. Deshalb hatte sie keine Wahl, sie musste ihren Plan ausführen. „Geben Sie mir wenigstens einen Teil der Ware, die Sie meinem Onkel weggenommen haben.“

Der Geldverleiher hob seine Arme aus dem Seifenwasser, das Wellen schlug und kurzfristig einen flachen Bauch enthüllte. Dann stützte er sich auf den Rand des Zubers, und Laura sah kräftige Hände, wie jene der Lieferanten, die Stoffballen von einem Karren gehievt und in den Laden ihres Vaters getragen hatten. Aber Mr. Rathbone hatte glatte Hände ohne Schwielen – die Hände eines Gentlemans. Diesen Eindruck störte nur eine schon älter wirkende rote Narbe über einem Knöchel.

Hastig wich Laura zurück, denn sie befürchtete plötzlich, er würde aus dem Wasser springen und sich auf sie stürzen. Aber er fragte nur: „Und wer ist Ihr Onkel?“

Laura schluckte. Gewiss, auf diese Information kam es an. „Robert Townsend.“

„Ah, der spielsüchtige Tuchhändler“, bemerkte er. „Vor sechs Monaten kam er zu mir. Er brauchte einen Kredit, um beträchtliche Schulden in Mrs. Topps Salon zu begleichen – einem der vielen Etablissements, die er zu besuchen pflegt. Als Sicherheit für das Darlehen bot er mir den Warenbestand der Tuchhandlung an. Da er das Geld nicht zurückzahlte, holte ich mir die Stoffballen, so wie es mir unserem Vertrag zufolge zustand.“

Unter Lauras Füßen schien der Boden zu schwanken. Onkel Robert hatte das ganze Geschäft vor die Hunde gehen lassen. Schon früher hatte er einige Waren aus dem Lager gestohlen, einen Seidenballen oder eine Rolle Quasten, und verkauft, um seine Spielsucht zu finanzieren. Nur vereinzelte Einbußen – und jetzt war alles verloren …

Nein, das durfte nicht geschehen – nachdem sie so viel getan hatte, um das Geschäft nach dem Tod ihres Vaters zu erhalten. Von heißem Zorn erfasst, umklammerte sie die Pistole ihres Onkels etwas fester. „Das glaube ich Ihnen nicht. Wie Männer Ihres Schlags vorgehen, weiß ich. Skrupellos nutzen sie die Notlage verzweifelter Menschen mit Wucherzinsen aus, bis sie Ihnen ihr gesamtes Eigentum in den gierigen Rachen werfen müssen.“

Mr. Rathbones Augen verengten sich. Was die Pistole und das Überraschungsmoment nicht bewirkt hatten, erzielte die Abwertung seines Charakters: eine Reaktion. „Wenn Sie einen Beweis brauchen – den werde ich Ihnen vorlegen.“ Auf den Rand des Badezubers gestützt, erhob er sich.

„Sir!“, japste Laura und taumelte rückwärts, bis ihre Hüfte gegen eine Tischkante stieß. Aus irgendeinem Grund konnte sie ihren Blick nicht von den Tropfen losreißen, die über seinem schlanken Körper rannen, über den muskulösen flachen Bauch. Immerhin vermied sie es, noch weiter nach unten zu spähen.

Triefend stieg er aus dem Zuber auf ein Handtuch, das am Boden lag. Über einem Sessel hing ein seidener brauner Morgenmantel. Den zog er nicht an, wie sie es erwartet hatte. Stattdessen ging er an ihr vorbei. Dabei beachtete er weder Laura noch die drohende Pistole. Ebenso wenig schien es ihn zu interessieren, dass er splitternackt war und nasse Fußspuren auf dem Holzboden und danach auf einem Teppich hinterließ. Er trat hinter einen kleinen Schreibtisch nahe den Fenstern, gegenüber einem Vierpfostenbett mit kostbaren bestickten Vorhängen. Im Licht einer Öllampe auf der Tischplatte öffnete er eine Schublade.

„Da ist der Vertrag, den ich mit Ihrem Onkel abgeschlossen habe“, erklärte Mr. Rathbone und kam hinter dem Schreibtisch hervor, ein Papier in der Hand.

Mühsam zwang sie sich, seinen Blick zu erwidern und ihm zu folgen. „Würden Sie sich bitte ankleiden?“

„Das ist mein Haus, in das Sie eingedrungen sind, um mich zu bedrohen, und in dem ich mich so verhalte, wie es mir gefällt.“ Er hielt ihr das Papier hin. „Nun, hier haben Sie den Beweis, den Sie verlangen.“

Am linken Rand des Dokuments las sie die Liste der Summen, die Onkel Robert seinen Gläubigern schuldete. Daneben standen die Namen Mrs. Topps und andere, die Laura nur teilweise kannte. Einige hatte sie Gesprächen im Flur des baufälligen Hauses entnommen, in dem sie wohnte. Unterhalb der Vertragsbedingungen prangten die Unterschriften ihres Onkels, Mr. Rathbones und eines Zeugen, eines Mr. Justin Connor.

Und auf die rechte Seite des Papiers war ein Blatt geheftet, bei dessen Anblick Laura erneut zusammenzuckte – das von ihr selbst verfasste Verzeichnis des Warenbestandes, mit Anmerkungen versehen. „Woher haben Sie diese Liste, Sir?“

„Ihr Onkel gab sie mir, als er zu mir kam und das Darlehen aufnahm.“

„Die habe ich geschrieben – das war mein Plan, die Tuchhandlung zu retten.“

„Eine sehr aufschlussreiche Liste. Das darin aufgeführte Inventar, das den Kredit sichern sollte, war der Grund, aus dem ich Ihrem Onkel die beträchtliche Summe aushändigte. Hätte er das Geld nicht verspielt, wäre der Plan sicher aufgegangen.“ Mr. Rathbone warf das Dokument auf den Schreibtisch. „Sind Sie jetzt zufrieden?“

„Ja“, flüsterte sie. Und wir sind ruiniert …

„Gut, also brauchen Sie das nicht mehr.“ Er packte den Pistolenlauf und entwand ihr den hölzernen Griff.

„Nein!“ Unbewaffnet fühlte sie sich fast genauso nackt wie er.

„Da die Pistole unsachgemäß geladen wurde, hätte sie Ihnen nichts genützt.“ Er zog das Steinschloss vom Hammer und warf die unbrauchbare Waffe neben den Vertrag auf den Schreibtisch. „Hätten sie abgedrückt, wäre Ihr hübsches Gesicht explodiert.“

Verzweifelt starrte sie die unnütze Pistole an. So sinnlos wie ihre Hoffnungen und törichten Pläne … Der missglückte Versuch, ihre Mutter und sich selbst zu retten, würde sie gewiss hinter Gitter bringen. Wie soll Mama ohne mich überleben? Was wird Onkel Robert ihr antun? „Hätten Sie mich bloß feuern und meinem Leben ein Ende bereiten lassen, Sir!“

Mr. Rathbone ging wieder an ihr vorbei und kehrte in den Bereich des Raums zurück, in dem sich der Zuber befand. Dort schlüpfte er in den Morgenmantel und verknotete den Gürtel, um seine Blöße zu bedecken. „Dann hätten Sie meinen Teppich ruiniert.“

Nur kurzfristig hatte sie der Anblick seines nackten, von dunkler Seide umschmeichelten Körpers verwirrt, bevor ihre Empörung aufflammte. „Sie denken wohl nur ans Geld!“

„Nun, ich bin ein Geschäftsmann, Miss Townsend. Zu mir kommen Männer, die ein Unternehmen gründen wollen und finanzielle Sicherheit brauchen, außerdem Leute, die ihre Betriebe vor dem Ruin bewahren möchten. Ich biete ihnen Geld an, das sie mir mit Zinsen zurückzahlen. Wenn sie das versäumen, so wie Ihr Onkel, ersetze ich meine Verluste, indem ich ihr Eigentum beschlagnahme und verkaufe. Erstens muss ich für eine Familie sorgen, zweitens für den Lebensunterhalt meiner Angestellten. Ich bin kein Wohltäter.“

„Das verstehe ich“, murmelte sie verlegen. Ihr Zorn war verflogen. Jetzt revidierte sie ihr Urteil über Mr. Rathbones Charakter, und sie hoffte, die Großmut, die er seiner Familie und den Angestellten entgegenbrachte, würde auch einer unbesonnenen jungen Dame zugutekommen. „Bitte, Sir, verzeihen Sie, dass ich in Ihre Privatsphäre eingedrungen bin und Ihren guten Namen verunglimpft habe. Bevor ich mich zu dieser Konfrontation entschloss, kannte ich nicht alle Fakten. Und ich war wohl nicht – bei klarem Verstand.“ Sie versuchte zu lächeln, den Eindruck eines etwas albernen Mädchens zu erwecken. Damit vermochte sie den harten Zug um Mr. Rathbones Mund nicht zu mildern.

„Spielen Sie nicht die Närrin, das steht einer so einfallsreichen Frau nicht zu Gesicht.“

Lauras Lächeln erstarb, ihre Hoffnung nicht. „Dann erlauben Sie mir einen Vorschlag, der Ihren Geschäftssinn vielleicht anspricht.“

Schweigend hob er die Brauen.

„Zu den konfiszierten Waren gehört ein dicker Ballen besonders schön gewobener Baumwolle, die aus Ägypten stammt“, fuhr sie fort. „Fast transparent, ließe sie sich wie die indische verarbeiten, aber deutlich günstiger. Ich kenne Madame Pillet, eine fashionable Modistin, und möchte sie ersuchen, diesen Stoff ihren distinguierten Kundinnen zu zeigen. Wenn er ihnen gefällt, würde er ein paar hundert Pfund einbringen. Mit dem Profit könnte ich noch mehr von der Sorte bestellen und die Schulden bei Ihnen in Raten begleichen.“

Ohne nachzudenken, schüttelte er den Kopf. „Das ist unmöglich, weil die Waren verkauft werden, um Mr. Townsends Schulden zu decken. Den Stoff, den Sie meinen, habe ich nicht mehr.“

„Aber Sie wissen, wer ihn jetzt besitzt. Wenn Sie ihn zurückkaufen …“

„Nein.“

„Also lassen Sie meine Mutter und mich verhungern!“, platzte Laura heraus, als ihre letzte Hoffnung schwand.

Weder Mitgefühl noch Bedauern änderten Mr. Rathbones kalte Miene. „Gewiss, Ihre Idee ist nicht übel. Trotzdem würde sie scheitern. Falls transparente Baumwolle in Mode kommt, werden finanzkräftige Geschäftsleute mit besseren Kontakten die Sorte in rauen Mengen ordern, bevor Sie mit Ihren begrenzten Mitteln an das nötige Material herankämen. Der überschwemmte Markt würde die Preise bald senken. Zudem will ich mein Geld nicht auf die modischen Launen der Hautevolee setzen. Das sollten Sie auch nicht riskieren.“

„Und was müsste ich tun? Auf Onkel Robert kann ich mich nicht verlassen. Alles hat er Mama und mir genommen – das Geschäft meines Vaters, den Rest unseres Geldes … Bald wird er einfach verschwinden. Was soll dann aus uns werden?“

„Haben Sie noch andere Verwandte?“

„Nein.“

„Auch keine Freunde?“

„Die hat Onkel Robert verscheucht, weil er sich Geld von ihnen borgte und nie zurückzahlte.“ Nach einem tiefen Atemzug fügte Laura hinzu: „Was ich heute Abend tat, war dumm. Das weiß ich. Natürlich wollte ich Sie nicht verletzen, Sir, und nur die Ware zurückbekommen – denn ich kann den Verlust unseres Geschäfts nicht ertragen. Jahrelang musste mein Vater hart arbeiten, um es aufzubauen. Und mein Onkel hat es in einem knappen Jahr verspielt.“

Philip Rathbone hätte Miss Townsend übersehen, wäre sie ihm auf der Straße begegnet.

Aber als er sie über einen Pistolenlauf hinweg gemustert hatte, war ihm der besondere Glanz in ihren großen haselnussbraunen Augen sofort aufgefallen – ein Ausdruck, der innere Kraft und Entschlossenheit bekundete. Dieses Licht konnten die Schatten unter den hohen Wangenknochen nicht trüben. In weichen Wellen fiel rostrotes Haar auf ihre Schultern. Ein abgetragenes Kleid hing lose an ihrer viel zu dünnen Gestalt.

Miss Townsend war wachsbleich. Wie seine Frau vor ihrem Tod … Aber während ein schlimmes Leiden Arabellas Gesicht den rosigen Schimmer geraubt hatte, wurde die fahle Blässe dieser jungen Frau von Hungersnot und Seelenqual erzeugt.

„In der Geschäftswelt sollte man Fakten und Emotionen trennen“, empfahl er ihr. „Sonst würde eins dem anderen schaden.“

„Daran werde ich denken, wenn ich verhungere“, fauchte sie.

„Sie werden nicht verhungern. Dafür sind Sie zu klug und zu stark.“ Philip holte die Waffe von seinem Schreibtisch, hielt sie ihr hin, und sie griff danach. „Danke für einen interessanten Abend, Miss Townsend.“

„Lassen Sie mich entkommen?“ Neue Hoffnung rötete ihre eingefallenen Wangen.

„Wäre es Ihnen lieber, ich würde den Constable rufen und Sie verhaften lassen?“

„Nein.“

„Dann gehen Sie“, forderte er sie auf und wies zur Tür.

In wehendem fadenscheinigem Bombasin war sie verschwunden.

„Halt! Stehen bleiben!“, erklang Justins Stimme in der Eingangshalle, ehe die Hintertür krachend gegen die Wand prallte und die knarrende Gartenpforte Miss Townsends gelungene Flucht verriet.

Wenig später stürmte Justin mit gezückter Pistole ins Schlafzimmer. „Alles in Ordnung?“

„Ja.“ Philip war auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch gesunken und rieb sich das Kinn. Irgendwie hatte Miss Townsend etwas in ihm geweckt. Weder Mitleid noch Lust, obwohl er sie hübsch fand.

Nein, es war Neugier. Wie bei seiner ersten Begegnung mit Arabella, die ihm neben ihrem Vater, Dr. Hale, am Schreibtisch gegenübergesessen hatte … Unfähig, sich auf die Pläne des Arztes für eine kleine medizinische Hochschule zu konzentrieren, hatte Philip nur das Mädchen beachtet. Mit dieser Schule hatte der Doktor schließlich einen Fehlschlag erlitten und nicht nur sein eigenes Geld verloren, sondern auch Philips.

Seither hatte Philip seine geschäftlichen Entscheidungen nie wieder von Gefühlen leiten lassen.

„So galant behandelst du eine Einbrecherin, die dich bedroht hat?“

„Keine Sekunde lang war sie gefährlich.“ Philip krümmte seinen Ringfinger. Noch immer vermisste er den schlichten Ehering, den er zusammen mit seiner Frau begraben hatte. Nein, so wie bei seiner ersten Begegnung mit ihr war es nicht gewesen. Niemals würde er etwas empfinden, das seiner Liebe zu Arabella gleichkäme.

„Du siehst ziemlich übel aus“, meinte Justin und steckte die Waffe in das Halfter unter seinem Gehrock.

„Weil ich einen anstrengender Tag hinter mir habe“, entgegnete Philip seufzend.

Nach diversen geschäftlichen Problemen war er mit häuslichen Schwierigkeiten konfrontiert worden. Seine Schwester Jane hatte seine Geduld erneut auf die Probe gestellt und ein weiteres teures, für eine Dreizehnjährige unpassendes Kleid verlangt. Als er ihr eine Kürzung ihres Taschengelds angedroht hatte, hatte sie ihn angeschrien und war davonmarschiert. Dann hatte Mrs. Marston, die Nanny seines Sohnes Thomas, ihm erklärt, sie werde nach Bath ziehen und ihren Enkel betreuen. Nur einen Monat hatte Philip Zeit, um eine neue Kinderfrau einzustellen. Da Jane zu jung war, konnte sie solche Pflichten nicht übernehmen. Und Mrs. Palmer, seiner tüchtigen Haushälterin, durfte er nicht zumuten, für seine Schwester und seinen Sohn zu sorgen und gleichzeitig auch noch eine Nanny zu suchen.

Was er brauchte, war eine Ehefrau, die sich um all diese häuslichen Belange kümmerte.

Justin rückte einen Stuhl von der Wand vor den Schreibtisch und setzte sich. „Wer war diese Frau?“

„Robert Townsends Nichte“, erwiderte Philip und strich durch sein feuchtes, gewelltes Haar. „Sie wollte die beschlagnahmten Sicherheiten für den abgelaufenen Kredit zurückhaben.“

„Wollen sie das nicht alle? Ich habe zwei zusätzliche Wachtposten engagiert, die passen im Lagerhaus auf die Ware des Tuchhändlers auf, bis du sämtliche Ballen verkaufen kannst.“

„Das besprechen wir morgen“, murmelte Philip, in Gedanken ganz woanders.

„Warum nicht jetzt?“

Philip musterte seinen alten Freund und Geschäftspartner. Bei der Hochzeit und später, bei Arabellas Begräbnis, hatte Justin ihm zur Seite gestanden …

Unwillkürlich ballte Philip eine Hand. Verdammt, seine Frau müsste das gemeinsame Kind großziehen und den Haushalt versorgen. Nun bezahlte er Angestellte, die das erledigten. Diese unhaltbare Situation würde er ändern.

Sein Vater hatte ihm beigebracht, einen Klienten innerhalb weniger Sekunden einzuschätzen. Genauso hatte Philip auch Miss Townsend taxiert und – trotz ihrer lächerlichen Drohung mit der Pistole – nützliche Qualitäten in ihr entdeckt.

Gewiss, reiner Wahnsinn, dachte er. Natürlich sollte er Miss Townsend mitsamt ihrer Mutter in sein Wohlfahrtsinstitut Halcyon House schicken und beide vergessen, statt mit dem Plan, der in seinem Geist Gestalt annahm, noch mehr Zeit zu verschwenden. Arabella hatte er mit seinem Herzen gewählt, ihre schwache Konstitution ignoriert und gehofft, alles würde sich zum Guten wenden. Welch ein naiver Narr war er gewesen … Letzten Endes hatte heiße, innige Liebe sie getötet.

Im Flur näherten sich leise, tapsige Schritte der Schlafzimmertür, von etwas kräftigeren gefolgt. Bald würde er Mrs. Marston helfen, Thomas wieder ins Bett zu bugsieren. Aber vorher wollte er mit Justin etwas Geschäftliches erörtern.

„Weil ich was Wichtigeres im Sinn habe“, beantwortete er die Frage und ergriff den Vertrag mit Robert Townsend, der ebenso wie ein paar andere auf dem Schreibtisch lag. Wie es seiner Gewohnheit entsprach, hatte er einige Papiere in sein Schlafzimmer mitgebracht, um sie noch einmal zu studieren, bevor er ins Bett ging – oder während der Nacht, falls er keine Ruhe fand. Nun hielt er das Dokument seinem Freund hin. „Ich brauche Informationen über seine Nichte.“

„Ich habe es gewusst! So leicht würde ich heute Nacht nicht davonkommen.“ Justin stand auf und stellte den Stuhl an die Wand zurück. Dann nahm er den Vertrag entgegen.

„Hör dich in ihrer Nachbarschaft um, auch in der Nähe des früheren Tuchgeschäfts. Sprich mit möglichst vielen Leuten, die Miss Townsend kennen. Ich will wissen, welchen Ruf sie genießt, wie ihr Charakter beurteilt wird.“

„Ist sie eine künftige Klientin?“

„Nein.“ Philip erhob sich, um seinem Sohn und der Nanny die Tür zu öffnen. „Vielleicht wird Miss Townsend meine Frau.“

2. KAPITEL

Wie gelähmt starrte Laura die splitternde Tür an, in einer Hand den schmutzigen Bierkrug ihres Onkels, in der anderen einen Putzlappen. Jemand hatte geklopft. Hier pflegte niemand anzuklopfen, denn es wäre ohnehin sinnlos gewesen.

Sie zuckte zusammen, als das altersschwache Holz erneut unter einer pochenden Faust knarrte. Dann stellte sie den Krug ab und eilte zur Tür. Wer immer da draußen stand – sie musste die Person auffordern, den Lärm zu beenden, damit ihre Mutter nicht geweckt wurde.

„Wer ist da?“, zischte sie durch eine breite Ritze.

„Rathbone.“

Erschrocken wich sie zurück. Vor zwei Tagen war sie aus dem Haus des Geldverleihers geflohen. Was führte ihn jetzt hierher? Es gab keinen Grund, warum er sie aufsuchen sollte. Oder hatte er sich anders besonnen und wollte sie doch noch ins Gefängnis bringen? Angstvoll zerknüllte sie den Putzlappen. Hatte ihn ein Constable begleitet? Nein, der würde sich viel lautstärker bemerkbar machen. Oft genug hatte Laura die Polizei an benachbarte Türen hämmern gehört.

Also musste Mr. Rathbone etwas anderes im Sinn haben. Ging es um die Baumwolle? Fand er ihre Geschäftsidee inzwischen lukrativ, plante er, den Stoffballen zurückzukaufen und mit ihr darüber zu verhandeln?

Immer noch unsicher, öffnete Laura die Tür. In einem dunkelblauen Gehrock stand er vor ihr. Bei seinem Anblick versuchte sie sich den hochgewachsenen, schlanken Geldverleiher nicht ohne seine elegante Kleidung vorzustellen. Aber ohne die Erinnerung an seinen wohlgeformten Körper hätte er sie in diesem Moment noch mehr eingeschüchtert.

„Darf ich eintreten?“, bat er höflich.

„Ja, natürlich.“ Sie winkte ihn mit ihrem Putzlappen in die Wohnung und schloss die Tür hinter ihm.

Mit vier Schritten erreichte er das Zentrum des Raums. Sein Eau de Cologne verströmte einen schwachen Duft nach Zitrone und Bergamotte und milderte den Gestank der Straße, der durch das Fenster hereindrang, ein wenig.

Nachdem Mr. Rathbone den schmutzigen Bierkrug gemustert hatte, der auf dem Tisch stand, wandte er sich zu Laura. „Miss Townsend …“, begann er.

„Pst!“, fiel sie ihm ins Wort und brachte ihn mit einer raschen Geste zum Schweigen. Dann sah sie ihre schmutzigen Fingernägel. Hastig senkte sie ihre Hand. „Bitte, sprechen Sie leise, Sir. Meine Mutter ist krank, sie ruht sich gerade aus. In den letzten Nächten hat sie sehr schlecht geschlafen.“

Er nickte und nahm seinen Hut ab. Mit gedämpfter Stimme erklärte er: „Miss Townsend, ich bin hierhergekommen, weil ich Ihnen einen geschäftlichen Vorschlag unterbreiten möchte.“

„Nehmen Sie mein Angebot an?“ Aufgeregt drehte sie den Putzlappen hin und her. „Geben Sie mir den Baumwollballen zurück?“

„Nein. Wie ich bereits erwähnt habe, befindet er sich nicht mehr in meinem Besitz.“

„Aber …“

„Hören Sie mir bitte zu.“ Mr. Rathbone knetete den Hut in seinen Händen. Wäre Laura seines emotionslosen Charakters nicht sicher gewesen, hätte sie ihn für aufgeregt gehalten. „Haben Sie die Tuchhandlung Ihres Vaters geleitet, bevor Mr. Robert Townsend die Kontrolle auszuüben begann?“

„Bevor mein Onkel das Geschäft meiner Mutter und mir gestohlen hat“, verbesserte sie ihn.

„Haben Sie sich auch um die Buchführung, den Warenbestand und eventuelle Kredite gekümmert?“

„Oh ja“, bestätigte sie nicht ohne Stolz. „Mein älterer Bruder starb bald nach seiner Geburt. Und mein Vater fand es besser, mich im Geschäftswesen zu unterrichten, als mich auf eine Schule für junge Damen zu schicken.“

„Wie mir das von Ihnen verfasste Verzeichnis des Warenbestandes mit den Anmerkungen beweist, waren Sie eine gute Schülerin, Miss Townsend.“

Erstaunt fragte sie sich, worauf Mr. Rathbone hinauswollte. Hatte sie sein Mitleid erregt? Würde er ihr eine Stellung anbieten? Mit der freien Hand glättete sie ihr Haar und wünschte, er hätte seinen Besuch angekündigt und ihr eine Gelegenheit gegeben, sich zurechtzumachen. Dann hätte sie etwas präsentabler ausgesehen.

„Und Sie sind gesund? Die Krankheit Ihrer Mutter hat Sie nicht befallen?“

„Besten Dank, Sir, ich bin kerngesund. Vor ein paar Jahren brach meine Mutter sich ein Bein. Obwohl es geheilt ist, leidet sie seither an Rheumatismus. Eine gute Ernährung und geheizte Räume würden ihr helfen. Da es uns an beidem mangelt, muss Mama ihre Schmerzen ertragen.“

Er inspizierte Laura von Kopf bis Fuß, als versuchte er ihren Wert einzuschätzen. Da sie keinen Schmuck trug und ihr schäbiges altes Kleid nicht einmal einen Gebrauchtwarenhändler interessieren würde, verstand sie nicht, was Mr. Rathbone damit bezweckte.

„Gibt es außer Ihrer Mutter und Ihrem Onkel niemanden, der Ansprüche auf Sie erheben könnte?“, fragte er.

Neue Sorge beunruhigte sie, denn sie entsann sich, wie schamlos er nackt vor ihr umherstolziert war. „Falls Sie mir einen unsittlichen Antrag machen möchten, sollten Sie gehen, Sir.“

„Nichts dergleichen, Miss Townsend. Nach gründlicher Überlegung habe ich etwas anzubieten, das Ihnen vielleicht zusagen wird.“

Im Nebenzimmer erklang ein Hüsteln. Laura hielt den Atem an und wartete ab, ob ihre Mutter erwachte. Sie hoffte inständig, dass sie weiterschlief. Ihre Mutter brauchte ihre Ruhe. So dringend wie eine nahrhafte Mahlzeit und eine Pelisse, die sie vor der Kälte schützen würde …

Von wachsender Angst gepeinigt, schaute Laura den Geldverleiher wieder an. Selbst wenn er ihr ein unanständiges Angebot machen wollte – sie konnte sich nicht leisten, es abzulehnen. Nur zu gut wusste sie, was ihrer Mutter und ihr selbst drohen würde, nachdem das Geschäft nun verloren war. Bald würden sie auf der Straße landen. „Nun, Mr. Rathbone, was haben Sie mir zu sagen?“

Philip betastete den rauen Stoff des Hutes in seinen Händen.

Irgendwo da draußen auf der Straße schrie ein Kind. Es klang so ähnlich wie das Gebrüll seines neugeborenen, von der Nanny betreuten Sohnes. Während Arabella in Philips Armen ihr Leben ausgehaucht hatte …

Er legte den Hut auf den Tisch. Was er jetzt beabsichtigte, hatte nichts mit der Vergangenheit zu tun, nur mit den drängenden Problemen der Gegenwart. „Vor einem Jahr starb meine Gemahlin im Kindbett, und jetzt brauche ich die Dienste einer Frau mit Ihren Fähigkeiten, Miss Townsend.“

Sichtlich verwirrt, runzelte sie die Stirn. „Meinen Sie – ich soll als Kindermädchen in Ihr Haus ziehen?“

„Nein, als meine Ehefrau?“

„Ihre – Ehefrau?“, flüsterte sie und riss entgeistert die Augen auf.

„Wie ich vermute, sind Sie nicht verheiratet.“

„Nein, aber …“

„Und Sie haben keine Verehrer?“

„Außer dem Trunkenbold, der vor der Haustür sitzt und mich belästigt, wann immer ich komme und gehe – nein, keine.“

„Gut. Im Moment beschäftige ich eine tüchtige Kinderfrau für meinen Sohn. Leider wird sie mich am Monatsende verlassen. Meine Schwester ist erst dreizehn, also zu jung, um solche Pflichten zu erfüllen. Zudem braucht sie eine strenge Hand. In absehbarer Zeit werden sich Bewunderer um sie scharen. Ich habe weder Tanten noch Cousinen, die sich um das Mädchen kümmern könnten.“

„Und meine Mutter?“

„Selbstverständlich würde ich für ihr Wohl sorgen. Sie soll in meinem Haus wohnen, von einer Pflegerin umsorgt. Sie, Miss Townsend, müssten sich in meine Geschäfte einarbeiten und mich unterstützen.“

Immer noch fassungslos, starrte sie ihn an. „Beinahe hätte ich Sie erschossen, Sir. Und jetzt vertrauen Sie mit Ihren Sohn, Ihre Schwester und Ihre Geschäfte an?“

„Für mich stellten Sie keine Bedrohung dar, Miss Townsend.“

Ein schwaches Lächeln hob ihre Mundwinkel. „Fürchten Sie nicht, ich könnte Sie bestehlen und weglaufen?“

„Unwahrscheinlich, wenn Ihre Mutter unter meinem Dach lebt.“

„Ja, das stimmt.“ Die Arme vor der Brust verschränkt, schien sie nachzudenken. „Warum ich? Und warum wollen Sie mich heiraten? Nur damit ich diese Aufgaben übernehme?“

„Weil ich glaube, eine Ehefrau wäre eine gute Geschäftspartnerin, denn sie würde dieselben Interessen verfolgen wie ich. Und warum Sie, Miss Townsend? Sie sind intelligent. Und tatkräftig. Insbesondere, wenn Sie mit Feuerwaffen hantieren.“

Sofort erlosch ihr Lächeln, und sie presste die Lippen zusammen.

Davon ließ er sich nicht beirren. „Mit Ihrem Einbruch gestern Abend haben Sie Mut und Energie bewiesen.“

„Genauso gut könnten Sie mein Verhalten tollkühn und leichtsinnig nennen“, wandte sie ein.

„Gewiss, das war es. Aber mit Ihren Plänen für die Baumwolle beweisen Sie Klugheit und Geschäftssinn. Zudem haben Sie in der Tuchhandlung Ihres Vaters Erfahrungen gesammelt. Und ich gehe davon aus, es war vor allem die Sorge um Ihre Mutter, die Sie veranlasst hat, in mein Haus einzubrechen. Also bedeuten Ihnen familiäre Bande sehr viel. Sicher würden Sie solche Gefühle auch auf meine Schwester und meinen Sohn übertragen.“

„Und diese Beweggründe genügen Ihnen, um mich zu heiraten?“

„So ist es.“

„Aber – ich verstehe nichts vom Geldverleih.“

„Sie werden alles lernen, was Sie wissen müssen. Damit Sie, falls mir etwas zustößt, das Geschäft weiterführen können, bis unser Sohn großjährig ist.“

Unser Sohn?“ Sie zog die Brauen hoch.

„Bald werden Sie ihn, ebenso wie ich, als Ihr Kind betrachten. Und wir werden noch weitere haben. Ich hoffe, Sie bekommen Ihre Monatsblutung regelmäßig?“

Kaum merklich zuckte sie zusammen. „Sir!“

„Wenn wir ein solches Abkommen schließen, müssen wir offen miteinander reden.“

Nach einer kurzen Pause erwiderte sie: „In dieser Hinsicht bin ich gesund.“ Langsam ließ sie ihren Blick über Philips Körper wandern. „Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“

Was für ein selbstsicheres, couragiertes Mädchen … Zum ersten Mal seit einem Jahr umspielten seine Lippen ein leichtes Lächeln, das er sofort unterdrückte. „Oh ja, das werden Sie bald feststellen.“

„Ich habe Ihren romantischen Heiratsantrag noch nicht angenommen.“

„Das werden Sie tun, weil Sie keine Wahl haben.“

Sie betrachtete den schmutzigen Lappen in ihrer Hand und zupfte einen losen Faden heraus, bevor sie Philip wieder ansah. „Da muss ich Ihnen zustimmen, ich habe keine Wahl. Aber Sie hätten mir Ihr Angebot etwas höflicher und charmanter unterbreiten können. Nicht so geschäftsmäßig.“

„Eigentlich dachte ich, Sie würden keinen Wert auf solche Sentimentalitäten legen.“

„Sie haben recht, Sir, so etwas bedeutet mir nichts. Trotzdem bin ich eine Frau und möchte wenigstens ein bisschen umworben werden.“

Zum zweiten Mal an diesem Tag wollte er lächeln. Doch er tat es nicht. Stattdessen trat er näher zu ihr und bewunderte ihre Haltung. Sie weigerte sich, einfach einen Vertrag zu unterzeichnen, verlangte weder sein Geld noch sonst etwas, sondern seinen Respekt. „Miss Townsend, würden Sie mir die Ehre erweisen und mich als Ihren Ehemann akzeptieren?“

Unsicher musterte Laura den Fremden, der vor ihr stand. In ihrem Kopf drehte sich alles, wegen des unerwarteten Antrags, auch wegen ihres Hungers. Obwohl ihre Eltern sie zur Vernunft erzogen hatten, war sie gegen mädchenhafte Träume nicht immun gewesen. Sie hatte sich ein Eheglück gewünscht, wie es Mama und Papa beschieden gewesen war, ein ruhiges Familienleben mit einem Mann, den sie lieben und achten konnte. Diese Zukunftsträume hatte Onkel Robert zerstört. Jetzt lag ihre einzige Hoffnung in den Händen dieses Gentlemans.

Sie versuchte zu ergründen, was für ein Mensch sich hinter der kühlen, steifen Fassade des Geschäftsmannes verbarg. Aber sie sah nichts. Immerhin appellierten seine Argumente, warum er sie heiraten wollte, an die praktische Seite ihres Wesens.

Hingegen erschütterte die Aussicht auf die körperlichen Pflichten, die eine Ehe mit sich brachte, Lauras Vernunft. Er rechnete mit Kindern. Und es gab nur eine einzige Möglichkeit, welche zu bekommen. In ihrer Fantasie erschien wieder das Bild seiner nackten Gestalt, und sie musste schlucken. Nach der Flucht aus seinem Haus war sie hierhergeeilt, neben ihrer Mutter ins Bett gekrochen und hatte keinen Schlaf gefunden. Nie zuvor hatte sie einen unbekleideten Mann gesehen, und seither wurde sie ständig von der Erinnerung an einen Anblick verfolgt, der keineswegs unerfreulich gewesen war.

So würde sie Mr. Rathbone erneut sehen – und er sie, wenn sie seinen Antrag annahm. Wie mochten die intimen Momente verlaufen? In manchen Nächten hörte sie durch die dünnen Wände des heruntergekommenen Mietshauses Geräusche im benachbarten Schlafzimmer und konnte sich vorstellen, was ein grausamer Ehemann seiner Frau zumutete.

Was würde sie in Mr. Rathbones Bett erwarten? Würde er rücksichtsvoll, sogar zärtlich sein oder seine ehelichen Pflichten geschäftsmäßig erledigen? Wie auch immer, wenn sie seinen Antrag ablehnte, könnten ihr Attacken fremder Männer drohen, die sie viel schmerzlicher erniedrigen würden. Ihre Situation war verzweifelt. Und sie wusste, was verzweifelten Frauen im Stadtteil Seven Dials widerfuhr.

In Mr. Rathbones Haus mussten ihre Mutter und sie selbst wenigstens nicht hungern und frieren. „Ja, Sir, ich nehme Ihren Antrag an.“

„Gut. Meine Leute warten mit einem Lastkarren auf der Straße“, erklärte er, ging zum Fenster und winkte jemandem. „Überlegen Sie, was Sie mitnehmen wollen, Miss Townsend. Wir brechen sofort auf.“

„So sicher waren Sie, dass ich Ja sagen würde?“ Einfach unglaublich, dieser Mann …

Lässig drehte er sich zu ihr um. „In geschäftlichen Dingen bin ich mir immer sicher.“

Ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür, und ein junger Mann in einem braunen Gehrock trat ein. „Du hast uns sehr lange warten lassen, Philip“, mahnte er und zog seinen Hut. „Beinahe hätte ich mir Sorgen gemacht.“

„Erlauben Sie mir, Miss Townsend, Ihnen Mr. Justin Connor vorzustellen, meinen Freund und Geschäftspartner?“, sagte Mr. Rathbone. „Justin, das ist Miss Townsend, meine Verlobte.“

Mr. Connor verbeugte sich formvollendet. Etwas kleiner als Mr. Rathbone, hatte er eine breitere Brust und stärkere Hüften. Sein Haar war hellbraun wie seine Augen, die sein Amüsement ebenso verrieten wie sein Lächeln. „Es ist mir ein Vergnügen, Miss Townsend. Anscheinend haben Sie meinen Freund tief beeindruckt.“

Endlich ein humorvoller Gentleman … „Oh ja, gerade hat er mir versichert, meine Schönheit und mein Charme hätten ihn bezaubert.“

Mr. Connor grinste. „Zweifellos wirst du eine erfolgreiche Ehe mit der jungen Dame führen, Philip.“

Wie üblich blieb Mr. Rathbones Miene ungerührt, und er ließ nicht erkennen, wie er über die Bemerkung seines Partners dachte.

Nun kamen vier große, bullige Männer in Arbeitskleidung herein. An ihren Gürteln hingen Knüppel, was Laura nicht entging. „Gibt es einen besonderen Grund für diese Waffen, Mr. Rathbone? Sind Mama und ich Ihre Gefangenen?“

Mr. Rathbone machte einen Schritt auf sie zu. „Nachdem Mr. Townsend sich als selbstsüchtig und rücksichtslos erwiesen hat, vermute ich, er hält an Ihnen und Ihrer Mutter nur fest, weil er glaubt, dadurch würde noch ein Gewinn für ihn herausspringen. Also wird es ihn erzürnen, wenn ich Sie beide seiner Kontrolle entziehe. Vielleicht wird er mit Gewalt versuchen, Sie hierzubehalten.“

Wie treffend er ihren Onkel einschätzte, bedrückte sie. „Was sollte er noch erhoffen? Er hat uns schon alles genommen.“

„Nicht alles“, erwiderte er leise, fast sanft.

Bevor er erklären konnte, was er meinte, mischte Mr. Connor sich ein. „Wir sollten uns beeilen, Philip. Falls er zurückkehrt …“

„Gewiss.“ Mr. Rathbone sah sich um. „Was möchten Sie mitnehmen, Miss Townsend?“

Autor

Georgie Lee
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