Mr. Perfect gibt es nicht

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Mr. Perfect? Gibt es nicht! Die wahre Liebe? Ein Märchen! Drama, Streit, Versöhnung? Bloß nicht! Das hat Jane viel zu oft bei ihren Schauspieler-Eltern erlebt. Warum also bekommt sie bei Devlin Kavanaghs theaterreifem Auftritt in einer Bar spontan Gänsehaut? Und als ob ihr eigenes Verhalten nicht schon Rätsel genug aufgibt, wird auch noch in ihr Haus eingebrochen und ein wertvolles Sammlerstück gestohlen. Jetzt ist Jane auch noch als Detektivin gefragt - und Mr. Fast Perfect darf beweisen, dass er wirklich der Mann für alle Fälle ist...


  • Erscheinungstag 01.01.2010
  • ISBN / Artikelnummer 9783862782703
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Liebes Tagebuch,

Familienleben finde ich beschissen.

Warum kann ich keine normalen Eltern haben?

12. Mai 1990

J ane, Jane, wir sind da!“ Die zwölfjährige Jane Kaplinski beugte sich aus dem Schlafzimmerfenster und sah, wie der Chauffeur mit ernster Miene die Tür der Limousine öffnete. Ihre beiden Freundinnen Ava und Poppy sprangen heraus.

„Ich komme runter“, rief sie und warf noch einen Blick auf Poppys blonde vom Wind zerzauste Locken und den dünnen Rock, in dem sich der Wind verfangen hatte. Obwohl sie die Sachen wahrscheinlich bei Wal-Mart gekauft hatte, sah Poppy ziemlich cool aus. Ava dagegen, die körperlich weiter entwickelt war als alle anderen in ihrer Stufe, erinnerte in ihrem teuren blassgrünen Kleid eher an eine Presswurst. Der Stoff spannte sich unvorteilhaft um Hüfte und Brust. Aber ihr glattes flammend rotes Haar funkelte in der Frühlingssonne, und als sie zu Jane hinaufgrinste, entstanden zwei hübsche Grübchen in ihren Wangen.

Jane strich sich den dunkelblauen Rock glatt, stellte das Radio aus, in dem gerade Madonnas „Vogue“ lief, schnappte sich ihren Rucksack und schloss sorgfältig die Zimmertür hinter sich. Dann flitzte sie die Treppe hinunter. Sie musste lächeln, als sie sich vorstellte, dass Ava darauf bestehen würde, anzuklopfen, während Poppy der Ansicht war, dass sie nun wirklich keine Extraeinladung brauchten.

Die Stimme ihrer Mutter ließ sie am Ende der Treppe erstarren. Der Koffer im Flur hätte sie schon stutzig machen müssen, aber sie war so auf den Ausflug mit ihren Freundinnen fixiert gewesen, dass sie ihn bis jetzt gar nicht bemerkt hatte. Und schon stand Dorrie Kaplinski vor ihr. Eiswürfel klirrten im vertrauten Rhythmus, als sie sich mit dem Glas in der Hand zu ihrem einzigen Kind hinabbeugte.

Blödermistverdammt.

„Du bist zurück“, sagte Jane tonlos, als ihre Mutter sie an den üppigen Busen drückte. Ihre Nase versank in einem nach Obsession duftenden Ausschnitt. Jane rang verzweifelt um Luft, rührte sich aber nicht, bis Dorrie den Griff lockerte. Dann allerdings lief sie sofort auf die Tür zu.

„Aber natürlich bin ich zurück, Darling. Du weißt doch, dass ich niemals lange ohne dich sein könnte. Davon abgesehen ...“, sie strich sich über ihr Haar, „... hat dein Vater mich gebeten zurückzukommen.“ Dorrie kam auf sie zu und schlang einen Arm um Janes Schultern. Ihr nach Johnnie Walker riechender Atem vermischte sich mit ihrem Parfüm. „Na, sieh dich nur an! So herausgeputzt! Wohin willst du denn gehen?“

Jane wand sich aus ihrer Umarmung und trat einen riesigen Schritt zurück. „Ich bin bei Miss Wolcott zum Tee eingeladen.“

„Agnes Bell Wolcott?“

Jane nickte.

„Na so was.“ Dorrie musterte ihre Tochter kurz. „Konntest du nicht etwas Farbenfroheres anziehen?“

Jane betrachtete das neonfarbene Top ihrer Mutter und entgegnete nur: „Mir gefällt es.“

„Ich habe eine hübsche rote Perlenkette, mit der du das Ganze etwas aufpeppen könntest.“ Dorrie griff nach einer ihrer schimmernden braunen Haarsträhnen und rieb sie zwischen den Fingern. „Und vielleicht könnten wir irgendetwas mit deiner Frisur anstellen? Du weißt doch, wie wichtig Details sind. Will man die Rolle haben, dann muss man sich das richtige Kostüm besorgen!“

Jane gelang es, nicht zu erschauern. „Nein danke. Ich bin nur zum Tee eingeladen und nicht der Star in einem eurer Theaterstücke. Außerdem hast du doch bestimmt gehört, dass Avas Auto vorgefahren ist.“

„Habe ich?“ Dorrie ließ die Haarsträhne fallen und trank einen weiteren Schluck von ihrem Johnnie Walker. „Nun ja. Jetzt, wo du es erwähnst – ich habe es wohl gehört, aber nicht darauf geachtet.“

Was für eine Überraschung. Mom interessierte sich wie immer nur für Mom. Oder für das Drama des Tages in der ganz privaten Dorrie-und-Mike-Show.

Es klingelte, und mit einem erleichterten Seufzen drückte Jane sich an ihrer Mutter vorbei. „Ich muss los. Ava und ich übernachten bei Poppy. Wir sehen uns dann also morgen.“

Junge, Junge, wie froh sie war, das abendliche Drama zu verpassen! Wenn ihr Vater entdeckte, dass Mom zurückgekommen war, würde sich ein Feuerwerk der Leidenschaft entzünden. Aber nachdem sie so etwas schon unzählige Male erlebt hatte, konnte Jane heute getrost darauf verzichten.

Ava und Poppy betraten das Haus, bevor sie die Tür erreicht hatte, stellten sich neben sie und riefen: „Hallo, Mrs. Kaplinski! Auf Wiedersehen, Mrs. Kaplinski!“ Dann schubsten sie Jane so schnell es ging Richtung Auto.

Daniel, der Chauffeur der Familie Spencer, öffnete die Hintertür des Lincolns. Während Poppy auf den Rücksitz hechtete, sah er Jane an und tippte an seine schmucke Kappe. „Miss Kaplinski.“

Über seine formelle Art wollte sie jedes Mal kichern, doch stattdessen schenkte sie ihm ein feierliches Nicken. „Mr. Daniel.“ Sie kletterte langsam hinter Poppy in den Wagen.

Ava ließ sich neben sie plumpsen, woraufhin Daniel die Tür schloss.

Die drei Freundinnen sahen einander an, als der Chauffeur um den Wagen lief, dann fuhr sich Poppy mit einer dramatischen Geste durchs Harr und mimte einen Aufschrei: „Tee in der Villa der Wolcotts!“ Sie grinste Jane und Ava an und fragte mit ihrer normalen Stimme: „Warum genau hat uns Miss Wolcott eingeladen?“

„Das habe ich dir ganz bestimmt erzählt.“ Ava zupfte am Saum ihres Kleides, um ihre molligen Schenkel zu bedecken. „Vielleicht, weil wir alle bei diesem blöden Hauskonzert meiner Eltern mit ihr gesprochen haben. Die waren total aus dem Häuschen, dass Mrs. Wolcott die Einladung überhaupt angenommen hatte. Ich schätze, sie sagt öfter ab, als tatsächlich irgendwo zu erscheinen. Angeblich wünscht sich jeder, sie einmal als Gast zu haben. Aber sie soll auch total verschroben sein, und meine Mom hatte ganz schön Angst vor ihr.“ Sie zuckte die Schultern. „Keine Ahnung – mir kam sie jedenfalls ziemlich normal vor. Von der Stimme vielleicht abgesehen. Mein Dad sagt, sie klingt wie ein Nebelhorn.“

„Ich fand sie interessant“, sagte Jane.

„Ja, und wie“, meinte Poppy. „Sie war schon überall auf der Welt und hat alles Mögliche gemacht. Könnt ihr euch vorstellen, dass sie schon in Paris war und in Afrika und sogar bis vor einem Jahr ihr eigenes Flugzeug geflogen ist? Außerdem hat sie eine tolle Villa.“ Vor Begeisterung hopste Poppy wild auf dem teuren Ledersitz herum. „Dagegen sieht euer Haus wie eine armselige Hütte aus, Ava. Und dabei dachte ich bisher immer, dass ihr das schönste Haus auf der ganzen Welt habt! Wie es wohl bei Miss Wolcott aussieht? Ich sterbe fast vor Neugier!“

„Ich auch“, stimmte Jane ihr zu. „Anscheinend sammelt sie ganz viele tolle Sachen.“

Ava zog einen Schokoriegel aus ihrem Rucksack, riss die Verpackung auf und bot Poppy und Jane jeweils einen Bissen an. Als die beiden ablehnten, zuckte sie mit den Schultern und schlang ein großes Stück hinunter. „Hauptsache ich muss heute nicht zum Kotillon-Unterricht. Mir ist alles recht, um das Arschgesicht Cade Gallari nicht sehen zu müssen.“

In der dreistöckigen Villa am dicht besiedelten Westhang des eleganten Viertels Queen Anne angekommen, geleitete eine ältere Frau in einer strengen schwarzen Uniform die Mädchen in ein großes Empfangszimmer. Sie murmelte, dass Miss Wolcott sich bald zu ihnen gesellen würde, dann zog sie sich zurück und schob eine lange, reich verzierte Schiebetür hinter sich zu.

Es war dunkel und kühl, die Fenster waren von dicken Samtvorhängen verhüllt. Überall standen ungewöhnliche Gegenstände herum, was fast schon behaglich wirkte. In diesem Raum hätte leicht das ganze Erdgeschoss von Janes Haus Platz gehabt.

„Wow.“ Jane drehte sich langsam um sich selbst. „Schaut euch diesen ganzen Kram an.“ Sie lief zu einer Glasvitrine und musterte die darin ausgestellten antiken Perlenhandtaschen. „Die sind der Hammer!“

„Woher willst du das wissen?“, fragte Ava. „Es ist total dunkel hier.“

„Eben“, sagte Poppy. „Schau dir mal diese riesigen Fenster an – wenn ich hier wohnen würde, würde ich die Vorhänge den ganzen Tag offen lassen. Und dann vielleicht die Wände in einem hübschen Gelb streichen, um das Ganze etwas aufzumuntern.“

„Ladies“, erklang eine tiefe markante Stimme hinter ihnen. Alle drei drehten sich hastig um. „Danke, dass ihr gekommen seid.“ Agnes Bell Wolcott stand in der halb geöffneten Schiebetür. Sie trug maßgeschneiderte kamelfarbene Hosen und ein locker fallendes Jackett, die Bluse darunter mit dem hohen Kragen war ebenso schneeweiß wie ihr Haar. Eine antik wirkende Kamee schmiegte sich an ihren Hals. Sie warf Poppy einen Blick zu. „Du kannst die Vorhänge aufziehen, wenn du magst.“

Ohne auch nur zu erröten, rannte Poppy auf die Fenster zu und tat, wie ihr geheißen. Kurz darauf erfüllte perlmuttglänzendes Nachmittagslicht den Raum.

„Nun. Möchtet ihr Mädchen euch meine Sammlungen ansehen, oder hättet ihr vorher lieber eine Kleinigkeit zu essen?“

Bevor Jane sich für die erste Möglichkeit entscheiden konnte, rief Ava: „Essen, bitte.“

Ihre Gastgeberin führte sie in ein anderes Zimmer mit einem großen Tisch vor einem Marmorkamin. Eine antike Etagere mit drei Tellern stand in der Mitte und war mit wunderschönen Süßspeisen und Sandwiches gefüllt. Sie setzten sich auf ihre durch kleine Namenskarten ausgewiesenen Plätze. Miss Wolcott klingelte nach Tee.

Dann richtete sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Mädchen. „Vermutlich wundert ihr euch, warum ich euch zu mir eingeladen habe.“

„Darüber haben wir gerade auf dem Weg hierher gesprochen“, gestand Poppy freimütig, während Jane höflich nickte und Ava murmelte: „Das stimmt, Ma’am.“

„Damit möchte ich mich bei euch bedanken, dass ihr mir bei dem Hauskonzert vor Kurzem Gesellschaft geleistet habt. Es hat mir großen Spaß gemacht, mich mit euch zu unterhalten.“ Sie betrachtete alle drei mit großem Interesse. „Ihr seid sehr unterschiedlich“, stellte sie fest. „Darf ich fragen, wie ihr euch kennengelernt habt?“

„Wir alle besuchen die Seattle Country Day School“, antwortete Poppy. Als sie bemerkte, dass Miss Wolcott diskret ihre billigen Kleider musterte, grinste sie. „Meine Grandma Ingles bezahlt mein Schulgeld. Sie hat selbst studiert.“

„Und ich habe ein Stipendium“, verkündete Jane. Natürlich hatten sich nicht etwa ihre Eltern darum gekümmert. Wenn nicht Vorjahren ein Lehrer den entsprechenden Antrag ausgefüllt hätte, würde sie heute noch eine staatliche Schule besuchen. Inzwischen kümmerte sie sich selbst darum, und ihre Eltern mussten einfach nur noch unterschreiben.

„Ich bin nur eine ganz normale Schülerin“, gestand Ava. „Ich mache nichts Besonderes, und Jane und Poppy sind besser in der Schule als ich.“ Sie lächelte breit. „Vor allem Jane.“

Hitze stieg Jane in die Wangen und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. „Ava ist auf andere Weise etwas ganz Besonderes.“

„Ich finde es toll, wenn Mädchen so eng befreundet sind“, sagte Miss Wolcott. „Das ist ja eine richtige Schwesternschaft.“

Jane ließ sich diese Worte auf der Zunge zergehen, als die schwarz gekleidete Frau einen eleganten Teewagen ins Zimmer schob. Miss Wolcott deutete auf die rechteckigen Päckchen, die auf den Tellern der Mädchen lagen. „Als kleines Zeichen meiner Wertschätzung. Bitte packt aus, während ich den Tee einschenke.“

Jane lächelte in sich hinein. Vielleicht war es ja wirklich gar nicht so leicht, ein reiches Mädchen zu sein. Jedenfalls erzählte Ava ihnen das weiß Gott oft genug.

Sie wickelte ein dunkelgrünes in Leder gebundenes Buch aus dem Papier. Ihr Name war in goldenen Buchstaben auf dem Buchdeckel eingraviert. Poppys war rot und Avas blau. Sie fragte sich, woher diese Frau wusste, dass Grün ihre Lieblingsfarbe war. Als sie das Buch aufklappte, stellte sie fest, dass die goldgeränderten Seiten leer waren. Sie warf Miss Wolcott einen Blick zu.

„Ich schreibe Tagebuch, seit ich in eurem Alter war“, erklärte die weißhaarige Frau mit ihrer Bassstimme. „Und nachdem ich euch alle drei für so interessante junge Damen halte, dachte ich, ihr würdet vielleicht auch gern eines führen. Ich finde, darin sind Geheimnisse großartig aufgehoben.“

„Super“, sagte Poppy.

Avas Gesicht erhellte sich. „Was für eine tolle Idee.“

Jane blickte von Miss Wolcott zu ihren Freundinnen, die sie seit der vierten Klasse kannte, und dachte an all die Eindrücke und Gefühle, die ihr ständig im Kopf herumgeisterten. Dass es bei ihr zu Hause nicht gerade großartig lief, darüber wollte sie mit niemandem sprechen, nicht einmal mit ihren besten Freundinnen. Oder vor allem nicht mit ihnen. Poppy hatte wunderbare Eltern und fand es zwar schade, dass Janes Eltern sich ständig trennten und wieder versöhnten, doch so ganz konnte sie wohl nicht nachvollziehen, wie schlimm das für ein junges Mädchen tatsächlich war. Und obwohl es bei Ava zu Hause nun wirklich auch nicht perfekt lief, so waren ihre Eltern zumindest keine Schauspieler, die nur für das Drama lebten.

Die Idee, einmal aufzuschreiben, was sie wirklich fühlte, gefiel ihr. Sie lächelte.

„Wir könnten sie die Schwesternschaft-Tagebücher nennen.

1. KAPITEL

Ich werde so was von nie mehr einen Tango, anziehen! Poppy behauptet, die wären bequem – da hätte ich es mir eigentlich gleich denken können.

Oh mein Goooooott, Jane!“, kreischte Ava. „Oh ... MEIN ... GOTT! Jetzt ist es offiziell.“ Jane streckte den Hörer weit von sich. Ein Wunder, dass die Hunde in der Nachbarschaft wegen der schrillen Stimme ihrer Freundin nicht zu bellen begannen. Doch dann, als die Aufregung in ihrem Bauch einen schnellen Stepptanz vollführte, drückte sie den Hörer wieder ans Ohr. „Ist die Testamentseröffnung beendet?“

„Ja! Seit zwei Minuten!“ Ava lachte aus voller Brust. „Die Wolcott-Villa gehört nun offiziell uns! Kannst du dir das vorstellen? Natürlich vermisse ich Miss Agnes, aber das ist doch einfach der Hammer! Oh mein Gott, ich bekomme kaum noch Luft, so aufgeregt bin ich. Ich rufe gleich Poppy an, das muss gefeiert werden. Macht es dir was aus, nach West Seattle zu kommen?“

„Lass mal sehen.“ Jane dehnte das Telefonkabel so weit es ging, trat aus ihrem engen Büro im sechsten Stock des Seattle Art Museums und spähte durch die offene Tür der Direktorin. Von Marjories Eckbüro aus hatte man einen wunderschönen Blick auf Magnolia Bluff und auf die Olympic Mountains, die sich majestätisch hinter der Elliott Bay und dem Puget Sound erhoben. Von ihrem Standort aus konnte sie zwar nur einen winzigen Teil sehen, aber ihr ging es ja auch weniger um die Landschaft als um den Verkehr auf der Straße. „Nein, das müsste gehen. Treffen wir uns im Matador, in einer Stunde. Die überteuerten Getränke gehen auf mich.“

Grinsend schlüpfte sie aus ihren hochhackigen Schuhen, steckte sie in ihre Tasche und streifte Turnschuhe über. Dann zog sie sich die Lippen nach und bewegte die Hüften dabei zu einem fröhlichen Lied in ihrem Kopf.

„Du bist ja ziemlich aufgedreht.“

Jane schrie auf. „Gütiger Himmel!“ Sie presste eine Hand auf ihr rasendes Herz und wirbelte zu dem Mann herum.

„Verzeihung.“ Gordon Ives, ebenfalls Junior-Kurator, betrat ihr Büro. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Warum dieser kleine Tanz?“

Normalerweise wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, ihm die Frage zu beantworten. Sie hatte Privates immer strikt aus ihrem Berufsleben herausgehalten, was in ihrer Karriere bisher auch immer hilfreich gewesen war. Es gab keinen Grund, daran jetzt etwas zu ändern.

Und doch ...

Ein Teil des Erbes betraf auch das Museum, insofern würde er sowieso bald davon erfahren. Außerdem war sie einfach glücklich. „Ich bekomme die Wolcott-Sammlungen.“

Er starrte sie ungläubig aus seinen hellblauen Augen an. „Du meinst die Agnes-Bell-Wolcott-Sammlungen? Wir sprechen von der Agnes Wolcott, die in Hosen die Welt bereist hat, als die Frauen ihrer Generation noch zu Hause bei den Kinder geblieben sind und das Haus, wenn überhaupt, mit Kostüm, Hut und Handschuhen verlassen haben?“

„Genau die. Aber sie hat nicht nur Hosen getragen, sondern gelegentlich auch Kleider und Röcke.“

„Seit ich denken kann, höre ich von ihren Sammlungen. Aber ich dachte, sie wäre gestorben.“

„Das ist sie, letzten März.“ Ein schmerzhafter Stich fuhr Jane in die Brust. Es gab nun einen unbewohnten Platz in ihrem Herzen, den Miss Agnes zuvor ausgefüllt hatte. Sie musste tief durchatmen, und dann – vielleicht, weil sie sich noch nicht ganz gefangen hatte – hörte sie sich gestehen: „Sie hat sie mir und zwei Freundinnen hinterlassen.“ Zusammen mit dem gesamten Anwesen, doch das brauchte Gordon nicht auch noch zu erfahren.

„Du nimmst mich auf den Arm! Warum sollte sie das tun?“

„Weil wir Freundinnen waren. Mehr als das, um genau zu sein – Poppy und Ava und ich waren vermutlich so etwas wie eine Familie für Miss Wolcott.“ Ihr erster Besuch vor achtzehn Jahren war der Anfang für monatliche Treffen zum Tee gewesen. Die Freundschaft hatte sich vertieft, als die faszinierende, wunderbare alte Dame begann, sich so für das Leben und die Erlebnisse der drei Mädchen zu interessieren, als ob sie mindestens genauso faszinierend wären. Sie hatte sich immer besonders um die Mädchen bemüht und viel Aufhebens um ihre Leistungen gemacht, mehr als sonst jemand in ihrem Leben – nun, zumindest in ihrem und Avas Leben.

Jane musste sich zusammenreißen. Hier war nicht der richtige Ort für Gefühle. „Wie auch immer“, sagte sie knapp. „Ich werde in den nächsten Monaten nur noch morgens hier sein. Miss Agnes hat dem Museum zwei Sammlungen vermacht, und Marjorie ist damit einverstanden, dass ich sie nachmittags in der Wolcott-Villa katalogisiere.“

„Die Direktorin weiß Bescheid?“

„Ja.“

„Dann überrascht es mich, dass sonst niemand davon weiß.“

Sie sah ihn erstaunt an. „Wieso?“

„Nun, es ist nur ... du weißt schon. Hier bleibt doch nichts lange ein Geheimnis.“

„Stimmt. Aber es ist schließlich eine private Erbschaft, die mich und meine Freundinnen vollkommen überrascht hat. Die Testamentseröffnung hat sich mehrere Monate in die Länge gezogen. Marjorie habe ich nur davon erzählt, weil Miss Agnes’ Nachlass das Museum direkt betrifft. Ansonsten sehe ich keinen Grund, mit Leuten darüber zu sprechen, die nichts damit zu tun haben.“

Weil sie ahnte, dass ihr neugieriger Kollege Näheres über den Nachlass wissen wollte, sah sie auf ihre praktische Armbanduhr mit den großen Ziffern. „Huch, ich muss los. Sonst verpasse ich den Bus.“ Sie schnappte sich ihre Tasche, schob Gordon aus dem Büro und schloss die Tür hinter sich.

Wenige Minuten später trat sie auf die Straße, zog die schwarze Kaschmirjacke über der Brust zusammen, um sich gegen die kühle Brise zu schützen, und setzte die Sonnenbrille auf. Den Bus hatte sie eigentlich nur erwähnt, um Gordon so schnell wie möglich loszuwerden. Doch nach kurzer Überlegung beschloss sie, tatsächlich nicht nach Hause zu laufen, um ihr Auto zu holen, sondern zur Marion Street zu gehen und den 55er zu nehmen.

Kurz vor dem Restaurant wechselte sie wieder in ihre hochhackigen Sandalen. Leopardenmuster. Sie lächelte. Sie liebte diese Schuhe, und wahrscheinlich hatte sie dieses Jahr nicht mehr oft die Möglichkeit, sie zu tragen. Laut Wettervorhersage waren die sonnigen Tage gezählt.

Sie kam als Erste im Restaurant an. Obwohl es noch recht früh am Abend war, füllte sich der Raum stetig. Sie bestellte sich ein Sodawasser an der Bar und suchte sich einen freien Tisch. Jane war zum ersten Mal hier. Sie bewunderte einige Minuten lang den schönen Raum und die komplizierten Metallkunstwerke an den Wänden. Dann schlug sie ein wenig Zeit tot, indem sie die Getränkekarte studierte, doch die anderen Gäste zu beobachten, fand sie dann doch spannender.

Am anderen Ende des Restaurants entdeckte sie einen Tisch mit vier Männern, der immer wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie waren zwischen Ende zwanzig und vielleicht vierzig und führten eine sehr rege Diskussion. Dazwischen brachen sie immer wieder in Gelächter aus, meistens ausgelöst von einem Rothaarigen, dessen Schultern so breit waren, dass sein Hemd aus allen Nähten zu platzen drohte.

Sie hatte sich noch nie besonders für rothaarige Männer interessiert, aber bei diesem Typen war es etwas anderes. Sein Haar hatte die dunkle satte Farbe eines irischen Setters, seine Augenbrauen waren schwärzer als die Federn einer Krähe und seine Haut überraschend goldbraun und nicht etwa blass, wie sie es bei dieser Haarfarbe erwartet hätte. Diese Erwartung rührte vermutlich von den vielen gemeinsamen Jahren mit Ava her.

Obwohl sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, fiel ihr Blick immer wieder auf ihn. Er schien sehr in das Gespräch mit seinen Freunden vertieft zu sein. Wenn er sprach, beugte er sich vor. Er zog in einem Moment die dunklen Brauen zusammen, entspannte sich im nächsten und begann zu grinsen. Er gestikulierte viel mit den Händen.

Große, kräftige Hände mit langen Fingern, mit denen er bestimmt ...

Jane zuckte zusammen, als ob jemand direkt vor ihrem Gesicht in die Hände geklatscht hätte. Gütiger Gott. Wie in aller Welt konnte sie so etwas über die Finger eines vollkommen Fremden denken? Das war überhaupt nicht ihre Art.

Und ausgerechnet diesen Moment wählte er, um aufzusehen und sie dabei zu ertappen, wie sie ihn anstarrte. Sie versteifte sich. Er sprach weiter mit seinen Freunden, betrachtete sie dabei aber von Kopf bis Fuß, ließ den Blick einen Moment auf ihren Schuhen verweilen, dann wanderte er wieder nach oben. Ohne sie aus den Augen zu lassen, stürzte er mit einem Schluck ein Glas Schnaps hinunter, dann schob er seinen Stuhl zurück und stand auf.

Er kam zu ihr? Oh.

Nein! Sie war doch kein Teenager mehr. Und sicher nicht darauf aus, einen Mann kennenzulernen – und wenn, dann schon gar nicht in einer Bar.

„Hey, Jane, tut mir leid, dass ich zu spät komme. Und Poppy ist auch noch nicht hier, wie ich sehe.“

Jane stellte fest, dass so ziemlich jeder Männerkopf sich nach Ava umdrehte. Der Rothaarige am anderen Ende des Raumes war keine Ausnahme. Er musterte Ava einen Moment lang prüfend, bevor er wieder Jane ansah. Einen kurzen Moment stand er nur da und rieb sich den Nacken. Dann straffte er die breiten Schultern und steuerte auf die Toilette zu.

Sein Hintern war genauso ansehnlich wie der Rest von ihm, doch ... Er setzte einen Fuß so zögerlich vor den anderen wie jemand, der zu viel getrunken hatte.

„Scheiße.“ Ihre Enttäuschung war einen Tick zu heftig dafür, dass sie mit dem Kerl noch nicht einmal ein einziges Wort gewechselt hatte.

„Wie bitte?“ Ava warf ihre Kate-Spade-Handtasche auf den Tisch und glitt anmutig auf einen Stuhl.

„Nichts.“ Jane wischte die Frage mit einer Handbewegung weg. „War nicht wichtig.“

Ava sah sie nur an.

„Okay, okay. Ich habe gerade mit diesem muskulösen Rothaarigen da hinten geflirtet und – dreh dich nicht um! Himmel, Ava! Er ist sowieso auf die Toilette gegangen.“

„Flirten ist gut – vor allem in deinem Fall, weil du das sowieso viel zu selten tust. Warum also die Flucherei?“

„Er ist betrunken. Das ist mir aber erst aufgefallen, als ich ihn gehen sah.“

„Ach, Janie. Nicht jeder, der ab und zu mal einen über den Durst trinkt, ist gleich ein Alkoholiker. So was passiert halt manchmal.“

„Ich weiß“, entgegnete Jane. Zum Teil, weil sie es so meinte, aber überwiegend, weil sie heute Abend keine Diskussion anzetteln wollte.

Doch Ava kannte sie viel zu gut, und statt das Thema fallen zu lassen, beugte sie sich über den Tisch. Ihr glänzendes Haar schwang nach vorn. Sie strich es sich hinter das Ohr. „Wenn Poppy und ich uns gelegentlich ein paar Drinks hinter die Binde gekippt haben, das war auch kein Problem für dich.“

„Ja, weil ich euch kenne. Und weil ich weiß, dass ihr äußerst selten zu viel trinkt.“ Jane zuckte ungeduldig mit den Schultern. „Sieh mal, ich weiß, dass ich bei diesem Thema oft überreagiere, und ich brauche keinen Seelenklempner, um zu kapieren, dass die Trinkerei meiner Eltern der Grund dafür ist. Aber du weißt so gut wie ich, dass du meine Meinung nicht ändern wirst. Also lassen wir es einfach, okay? Wir sind hier, um zu feiern.“

Ava grinste breit. „Oh mein Goooooott! Das sind wir allerdings. Bist du genauso aufgeregt wie ich?“

„Und wie. Dass ich mich um die Sammlungen kümmern darf, macht mich so fertig, ich kann kaum noch klar denken. Ich hatte heute Nachmittag keine Gelegenheit, mit Marjorie zu sprechen, aber wenn nichts Außergewöhnliches im Museum geschieht – und in den letzten Wochen war es sehr ruhig –, dann hoffe ich, dass ich gleich am Montag anfangen kann.“

„Entschuldigt die Verspätung.“ Poppy eilte atemlos auf ihren Tisch zu.

Ava gab ein unfreundliches Geräusch von sich. „Als ob wir wüssten, wie wir uns verhalten sollten, wenn du jemals pünktlich wärst.“ Poppy schleuderte ihre riesige Handtasche auf den Boden und fiel auf den freien Stuhl. „Hast du in der Straße geparkt oder auf dem Parkplatz hinter der Gasse?“

„Auf dem Parkplatz“, sagte Poppy.

„Ich bin mit dem Bus gefahren.“

Beide Freundinnen starrten Jane mit offenem Mund an. Sie blinzelte. „Was ist?“

„Du bist verrückt, weißt du das?“ Poppy schüttelte den Kopf.

„Wieso? Nur weil ich ab und zu mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahre?“

„Nein, weil abends nur wenige Busse fahren und es nicht gerade ungefährlich ist, lange an Bushaltestellen herumzustehen.“

„Ach, du meinst, gefährlicher, als durch eine dunkle Gasse zum Parkplatz zu laufen? Davon abgesehen kann ich mir auch jederzeit ein Taxi rufen. Das ist doch nun wirklich keine große Sache. Ava sagte, wir treffen uns in einer Stunde, und ich hätte es nicht rechtzeitig geschafft, wenn ich erst noch nach Hause gelaufen wäre.“

„Und so wie Poppy niemals pünktlich ist, kommst du nie zu spät“, sagte Ava.

Jane zuckte mit den Schultern. „Wir alle haben unsere kleinen Eigenarten. Sollen wir über deine sprechen?“

„Das könnten wir tun ... wenn ich welche hätte.“ Sie winkte der Kellnerin und bestellte einen Tequila Spezial.

Poppy entschied sich ebenfalls für Tequila. „Was ist mit dir, Janie? Willst du noch ein Mineralwasser?“

„Nein, ich glaube, ich trinke ein Glas Weißwein. Ein Glas von Ihrem Hauswein, bitte“, fügte sie an die Kellnerin gerichtet hinzu.

Ihre Freundinnen johlten und trommelten begeistert auf den Tisch, und als die Kellnerin gegangen war, warf Jane ihnen einen düsteren Blick zu. „Entgegen eurer allgemeinen Auffassung von mir bin ich bei Gelegenheit durchaus in der Lage, auch mal eine Ausnahme zu machen.“ Dann grinste sie. „Und das hier ist definitiv eine Gelegenheit.“

„Amen, Schwester“, rief Poppy.

Kurze Zeit später erhob Ava ihr Glas. „Auf unser eigenes Haus.“

Jane und Poppy stießen mit ihr an. „Auf unser eigenes Haus.“

Jane probierte einen Schluck Wein, dann hob sie ihr Glas erneut. „Auf Miss Agnes.“

„Auf Miss Agnes!“

„Ich vermisse sie!“, sagte Poppy.

„Ja, ich auch. Sie war einzigartig.“

Nun hob Poppy ihr Glas. „Auf dich, Jane. Mögest du recht schnell die Sammlungen von Miss Agnes katalogisieren.

„Auf mich“, sagte Jane, dann fügte sie ein wenig unsicher hinzu. „Und wenn ich es verpatze?“

Sie starrten einander an. Dann begann Ava zu lachen, Poppy stimmte ein und Jane schüttelte den Kopf. „Nee.“ Wenn sie etwas wirklich aus dem Effeff beherrschte, dann ihre Arbeit.

„Da fällt mir was ein.“ Poppy drehte sich auf ihrem Stuhl um. „Ich habe den Chef von Kavanagh Constructions gebeten, vorbeizukommen, damit ihr ihn kennenlernen könnt. Und da ist er auch schon!“

Zu Janes Überraschung winkte sie einem der Männer zu, die sie vorher so aufmerksam beobachtet hatte, sprang dann auf und flitzte mit dem ihr eigenen Selbstbewusstsein durch den Raum. Sie ging neben dem kahlköpfigen Mann, den Jane zuvor auf etwa vierzig geschätzt hatte, in die Hocke und begann, mit ihm zu sprechen. Kurz darauf erhob sie sich wieder, gab den anderen drei Männern am Tisch die Hand und deutete dann in Janes und Avas Richtung.

Zu Janes Entsetzen stand daraufhin nicht nur der Glatzköpfige auf und folgte ihr durch den Raum, sondern auch der Rothaarige. Der allerdings über einen freien Stuhl stolperte, die paar Stufen zu ihnen hinuntertorkelte und seine Faust auf die Tischplatte knallen ließ, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er fluchte leise vor sich hin.

„Dev!“, zischte der Glatzkopf. „Reiß dich zusammen!“

„’Tschuldigen Sie, Ladys.“ Er schenkte ihnen allen ein verlegenes Lächeln. „Ich habe einen schlimmen Jetlag.“

„Eher ein schlimmes Alkoholproblem“, sagte Jane halblaut.

„Jane, Ava, das sind Bren Kavanagh und sein Bruder Devlin“, übertönte Poppy ihre Worte. „Wie ich euch bereits erzählte, werden die Kavanaghs unseren Umbau machen. Bren hat mir gerade erklärt, dass Devlin das Projekt leiten wird. Er beaufsichtigt ...“

„Nein.“ Jane sprang wütend auf. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Es war eine Sache, einen betrunkenen Mann einen einzigen Abend lang in einem Restaurant zu ertragen, aber eine ganz andere, mit ihm auszukommen, während sie die wichtigste Ausstellung ihres Lebens organisierte.

Devlin, der auf seine Fingerknöchel gestarrt hatte, hob seine grünen Augen und blinzelte sie an. Nachdem ihm offensichtlich nicht gefiel, was er sah, kniff er sie zusammen und runzelte die teuflisch schwarzen Augenbrauen. „Was haben Sie gesagt?“

„Nein. Das ist ein recht simples Wort, Mr. Kavanagh ... Welchen Teil davon verstehen Sie nicht?“

„Hey, hören Sie ...“

„Nein, Sie hören mir zu! Ich werde keinen verdammten Betrunkenen ... Hey!“ Sie schrie auf, als Poppy sie am Handgelenk packte und beinahe von den Füßen riss. „Entschuldigen Sie uns kurz“, sagt Poppy, drehte sich um und zog Jane hinter sich her zur Bar.

Dev sah, wie die steife Brünette von dem Tisch weggezerrt wurde. „Okay, ich verschwinde besser“, sagte er und richtete sich auf. Oje. Er presste die Handfläche wieder auf die Tischplatte. Der ganze verdammte Raum schwankte.

Bren musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Mann, du bist ja völlig am Ende. Du solltest dich besser setzen, bevor du noch umfällst.“

Guter Plan. Er begann, den Stuhl zurückzuziehen, und zwar den Stuhl neben der Rothaarigen mit den großartigen Ti...

„An unserem Tisch, Bruder.“

„Oh. Ja. Klar.“ Er schenkte der Rothaarigen mit den umwerfenden Rundungen ein dankbares Nicken, dankbar darüber, dass sie ihn so voller Mitgefühl betrachtete. Dann machte er sich auf den Weg zurück zu Finn und David. Was zum Teufel hatte er hier überhaupt zu suchen? Er hätte gleich ins Bett fallen und zehn Stunden durchschlafen sollen. Stattdessen hatte er über die Leitung des Unternehmens gesprochen; er sollte sie übernehmen, während sein Bruder behandelt wurde. Und vielleicht hätte er die beiden Tequilas ablehnen sollen, nachdem er schon ein paar Gläser von Davids Lieblingswhiskey getrunken hatte. Er war Ire, verdammt! Normalerweise vertrug er eine ganze Menge, ohne dass man ihm etwas anmerkte.

Heute Abend aber ... Nun, er war nun schon über fünfunddreißig Stunden wach, neunzehn davon hatte seine Reise von Athen nach Seattle gedauert. Als sein Bruder Finn ihn am Flughafen abgeholt hatte, war er bereits vollkommen erschöpft gewesen.

Doch wenn ein Kavanagh nach Hause kam, musste das gefeiert werden. Und eine Feier war keine Feier, wenn sie nicht von all seinen sechs Geschwistern besucht wurde, von deren Partnern und Kindern, von den beiden Großmüttern und dem Großvater, zwei Onkeln, vier Tanten und deren Familien. Nun ja – so war es nun mal.

Aber er hätte sich weniger auf Davids Whiskey als vielmehr auf Moms Essen stürzen sollen.

„Gut gemacht!“, rief sein jüngster Bruder grinsend, als Devlin es an den Tisch zurückgeschafft hatte. „Kaum ein paar Stunden in der Stadt, wirst du schon an den Kindertisch geschickt, damit Bren allein mit den Erwachsenen sprechen kann.“

„Du bist echt der Brüller, David, weißt du das?“ Devlin hakte den Ellbogen um den Hals seines Bruders, schwankte kurz, dann rieb er mit den Fingerknöcheln über Davids braunes Haar. „Du solltest es mal bei der Open-Mike-Nacht im Comedy-Club versuchen.“ Er ließ ihn frei und plumpste auf den Stuhl, auf dem zuvor Bren gesessen hatte. „Allerdings muss ich zugeben, dass es sich tatsächlich ein wenig so anfühlt. Offenbar hat sich eine potenzielle Kundin durch meine Trunkenheit gestört gefühlt.“

„Kann ich mir gar nicht vorstellen“, sagte Finn trocken.

Devlin lächelte schief. „Ja, ich auch nicht. Mist.“ Er strich mit den Fingern über seine Lippen. „Ich wusste gar nicht, wie besoffen ich bin, bevor ich aufstand, um mit Bren zu ihrem Tisch zu gehen. Ich musste mich konzentrieren wie verrückt, um einigermaßen gerade zu gehen.“

Finn sah ihn ausdruckslos an. „Und hat’s geklappt?“

„Nicht besonders.“ Er blickte über seine Schulter zu seinem ältesten Bruder, der noch immer mit der Rothaarigen sprach, dann wandte er sich wieder an die anderen. Er fühlte sich mit einem Mal deutlich nüchterner. „Also, wie geht es ihm wirklich?“

„Er hat gute Tage und schlechte Tage. Aber ich glaube, das würde er dir lieber selbst erzählen.“

„Ja, er ist ja so wahnsinnig gesprächig.“ Devlin warf seinem Bruder einen Blick zu. „Ich bin noch immer sauer, dass ich von alldem erst vor drei Tagen erfahren habe.“

Finn erwiderte ungerührt seinen Blick. „Du warst die letzten zehn Jahre ein bisschen weit weg von uns, kleiner Bruder. Vielleicht dachten wir, es würde dich nicht interessieren.“

Devlin sprang auf, bereit für eine Prügelei.

Finn sah ihn nur mit seinen ruhigen dunklen Augen an, und Dev setzte sich wieder. Rollte mit den Schultern und warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu. „Ich bin vielleicht geographisch gesehen weit weg, aber ich bin noch immer ein Kavanagh. Ich gehöre noch immer zur Familie.“ Was ihn, um ehrlich zu sein, noch genauso in Konflikte stürzte wie mit neunzehn. Er liebte den Kavanagh-Clan, konnte aber nicht lange in seiner Nähe sein, ohne wahnsinnig zu werden. Er ertrug es nicht, dass jeder in der Familie sich ständig in seine Angelegenheiten mischte. Aber jetzt ging es nicht etwa darum, wer mit wem ausging oder nicht, sondern es ging um Bren, und Bren hatte Krebs. Es schmerzte höllisch, dass niemand es für nötig erachtet hatte, zum Telefon zu greifen und ihm Bescheid zu geben. „Ich gehöre noch immer zur Familie“, wiederholte er eigensinnig.

„Ja, ja, Finn weiß das“, sagte David friedfertig. „Aber auch das ist etwas, das du mit Bren besprechen musst. Es war seine Entscheidung, dich nicht damit zu belasten, weil du sowieso nichts tun konntest, um ihm zu helfen. Aber jetzt kannst du etwas tun. Vorausgesetzt, du hast die Kundinnen nicht vollkommen verschreckt. Also ... was war los? Kann sie dich nicht leiden, weil du heute keinen Alkohol verträgst? Hast du ihr nicht erklärt, dass du einen Jetlag hast?“

„Klar habe ich das.“

„Also, was soll das dann?“

Devlin dachte über die Brünette nach. Sie war ihm schon vorher aufgefallen. Sie war nicht so fantastisch gebaut wie ihre rothaarige Freundin und nicht so modelmäßig hübsch wie die Blondine, und er konnte sich vorstellen, dass sie in Gesellschaft der beiden öfter mal übersehen wurde. Bei Gott, sie war eigentlich nicht sein Typ. Aber sie war allein gewesen und hatte ihn angesehen, und mit einem Mal hatte er doch ein recht ausgeprägtes Interesse an ihr verspürt.

Das lag an den Gegensätzen, wie er glaubte. Sie trug eine schlichte weiße Bluse und einen geraden halblangen Rock. Aber dazu hochhackige Schuhe mit Leopardenmuster, und es konnte keinem Mann verborgen bleiben, wie verdammt hübsch und schlank ihre blassen Beine waren. Aus ihrem altmodischen Knoten hatten sich auf einer Seite ein paar Strähnen gelöst, was den Eindruck vermittelte, als ob ihr glänzend braunes Haar jeden Moment über ihren langen Hals fallen würde.

Doch am aufregendsten waren ihre Augen. Sie waren blau, und anders als ihr Rock und ihre Bluse wirkten sie kein wenig steif. Sie hatte ihm einen Blick zugeworfen, als würde sie ihn am liebsten mit Haut und Haar ...

Mist. Er schüttelte die Vorstellung ab, schließlich war diese Frau ganz offensichtlich vollkommen humorlos und außerdem überheblich. Er sah David schulterzuckend an. „Was weiß denn ich, Bruder. Ich habe keine Ahnung, was für ein Problem sie hat.“

„Willst du wissen, was mein Problem ist?“ Jane riss sich aus Poppys Umklammerung los und hielt sich am Waschbecken der Toilette fest, um ihrer Freundin keinen Haken gegen das elegante Kinn zu verpassen. Mit zehn hätte sie alle Vorsicht in den Wind geschlagen und ausgeholt, doch sie hatte inzwischen gelernt, sich unter Kontrolle zu haben. Ach verdammt, heutzutage bestand sie im Grunde aus nichts anderem als aus Kontrolle.

„Mein Problem“, fuhr sie kühl fort, „ist erstens, dass ich mich von dir nicht gerne durch die Gegend zerren lasse, und zweitens – und das ist wirklich der Gipfel, Calloway –, dass du mir einen Alkoholiker aufhalsen willst, während ich versuche, mich um die wichtigste Ausstellung zu kümmern, für die ich jemals verantwortlich war. Du weißt verdammt gut, dass es extrem stressig wird, wenn ich alles im Januar fertig haben will. Und das Letzte, was ich da brauchen kann, ist, mich um einen Säufer zu kümmern. Das ist mein Problem.“

„Glaubst du vielleicht, dass hier nur für dich was auf dem Spiel steht?“ Poppy stieß ihre Nase direkt in Janes Gesicht. „Hier geht es nicht nur um dich, und das weißt du verdammt gut. Keine von uns will einen Fehler machen, nachdem Miss Agnes so viel Vertrauen in uns gesetzt hat. Wenigstens hast du ja Erfahrung mit dem, was du vorhast. Ava hingegen muss das Haus verkaufen, ohne sich mit Immobilien auszukennen, und ich bin verantwortlich für den Umbau. Und das ist keine Kleinigkeit, Kaplinski, wenn man bedenkt, dass ich mein Geld mit dem Entwerfen von Speisekarten verdiene!“

„Also bitte.“ Jane stieß ihre Nase nun ebenfalls gegen die von Poppy. „Du weißt doch genau, dass Miss Agnes dich dafür wollte, weil du vom ersten Tag an versucht hast, sie zu einem Umbau zu überreden! Wie viele Vorschläge hast du ihr wohl in den vergangenen Jahren gemacht? Eine Million? Zwei Millionen? Und ich schätze, sie hat Ava mit dem Verkauf beauftragt, weil sie mit genau den Leuten ständig Kontakt hat, die in der Lage sind, sich so was überhaupt zu leisten.“

„Na gut, da magst du vielleicht recht haben. Aber ich habe mir den Arsch aufgerissen und mit verdammt vielen Bauunternehmen gesprochen. Die Kavanaghs haben einen guten Ruf. Ganz zu schweigen davon, dass sie bereit sind, zwanzig Prozent unter dem üblichen Preis zu bleiben, wegen der Publicity, die sie sich von dem Umbau der Wolcott-Villa versprechen. Also reiß dich zusammen! Von deiner Abneigung gegen Alkohol lassen Ava und ich uns die Sache nicht verpfuschen. Verstehst du?“

Jane strich ihren Rock glatt und schob sich die Strähnen hinters Ohr, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatten. Dann sah sie ihre Freundin fest an.

„Na schön“, sagte sie widerwillig. „Er kann bleiben. Aber wenn er auch nur ein einziges Mal bei der Arbeit trinkt, kann ich für nichts garantieren.“

„In Ordnung.“

„Das freut mich. Denn ich erwarte, dass du mir dabei hilfst, die Leiche zu verscharren.“

„Du machst wohl Witze!“ Poppy presste eine Hand aufs Herz. „Ich meine – wofür sind Freundinnen schließlich da?“

2. KAPITEL

Ich werde meine Arbeit gut machen. Miss Agnes hat offenbar geglaubt, dass ich das schaffe – dass wir alle drei es schaffen –, und nichts und niemand wird mich davon abhalten, mein Bestes zu geben.

Sie scheinen für diese Arbeit gemacht zu sein.“ Jane verspannte sich beim Klang dieser Stimme. Am liebsten hätte sie eine Reihe unflätiger Worte von sich gegeben, doch stattdessen setzte sie ein ruhiges Gesicht auf und wandte sich um.

Devlin Kavanagh, ein ganzer Kerl mit dunkelblauem T-Shirt, zerschlissenen Jeans und abgewetzten Stiefeln, lehnte im Türrahmen. Sein rostbraunes Haar glänzte im Schein all der Lichter, die sie angeknipst hatte. Ihr Herz begann zu hämmern, woraufhin sie die Hände in die Hüften stemmte und sich gegen alle erdenklichen Versuchungen stählte. „Was wollen Sie, Kavanagh?“

„Oh, wie freundlich.“ Er stieß sich vom Türrahmen ab, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und tippte mit einer weiträumigen Bewegung erst den rechten Finger an die Nase, dann den linken und wieder den rechten. Schließlich sah er sie an. „Sehen Sie, Lady, ich habe den Alkoholtest bestanden.“

„Im Moment. Bleibt abzuwarten, wie lange, nicht wahr?“

Er kniff die Augen zu goldgrünen Schlitzen zusammen. „Was ist eigentlich Ihr Problem? Ich hatte Ihnen doch erklärt, dass ich einen Jetlag hatte. Vielleicht hätte ich die Tequilas nicht trinken sollen, aber ich bitte Sie – ich war eineinhalb Tage auf den Beinen, deswegen haben sie mich fast umgehauen.“

Beschämt sah sie ihn an. Sie benahm sich wirklich wie eine mäkelige Zicke, was ihrer Meinung nach überhaupt nicht zu ihr passte. Sie kannte diesen Typen doch überhaupt nicht und hatte überhaupt kein Recht, sein Verhalten zu verurteilen. „Tut mir leid“, sagte sie steif.

Er schnalzte skeptisch mit der Zunge. „Ja, das klingt wirklich überzeugend.“

Was zum Henker wollte er eigentlich von ihr? Ihr Rücken begann zu schmerzen, so sehr musste sie sich zurückhalten, um ihm nicht näher zu kommen. Sie konnte diese verrückte Anziehungskraft kein bisschen verstehen, aber eines wusste sie: Sie war stärker als so ein paar wildgewordene Hormone. Sie hob das Kinn und sah ihm in die Augen. „Dann entschuldige ich mich auch dafür. Ihr Alkoholproblem geht mich nichts an.“

„Himmel, Sie geben nie auch nur einen Millimeter nach, oder?“

„Ich habe mich doch entschuldigt!“

„Noch nie hat eine Entschuldigung unglaubwürdiger geklungen. Aber in einer Hinsicht haben Sie recht, Lady: Wenn ich ein Alkoholproblem hätte, ginge Sie das tatsächlich nichts an.“

Sich selbst zu kritisieren war eine Sache, sich von ihm kritisieren zu lassen, eine ganz andere. „Wollten Sie etwas Bestimmtes, Mr. Kavanagh?“

„Dev.“

Sie warf ihm einen Und weiter?-Blick zu.

„Nennen Sie mich Dev. Oder Devlin, wenn Sie auf Formalitäten bestehen. Mr. Kavanagh jedenfalls heißt mein Dad.“

„Okay. Kann ich etwas für Sie tun, Devlin?“ Sie hörte einen Moment lang auf, an den Columbia-River-Korbwaren zu ihren Füßen herumzufummeln.

„Ich bin auf der Suche nach einem aktuellen Bauplan für die Villa. Das Haus ist über hundert Jahre alt, und leider habe ich auch nicht die Original-Baupläne. Könnte sein, dass die Bude voller Geheimgänge oder Geheimtüren ist. Ich würde gerne wissen, womit wir es zu tun haben, bevor ich irgendeine Wand einreiße. So ein Geheimgang beispielsweise könnte ein gutes Verkaufsargument sein. Und Bren sagte mir, genau darum ginge es Ihnen.“

Die Idee eines Geheimganges gefiel ihr, aber sie wollte sich nicht ablenken lassen. Je schneller sie diesen Ich bin ja so sexy-Typen loswurde, desto besser. Doch statt ihm eine klare Antwort zu geben, hörte sie sich fragen: „Und warum genau fragen Sie da mich?“

„Sie scheinen hier für die Details zuständig zu sein. Also, wissen Sie zufällig, wo die Baupläne sind?“

„Nein, tut mir leid.“ Das war tatsächlich so. Denn je mehr Informationen Kavanagh Constructions hatte, desto besser würden die Restaurierungsarbeiten ausfallen. Und sie wollte, dass diese alte Villa so hergerichtet wurde, wie sie es verdiente. „Ich bin sicher, es gibt mehrere Baupläne, aber ich habe keine Ahnung, wo Miss Agnes sie aufbewahrt hat. Sie hat uns nur erzählt, dass die Villa mehrfach renoviert worden ist, zuletzt 1985.“

Er nickte. „In dem Jahr, in dem die Wolcott-Juwelen von dem Vorarbeiter geklaut wurden.“

Jane hörte auf, so zu tun, als ob sie angestrengt arbeiten würde, und stand auf, um Devlin direkt anzusehen. „Davon wissen Sie?“

„Also, Kleine.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, mit dem er vermutlich schon mehr als eine Frau ins Bett bekommen hatte. „Ich bin ein Kind dieser Stadt. Die Juwelen sind in dieser Stadt eine Legende. Jeder weiß davon.“

Nun, sie war auch ein Kind dieser Stadt, aber ... „Ich nicht. Nicht bis vor Kurzem. Miss Agnes hat nie über den Diebstahl oder den Mord an Henry gesprochen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Erst als Poppy davon gehört und sie gefragt hat.“ Sie lächelte bei der Erinnerung. „Poppy kann ein richtiger Pitbull sein, wenn sie sich mal in was verbissen hat.“

Er wollte einen Schritt in den Raum treten, musste aber bemerkt haben, wie sie sich versteifte, denn er hielt inne. Er lehnte sich mit seiner muskulösen Schulter an den Türrahmen, hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen und musterte sie. „Henry, hm? War das der Mann, der getötet wurde? Als der Dieb zurückkam, um sich die Juwelen zu holen, die er vorher versteckt hatte?“

„Sie sind doch der Experte.“

„Hey, ich war damals noch ein Kind! Mich hat der Mord zwar interessiert, aber richtig fasziniert war ich von der Vorstellung, dass irgendwo Juwelen im Wert von mehreren Millionen Dollar herumlagen.“

„Tja, nun, Henry war ihr Mann für alle Fälle. Er war ihr Butler und Sekretär und Ratgeber, und ich denke, vermutlich auch ihr Lieb...“ Jane brach erschrocken ab. Was machte sie da? Sie hatte doch gerade erst betont, dass sie Devlin überhaupt nicht kannte. Und auch wenn es vielleicht etwas voreilig gewesen war, ihm ein Alkoholproblem zu unterstellen, so musste sie ihm doch nicht ins Vertrauen ziehen. Warum also hätte sie beinahe ausgeplaudert, dass sie und ihre Freundinnen der Ansicht waren, Henry wäre für Miss Agnes mehr gewesen als nur ein Angestellter? Schließlich hatte Miss Agnes nie etwas in dieser Art erwähnt. Doch der Blick in ihren Augen, wenn sie von ihm sprach, und die Tatsache, dass er an besagtem Abend gar nicht in der Villa hätte sein dürfen, deuteten darauf hin, dass Henry tatsächlich ihr Liebhaber gewesen war. Allerdings ging das alles diesen Devlin Kavanagh überhaupt nichts an.

„Nun, hören Sie.“ Sie warf ihm ihr schönstes geschäftliches Lächeln zu. „Ich habe hier zu tun. Wie ich schon sagte: Ich weiß wirklich nicht, wo die Baupläne sind. Ich bin nicht einmal sicher, dass es welche gibt. Aber ich werde die Augen offen halten.“

Er betrachtete sie einen Moment lang, dann trat er zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Danke. Dann werde ich mal in die Stadt fahren und nachsehen, ob das Stadtarchiv die Originale oder irgendwelche Aktualisierungen hat.“ Er musterte sie kurz von Kopf bis Fuß, fuhr sich über die Unterlippe und nickte. „Wir sehen uns, Langbein.“

Langbein? Sie wandte den Blick von der nun leeren Türschwelle auf besagte Gliedmaßen in den alten schwarzen Jeans. Sie hatte recht lange Beine, gut, aber sie waren trotzdem nicht besonders erwähnenswert. Sie selbst fand sie eher etwas zu dünn. Dann schüttelte sie sich und befahl sich, nicht länger über den Kommentar nachzudenken. Aber, du liebe Zeit. Dieser Mann war eine Gefahr für die Frauenwelt! Jane konnte sich bildlich vorstellen, dass sich ihm schon die Mädchen in der Pubertät an den Hals geworfen hatten. Oder vermutlich schon vorher, bei diesem Selbstbewusstsein und diesen Augen und diesem Körper.

Nun, sie nicht. Was sie betraf, war er für sie von nun an unsichtbar. Sie würde Abstand halten. Ihn sich aus dem Kopf schlagen.

Und weiterarbeiten.

Miss Agnes’ Sammlung ordnen, damit sie mit der Recherche und der Katalogisierung der Stücke beginnen konnte, was eine Heidenarbeit werden würde. Sie freute sich wie eine Schneekönigin darüber, doch zugleich schüchterte sie der Umfang der verschiedenen Sammlungen doch ziemlich ein. Deswegen musste sie sich wirklich ranhalten.

„Die Uhr tickt, und ich drehe mich den ganzen Tag im Kreis wie ein Derwisch, weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll“, rief sie, als Ava vorbeikam, um zu sehen, wie es ihr erging. „Und außerdem“, fügte sie kläglich hinzu, „überkommen mich bei einigen Stücken immer wieder nostalgische Gefühle. Und das Ende vom Lied ist, dass ich noch nicht einmal richtig begonnen habe.“

„Jane, Jane, Jane.“ Ava nahm die Erstausgabe eines Buches in die Hand, fuhr mit dem Finger über den Ledereinband und stellte es dann vorsichtig wieder ins Regal. „Ist doch ein Kinderspiel. Wenn du nicht weißt, wo es losgehen soll, fang mit dem Schmuck an.“

Jane lachte überrascht auf, dann riss sie ihre Freundin in eine Umarmung. „Du bist ein Genie, Miss Spencer! Ich habe ein bisschen hier angefangen und ein bisschen dort, statt mich auf die Stücke für das Museum zu konzentrieren. Mit dem Schmuck anzufangen ist wirklich die beste Idee.“ Sie schnappte sich ihr Notebook und eilte zur Treppe. „Komm. Ich habe die Codes für die Safes. Lass uns mal sehen, was wir finden.“

Es war fast siebzehn Uhr, als Dev zurück zur Villa kam. Eigentlich hätte er Feierabend machen und in das Apartment fahren sollen, das seine Schwester Maureen für ihn in Belltown gemietet hatte. Aber es hatte angefangen zu schütten, und außerdem fühlte er sich in der Wohnung nicht heimisch. Da konnte er genauso gut in dem kleinen Büro im ersten Stock ein Feuer machen, in Ruhe den Kaffee trinken, den er sich um die Ecke gekauft hatte, dem Regen lauschen und dabei die Informationen durchlesen, die er von der Bezirksverwaltung und beim Bauamt bekommen hatte.

Viel war es allerdings nicht. Vor 1936 waren die Daten handschriftlich auf Karteikarten vermerkt und immer wieder durchgestrichen und verbessert worden. Und es gab keine einzige Fotografie. Mit anderen Worten: Die Informationen waren ziemlich nutzlos.

Danach war er zur University of Washington gefahren und hatte im Archiv Fotos der Villa aus den späten Dreißigerjahren entdeckt. Sie waren zwar nicht so hilfreich wie Baupläne, aber zumindest konnte er auf diese Weise ungefähr herausfinden, in welcher Reihenfolge die sogenannten Verschönerungen an der Villa vorgenommen worden waren.

Mit gerunzelter Stirn lief er die Treppe hinauf. Wer auch immer verantwortlich für diese Anbauten der alten Villa war, sollte geteert und gefedert werden. Er hatte in seinem Leben schon eine Menge schlechter Umbauten Marke Eigenbau gesehen, aber diese hier waren die Krönung. Nur wenige Veränderungen waren in Übereinstimung mit der originalen Bauweise vorgenommen worden. Zimmer, die einmal geräumig und anmutig gewesen sein mussten, waren so oft aufgeteilt worden, dass sie jeglichen Charme verloren hatten.

Tief in Gedanken versunken gelangte er zum Büro und hörte weibliche Stimmen. Er blieb stehen.

Verdammt. Das war’s dann wohl mit der Idee, gemütlich seinen Kaffee vor dem Kaminfeuer zu trinken. Er drehte sich gerade herum, um wieder zu verschwinden, als aus dem Murmeln ein tiefes, heiseres Lachen wurde. Der Klang schnitt wie ein glühendes Schwert in sein Herz. Er lief zurück zur Tür.

Nachdem er sich nicht vorstellen konnte, dass die kleine hochnäsige Miss Kaplinski dieses Lachen ausgestoßen hatte, als hätte sie einen herrlich schmutzigen Witz gehört, fiel sein Blick auf die üppige Rothaarige, die am anderen Ende des Raumes saß. Doch falls Ava keine Bauchrednerin war, kam das Lachen nicht von ihr. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie ihre Freundin betrachtete, die ihr gegenübersaß. Dev richtete seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf sie.

Und mit einem Mal fühlte er sich, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen.

Jane saß in einem Samtsessel vor einem knisternden Feuer, die hochhackigen Stiefeletten lagen vor ihr auf dem Boden, ihre in karierten Strümpfen steckenden Füße hatte sie auf den mit Schachteln und kleinen Taschen überfüllten Couchtisch gestreckt. Sie hielt den Laptop umklammert, damit er ihr nicht vom Schoß rutschte, während sie mit nach hinten geworfenem Kopf brüllte vor Lachen.

Autor

Susan Andersen
Die New York Times-Bestsellerautorin Susan Andersen wuchs in Seattle auf. Sie hat zwei ältere Brüder, die ihr früh zeigten, wie Männer ticken. Noch heute profitiert sie davon, wenn sie ihre männlichen Protagonisten beschreibt und in witzige Dialoge verstrickt. Mit großem Erfolg: Regelmäßig klettern ihre Romane auf die Bestsellerlisten. Susan Andersen...
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