Nächster Halt: Chile

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

So eine Gelegenheit ergibt sich nie wieder! In einer Abenteuer-Fernsehshow können Georgia und Ben ihren Lonely Hearts Travel Club bewerben - und das vor der wilden Kulisse Chiles. Doch beim Sandboarding in der Wüste und Fahrradrennen durch die Berge wird ihre junge Liebe auf eine harte Probe gestellt. Ein funkelnder Ring in Bens Koffer sorgt für zusätzlichen Wirbel. Ist Georgia wirklich bereit, sich wieder zu binden?

"Bridget Jones goes backpacking."
Holly Martin, author of ‘A Town Called Christmas’ series


  • Erscheinungstag 13.11.2017
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783955767600
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Menschen, die inspirieren, ohne es zu ahnen, sind die größte Inspiration.

Charlotte, das ist für dich.

Kapitel 1

Auskundschaften (Verb): etwas herausfinden

„Brauchst du wirklich noch eine Kerze?“, fragte Ben, als wir unseren überquellenden Einkaufswagen durch die sich windenden Gänge von Ikea schoben.

Ich war stehen geblieben, um den wärmenden Duft einer blassgrünen Stumpenkerze einzuatmen, und schaute ihn nun an, als hätte er mich eben gefragt, ob ich nicht endlich mal Schokolade aufgeben möchte. „Man kann nie zu viele Kerzen haben. Das weiß doch jeder.“

„Tja, wenn’s dich glücklich macht. Ich verstehe nur nicht so richtig, warum man sich etwas kauft, das man dann anzündet. Da kann man doch gleich das Geld verbrennen.“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Aber viel wichtiger ist die Frage: Heißt die jetzt Grönkulla oder Värdefull oder gar Knutstorp? Ich meine, das würde ja alles ändern.“ Er sprach mit dem furchtbaren skandinavischen Akzent, den er schon die ganze letzte Stunde überstrapaziert hatte, und brachte mich zum Lachen.

„Eigentlich heißt sie Fyrkantig, aber wow, du hörst dich ja wie ein echter Schwede an!“, neckte ich ihn.

Er streckte stolz die Brust heraus. „Genau. Oh, Moment, sagt man dort nicht auch ‚Ja‘? Aber lass uns jetzt mal losgehen, ich bin am Verhungern, und du hast mir Köttbullar versprochen.“

Ich ließ noch ein paar göttlich duftende Kerzen zwischen fluffige Kissen, Fotorahmen und die anderen praktischen und hübschen Dinge für unser Zuhause fallen, und legte meinen Arm um seine Taille. „Okay, ein Teller Köttbullar – kommt sofort.“ Dann schaute ich auf unsere zusammengehamsterten Sachen und biss mir auf die Unterlippe. „Meinst du, wir haben alles, was wir brauchen?“

„Wir haben buchstäblich alles im Wagen.“ Er stieß ein langes Stöhnen aus, doch ich wusste, dass er damit nur überspielen wollte, wie sehr er unseren Ausflug durch das gewaltige Warenhaus in der Größe eines eigenen Staats in Wirklichkeit genoss.

Dagegen war ich unglaublich nervös gewesen, weil dies unser erster Ausflug als Paar hierher war. Der Kauf gemeinsamer Möbel bei Ikea war immerhin ein Meilenstein in jeder Beziehung. Aber es lag wohl eher daran, dass ich das letzte Mal mit meinem Ex Alex hier gewesen war und wir die „schwedische Hölle“, wie er es genannt hatte, mit einem Billy-Regal und völlig zerstritten verlassen hatten. Nach dem Einkaufstrip hatten wir zwei Stunden lang kein Wort miteinander gewechselt. Vorgestellt hatte ich mir eigentlich einen Einkauf voll freudiger Aufregung über unser gemeinsames Zuhause, das wir uns aufbauen wollten, und nicht diesen nervenaufreibenden Albtraum aus zickigen Diskussionen – und dabei hatte uns der wirklich komplizierte Teil noch bevorgestanden, nämlich das verdammte Ding zusammenzubauen!

Diesmal war alles anders. Ben und ich waren durch den weitläufigen Laden gestreift. Als wir durch die Küchenabteilung gingen, gab es kein Hickhack darum, wer von uns öfter kochte, und in der Kinderabteilung beschleunigte keiner verlegen den Schritt. Es machte, na ja, wirklich Spaß. Es war genau so, wie ich es mir vor dem katastrophalen Trip mit Alex vorgestellt hatte.

Doch jetzt, nachdem wir bereits zwei Stunden hier drinnen verbracht hatten, merkte ich, dass Bens gute Laune langsam nachließ. Wir hatten beide nur an einem Samstag die Zeit gefunden, um hierherzukommen, und es schien, als hätte der Rest von Manchester dieselbe Idee gehabt. Langsam trotteten wir gestressten Heimhandwerkern, brüllenden Kindern und sich mit gesenkten Stimmen streitenden Paaren hinterher, die dem jeweils anderen ihren besseren Geschmack bei Vorhängen klarmachen wollten. Alle folgten gewissenhaft den gelben Pfeilen, die durch das Labyrinth zum Ausgang leiteten.

„Ich glaube, sie sollten lieber etwas auf Abstand gehen, sonst finden sie am Ende die kleinen Bleistifte an Orten wieder, wo die nicht hingehören“, hatte Ben angemerkt und in Richtung eines älteren Paares genickt, das sich derart erbost anstarrte, als verhandelten sie mitten zwischen Jeff-Stühlen und Ektorp-Sofas ihre Scheidung. Den Fuß hier hereinzusetzen, macht vielen Leuten schlagartig klar, dass der furchtbare Polstermöbelgeschmack des Lebensgefährten für all die Dinge steht, die man an ihm verachtet, und dass man sich in Wirklichkeit nicht ausstehen kann.

Ich hatte kurz aufgelacht und ihn durch eine der mysteriösen Scooby-Doo – Türen gezogen, einen verborgenen Durchgang, mit dem man die Badabteilung komplett übersprang. An diesen Trick konnte ich mich noch vom letzten Mal erinnern. Ich war beleidigt abgezogen, nachdem Alex meine Bademattenwahl als „langweilig“ bezeichnet hatte. Dieser Zwang, das Labyrinth zu durchlaufen, ist der Grund, warum es hier für jede Beziehung, egal ob frisch zusammen oder gut eingespielt, so viele Fallgruben gibt – man kann nicht einfach so gehen. Und man wird angelogen, was die Ausgänge anbetrifft – na okay, niemand lügt hier, aber ich war damals dermaßen angepisst gewesen, dass es mir so vorgekommen war, als marschierte ich ständig im Kreis. Immer kam ich an denselben nicht minder gestressten Menschen vorbei, die ihre knallgelben Einkaufstaschen wie tröstende Kuscheldecken an sich drückten. Doch dieses Mal war ich darauf vorbereitet. Diesmal kannte ich die Abkürzungen.

„Versprich mir, dass wir nie so werden wie die beiden“, hatte ich ihm zugeflüstert und Bens Hand gedrückt.

Passenderweise kamen wir in der Schlafzimmerabteilung heraus. Ben zog mich spielerisch auf das nächstgelegene, perfekt gemachte Doppelbett, dessen Tagesdecke sogar ziemlich gut in unser Schlafzimmer passen würde, und legte mich auf die weiche Matratze.

„Versprochen.“ Er beugte sich zu mir und küsste mich leidenschaftlich.

Nicht weit von uns begutachtete ein Inder hypoallergene Kissen und schnalzte abfällig mit der Zunge. Ich wurde rot und scheuchte uns vom Bett, damit wir unseren Einkauf beenden, nach Hause fahren und in unser eigenes Bett fallen konnten. Ikea ist nicht dafür geeignet, sich nur mal so umsehen zu wollen, und es war durchaus möglich, dass ich die beim Frühstück zusammengekritzelte Liste ein wenig aus den Augen verloren hatte. Es war an der Zeit, hier fertig zu werden.

„Ooooh, warte mal. Wir brauchen noch Müslischalen!“, rief ich auf dem Weg zur nächsten Abteilung aus. Mir war eingefallen, dass die jetzigen Risse hatten, und na ja, für meinen Geschmack einfach nicht tief genug waren.

„Okay. Müslischalen noch, und dann verschwinden wir von hier.“

„Abgemacht.“

Während ich durch die Markthalle trottete und mich für Pfannenwender in den abgefahrensten Farben begeisterte, wurden Bens Augen immer schmaler, so als sei er eine Figur in einem Videospiel, ein Scharfschützen-Attentäter, der darin geschult war, den Blick niemals vom Ziel abzuwenden, und der sich weigerte, von meinen „Oh, schau mal, ist das nicht toll!“- oder „So was brauchen wir noch!“-Ausrufen abgelenkt zu werden.

Ich konnte mir gut vorstellen, dass er mich am liebsten gleich an der Hand fassen und loslaufen wollte, nur um mich von ALL DEN SCHÖNEN SACHEN namens Rört oder Skogsta oder sogar einem Wort ohne erkennbare Vokale loszureißen, denen ich nicht widerstehen konnte und die in den knisternden übergroßen gelben Tragetaschen verschwanden. Ich spürte Bens amüsierten Blick auf mir, als ich ein weiteres Set Küchenhandtücher einsteckte.

„Wirklich, Schatz?“, fragte er mit schiefem Lächeln und gähnte künstlich.

„Ich weiß, aber die sind so günstig!“ Ich holte tief Luft. „Okay, bitte schaff mich hier raus. Ich hab keine Ahnung, was mit meiner Selbstbeherrschung los ist!“, jammerte ich. Er lachte und nahm meine Hand.

Wir schlugen uns zum Kassenbereich durch und fühlten uns ziemlich überlegen, besonders in Anbetracht der um uns herum stattfindenden Beziehungsapokalypsen. Hand in Hand schlenderten wir hinüber zum rechten Gang (ich hatte mir ganz genau aufgeschrieben, wo sich der Esstisch befand, der uns beiden gefiel) und zählten dabei schwedische Prominente auf, die wir kannten. Die Mitglieder von ABBA führten die Liste an, und Ben kannte noch ein paar unbedeutende Fußballspieler. Alles lief wie geschmiert, vielleicht zu gut geschmiert, bis wir den großen rechteckigen Karton in Sektion A, Regal 39 erblickten.

„Oh.“

„Mist.“

„Der ist ja riesig!“, sagte ich erschrocken. Ich war nicht nur besorgt, wie wir den ins Auto bekommen sollten, sondern auch, ob der Tisch in unsere bereits jetzt schon eher beengte Wohnung passte. Er war der Hauptgrund für unseren Ausflug hierher gewesen. In ein paar Tagen veranstalteten wir eine Dinnerparty, quasi eine schicke Einzugsfeier, und ich hatte schon Panik geschoben, unsere Gäste würden sich die Teller auf den Schoß stellen müssen.

„Das ist ganz sicher alles nur Verpackung. Im Ausstellungsbereich wirkte er nicht so groß“, sagte er und kratzte sich am Kopf.

Ich nickte, obwohl ich noch Zweifel hatte. „Aber du hast doch gemessen, ob er passt, bevor wir losgefahren sind, oder?“

„Na klar. Los komm, der wird schon passen“, meinte er schwer keuchend, während er den riesigen Karton umständlich auf einen flachen Wagen hievte und dabei meine verengten Augen ignorierte.

Wir waren beide total platt. So sehr dieser Einkauf auch Spaß gemacht hatte und obwohl er relativ schmerzfrei verlaufen war, wollte ich jetzt nur noch nach Hause, den Wasserkocher anschalten und einen Tee aus den neuen Tassen trinken. Natürlich hat er sich die Maße genau überlegt – vertrau ihm einfach, Georgia. Wir mühten uns ab, das verdammte Ding in Bens Auto zu bekommen, und danach waren die Köttbullar mit Preiselbeeren ganz schnell vergessen. Mein Sitz musste so weit es ging nach vorn geschoben werden, und den ganzen Weg zu unserer Wohnung saß ich mit dem Gesicht fast an der Windschutzscheibe. Ich sagte Ben, er solle bloß nicht plötzlich bremsen, weil die scharfe Kante des Kartons, die sowieso schon gefährlich nah dran war, mir den Hals aufzuschneiden, mir sonst den Kopf abschlagen würde.

Nachdem wir den enormen Karton durch die Eingangstür bugsiert hatten, fielen wir beide endlich keuchend aufs Sofa. Das selbstzufriedene Gefühl, Ikea überlebt zu haben, verblasste zwar zunehmend, doch weil wir einen Weg fanden, über unser Erlebnis zu lachen, hatten wir immer noch relativ gute Laune. Das war ziemlich beeindruckend, wenn man bedachte, wie steif die Autofahrt gewesen war – obwohl mich Bens vorsichtiger Omafahrstil zum Lächeln gebracht hatte.

„Okay, jetzt ist er drin!“ Er lächelte und wischte sich mit der Hand über die Stirn. „Wie wär’s, wenn ich schon mal anfange, ihn zusammenzubauen, und du machst im Schlafzimmer Platz für all die Kerzen, die du angesammelt hast?“

„Bist du sicher? Soll ich nicht doch lieber helfen?“, fragte ich und schaute auf das Chaos, das er veranstaltete. Beim Aufreißen des Kartons zog er eine überraschend dicke Aufbauanleitung, Luftpolsterfolie und Schrauben heraus, die sich schon bald über den ganzen Boden verteilten.

„Nö. Wenn ich nicht einmal einen einfachen Tisch für meine Frau aufbauen kann, dann habe ich in meiner Existenz als Mann quasi versagt.“ Unbeeindruckt von dem ganzen Chaos grinste er und öffnete sich in Vorbereitung auf die Herausforderung eine kalte Flasche Bier.

„Na gut, wenn du meinst …“ Ich beugte mich zu ihm hinab und drückte ihm einen Kuss auf die dunkelbraunen Locken. „Viel Erfolg.“

Als ich an den Reihen unausgepackter Umzugskisten im Korridor vorbeiging, versuchte ich nicht daran zu denken, welche Gefahr sie im Falle eines Brandes darstellten. Ich zerrte die bis zum Rand gefüllte blaue Ikea-Tasche ins Schlafzimmer, das bereits jetzt schon zu meinem Lieblingszimmer geworden war. Größer als üblich verfügte es darüber hinaus über breite Schiebefenster, die so viel Licht einfallen ließen, dass das gemütliche Zimmer sogar noch größer wirkte. Es war mir nach wie vor ein Rätsel, wie ich nach dem Auszug aus dem Haus, in dem ich mit meinem Ex Alex gelebt hatte, und nach meiner Rucksacktour dermaßen viel Kram hatte anhäufen können. Seit unserem Einzug vor einem Monat hatten Ben und ich einen Eiertanz darüber aufgeführt, wo unsere Besitztümer Platz finden und wie wir der unpersönlichen Wohnung einen Hauch von gemütlichem Zuhause verleihen sollten.

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis wir uns unsere eigenen vier Wände gesucht hatten und Ben aus der Wohnung ausgezogen war, die er sich mit seinem besten Freund Jimmy geteilt hatte. Die Entscheidung, zusammenzuziehen, hatte glasklar auf der Hand gelegen, ganz besonders, da wir die meiste Zeit sowieso zusammen im Büro verbrachten und unsere Beziehung sich so gut entwickelte. Wenn ich doch einmal getrennt von ihm gewesen war, hatte er mir gefehlt.

Meine neue Kerzenkollektion arrangierte ich kunstvoll auf der Kommode, gleich neben dem gerahmten Foto von uns beiden an einem sonnendurchfluteten Strand in Thailand, wo wir uns begegnet waren. Seitdem war so viel passiert, dass ich manchmal vergaß, wo alles seinen Anfang genommen hatte. Inzwischen hatten wir gemeinsam ein Unternehmen gegründet, den Lonely Hearts Travel Club, hatten uns ineinander verliebt und lebten nun zusammen. Als mir dieser heiße Unbekannte damals den Arm um die Taille gelegt hatte, während ich in die Kamera grinste, war nichts von alldem vorherzusehen gewesen.

Als ich Ben im Wohnzimmer zu einem Song im Radio mitpfeifen hörte, holte mich das mit einem Lächeln in die Gegenwart zurück. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so glücklich und so voller Vorfreude auf die Zukunft gewesen zu sein. Das fühlte sich derart kostbar und besonders an, dass ich es für immer festhalten wollte. Zusammenzuziehen war total logisch gewesen. Unsere Terminkalender waren voll mit kurzen Reisen, die wir getrennt voneinander unternahmen, um den Lonely Hearts Travel Club zu promoten. Allein in den letzten beiden Monaten war ich in Spanien, Griechenland und Marokko gewesen. Doch leider bekam ich von diesen faszinierenden Ländern zumeist nur den Flughafen und eine Auswahl an austauschbaren Hotelzimmern zu sehen. Und wenn ich nicht gerade unterwegs war, dann war Ben es, denn wir wechselten uns darin ab, persönlich mit unseren Reise- und Exkursionsleitern Kontakt zu halten sowie neue Kontakte zu akquirieren.

Das war alles unheimlich aufregend, wenngleich es auch bedeutete, dass wir unsere Freizeit sorgfältig organisieren mussten. Geplante Dates und gemeinsame Zeit wurden schon Wochen oder Monate im Voraus in den Terminplan eingetragen. Ich würde nicht sagen, dass ich je echtes Heimweh verspürt hätte, jedoch hatte ich festgestellt, dass es mir wehtat, kein Zuhause zu haben. Kein Zuhause mit Ben – einen Ort, an dem wir zumindest gemeinsam aufwachen und einschlafen konnten, wenn wir uns mal im selben Land befanden.

Da ich ihm bei seiner speziellen Möbelaufbautechnik nicht in die Quere kommen wollte, beschloss ich, das Auspacken der Umzugskartons in Angriff zu nehmen, die den Korridor versperrten. Auf dem ersten Karton stand Bens Klamotten, also zerrte ich ihn wenig elegant ins Schlafzimmer und öffnete den deckenhohen Wandschrank. Beim Anblick der dort bereits herrschenden Unordnung zuckte ich zusammen.

Ich nahm die weichen T-Shirts aus dem Karton, schloss die Augen und atmete den tröstlichen und vertrauten Duft meines Freundes ein. Dann legte ich sie in die Schubladenfächer auf seiner Seite des Schrankes. Versunken in berauschenden Erinnerungen, die sein Geruch in meinem Hirn und meinem Becken hervorrief, wäre mir beinahe der feste Gegenstand entgangen, den meine Finger in den ordentlich zusammengelegten Winterpullovern ertasteten.

Ich griff tiefer in den Karton. Plötzlich zog sich mir der Magen zusammen, und mein Herz setzte kurz aus. Die Zeit blieb einfach stehen.

In die Tasche einer dicken Strickjacke gesteckt – wenn nicht gar dort versteckt –, befand sich eine kleine, weinrote Samtschachtel.

Kapitel 2

Skrupel, der (Substantiv, maskulin): plötzlich auftretende Zweifel, Angst oder Unbehagen, insbesondere, wenn man nicht seinem eigenen Gewissen oder Urteilsvermögen folgt

Ein paar Sekunden lang starrte ich die kleine, mit Gold besetzte Schachtel in meinen zitternden Händen einfach nur an, als wäre sie ein verletztes Vögelchen oder ein Blindgänger. Ich war zu nervös, um einen Muskel zu rühren oder auch nur wieder Luft zu holen. Mein Mund war staubtrocken geworden.

„Ach, scheiße!“, hörte ich Ben fluchen. Ohne die geringste Ahnung davon, welch folgenschwere Entdeckung seine Freundin gerade im Nebenzimmer gemacht hatte, fuhr er mit dem Zusammenbau des Esstischs fort.

Aufmachen, aufmachen! drängte mich mein Unterbewusstsein. Nein! kreischte mein Verstand. Wenn du das tust, dann wird sich alles verändern.

Während ich damit rang, ob ich hineinschauen sollte oder nicht, fuhr ich langsam mit dem Zeigefinger über den Deckel. Was, wenn er scheußlich war? Was, wenn das gar kein Verlobungsring war, sondern ein hübsches Paar Ohrringe? Scheiß drauf, es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

Behutsam hob ich den Deckel und atmete zischend ein. Das durch die Schlafzimmerfenster einfallende Sonnenlicht fing sich in einem Diamanten, der stolz auf einem einfachen, jedoch eleganten Platinring saß, und ich musste blinzeln. Er war umwerfend schön. Und das war ganz eindeutig ein Verlobungsring.

Unbeantwortete Fragen, Gedanken und Gefühle strömten plötzlich auf meinen geschockten Geist ein, was wahrscheinlich der Grund dafür war, warum ich daraufhin tat, was ich tat. Es war, als hätte ich meinen Körper verlassen, jeglichen gesunden Menschenverstand verloren und mir die Finger in die Ohren gesteckt, während ich laut „la, la, la, ich kann nix hören“ sang, um die Einwände meines Verstands zu ignorieren, der soeben eine Panikattacke erlitt. Nachdem ich sichergestellt hatte, dass die Schlafzimmertür fest verschlossen war und ich Ben über die Radiomusik vor sich hinmurmeln hörte, nahm ich den glitzernden Diamanten aus der samtigen Schachtel und steckte den Ring auf.

Er glitt mühelos auf meinen Ringfinger. Wie Aschenputtel ihr gläserner Tanzschuh, passte er mir wie angegossen. Ich konnte mein breites Lächeln nicht zurückhalten und bewunderte den blitzenden Edelstein an meiner Hand. Mit ihm wirkten meine sonst eher unförmigen Finger mit den eingerissenen Nagelhäutchen so ebenmäßig und hübsch wie die eines Handmodels.

Keine einzige Sekunde lang hatte ich innegehalten und darüber nachgedacht, welche Bedeutung der Fund dieser versteckten Schachtel für unsere Beziehung hatte, ob ich überhaupt bereit war, Ben zu heiraten, ob ich wieder jemandes Verlobte sein wollte, nachdem ich es das letzte Mal so katastrophal in den Sand gesetzt hatte. Das Einzige, was wichtig war, waren dieser Ring und ich. Seine Bestimmung war unbestreitbar: Er gehörte zu mir. Geblendet von seiner Schönheit warf ich alle rationalen Gedanken über Bord. Am Ende saß ich vornübergebeugt auf dem Boden und streichelte wie Gollum meinen Schatzzzz.

Ich lehnte mit dem Rücken an der Bettkante und staunte mit offenem Mund über die Schönheit des Schmuckstücks. Ich wusste nicht, wie lange ich so dagesessen hatte, doch bei all dem Anhimmeln war mir nicht aufgefallen, dass das Radio, zu dem Ben eher schlecht als recht mitgesummt hatte, ausgeschaltet worden war.

„Schatz, ich glaube, du solltest mal herkommen.“ In der Stille klang Bens Stimme lauter, hallte durch die Wohnung und riss mich in die Gegenwart zurück.

„Oh, okay, ähm, ja, komme gleich“, rief ich und zog hektisch an dem Ring, um ihn abzunehmen, wieder in die Schachtel zu legen und zu verstecken, bevor er ins Zimmer kam und mich so vorfand.

Keine Ahnung, ob es im Zimmer wärmer geworden war oder ob es Karma war, das sich an mir rächte, weil ich die Schachtel geöffnet hatte, jedenfalls ließ sich der Ring nicht über das Gelenk schieben. Scheiße! Ich zog und zerrte daran, spuckte mir sogar auf die blöden unförmigen Finger, um das Ding loszuwerden. Doch er verharrte bockig, wo er war.

„Ähm, weißt du noch, dass wir ein wenig besorgt waren, der Tisch könnte zu groß sein?“, fragte Ben nervös direkt vor der Schlafzimmertür.

„Hmmm?“, erwiderte ich und hatte nur die Hälfte mitbekommen. Geh ab, geh endlich ab! Mir war heiß, und ich winselte vor Schmerz, als ich versuchte, den verfluchten Ring mit aller Gewalt und ohne gebrochenen Knochen vom Finger zu ziehen. Da drehte sich der Türknauf. Ich raste zur Schlafzimmertür und stemmte mich mit vollem Körpereinsatz dagegen, damit Ben nicht reinkommen konnte. Unterdessen zog und drehte ich weiter an dem Ring. Mein Finger war inzwischen ganz rot geworden und schwoll langsam schmerzhaft an.

„Ist da drinnen alles okay bei dir? Ich kann nicht rein!“, rief er durch die Holztür.

„Ja, alles gut, hier stehen nur überall Kartons herum. Ich komme gleich raus“, rief ich mit seltsam hoher und gepresster Stimme zurück.

Ein paar Sekunden lang verharrte er auf der anderen Seite der Tür. Vor Angst, er könnte hereinkommen, pulsierte es in meinem Kopf ebenso wie in meinem Finger.

„Na gut. Ich setze schon mal Wasser auf, okay?“

„Ja, super, toll, danke!“

Als ich endlich hörte, wie er über die Holzdielen in Richtung Küche davonging, stieß ich erleichtert einen Seufzer aus. Meine Hand hatte inzwischen einen seltsamen Gelbton angenommen, und fiese rote Flecken belegten, wie viel Kraft ich in den Kampf gegen diesen verdammten Ring aufgebracht hatte. Mit einem finalen Ruck und dem kehligen Stöhnen einer professionellen Tennisspielerin flutschte er vom Finger und schlitterte über den Boden in die gegenüberliegende Zimmerecke. Ich lehnte den Kopf an die Tür und versuchte, wieder normal zu atmen. Als ich mir den Schweiß von der Stirn wischte, zuckte ich wegen des malträtierten Fingers zusammen. Dann riss ich mich schnell am Riemen, steckte den Ring in die Schachtel und schob sie wieder in die Tasche, in der ich sie gefunden hatte.

Einen Augenblick später öffnete sich die Schlafzimmertür, und Ben hielt mir eine dampfende Tasse entgegen. „Hier, für dich.“ Ich war mir sicher, dass sich seine Augen angesichts des Chaos, das ich im Schlafzimmer veranstaltet hatte, kurz geweitet hatten. „Alles okay bei dir, Schatz?“

„Ähm, ja, danke, alles gut. Okay, dann lass uns mal dein Meisterwerk bewundern!“, erwiderte ich, gab ihm einen Kuss auf die Wange und scheuchte ihn aus dem vollgestellten Zimmer hinaus. Hinterm Rücken rieb ich mir den schmerzenden Finger.

„Also, wie schon gesagt, solltest du vielleicht nicht zu viel erwarten.“ Er hüstelte. „Er ist ein bisschen größer, als ich … na ja, du wirst schon sehen …“ Ben verstummte.

Als ich das Wohnzimmer betrat, blieb ich wie angewurzelt stehen. Alle Gedanken an Ringe und Heiratspläne verpufften schlagartig, als ich erblickte, was er zusammengebaut hatte. „Ein bisschen größer?“ Ich sog zischend Luft ein.

Der Esszimmertisch, der im Ausstellungsbereich so stylish ausgesehen hatte, nahm so ziemlich die gesamte freie Bodenfläche ein. Es sah lächerlich aus. Ich konnte mich nicht auf seine verlegenen Erklärungen konzentrieren. Er laberte etwas von Maßen, Größen und Dimensionen. Ich klinkte mich aus und rieb mir zweifelnd den schmerzenden Ringfinger. War das ein Omen? War das ein Zeichen für die Dinge, die kamen? Unser erster größerer Kauf als Paar, und er passte nicht? Genau wie der Verlobungsring … Wenn das der Fall war, was zum Teufel bedeutete das für uns?

Kapitel 3

Gleichmut, der (Substantiv, maskulin): ruhiger, leidenschaftsloser Gemütszustand, insbesondere unter Stress

Wenn alles gut läuft, sagt man ja gern, alles stünde unter einem guten Stern, und alles im Universum ist genau so, wie es sein sollte. Aber was einem niemand verrät, ist, wie heikel diese Konstellation ist und dass sie sich jederzeit auflösen kann. Man stelle sich ein Stahlseil vor, und auf diesem stabilen, wenngleich immer noch recht unsicheren Kabel wird alles in perfekter Balance gehalten – so kam mir mein Leben vor. Vielleicht war ich zu eingebildet gewesen, zu selbstgefällig. Rückblickend erkannte ich, wie ein Windstoß, ein großer Vogel, der mit seinem gefiederten Hintern aufs Stromkabel plumpste oder sogar ein Versprecher und ein Geheimnis, das man nicht teilen durfte, dazu führen konnte, dass all die Elemente, die zuvor so perfekt ausbalanciert gewesen waren, aus schwindelerregender Höhe zu Boden fielen. Wie hätte ich ahnen können, dass die Gesetze der Physik – oder was auch immer der Grund für die einsetzende Kette von Ereignissen gewesen war – zum Anfang vom Ende meines guten Sterns führen würden? Dass alles von nun an wirklich, wirklich schiefgehen würde? Wie naiv ich gewesen war.

***

Natürlich verlor ich keinen Gedanken an diese Dinge, als ich am nächsten Tag zu meiner besten Freundin ging, um ihr alles über das Drama der Ringentdeckung, des bevorstehenden Heiratsantrags und des monströsen Esstischs zu erzählen, der mein Wohnzimmer in Beschlag nahm. Gestern war so viel geschehen – einschließlich eines blöden Streits wegen des Scheißtischs und dessen gigantischen Dimensionen, den ich mit der Bemerkung, Größe sei eben doch wichtig, beendet hatte –, dass ich noch nicht wirklich darüber hatte nachdenken können, welche Bedeutung die Entdeckung des Verlobungsrings überhaupt für uns hatte.

Wenn ich behaupten wollen würde, ich hätte mir seit unserer Begegnung nicht hin und wieder vorgestellt, wie unser Hochzeitstag sein würde, dann wäre das natürlich glattweg gelogen. Ben mit Sommersprossen auf der Nase und in einem coolen Anzug aus Leinen, ich in einem simplen, jedoch umwerfend langen schwingenden Kleid, und wir beide an einem exotischen Strand mit kaschmirweichem Sand, an dem wir uns Treue schwören. Ich hatte mir ausgemalt, wie er als Vater sein würde: gütig, aber gerecht, interessiert, doch nicht erdrückend.

So sehr diese Tagträume auch Spaß machten – seltsamerweise war ich darin immer eine schlankere Version meiner selbst mit wehenden Haaren –, so hatten wir uns doch nie ernsthaft über Babys und übers Heiraten unterhalten. Wir hatten uns über ungewöhnliche Babynamen lustig gemacht, und Ben hatte den einsamen Kampf auf sich genommen, den Namen Roy wieder auferstehen zu lassen. Ich hatte gelacht, obwohl ich insgeheim gehofft hatte, er mache auch wirklich nur einen Witz. Doch Kinder haben und heiraten war auch nicht vollkommen abwegig für uns beide. Ich meine, wir hatten die gemeinsame Leitung unseres stetig wachsenden Reisebüros für Singles mit gebrochenem Herzen erfolgreich hinbekommen, und bisher war unser Zusammenleben derart harmonisch verlaufen, dass einem fast übel werden konnte. Dennoch hatte keiner von uns angesprochen, ob auch eine Heirat infrage käme. Zumindest noch nicht.

In gewisser Weise war ich dankbar für die schockierende Ringentdeckung, da ich nun etwas Zeit hatte, mich mit diesem Gedanken anzufreunden und herauszufinden, ob wir tatsächlich an dem Punkt waren, an dem Ben uns so offensichtlich sah. Und das nicht, weil ich meinen cleveren, gütigen, gut aussehenden Hammer-im-Bett-Freund nicht heiraten wollte, natürlich nicht, sondern weil ich so unheimlich verletzt gewesen war, als ich schon mal eine Braut gewesen und dann sitzen gelassen worden war. Damals hatte ich meinen Ex Alex heiraten sollen. Alles war geplant, organisiert und bereits bezahlt gewesen, doch kurz vor dem großen Tag hatte er mir offenbart, dass er fremdgegangen war und die ganze Sache abgeblasen. „Ich kann dich nicht heiraten“, hatte er gesagt und mit diesen schmerzvollen Worten die größte Veränderung meines Lebens angestoßen.

Ich war mit dem Rucksack losgezogen, traf Ben, verliebte mich, gründete mein eigenes Unternehmen und sah den lebendigen Beweis dafür, dass das Reisen gebrochene Herzen heilte. Inzwischen war ich überzeugt davon, dass das, was Alex getan hatte, das Beste war, was mir je passiert ist. Klar, es hatte mir das Herz gebrochen und war unheimlich schwer gewesen – ich meine, welche Frau will schon den Mann, den sie liebt und dem sie vertraut, sagen hören, dass sie nicht gut genug ist, um seine Frau zu werden? Doch mit der Zeit ging es mir besser, und ich hatte dabei entdeckt, dass all die nervigen Klischees, wie zum Beispiel „Zeit heilt alle Wunden“, tatsächlich stimmen.

Mein Leben war jetzt besser als je zuvor, was ich zum größten Teil Ben und dem Erfolg zu verdanken habe, den wir mit unserem gemeinsamen Unternehmen hatten. Womöglich war die ausgefallene Hochzeit mit Alex Teil des Plans – die Proberunde, quasi – für die potenzielle Hochzeit des Jahres mit Ben?

„Schiebst du den Kinderwagen mal ’ne Minute lang?“, bat Marie und riss mich aus meinen beknackten Brautgedanken. „Ich hab einen Krampf; noch eine wundervolle Nebenwirkung der Schwangerschaft“, knurrte sie.

Wir spazierten langsam durch den Park – und ich meine buchstäblich langsam: Sogar die Enten watschelten schneller als wir. Marie kannte nur noch ein Ziel: Holt das Baby aus mir raus! Ich hatte komplett vergessen, dass ich ihr versprochen hatte, ihr dabei zu helfen, bis sie mich heute Morgen angerufen hatte. Zwar war der Geburtstermin erst in ein paar Wochen, doch sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, pünktlich zu entbinden. Bei dem kleinen Cole, ihrem Erstgeborenen, hatte sie es genauso gemacht. Marie würde dieses Baby zum Geburtstermin entbinden, komme, was wolle.

„Es fühlt sich anders an als bei Cole, ich muss mir also mehr Mühe geben, um dieses Baby aus mir rauszubekommen“, erklärte sie, während ich den Kinderwagen übernahm und ihn über Zweige hinweg und um Hundehaufen herumlenkte. In Maries Blick lag ein leichter Wahnsinn. Ich erinnerte mich, diesen Blick schon einmal an ihr gesehen zu haben. Wir waren beide achtzehn gewesen und sie fest entschlossen, in der Waverley’s Bar die gesamte Reihe von Shots zu trinken, um ein T-Shirt zu gewinnen. Die selbstleuchtenden Shots hatten von vornherein keine Chance.

„Marie, das ist ein Baby. Ich weiß, dass ich in dieser Sache nicht gerade ein Experte bin, aber kommen die nicht quasi dann, wenn sie so weit sind?“

Sie starrte mich finster an. Ihre Stimmungsschwankungen waren ganz eindeutig noch stark. „Georgia Green, kann sein, dass ich Hämorrhoiden und dunklere Brustwarzen bekommen habe und mir jedes Mal ein wenig in die Hose mache, wenn ich niese, huste oder lache, aber das, das ist etwas, von dem ich weiß, dass ich es kontrollieren kann.“ Durch die vielen Lagen an Klamotten, die ihren ansehnlichen Babybauch bedeckten und wie sie so herumwatschelte, sah sie wie ein trotziges Michelin-Männchen aus.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihr nicht wissen wollt, was es wird.“

„Es wird ein Baby, Georgia, hat dir das niemand erzählt?“ Sie streckte mir die Zunge raus.

„Ha ha, superlustig. Ich meine, wie kann das sein, dass du nicht unbedingt wissen willst, ob’s ein Mädchen oder ein Junge wird? Ich würde garantiert wissen wollen, ob da gerade ein winzig kleiner Penis in mir heranwächst.“ Ich schüttelte mich.

„Na ja, wir wissen ja alle, dass ich genug von denen in mir hatte.“ Sie lachte und wurde bei der Erinnerung an ihre sorgenfreie Zeit als Single rot. „Nee, aber mal im Ernst, ich will uns die Überraschung nicht verderben. Dadurch wird der Moment, wenn er oder sie endlich die Bühne betritt, sogar noch magischer sein.“ Sie sprach mit der schläfrigen Hippiestimme, mit der sie immer Lorraine mit dem schielenden Auge nachäffte. Schiele-Lorraine. Sie war eine typische Öko-Mutti und leitete den Schwangerschaftskurs. Marie fand sie unglaublich nervig, weil sie angedeutet hatte, sie wäre Cole eine lausige Mutter, und ständig behauptete, man würde heutzutage alles anders machen. Außerdem war in Lorraines Welt alles magisch.

Marie interessierte sich nicht für magisch. Sie war praktisch veranlagt, und das Praktischste, das sie momentan tun konnte, war ihr Bestes zu geben, um ihr Baby sicher am berechneten Geburtstermin zur Welt zu bringen. Zwar war das nur ein Mini-Erfolg, aber dennoch eine Möglichkeit, um der schielenden Lorraine zu beweisen, dass Mami Marie keine Versagerin war.

„Welche Sachen kaufst du denn, wenn du nicht weißt, was es wird? Gibt’s da nicht ein ungeschriebenes Gesetz der Mutterschaft, dass man tief in die Taschen greifen und für ein Mädchen alles in Rosa und für einen Jungen alles in Blau kaufen muss?“

Marie verdrehte die Augen und seufzte. „Heutzutage dreht sich alles um genderneutrale Bekleidung für Babys, das heißt also, er oder sie wird einen Schrank voll mit gelben, grünen und weißen Sachen haben. Ich hoffe nur, dass die Leute bei ihrem oder seinem Anblick erkennen, welches Geschlecht er oder sie hat.“

„Also, wenn’s nach mir ginge, würde ich meinem Baby nur winzig kleine Halloweenkostüme anziehen. So kommt man auch zu ’nem genderneutralen Look“, spöttelte ich.

Sie brach in Gelächter aus. „Na, Gott sei Dank bist du nicht schwanger. Ich weiß ja nicht, wie sehr es dem Kind gefallen wird, auf sein erstes Lebensjahr zurückzublicken und festzustellen, dass es die meiste Zeit als Kürbis oder Fledermaus verkleidet verbracht hat.“

„Ja, kann sein, aber das wäre so niedlich! Gott, Marie, es ist einfach unglaublich, dass er oder sie sich bald diesen Kinderwagen mit Cole teilen wird.“ Bei den Worten verspürte ich ein seltsames Kribbeln in meiner Brust. Alles veränderte sich. Das Leben meiner besten Freundin würde nie mehr so sein, wie es war. Als sie mit Cole schwanger gewesen war, hatten wir Stunden damit verbracht, uns auszumalen, wie er wohl sein würde, wie er zu einem echten Menschen mit einer Persönlichkeit heranwachsen würde und wie es sein würde, Mutter zu sein und nicht mehr einfach nur Marie. Ich schätze, ein kleiner und selbstsüchtiger Teil von mir hatte sich Sorgen gemacht, unsere Freundschaft würde in den Hintergrund treten, sobald sie diesen anderen kleinen Menschen hatte, der dann der Mittelpunkt ihrer Welt war. Wie konnte es ihre beste Freundin je damit aufnehmen?

Man sagt, Mutterliebe sei mit nichts zu vergleichen, doch da ich kein eigenes Kind hatte, konnte ich das nur von einer rationalen Perspektive her verstehen. Jetzt standen wir erneut vor einem Wendepunkt in ihrem Leben, doch diesmal war ich weniger besorgt darüber, wie ich in die ganze Sache reinpasste, und konzentrierte mich stattdessen auf die Tatsache, dass sich mein Leben auch verändern würde.

„Ich weiß.“ Sie lächelte müde. „Und dann startet Projekt Skinny Jeans wieder.“

Ich sah sie finster an.

„Schau mich nicht so an! Ich werd schon keinen auf A-Promi machen und sofort in meine Ausgangsform zurückschnipsen, aber ich will mich endlich wieder so fühlen, als wäre dieser Körper mein eigener. Außerdem muss ich wieder in Form kommen, wenn ich mein Fünf-Jahresplan-Ziel erreichen und für den großen Tag bereit sein will.“

„Für den großen Tag, von dem Mike noch nichts ahnt?“, neckte ich sie und stieß dann einen tiefen Seufzer aus. „Es ist schon verrückt, wenn man bedenkt, dass wir beide vor ein paar Jahren in völlig anderen Situationen gesteckt haben – und dennoch irgendwie in genau den gleichen wie heute auch: Du produzierst Nachwuchs und ich … kurz vor der Verlobung …“

Es dauerte einen Augenblick, bis der Groschen fiel.

„Oh Gott! Was? Ihr wollt heiraten?!“ Maries Gekreische erschreckte einen einsamen Mann mit einem Hund an der Leine auf der anderen Seite des Sees. Als sie das Wort mit H aussprach, pulsierte mein Ringfinger bei der Erinnerung an die erlittene Tortur.

„Pssst! Du weckst Cole noch auf!“ Ich schaute hinab zu ihrem dick eingemummelten kleinen Jungen im Kinderwagen. Er schlief felsenfest und aus den tausend Decken, die Marie über ihm ausgebreitet hatte, ragten nur seine rosa Nase und der kleine Kussmund heraus.

„Ich muss einfach alles darüber wissen!“ Sie war wie angewurzelt stehen geblieben und griff nach meiner Hand, um nach Anzeichen von Klunkern zu suchen. „Moment mal – wo ist der Ring?“

„Na gut, okay, dann bin ich eben noch nicht verlobt. Aber bald werd ich’s sein …“

Sie starrte mich verwirrt an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Was, bitte?“

Ich seufzte und erzählte ihr von unserem Ausflug zu Ikea, vom Auspacken der Kartons, wie ich den Ring gefunden und mir dann beim Versuch, ihn abzubekommen, bevor Ben mich damit erwischte, beinahe das Fingergelenk ruiniert hatte.

„Wow. Und wie hat er sich angefühlt?“

„Traumhaft.“ Ohne es zu merken, hielt ich mich selbst umarmt.

„Besser als der letzte, den du bekommen hast?“ Sie hob eine Augenbraue.

Ich riss mich zusammen. „Ja, wirklich.“

Sie nickte bedächtig und überlegte, wie sie die nächste Frage formulieren sollte. „Bist du bereit, dich auf all das wieder einzulassen? Ich meine, nach dem, was letztes Mal passiert ist?“, rückte sie schließlich damit heraus, und kurz hing die Frage zwischen uns in der Luft.

„Sicher, na klar. Ich meine, ich denke schon.“ Sie sah mich fragend an. Ich starrte zurück. „Ich liebe Ben, und diesmal fühlt es sich jetzt bereits komplett anders an als mit Alex. Es ist so, als wäre ich erwachsen geworden und wüsste jetzt, was in einer Beziehung tatsächlich von Bedeutung ist. Außerdem kenne ich mich selbst so viel besser – ich weiß jetzt, was ich will. Ich bin ganz anders als die alte Georgia, so, als wüsste ich endlich, wer ich bin. Zumindest denke ich das. Das kommt alles ein wenig überraschend für mich.“

„Das denkst du? Georgia, das ist ein Riesending. Da musst du dir sicher sein.“ Sie hielt inne. „Ich frage ja nur, weil ich beim letzten Mal dabei war und gesehen habe, wie alles den Bach runterging. Ich will nicht, dass du so was je wieder durchmachen musst.“ Sie erbebte sichtlich.

Ich streckte die Brust raus. „Das werde ich nicht. Ben liebt mich und glaubt ganz offenbar, dass wir bereit dafür sind, sonst hätte er sich nicht die Mühe gemacht, diesen Ring zu kaufen …“

„Ich mache mir nur Sorgen um dich, das ist alles.“

Ich warf einen Blick auf ihren gewölbten Bauch. „Tja, da sind wir schon mal zwei.“

„Du weißt, dass ich Ben toll finde, und ich glaube, es ist super, dass ihr zusammenwohnt, aber möchtest du nicht erst mal, na, ich weiß nicht, diesen Teil genießen, bevor du dich kopfüber in die abgedrehte Hochzeitswelt stürzt?“ Mein Gesichtsausdruck muss Bände gesprochen haben, denn sie fügte schnell hinzu: „Ich freue mich total für dich – das heißt, das werde ich, wenn’s tatsächlich so weit ist –, ich will nur nicht, dass du dich zu einer großen Entscheidung gedrängt fühlst, nur weil du einen hübsch glitzernden Ring gesehen hast.“

„Was Schmuck anbetrifft, hat er wirklich einen guten Geschmack“, sinnierte ich. „Nein, im Ernst – es geht mir nicht nur um den Ring. Ich verstehe, was du meinst, für mich war das auch ein Schock. Natürlich kann ich mir vorstellen, dass wir irgendwann mal diesen großen Schritt gehen könnten, mir war nur nicht klar gewesen, dass für Ben irgendwann mal jetzt ist.“

„Ich glaube, du solltest dir auch überlegen, welche Auswirkungen das auf Lonely Hearts haben könnte – was das Team davon halten wird, für ein verheiratetes Paar zu arbeiten und all die ehelichen Dramen, die auf eure geschäftlichen Entscheidungen abfärben könnten …“

Ich hatte oft mit Marie darüber gesprochen, dass wir geschäftlich gesehen wie Pech und Schwefel waren, doch was unsere Beziehung anbetraf, hatte ich manchmal Schwierigkeiten, sie weniger über die Arbeit und mehr über uns beide zu definieren. Das war ein schwieriger Balanceakt, und Ben machte es nicht eben leichter, weil er der Typ Mensch war, der sich nicht gern in die Karten schauen ließ, ganz besonders, wenn es um seine Familie ging. Bis jetzt hatte ich noch kein einziges Mitglied des Stevens-Clans kennengelernt, was vor unserem großen Tag ganz sicher noch passieren sollte.

Ich hauchte mir in die kalten Hände. Eine Wolke warmen Atems stieg wie Rauch von einem Heston-Blumenthal-Rezept auf. „Darüber müssen wir mal sprechen, denke ich. Zwar geben wir uns beide Mühe, nicht ständig übers Geschäft zu reden, aber das ist leichter gesagt als getan, vor allem, weil er unbedingt will, dass wir nach London expandieren.“

„Bist wohl kein Fan der Cockneys?“

Ich lachte. „Das ist es nicht! Ich habe nichts gegen London oder die Londoner, es ist einfach nur ein großer Schritt und noch dazu einer, zu dem wir meiner Meinung nach noch nicht bereit sind. Ja, das könnte uns eine Menge Geld und neue Möglichkeiten einbringen. Aber andererseits wächst unser Unternehmen mit dem Reisebüro in Manchester auch richtig gut und wirft guten Gewinn ab. Ich weiß nicht, ob es sich lohnen würde, den Stress und das Risiko auf sich zu nehmen, um einen weiteren Laden in einer anderen Stadt aufzubauen. Ben ist ein Träumer und felsenfest überzeugt, dass es funktionieren wird. Dagegen versuche ich vernünftig zu sein, bevor wir uns entscheiden. Letzte Zeit war es echt schwer, denn das ist der einzige Punkt, bei dem wir auseinandergehende Meinungen haben.“

„Größer heißt nicht immer besser“, kommentierte sie und schlug sich dann die Hand vor den Mund. „Außer, wenn man schwanger ist!“

„Genau.“ Ich lächelte und schüttelte den Kopf, da mir bei dem Stichwort auch der riesige Esstisch einfiel, der sich unserer Wohnung bemächtigt hatte. „Ach, ich weiß nicht. Diese Sache mit London ist eine Entscheidung – und noch dazu eine verdammt große –, bei der wir nicht an einem Strang ziehen.“

„Keine Ahnung, was zum Teufel das heißen soll, aber wenn ihr euch nicht mal darauf einigen könnt, welche Richtung ihr mit eurem Unternehmen einschlagen wollt, dann klingt das so, als wärst du noch nicht ganz so weit, Ben zu heiraten.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen zog sie sich den Mantel enger um den Körper. „Für mich hört sich das so an, als bräuchtest du einen Plan. Ich weiß doch, wie sehr du die liebst!“

„Was denn, etwa einen Plan, wie ich meinen Freund dazu bringe, sich mehr zu öffnen, und wie ich ihn davon überzeuge, dass London keine gute Idee ist, zumindest noch nicht?“

Marie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht braucht ihr ein wenig Abstand von allem? Keine Ahnung … fahrt doch in den Urlaub oder so, bevor ihr große Entscheidungen über London oder eure gemeinsame Zukunft als Paar trefft. Dann kommt ihr mal aus Manchester raus, und in einer anderen Umgebung fällt es euch vielleicht leichter, darüber zu sprechen, wo es mit euch beiden hingehen soll. Dann kannst du entscheiden, ob du bereit bist, dich für immer an ihn zu binden und Unmengen von hübschen Babys zu machen, die alle wie Models aussehen.“

Ich schnaubte. „Das Babymachen überlasse ich vorerst mal dir. Aber ein Urlaub an einem exotischen, sonnendurchfluteten Strand hört sich gerade richtig idyllisch an“, sagte ich mit einer Kopfbewegung zum jämmerlichen und ungepflegten Spielplatz hin, den wir erreicht hatten. Ein paar angeschlagene Schaukeln schwangen einsam in der kalten Brise; zum Glück war Cole noch im Land der Träume unterwegs und bewahrte uns davor, mehr Zeit als nötig an diesem deprimierenden Ort zu verbringen. Gab es etwas Traurigeres als einen Spielplatz, auf dem keine Kinder spielten? Im trüben grauen Licht wirkte er noch ungepflegter, besonders vor dem Hintergrund des Sees, auf dessen dunklem Wasser leere Chipstüten und Bierdosen schaukelten.

„Hm. Rede dir das nur weiter ein. Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber deine biologische Uhr wird bald was ganz anderes sagen.“

„Du klingst schon wie meine Eltern.“ Ich lachte und hakte mich bei ihr unter, um mich ein wenig an ihr zu wärmen. „Aber zurück zu dir. Bist du schon nervös wegen des großen Ereignisses?“

„Welchem, der Hochzeit?“ Sie sah mich überrascht an.

„Nein!“ Ich schlug mir die behandschuhte Hand vor die Stirn. Was war nur mit dem endlosen Gerede übers Heiraten? „Marie, es gibt keine Hochzeit, wenn man sich nicht zuerst verlobt.“

„Oh, stimmt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist nur eine kleine Hürde auf dem Weg. Mike wird mich schon fragen. Ich wette, dass es wissenschaftliche Untersuchungen gibt, die beweisen, dass sich die meisten Paare kurz nach der Geburt ihres Babys verloben, im Vergleich zu allen anderen Etappen in ihrer Beziehung. Ich denke, zu diesem Zeitpunkt sind die Männer einfach unglaublich beeindruckt, dass man ihr Kind in einem Stück aus sich rausgepresst hat. Da gibt’s nix, was man in ihren Augen falsch machen könnte.“

„Ich bin überzeugt, dass er dir noch vor Ende des Jahres einen Ring an den Finger steckt. Aber nein, ich meinte eigentlich die Geburt. Machst du dir nicht mal ein kleines bisschen vor Angst in die Hose, das alles noch mal zu erleben?“ Ich rieb ihr über den Arm, der sich beim Schieben des Kinderwagens versteift hatte. Coles Geburt war nicht leicht gewesen. Es hatte Komplikationen gegeben, und beinahe hätten wir sie beide verloren. Das war etwas, das wir schon vor langer Zeit unter den Teppich gekehrt hatten, doch wenn ich daran dachte, lief es mir immer noch eiskalt den Rücken runter.

Noch nie hatte ich meine beste Freundin derart verzweifelt erlebt wie zu der Zeit, als ihr Neugeborenes nach seiner dramatischen Ankunft für einige Tage unter Beobachtung im Krankenhaus hatte bleiben müssen. Obwohl sie sich selbst auf eine von den Ärzten als wundersam schnell bezeichnete Weise erholt hatte, war sie am Boden zerstört gewesen darüber, dass sie die Schuld an seinem furchterregenden Start ins Leben trug. Sie hatte sich selbst gequält, indem sie seinen winzigen, zerbrechlichen, mit Drähten und Schläuchen verbundenen Körper in dem Inkubator anstarrte und sich immer wieder vorwarf, sie hätte in der Schwangerschaft nicht gut genug auf sich aufgepasst und nicht wiedergutzumachenden Schaden verursacht, weil sie erst in der vierzehnten Woche herausgefunden hatte, dass sie schwanger war und Alkohol getrunken hatte, als wir ausgegangen waren.

Natürlich war das alles kompletter Quatsch. Aber die Ärzte konnten ihr versichern bis sie schwarz wurden, dass niemand die Schuld an dem trug, was passiert war, und dass so was nun mal leider einfach vorkam. Erst als Cole kräftig genug geworden war, um den sterilen Inkubator verlassen und nach Hause zu dürfen, hatte sie sich langsam wieder entspannt. Das war auch der Grund, warum sie bei dieser Schwangerschaft unheimlich streng mit sich war. Alles musste genau nach Vorschrift erledigt werden. Mike hatte damit ein paarmal die Geduld verloren und ihr gesagt, sie solle aufhören, sich zu stressen, und anfangen, die ganze Sache auch zu genießen. Doch Marie beharrte unerschütterlich darauf, dass diese Geburt die Erfahrungen von Coles Geburt wiedergutmachen würde – alles würde nach Plan verlaufen und so perfekt sein, wie es nur ging.

Es war schwer zu sagen, ob es am schlechten Licht im Park lag oder ob sie plötzlich ganz blass geworden war. „Nö.“ Sie strich sich eine Strähne ihres rubinroten Haares aus dem Gesicht und schluckte.

„Marie? Es ist okay, wenn du Angst hast“, sagte ich sanft.

Sie blieb stehen und drehte sich zu mir. Tränen standen ihr in den müden Augen, und ihre Nase war durch die Kälte himbeerrot geworden. „Ich hab die Hosen bis obenhin voll, Georgia. Aber ich kann mir nicht erlauben, Angst zu haben. Ich hab das schon mal gemacht, ich weiß also, wie es abläuft. Aber in gewisser Weise jagt mir das sogar noch mehr Angst ein, denn ich weiß genau, was auf mich zukommt, und es ist nicht gerade ein Spaziergang – bitte ignorier die grottige Anspielung.“ Sie stieß ein Lachen aus, das sich gar nicht nach ihr anhörte. Plötzlich war mein widerspenstiger und feuriger Rotschopf wieder zu der stelzbeinigen Teenagerin mit dem Drang, die Klassenbeste zu sein, geworden – so, wie ich sie kannte und liebte. Ich legte meine Arme um sie, was bei den Schichten an Klamotten, die sie trug und mit der dicken Kugel zwischen uns gar nicht so einfach war.

„Es ist okay, Angst zu haben. Aber du wirst das super machen. Das weiß ich ganz genau.“

Sie schniefte und wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab. „Danke. Ich hoffe, du hast recht. Alles sagen immer, der Schmerz sei das wert, was man am Ende bekommt, und ich weiß, dass das stimmt, aber gleichzeitig tut’s nun mal scheiße krass weh! Das meinte ich damit, dass mein Körper nicht mir gehört. Ich habe keinerlei Kontrolle darüber, was mit ihm passieren wird, wenn die Wehen einsetzen, und ich muss einfach nur darauf hoffen, dass er das tut, wofür er biologisch entworfen worden ist.“

Ich nickte energisch. „Du wirst das unglaublich gut machen. Wenn Mike sieht, was für ein wundervolles Geschenk du ihm gegeben hast, wird er dir wahrscheinlich gleich an Ort und Stelle einen Antrag machen.“

Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem zögerlichen Lächeln. „Das wird mich ein paar Monate lang von den Hausarbeiten befreien, mindestens.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie ihr das mit zwei Kindern unter vier Jahren hinbekommen wollt! Ich meine, ich finde es schon anstrengend, mich selbst zu versorgen.“ Ich wünschte, ich würde auch nur ansatzweise Witze darüber machen. „Hör auf zu lachen, ich meine das ernst! Ich bekomme immer noch Pickel, muss die Antworten zu Dingen, die ich wissen will, viel öfter googeln, als ich wahrscheinlich sollte, und ich weiß nicht, wie man Quinoa richtig ausspricht, geschweige denn, was zum Teufel das überhaupt ist. Im Vergleich zu mir bist du mit links die Hammer-Mummy aus dem Bilderbuch. Ganz bald dreht sich bei dir alles um Naturschutzvereine, Familienvans und Biomarkt-Kundenkarten!“

Sie lachte und tätschelte meinen Arm. „Das bezweifle ich! Aber egal, dein Leben ist toll, und das weißt du auch. Wenn ich mich daran erinnere, wie es ist, wenn man Last-Minute-Urlaub buchen, unter der Woche was trinken gehen oder gar das Haus ohne militärisch präzise ausgearbeiteten Zeitplan verlassen kann, dann werde ich neidisch. Warte nur nicht zu lange damit, dem Club beizutreten. Ich meine, Schiele-Lorraine hat ganz recht. Die ganze Angelegenheit mit dem Babykriegen ist echt verflucht magisch.“

Wir schüttelten uns vor Lachen und legten auf dem Rückweg zu Maries Haus einen Schritt zu, um uns eine Tasse dampfenden Tees und ein paar Schokoladenkekse zu gönnen. Während wir den schlammigen Weg zur Hauptstraße entlangtrotteten, beschlichen mich nagende Zweifel, und ich hätte einfach nicht sagen können, warum. Ich liebte es, mit meiner besten Freundin Zeit zu verbringen. Doch es lag in ihrer Natur, die Wahrheit auszusprechen, und hin und wieder war es schwer, diese Pille der Realität zu schlucken. Vielleicht hatte Marie recht, vielleicht sollte ich nicht über eine Hochzeit mit Ben nachdenken, wenn es zwischen uns so viele unbeantwortete Fragen gab.

Die Gespräche über Babys machten mich nervös, und daran erkannte ich, dass ich für Kinder nicht bereit war, noch nicht. Einer Heirat war ich dennoch nicht komplett abgeneigt. Aber womöglich hatte Marie einen wichtigen Punkt angerissen: So verliebt ich auch war, wir waren eben erst zusammengezogen und lernten immer noch Neues übereinander. Vielleicht sollte ich das Läuten der Hochzeitsglocken in meinem Kopf zum Schweigen bringen und ganz vernünftig darüber nachdenken, was genau diese Verlobung für uns bedeuten würde und welche Veränderungen sie verursachte. Im Moment lief doch alles so gut, warum sollte man dann etwas ändern wollen?

Kapitel 4

Unreif (Adjektiv): unterentwickelt, bzw. Mangel an Reife aufweisend

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass du bald verlobt bist!“, quiekte Shelley.

Ich sah Marie vorwurfsvoll an.

„Na was? Ich konnte es ihr doch nicht nicht erzählen.“ Sie hob abwehrend die Hände.

„Tja, noch bin ich nicht verlobt“, erwiderte ich und zog meinen Bürorock gerade. „Und sag bitte, bitte nichts zu Jimmy. Ich will nicht, dass Ben herausfindet, dass ich es weiß und das dann den Antrag ruiniert, den er geplant hat.“ Ich zuckte zusammen.

Shelley nahm meine Hände in ihre und nickte bestimmt. „Pfadfinderehrenwort. Ach, aber das ist so aufregend! Was glaubst du, wo ihr heiraten werdet? Oh, ich weiß wo! Wie wär’s mit Thailand? Wo ihr euch kennengelernt habt? Ich kann mir supergut vorstellen, wie ihr beiden Hand in Hand am weißen Strand von Koh Lanta entlanglauft, um euch das Jawort zu geben. Und danach geht’s für die Party zurück ins Blue Butterfly. Ich bin sicher, Dara wird begeistert sein, mitzuhelfen, und Chef würde eine fantastische Hochzeitstorte backen. Oh, und dann könnten wir Laternen in den Himmel aufsteigen lassen, während ihr euren ersten Tanz miteinander tanzt.“ Sie schaute Marie und mich verwirrt an. „Was denn? Findet ihr das etwa nicht aufregend?“

„Doch, na klar. Ich bin nur ein wenig misstrauisch wegen dem, was letztes Mal passiert ist.“ Nach meinem letzten Treffen mit Marie hatte ich viel über ihre Worte nachgedacht. Ihre Sorge war berechtigt. Ich musste tatsächlich mit Herz und Hirn entscheiden, statt mich von dem wunderschönen Ring blenden zu lassen, den Ben mir bald präsentieren würde.

„Ah, ja, verstehe. Aber ihr beiden seid wie füreinander geschaffen. Du darfst nicht die Vergangenheit über dein Herz bestimmen lassen.“

Ich lächelte meine australische Freundin an. Wir hatten uns in Thailand kennengelernt, und ich konnte mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. „Ich weiß, und momentan bin ich ganz furchtbar verliebt.“

„Das Zusammenleben klappt demnach also ganz gut?“, fragte sie zwinkernd. „Das heißt, abgesehen von eurem riesigen Esstisch.“

Ich verdrehte die Augen. „Ja, davon abgesehen läuft’s super!“

Ich musste mich immer noch kneifen, dass dieser unglaublich tolle Mann mein Freund war. Außerdem hatte sich schnell herausgestellt, dass er sich gut mit Hausarbeiten auskannte. Das war ein echter Schock gewesen, denn Alex hatte bis dato noch nie einen Staubsauger oder ein Bügeleisen bedient. Seine Mutter hatte ihn verzogen und alles im Haushalt erledigt – und von seiner zukünftigen Frau erwartet, dass sie die Tradition fortführte, was ich dummerweise auch getan hatte. Ben war unglaublich selbstständig: kochen, ohne Liste und detaillierte Karte der Regale im Supermarkt einkaufen, und sogar das Bad putzen, ohne tausend Mal dazu ermahnt werden zu müssen.

„Wow, Jimmy ist manchmal echt schlampig. Er lässt immer den Toilettensitz hochgeklappt und benutzte Teebeutel neben dem Mülleimer liegen. Manchmal drohe ich ihm mit Sexentzug. Dann schnappt er sich meistens ganz schnell ein paar Gummihandschuhe!“ Shelley lachte. „Okay, wenn Ben also ans Heiraten denkt und du der Vorstellung nicht total abgeneigt bist, dann solltest du vielleicht mal überlegen, was dir noch fehlt, damit du auf die gleiche Ebene kommst wie er“, schlug Shelley vor.

„Ja, gibt’s da zum Beispiel etwas, was du über ihn wissen willst, aber noch nicht weißt?“

„Na ja, ich habe seinen Vater noch nicht kennengelernt, aber auch nur, weil wir das erst organisieren und Zeit dafür finden müssen, denke ich mal.“

„Ach ja, seine Mutter hat ihn verlassen, stimmt’s?“, erinnerte sich Marie und legte sich bei dem Gedanken die Hand auf die Brust.

„Ja.“ Ich schüttelte traurig den Kopf. „Er war noch klein gewesen, als sie gegangen ist, und mehr als das habe ich aus ihm nicht rausbekommen können.“

„Na gut, dann ist das also etwas, was passieren muss. Es sagt so viel über einen Menschen aus, wenn man weiß, wie die Eltern drauf sind und wie ihre Beziehung zueinander ist.“

„Oh Gott, genau! Weißt du noch damals, als ich mit Shane zusammen war?“, fragte mich Marie. Mir fiel wieder ein, wie ich mich in einem prolligen Nachtclub wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt hatte, während die beiden knutschend in einer Nische gesessen hatten.

„Bäh, den fand ich blöd. Ich hatte immer das Gefühl, dass er ein bisschen geklammert hat.“ Ich schüttelte mich.

Marie hob den Zeigefinger. „Tja, damit hast du voll ins Schwarze getroffen, und das kam von seinem Verhältnis zu seiner Mutter. Im Ernst, sobald wir bei seinen Eltern zu Besuch waren, schien mir immer, als würde seine Mutter es kaum erwarten können, ihn wieder an die Brust zu legen. Er war ein totales Muttersöhnchen. Keine Ahnung, was ihr davon haltet, aber ich finde das unglaublich abturnend. Ich schwöre, er hat sie immer noch auf den Mund geküsst.“

„Iiiieh!“, riefen Shelley und ich im Chor.

„Und deshalb ist es echt wichtig, die potenziellen Schwiegereltern kennenzulernen.“

„Okay, und nachdem du seinen Vater getroffen hast, was dann?“

Ich kniff die Augen zusammen und dachte nach. „Na ja, ich denke mal, abgesehen von Thailand, wo wir uns getroffen haben, sind wir eigentlich noch nie zusammen im Urlaub gewesen. Beruflich verreisen wir immer getrennt, damit das Reisebüro besetzt ist.“

„Das müsst ihr unbedingt tun. Und außerdem habt ihr ja jetzt Conrad – ist er nicht extra dafür da, das Reisebüro zu hüten, während ihr euch in der Welt herumtreibt?“

Ich nickte bedächtig. Conrad kam aus Yorkshire und nahm grundsätzlich kein Blatt vor den Mund. Wir hatten ihn als Büroleiter eingestellt, doch er legte bei allem Hand an, das ihm über den Weg lief, vom Trösten schluchzender Kunden mit gebrochenem Herzen bis hin zum standhaften Umgang mit mürrischen Handwerkern. Eine andere Reiseagentur hatte ihn uns in den höchsten Tönen empfohlen. In einem früheren Leben war er als Flugbegleiter durch die Welt gereist – was mir immer noch ein totales Rätsel war, vor allem, wie jemand mit seiner Statur die Gänge entlanghuschen konnte, ohne dass die Passagiere dabei Augen oder Ohren verloren. Dazu kam, dass er unheimlich gern fluchte, schlüpfrige und schreiend komische Kommentare von sich gab, die das Team bei guter Laune hielten, und die Dinge beim Namen nannte. Er war die perfekte Ergänzung für die Lonely-Hearts-Squad, wie Kelli uns nannte.

Marie fand rutschend eine neue Position auf dem Polster, auf dem sie sich ausgebreitet hatte. „Man sagt, man lernt den anderen erst wirklich kennen, wenn man mit ihm verreist – vielleicht hat er ja Flugangst oder ist ein Sonnenliegenbesetzer.“

Ich lachte. „Ich bezweifle, dass Ben um vier Uhr früh aufstehen würde, um sein Handtuch auf der besten Liege auszubreiten.“

„Klar, aber du weißt es nicht …“

Shelley erzählte uns von einer Freundin, deren Urlaub mit ihrem Freund in einer Trennung geendet hatte, weil er ständig anderen Frauen nachgeschaut und sich mehr um die Reiseleiterin gekümmert hatte als um seine Freundin. Sie hatte die beiden am dritten Tag zusammen im Bett überrascht und den Rest der Woche am Tisch eines freundlichen schwedischen Paars mittleren Alters gegessen, das sich ihrer angenommen hatte.

„Das kann echt ein Minenfeld sein. Die Leute glauben immer, der gemeinsame Urlaub würde eine traumgleiche, romantische Reise werden, bei der alle Probleme, die man zu Hause hatte, verschwinden. In Wahrheit nimmt man sie Tausende von Kilometer mit sich mit, und in der fremden und ungewöhnlichen Umgebung treten sie noch deutlicher zutage.“

„Aber wenn man nicht einmal an einem idyllischen Tropenstrand miteinander klarkommt, an dem man sich nur darum Sorgen zu machen braucht, ob man genug Sonnencreme drauf hat und welches Buch man als Nächstes liest, dann kommt man auch nirgendwo sonst klar. Das ist der ultimative Test.“

Ich schnaubte. „Ja, kann schon sein, aber Ben und ich arbeiten zusammen, leben zusammen, und wir sprechen täglich von früh bis spät über Reisen. Also ich denke ganz ehrlich nicht, dass wir irgendwelche Probleme im Urlaub haben würden.“

„Es könnte euch beiden ganz gut tun, wenn ihr mal raus kommt und ausführlich über die ganze Sache mit London reden würdet, die an dir nagt“, wand Marie ein.

Ich nickte. „Ja, ihr habt beide recht. Unser erster gemeinsamer Urlaub sollte ganz oben auf meiner To-do-Liste stehen. Oh, reich uns mal ein Stück, bitte.“

Ich machte eine Kopfbewegung zum Pizzakarton auf Shelleys Schoß. Marie, Shelley und ich hatten spontan beschlossen, uns bei Marie zu Hause auf einen Mädelsabend zu treffen, obwohl ich eigentlich gehofft hatte, etwas mit Ben zu unternehmen. Seit dem Esstischfiasko hatten wir uns so gut wie gar nicht außerhalb des Reisebüros gesehen. Was den Tisch betraf, hatten wir einen Waffenstillstand ausgerufen und waren beide Profis darin geworden, dem Thema sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinne aus dem Weg zu gehen.

„Und, was macht Loverboy heute Abend?“, fragte Shelley, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ihr Mund war noch halb voll mit Pizza, und das Fett vom gefüllten Pizzarand glänzte an ihrem Kinn.

„Unterwegs, keine Ahnung.“ Ich zuckte mit den Schultern und nahm ein Stück Olive von meinem Stück, das sich dorthin verirrt hatte.

„Mit ’nem Freund?“ Shelley hob eine Augenbraue. „Also Jimmy ist das jedenfalls nicht, er ist bei einem Body-Blitz-Kurs im Schwulenviertel, und ich weiß, dass Ben sich nicht die Bohne für so was interessiert.“

„Er hat mir nicht erzählt, wohin er geht, nur, dass er sich mit einer alten Freundin trifft, die eben nach Manchester gezogen ist.“

„Eine Freundin?“ Maries Augenbrauen waren nun ebenso hochgezogen wie Shelleys und drohten, mit ihrem Haaransatz zu verschmelzen. Ich nickte. „Dein Freund, oder besser gesagt, dein zukünftiger Verlobter, ist mit einer Frau, die du nicht kennst, an einem dir unbekannten Ort auf einem Date, und das ist okay für dich?“

Ich verdrehte die Augen wegen der beiden. „Ich vertraue ihm.“ Sogar nach allem, was mit Alex passiert war, vertraute ich Ben. Ich hatte eine ganze Weile gebraucht, um an diesen Punkt zu gelangen, doch wir teilten uns die wichtigste Sache in meinem Leben – unser Unternehmen – und darüber hinaus auch unser Schlafzimmer, und ohne Vertrauen wären wir nie so weit gekommen. „Und das ist kein Date. Gott, ihr beiden seid manchmal echt melodramatisch!“

„Kann schon sein, dass du ihm vertraust, aber bist du nicht ein kleines bisschen neugierig, wer sie ist?“ Shelley hatte ihr Stück Pizza aufgegessen und schnappte sich zielstrebig mein Handy. „Okay, wie heißt sie?“

Ich lachte, weil das so absurd war. „Ich werde sie nicht Facebook-stalken. Ich hab euch doch gesagt, ich vertraue ihm.“

Du wirst sie nicht Facebook-stalken, aber wir“, erwiderte Marie. Ihr Gesicht leuchtete bei der Aussicht auf echten Klatsch und Tratsch, der nichts mit Babys zu tun hatte. „Okay, ihr Name?“

Sie waren nicht davon abzubringen und hatten sogar eine alte Folge von Sex and the City angehalten, die im Hintergrund gelaufen war, um sich voll und ganz auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren.

Autor

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

The Lonely Hearts Travel Club