Noch immer brennt die Leidenschaft

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Als Maddy nach Jahren ihre erste Liebe Evan wiedersieht, ist aus der jungen Kellnerin eine selbstbewusste Frau geworden, die vor dem Abschluss ihres Jurastudiums steht. Erneut beginnen sie eine Affäre, und erneut erwacht die Angst in Maddy, dass die Standesunterschiede zwischen ihnen zu groß sind!


  • Erscheinungstag 17.01.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755102
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Evan Blake hätte auch ohne Hilfe in seine neue Wohnung in Atlanta einziehen können. Trotzdem war er froh, dass es nicht nötig war. Beim Auspacken waren drei Paar Hände eindeutig besser als eines. Und wenn zwei dieser drei Paare guten Freunden gehörten, wurde die schwerste Arbeit zum Vergnügen.

Diese guten Freunde waren Chris und Lucy Banks. Evan kannte Chris schon seit dem Kindergarten. Sie waren in denselben gesellschaftlichen Kreisen von Chicago aufgewachsen. Während des Studiums in Harvard hatten sie sich eine Wohnung in Cambridge, Massachusetts geteilt. Hätte Evan sich einen Bruder aussuchen können, wäre seine Wahl eindeutig auf Chris gefallen.

Lucy, geborene Falco, hatte er kennen gelernt, als sie das erste Mal mit Chris verheiratet gewesen war. In dieser kurzen Zeit waren sie einander nicht sonderlich nahe gekommen, doch mit jedem Zusammentreffen hatte er sie mehr gemocht. Es hatte ihn überrascht und sehr getroffen, als sie und sein langjähriger Freund sich nicht einmal ein Jahr nach der Hochzeit trennten.

Umso mehr hatte er sich gefreut, als die beiden wieder zusammen fanden. Trotz der großen Gegensätze in Herkunft und Wesen hatte er stets eine besonders starke Bindung zwischen Christopher Banks und Lucy Falco gespürt. Darum fand er es richtig, dass sie nach einem Jahrzehnt der Trennung erneut einen gemeinsamen Weg beschritten.

Allerdings wunderte er sich schon über die reichlich seltsamen Umstände, die zur Versöhnung geführt hatten. Noch heute erinnerte er sich deutlich, wie Chris ihm die fast fünf Monate zurückliegenden Ereignisse zu Silvester geschildert hatte.

„Also schön“, hatte Evan gemeint, als sein Freund die geradezu grotesken Vorfälle beschrieben hatte. „Und jetzt erzähl mir, was wirklich passiert ist.“

Es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich überzeugen ließ, dass alles zwar weit hergeholt klang, Chris ihm aber tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte.

Folgendes war passiert: Chris war am letzten Tag des Jahres in Atlanta gestrandet, hatte erfahren, dass seine frühere Frau in der Stadt lebte, und beschloss, sie zu besuchen. Das tat er auch, und an ihrem zehnten Hochzeitstag waren Chris und Lucy von einem äußerst unfähigen Räubertrio gefangen genommen worden.

Es hätte eine Katastrophe werden können. Nur der Drehbuchautor einer Fernsehkomödie hätte es köstlich gefunden, ein getrenntes Ehepaar während eines versuchten Verbrechens in einem Abstellraum aneinander zu fesseln. Chris und Lucy hatten die erzwungene Nähe allerdings dazu genutzt, über die schmerzhaften Missverständnisse zu sprechen, die zu ihrer Trennung geführt hatten.

Bei dieser Gelegenheit hatten sie einander neu entdeckt und dabei das Fundament ihrer zerbrochenen Liebe repariert. Sie hatten die ersten Schritte zum Aufbau einer Beziehung unternommen, die viel stärker war als die erste Ehe.

Es berührte Evan seltsam, den beiden zuzusehen, wie sie beim Auspacken miteinander umgingen. Chris zeigte seine Gefühle nicht so deutlich wie Lucy und suchte auch nicht so oft wie sie körperlichen Kontakt. Trotzdem merkte Evan, wie verrückt er nach seiner Frau war.

Das erzeugte bei ihm einen für ihn völlig untypischen Neid, vor allem wenn er daran dachte, wie er seine eigenen Beziehungen zu Frauen verpatzt hatte. Einem anderen Mann war es im Gegensatz zu ihm gelungen …

„Ich bin euch beiden wirklich dankbar“, sagte er hastig, weil er nicht länger über die eigenen Fehlschläge nachdenken wollte.

Er hatte ein neues Zuhause in einer neuen Stadt und sollte bald eine neue Stelle antreten, die wesentlich befriedigender zu werden versprach als die eines Spitzenmanagers in einer Börsenmaklerfirma. Mit fünfunddreißig konnte er sicher nicht mehr ganz von vorne anfangen, doch er begann einen neuen Lebensabschnitt. Und den wollte er nicht durch Erinnerungen an die Vergangenheit belasten.

„Wir helfen doch gern, Evan“, erwiderte Chris lässig. „Dafür sind Freunde schließlich da.“

„Außerdem war das für mich die perfekte Gelegenheit“, sagte Lucy humorvoll, „deine gesamte Habe zu durchstöbern, ohne neugierig zu wirken.“ Sie ließ den Blick über die Kartons in Evans Hochhauswohnung wandern. „Und du hast eine ganze Menge. Chris wirft mir ja manchmal vor, ich hätte einen Sammlertick, aber im Vergleich zu dir bin ich harmlos.“

„Aber nur im Vergleich zu ihm“, warf ihr Mann ein und erhielt dafür einen vorwurfsvollen Blick.

„Nach der Scheidung habe ich so ziemlich alles Überflüssige abgestoßen“, meinte Evan. Seine Exfrau Barbara war sehr zum Ärger seines Anwalts als reiche Frau aus der Ehe ausgestiegen. Allerdings wäre er bereit gewesen, noch viel mehr zu zahlen, um endlich frei zu sein. „Dann verkaufte meine Mutter letzten Monat das Haus in Chicago. Sie rief mich an, weil sie einige wenige Erinnerungsstücke besaß, die ich ihrer Meinung nach gern haben würde. Dabei erwähnte sie allerdings nicht, dass diese ‚wenigen Erinnerungsstücke‘ ungefähr zwei Dutzend Kartons füllten.“

Es war ein Schock gewesen, als ihn seine elegante Mutter auf den Dachboden führte und ihm die Unmengen zeigte, die sie für ihn aufbewahrt hatte. Er war sprachlos gewesen. Nie hätte er geahnt, dass sie so viel aus seiner Kindheit und Jugend gesammelt hatte. Zwar hatte seine Mutter ihn nie schlecht behandelt, war jedoch immer zurückhaltend gewesen. Und sie war noch mehr auf Distanz gegangen, als sein Vater plötzlich im Sommer vor seinem letzten Jahr an der High School starb.

„Ich stand unter Zeitdruck“, fügte Evan hinzu. „Darum beschloss ich, die Kartons ungeöffnet herzubringen und sie erst nach meinem Einzug durchzusehen.“

„Warum hast du das ganze Zeug nicht einfach weggeworfen?“, fragte Chris und band einen vollen Müllsack zu.

Evan hielt das für eine sehr vernünftige Frage, die er sich selbst schon gestellt hatte. Leider hatte er darauf keine gleichermaßen vernünftige Antwort gefunden. „Naja …“

„Chris!“, rief Lucy vorwurfsvoll und strich sich eine Strähne des dunkelbraunen Haars aus dem Gesicht. „Wie kannst du so etwas auch nur fragen? Dieses Zeug, wie du es nennst, stellt Evans Vergangenheit dar. Das wirft er doch nicht unbesehen weg. Er muss es durchforsten, um die Erinnerungen zu genießen.“

„Das ist fast alles nur wertloses Zeug, Lucy“, versicherte Evan. Sicher, es freute ihn, dass seine Mutter seinen ersten Baseball-Handschuh aufgehoben hatte. Und er fand es toll, für Sammler wertvolle Spiderman-Comic-Hefte zu besitzen. Aber neunundneunzig Prozent der Sachen waren wirklich reif für den Müll.

Er betrachtete die in der Mitte des Wohnzimmers aufgehäuften Abfallsäcke. Es war Zeit, sie zu den Mülltonnen zu schaffen.

„Wertloses Zeug kann großen sentimentalen Wert besitzen“, erwiderte Lucy und lächelte ihrem Mann zu. „Ganz zu schweigen von der großartigen Möglichkeit, einiges davon für Erpressungen einzusetzen. Nimm nur als Beispiel dieses Foto, das ich vorhin entdeckt habe. Du weißt schon, das Foto von einem angeblich respektablen Mann, der …“

„Ich frage dich noch einmal, Evan“, sagte Chris und wurde tatsächlich leicht rot. Chris neigte dazu, alles zu ernst zu nehmen, und kam daher nie gegen die kleinen Sticheleien seiner Frau an. „Warum wirfst du das Zeug nicht einfach weg?“

„Evan ist zwar kein Anwalt“, antwortete seine Frau prompt, „aber sogar er weiß, dass man nie die Spuren eines Verbrechens zerstören darf.“

„Eines Verbrechens?“ Chris verzog das Gesicht. „Ich bitte dich, Lucy, das war höchstens ein Vergehen. Und das ist schon längst verjährt. Außerdem war ich erst in der sechsten Klasse!“

„Umso schockierender“, behauptete seine Frau mit einem reizenden Lächeln und ging zu einem Stapel ungeöffneter Kartons. „Ich wüsste zu gern, was Tom, Butch und Dick dazu sagen würden, falls sie herausfinden, dass unser großer Anwalt ein ehemaliger Jugendstraftäter ist. Es würde ihren Glauben an unser Rechtssystem in den Grundfesten erschüttern.“

Evan unterdrückte ein Lachen. Lucy sprach von den drei Männern, die sie und Chris zu Silvester gefangen gehalten hatten. Tom und Butch waren für mehrere Jahre hinter Gittern gelandet. Dick, der zum ersten Mal straffällig geworden war, hatte man auf Bewährung entlassen. Er jobbte jetzt in dem Reisebüro, in dem auch Lucy arbeitete. Evan hatte ihn zwar noch nicht kennen gelernt, aber schon so viel über ihn gehört, dass er ihn bei einer Gegenüberstellung bestimmt erkannt hätte.

Es war allerdings nicht wahrscheinlich, dass es jemals zu einer solchen Situation kommen könnte. Dick war einer Bewährungshelferin zugeteilt worden, einer gewissen Maddy, die offenbar absolut fähig war, ihn auf dem Pfad der Tugend zu halten.

„Du erzählst es doch nicht weiter!“, rief Chris.

„Vielleicht nicht, vielleicht doch.“ Lucy lächelte ihm zu, griff nach einem Karton und genoss sichtlich die Betroffenheit ihres Mannes. „Maddy werde ich allerdings über deine lasterhafte Vergangenheit informieren. Dick verstößt nämlich unter Umständen gegen seine Bewährungsauflagen, wenn er sich mit zwielichtigen Gestalten einlässt – selbst wenn sie Anwalt geworden sind. Und da wir uns solche Mühe gegeben haben, ihn aus dem Gefängnis …“

„Lucy!“, unterbrach Evan sie, als sich die Unterseite des Kartons, den sie hochgehoben hatte, drohend wölbte. „Pass auf …“

Es war zu spät. Der Boden des Kartons gab nach, und Papiere und alle möglichen Gegenstände landeten auf dem Fußboden.

„Verdammt!“ Lucy stellte den kaputten Karton weg und kniete sich hin. „Ach, Evan, das tut mir leid. Wie dumm von mir!“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, versicherte er, bückte sich und hob einen zierlichen Gegenstand auf, der über den Parkettfußboden vor seine Füße gerutscht war.

Er hielt den Atem an, als er erkannte, was es war, richtete sich auf und bekam Herzklopfen. Das konnte doch nicht wahr sein!

Sunnys Armband, dachte er und strich behutsam über das einzige Geschenk für das erste und einzige Mädchen, das er je geliebt hatte. Das Gold des filigran gearbeiteten Armbands erwärmte sich in seiner Hand, als würde es zu Leben erwachen.

Evan wehrte sich gegen die unvermittelt hochsteigenden Erinnerungen. Plötzlich fand er sich in der Vergangenheit wieder, in einer schwülen Sommernacht. Aus der Ferne hörte man das Krachen des Feuerwerks, doch sein Herz schlug noch viel lauter. Der Duft der Blumen und des Mädchens, der Geschmack von …

„Hey, Evan, wer ist das?“

Evan zuckte zusammen. Chris kauerte neben Lucy und half ihr, die verstreut herumliegenden Sachen einzusammeln.

„Wie … was?“, fragte Evan verwirrt.

„Das Mädchen auf dem Foto.“ Chris hielt ein Bild hoch. „Ich habe gefragt, wer das ist … oder war.“

Mit dem Armband in der Hand trat Evan langsam zu Chris und Lucy. Dabei bewegte er sich so vorsichtig, als ginge er am Rand eines Abgrunds entlang. Eine falsche Bewegung, und er würde in die Tiefe stürzen.

Seine Kehle war wie zugeschnürt, und er bekam feuchte Hände.

Er brauchte das Foto nicht anzusehen, wollte es auch gar nicht.

Trotzdem konnte er nicht anders.

Das Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar war weder schön im klassischen Sinn, noch wirkte es puppenhaft hübsch. Das fein geschnittene, sonnengebräunte Gesicht ließ sich in kein Schema einordnen. Die haselnussbraunen, weit auseinander stehenden Augen waren durchdringend auf die Kamera gerichtet, und ihr Blick verriet den intelligenten Verstand einer Erwachsenen. Das Lächeln, das um die vollen Lippen spielte, war jedoch unschuldig wie das eines Kindes – voll von sanften Erwartungen und wilden Hoffnungen.

Beim ersten Zusammentreffen war sie Evan eher schlicht erschienen – schlicht, aber nicht durchschnittlich. Etwas an ihr hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Als er dann dieses Foto machte, war sie für ihn bereits die schönste …

„Sie kommt mir bekannt vor“, bemerkte Lucy nachdenklich.

„Du kennst sie nicht.“

Lucy sah ihn verblüfft an, weil er einen so schroffen und abweisenden Ton anschlug. „Vielleicht doch“, entgegnete sie ernst. „Bei meiner Arbeit treffe ich mit vielen Leuten zusammen. Wie heißt sie?“

Evan zwang sich zur Ruhe. Es hatte keinen Sinn, wenn er sich wegen nichts aufregte.

Nein, von „nichts“ konnte keine Rede sein. So schlecht es auch ausgegangen war, hatte es zwischen ihm und Sunny doch viel mehr als „nichts“ gegeben. Es war eines der wichtigsten Erlebnisse für ihn gewesen.

„Kincaid“, erwiderte er ruhig. „Sie heißt Sunny Kincaid.“

„Sunny Kincaid“, wiederholte Lucy. „Kincaid. Kincaid. Hmm … Nein, damit kann ich nichts anfangen. Trotzdem habe ich sie bestimmt schon einmal gesehen.“

„Das ist ein altes Foto.“ Eigentlich wollte Evan gar nicht weiter darüber sprechen, tat es dann aber doch. „Sunny und ich haben einen Sommer auf St. Simons verbracht.“

„Das ist doch die Insel, auf der deine Familie ein Landhaus besitzt?“

Evan nickte. In der nächsten Zeit musste er unter anderem entscheiden, ob er dieses Landhaus verkaufen sollte.

„Ja“, bestätigte er. „Eigentlich war es nicht einmal ein ganzer Sommer. Ich meine die Zeit, die Sunny und ich zusammen verbrachten. Es waren fünf oder sechs Wochen. Wir waren noch Jugendliche und gingen zur High School. Ich … ich habe schon lange nicht mehr an sie gedacht.“

Er wollte seine Freunde nicht belügen und merkte überhaupt erst, dass er log, als er es aussprach. In diesem Moment traf ihn die Wahrheit, der er fast die ganze Zeit ausgewichen war.

Seit achtzehn Jahren dachte er mehr oder weniger ständig an Sunny Kincaid!

Wo war sie? Er hielt das zierliche goldene Kettchen, das er in naiv seliger Stimmung gekauft hatte, fester. Was machte sie?

Mit wem war sie zusammen?

Und dachte sie jemals an ihn?

2. KAPITEL

Madison „Maddy“ Malone war tief in Gedanken versunken, als sie sich zwei Tage später Gulliver’s Travels näherte. Trotzdem stand sie nicht so unter Stress wie sonst zu Beginn einer Arbeitswoche.

Sie hatte Urlaub. Die nächsten zwei Wochen hatte sie frei, konnte über ihre Zeit verfügen, wie sie wollte, und alles unternehmen, was sie wollte.

Nein, nicht alles, dachte Maddy, die nie den Sinn für die Realität verlor. Zum Beispiel konnte sie nicht spontan auf eine exklusive griechische Insel fliegen und in einem Fünf-Sterne-Hotel absteigen. Dazu fehlten ihr die Mittel. Das Geld war so knapp, dass sie sich wahrscheinlich nicht einmal den Eintritt in einen Vergnügungspark leisten konnte.

Natürlich hätte sie den Urlaub über Kreditkarte finanzieren können. Die Leute bei Gulliver’s Travels hatten ihr sofort professionelle Beratung angeboten, als sie vor einiger Zeit den Urlaub erwähnte. Sie hatten ihr sogar einige hübsche Angebote unterbreitet, die sie gleich nutzen könnte und erst später bezahlen müsste.

Da war zum Beispiel dieses Schnäppchen in der Karibik, das Tiffany Tarrington, die Leiterin des Reisebüros, aufgetrieben hatte. Lieber Himmel, war das für Maddy eine Versuchung gewesen! Leider hatte sie sich in den letzten drei Jahren erst von ihren Schulden befreit. Jetzt konnte sie nicht wieder in die roten Zahlen geraten, nur um sich eine Woche lang zu verwöhnen, an weißen Sandstränden zu liegen und sich an üppigen Buffets voll zu stopfen.

Träumen durfte sie davon, aber rechtfertigen ließ es sich nicht.

Maddy Malone glaubte fest daran, dass man sein Handeln stets rechtfertigen und persönliche Verantwortung um jeden Preis übernehmen musste.

Also mache ich nächstes Jahr Urlaub, entschied sie energisch.

Leider wollte sie ausgerechnet nächstes Jahr die ganze freie Zeit für das Jurastudium einsetzen.

Na schön, dann eben Urlaub im übernächsten Jahr. Sobald sie die Abschlussprüfung bestanden hatte und mit allem fertig war, konnte sie sich sagenhaft verwöhnen. Und wenn sie von jetzt an sparte, hatte sie bis dahin genug auf die Seite gelegt und brauchte keine horrenden Zinsen für geborgtes Geld zu bezahlen.

Ein guter Plan, dachte Maddy, als sie in die Peachtree Street einbog. Warme Frühlingsluft spielte mit dem dichten rötlichbraunen Haar. Achtlos strich sie es sich von der Wange. Eigentlich musste sie zum Friseur. Im letzten Monat hatte sie das Haar mit der Nagelschere so weit im Zaum gehalten, dass sie sich auf die Straße wagen konnte. Der Anblick im Badezimmerspiegel hatte ihr heute Morgen jedoch einen Schock versetzt. Trotz aller Bemühungen sah sie unmöglich aus und brauchte endlich einen Friseur.

Vor fast fünf Jahren hatte sie sich in der Trauerzeit das Haar fast vollständig abgeschnitten. Allerdings hatte sie nicht an alte Traditionen gedacht, als sie nach der Schere griff. Sie hatte überhaupt nicht gedacht, sondern war vor Kummer und Zorn außer sich gewesen, weil ihr Mann im Polizeidienst umgekommen war.

Detective Keith Malone war einer der besten Menschen gewesen, die sie jemals kennen gelernt hatte. Oft hatte sie unter Tränen gedacht, dass sie einen so guten Mann gar nicht verdient hatte. Er war ihr so plötzlich entrissen worden …

Maddy schüttelte entschieden den Kopf und wehrte sich gegen den Schmerz. Es brachte nichts, alte Wunden aufzureißen. Keith wäre der Erste gewesen, der ihr riet, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Es ging nicht darum, ihn zu vergessen! Das auf keinen Fall! Auch er hätte gewollt, dass sie sich an die herrliche gemeinsame Zeit und an ihre Liebe erinnerte. Doch er hätte sich gewünscht, dass sie mit ihrem Leben weitermachte, auch wenn er nicht mehr da war.

Das tat sie auch, so gut sie es vermochte. Als Witwe hatte sie lernen müssen, mit Unmengen von Problemen fertig zu werden. Schließlich war sie alles andere als perfekt, doch sie verbesserte sich laufend.

Dabei half ihr die völlig überraschend entstandene Freundschaft mit Lucy Banks, geborene Falco.

Maddy hatte sich früher nie um Freunde bemüht, schon gar nicht um Freundinnen. Dieses ganze Gekicher und dieses „wir Mädchen unter uns“ war ihr stets reichlich auf die Nerven gegangen. Doch bei Lucy …

Es war schwer zu erklären, wieso sie ausgerechnet diese Frau mochte. Anfangs hatte sie es auch nicht erwartet und Lucy sogar vor dem ersten Zusammentreffen als verrückt und übertrieben gefühlsduselig eingeschätzt.

Wie ungerecht! Doch was hätte sie nach Durchsicht der Akte denken sollen? Lucy hatte ihren Mann, einen Spitzen-Anwalt, überredet, die drei Ganoven zu verteidigen, die sie beide zu Silvester während eines versuchten Raubes gefangen gehalten hatten. Und dann war sie auch noch freiwillig als Leumundszeugin für diese drei Typen aufgetreten!

Der Ankläger zeigte so gewaltigen Respekt vor Mrs. Banks’ Überzeugungskraft, dass er einen Handel wegen des Strafmaßes vorschlug. Und prompt setzte sie durch, dass einer der drei Täter aus der Haft entlassen wurde. Es drehte sich bei ihm um einen nicht allzu schlauen Kerl, der das erste Mal straffällig geworden war.

Maddy hatte sich auf das Zusammentreffen mit Lucy ungefähr so gefreut wie über ein Stinktier bei einer Gartenparty. Sehr schnell hatte sie jedoch erkannt, dass sie Lucy völlig falsch eingeschätzt hatte. Sie war alles andere als naiv und realitätsfern.

Lucy Banks war sehr klug und besaß einen gesunden Menschenverstand. Trotz aller Sympathie für den kleinen Ganoven Dick Spivey war ihr klar, dass er ab und zu einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten brauchte. Und sie war sogar bereit, ihm diese Tritte höchstpersönlich zu verabreichen, falls es nötig war.

Mit einem Wort, Lucy redete nicht nur, wenn es um Resozialisierung ging, sondern unternahm auch etwas. Das trug ihr bei Maddy große Sympathien ein.

Erst einmal besorgte sie Dick einen Job in dem Reisebüro, in dem sie arbeitete. Und dabei handelte es sich nicht um irgendeine unwichtige Beschäftigung. Er bekam einen ganz normalen Posten mit angemessener Bezahlung. Außerdem half sie ihm, eine anständige Wohnung zu finden. Und sie brachte ihn dazu, sich für Abendkurse anzumelden.

„Abgesehen von meinem Schätzchen Dora-Jean war keine Frau so gut zu mir wie Lucy“, hatte Dick ernsthaft bei einer der üblichen Überprüfungen seines Verhaltens in der Bewährungszeit versichert.

„Hmm“, hatte Maddys einziger Kommentar gelautet.

Mit gutem Grund hatte sie sich bei der Antwort nicht festgelegt. Sie konnte die hohe Meinung ihres Schützlings über das „Schätzchen“ nicht teilen. Dora-Jean hatte Dick zweimal geheiratet und sich auch zweimal scheiden lassen, und zwischen diesen beiden Ehen war sie außerdem mit seinem Bruder Tom verheiratet gewesen. Maddy zweifelte daher stark an ihrem guten Einfluss.

Dora-Jean war nicht bewusst gemein oder von Natur aus böse. Sie hatte sogar eine ganz reizende Art, mit Menschen umzugehen. Allerdings war sie ein merkwürdiger Vogel. Dora-Jean besaß die Ausdauer einer Eintagsfliege und war äußerst impulsiv. Es entsprach ihrem Wesen, sofort zu springen und nicht zu überprüfen, ob der Fallschirm auch richtig gepackt war oder sie wenigstens auf weichem Boden landete. Zu ihrer Unbeständigkeit kam noch Dicks leichter … Mangel an intellektuellen Fähigkeiten.

Maddy seufzte.

Allerdings musste sie einräumen, dass Dora-Jean in letzter Zeit bemerkenswert viel Loyalität gezeigt hatte. Die vollbusige Blondine, die sich stets selbst das Haar färbte, war kurz nach Dicks Verhaftung aufgetaucht, hing seither wie eine Klette an ihm und hatte ihn keinen Moment im Stich gelassen.

Naja, vielleicht ging es beim dritten Mal gut.

Wenn nicht, gab es eben eine dritte Runde und erneut einen K.O.-Schlag für Dick Spiveys zweimalige Exfrau.

Maddy erreichte das beeindruckende Gebäude, in dem Gulliver’s Travels untergebracht war, warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sie eine Viertelstunde zu früh zum Mittagessen mit Lucy kam. Machte nichts! Falls ihre Freundin sich nicht vorzeitig von der Arbeit freimachen konnte, wollte Maddy solange mit Dick plaudern. Und wenn ihr Schützling ebenfalls beschäftigt war, konnte sie einige Reiseprospekte durchblättern und in der Phantasie Reisen an exotische Orte unternehmen.

Sie öffnete eine der schweren Glastüren und fröstelte leicht, als sie nach dem warmen Sonnenschein von der kühlen, voll klimatisierten Luft getroffen wurde. Die Schuhsohlen quietschten leise auf dem Marmorboden in der Eingangshalle.

„Hallo, Maddy.“ Der Wachmann in der beigen Uniform winkte ihr vom Pult aus zu.

„Hey, George“, erwiderte sie. George war Polizist im Ruhestand und hatte mit ihrem verstorbenen Mann zusammen gearbeitet.

„Was führt dich denn hierher? Sag bloß, dass du Dick Spivey wegen Verletzung der Bewährungsauflagen abholst.“

„Heute nicht.“ Überhaupt nie, sofern es nach ihr ging. Es machte ihr nichts aus, entlassene Sträflinge bei gegebenem Anlass wieder hinter Gitter zu bringen. Sie fand sogar, dass viele ihrer „Klienten“ in den Knast gehörten, anstatt frei herumzulaufen. Doch in Dicks Fall …

Man konnte es so ausdrücken: Dick Spivey verstand es, Maddys schwindenden Glauben an den Sinn von Resozialisierung neu zu beleben. Sie wäre höchst sauer gewesen, hätte er Mist gebaut.

„Freut mich, dass mit Dick alles in Ordnung ist“, meinte George. „Er ist zwar dümmer, als die Polizei erlaubt, und er hat etwas ausgefressen, aber er ist harmlos. Dick ist ein netter Kerl.“

„Kann ich nur unterschreiben“, versicherte Maddy und ging weiter zu den Aufzügen am hinteren Ende der Eingangshalle. Dort bog sie nach rechts. Gulliver’s Travels befand sich am Ende des Korridors. Ein ungefähr vierzigjähriger Mann stand sofort hinter seinem unordentlichen Schreibtisch auf, als sie das Reisebüro betrat. Er hieß Jimmy Burns. Maddy hatte erfahren, dass er schon zahlreiche Jobs – darunter Koch und Verkäufer von Gebrauchtwagen – ausgefüllt hatte, bevor er zu einem der Spitzenangestellten von Gulliver’s Travels wurde.

„Maddy!“ Er lächelte sie strahlend an und schüttelte ihr herzlich die Hand. „Was führt Sie zu uns?“

Sie bemühte sich, nicht auf seine Kleidung zu starren. Die rosa und gelb gepunktete Krawatte allein war schon auffällig, aber dann auch noch das blau und orangefarben karierte Hemd …

„Also …“

Offenbar fiel Jimmy doch auf, wie sie ihn musterte. Sofort wurde das Lächeln von einer besorgten Miene ersetzt.

„Dick hat Sie angerufen, nicht wahr?“, fragte er leise. „Er hat es angekündigt. Ich meinte zwar, er sollte nicht … ich will sagen, ich finde auch schlimm, was er getan hat, aber es war nur ein kleiner Verstoß. Er fühlt sich deshalb schrecklich, Maddy. Dora-Jean hat es ihm auch tüchtig gegeben, als sie es herausfand. Und erst Lucy! Aber das macht er bestimmt nie wieder.“

„Was …“

Autor

Carole Buck
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