Nur diese Nacht ist nicht genug

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Als Tycoon Nikolai der bildschönen Balletttänzerin Rachel begegnet, gerät er sofort in ihren sinnlichen Bann. Eine Nacht ist nicht genug, um das Verlangen zu stillen, das sie in ihm weckt. Doch für mehr als eine kurze Affäre muss er erst die Schatten der Vergangenheit besiegen!


  • Erscheinungstag 15.08.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727222
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Nikolai Eristov hatte seine schwierige Vergangenheit überwunden.

Oder vielmehr war er bisher immer davon ausgegangen.

Doch als ihm heute Morgen sein Butler seinen geliebten schwarzen Tee einschenkte, griff Nikolai anders als sonst nicht sofort nach der Tasse. Er hatte nämlich Angst, dass ihm die Hände zittern würden, und er zeigte grundsätzlich keine Schwäche. Niemandem gegenüber.

Denn nur so hatte er überleben können.

Sein Butler wollte die luxuriöse Master Suite auf dem Oberdeck der Megajacht gerade verlassen, als Nikolai ihn zurückrief: „Sie müssen noch etwas für mich erledigen.“

„Gern.“

„Ich brauche einen neuen Anzug.“

„In der Savile Row und Jermyn Street sind …“

„Nein“, unterbrach Nikolai ihn. Sein Butler hatte ihn missverstanden. Nikolai wollte keinen der Londoner Nobelschneider auf seiner Jacht, und er wollte sie auch nicht aufsuchen. „Ich will, dass Sie mir einen in einem Kaufhaus besorgen. Sie kennen ja meine Maße.“

„Das schon, aber …“

Nikolai schüttelte ungeduldig den Kopf. Er hatte keine Lust, seine Zeit mit überflüssigen Erklärungen zu verschwenden. „Ich brauche einen dunkelgrauen Anzug, ein Hemd und eine Krawatte für eine kirchliche Hochzeit. Ach ja, und Schuhe.“

„Ich soll Ihnen etwas von der Stange kaufen?“, hakte sein Butler verblüfft nach.

Seine Frage war nicht ganz unberechtigt – der großgewachsene und breitschultrige Nikolai kleidete sich normalerweise exquisit. Seine Anzüge stammten allesamt von Nobeldesignern, die darauf hofften, dass Nikolai in ihren Entwürfen fotografiert werden würde. Es war daher nicht ganz nachwollziehbar, dass er seinen Butler in ein Kaufhaus schickte, um einen Anzug zu kaufen, obwohl haufenweise erstklassige Anzüge in seinem Schrank hingen.

„Ja, und zwar schnell. Die Hochzeit beginnt schon um zwei.“

Nikolai nannte seinem Butler die Preiskategorie für das Outfit und sah seinen sonst immer so beherrschten Angestellten überrascht blinzeln – der Champagner, dessen leere Flasche er heute Morgen entsorgt hatte, war etwa genauso teuer gewesen.

„Ich wusste gar nicht, dass es schon wieder so weit ist!“, versuchte der Butler zu witzeln.

Da es erst spätes Frühjahr war, gönnte Nikolai ihm ein schwaches Lächeln.

Jedes Jahr im Winter gab er nämlich für zwei Monate sein Luxusleben an Bord einer Megajacht auf und arbeitete auf riesigen Eisbrechern auf dem Atlantik. Er war gerade erst wieder zurückgekehrt. Dort trug er dicke Mäntel und eine Uschanka, während er den Rest des Jahres keinen Hehl aus seinem Reichtum machte. Er hatte jede Menge Geld, war in vielen Bereichen erfolgreich, und die Geister der Vergangenheit quälten ihn schon lange nicht mehr. Niemand sah ihm seine niedrige Herkunft oder die Angst und die Scham an, die ihn früher oft nachts aus dem Schlaf gerissen hatten.

„Soll ich auch ein Hochzeitsgeschenk besorgen?“, fragte der Butler.

„Nein.“

Erst als der immer noch etwas verwirrte Mann gegangen war, griff Nikolai nach seiner Tasse. Es war die richtige Entscheidung gewesen zu warten, denn seine Hand zitterte tatsächlich ein wenig.

Wie sollte er diesen Tag nur überstehen?

Er hatte inzwischen ein schönes Leben, auch wenn er hart dafür gearbeitet hatte. Er hatte sämtliche Widerstände überwunden und war nicht in die Falle getappt, die seine widrigen Lebensumstände ihm vorherbestimmt hatten. Anstatt sich von dem Mann brechen zu lassen, der ihn missbraucht hatte, hatte er den Missbrauch nicht nur überwunden, sondern etwas aus sich gemacht. Anstatt zu Alkohol oder Drogen zu greifen, um seinen Schmerz zu betäuben, hatte er sich ihm gestellt.

Und war damit fertig geworden.

Inzwischen gehörte ihm eine Flotte Megajachten, er war ein gefragter Gast bei der High Society, und die Partys auf seiner Privatjacht waren legendär.

Dank Yuri, seinem Mentor und Retter, fehlte es ihm an nichts.

Schade, dass Nikolai nicht mehr mit Yuri reden konnte. Er könnte heute nämlich seinen Rat gebrauchen.

Yuri war der Einzige gewesen, der je die Wahrheit über Nikolais Vergangenheit erfahren hatte.

„Beris’ druzhno, ne budet gruzno“, hatte er damals zu Nikolai gesagt. Es war ein altes russisches Sprichwort – geteiltes Leid ist halbes Leid.

Doch auch ihm hatte Nikolai nur die Wahrheit gesagt, damit Yuri nicht die Behörden einschaltete. Denn die hätten Nikolai nur zum Waisenhaus zurückgeschickt, aus dem er weggelaufen war.

Wie sich herausgestellt hatte, hatte Yuri rechtgehabt – es hatte gutgetan, die Last zu teilen. Doch Yuri war nicht mehr da, sodass Nikolai den heutigen Tag ohne Beistand überstehen musste.

Er hatte beschlossen, inkognito zur Trauung seines Freundes zu gehen. Wenn Sev ihn sah, würde er Nikolai nämlich zweifellos fragen, warum er damals ohne ein Wort davongelaufen war, und Nikolai wollte nicht über die Gründe reden. Also würde er unbemerkt in die Kirche schlüpfen und genauso wieder verschwinden. Es gab keinen Grund, sich zu zeigen.

Obwohl Yuri ihm vermutlich vorwerfen würde, es sich zu einfach zu machen …

Aufgewühlt stand Nikolai auf, durchquerte seine Suite und stellte sich ans Fenster.

Er hatte gestern am Canary Wharf angelegt. Dank der Spezialverglasung konnte ihn niemand sehen – eine notwendige Maßnahme, da die Presse nur zu gern Fotos von ihm und seinem ausschweifenden Leben auf der Jacht veröffentliche. Er beobachtete die Familien und Paare, die auf seine Jacht zeigten und Fotos knipsten.

Nikolai war an so etwas gewöhnt.

Seine Jacht hieß Svoboda – Freiheit – und erregte überall Aufsehen, wo er anlegte. In der Regel ging er allerdings in exklusiveren Gegenden vor Anker, am liebsten in Südfrankreich oder dem Persischen Golf.

Im Golf von Akaba hatte er zum ersten Mal von Sev und Naomi erfahren. Schlaflos im Bett liegend hatte er mit dem Gedanken gespielt, auf gewohnte Art die blonde Schönheit neben sich zu wecken, war dann jedoch aufgestanden und aufs Sonnendeck gegangen, um unter dem Sternenhimmel seinen Laptop aufzuklappen.

Wie so oft, wenn er nicht schlafen konnte, hatte er nach Neuigkeiten über seine Freunde aus dem Waisenhaus gesucht. Und war fündig geworden.

Der New Yorker Experte für Internetsicherheit Sevastyan Derzhavin wurde in London mit einem blauen Auge und einer Narbe gesichtet. In seiner Begleitung war seine Assistentin Naomi Johnson, die einen protzigen Verlobungsring mit einem schwarzen Diamanten trug.

Auf einem Foto darunter waren Sev und Naomi Hand in Hand eine Straße entlanggegangen. Trotz seines ramponierten Gesichts hatte Sev glücklich ausgesehen.

Er verdiente es, glücklich zu sein.

In Nikolais Kindheit war Sev sein bester Freund und quasi seine einzige Familie gewesen. Der Bruder, den er nie gehabt hatte.

Sie waren eine eingeschworene Vierergruppe gewesen – vier dunkelhaarige, braunäugige Jungen, die das Personal ganz schön in Atem gehalten hatten. Sie waren ohne Hoffnung geboren worden, hatten aber Träume gehabt.

Anfangs hatten sie alle geträumt, eines Tages adoptiert zu werden. Das war jedoch nie geschehen, weil sie sich mit ihren dunklen Haaren und Augen schlechter vermitteln ließen als blonde, blauäugige Kinder.

Also hatten sie andere Träume entwickelt.

Die Zwillinge Daniil und Roman hatten eine Karriere als Boxer angestrebt, Sev hatte das Beste aus seiner Intelligenz machen wollen, und Nikolai hatte sich nach dem Meer gesehnt. Er hatte keine Ahnung, wer seine Eltern waren, war aber fest davon überzeugt, dass sein Vater Seemann gewesen war. Denn Nikolai hatte das Meer schon geliebt, bevor er es überhaupt zu Gesicht bekommen hatte.

Im Waisenhaus waren ihre Träume schnell zerstört worden.

Mit zwölf war Daniil von einer englischen Familie adoptiert worden und weggegangen. Sein eineiiger Zwilling Roman war daraufhin völlig außer Kontrolle gewesen und in den Sicherheitsflügel verlegt worden.

Mit vierzehn war Sev dank seiner Leistungen in eine andere Klasse versetzt worden und hatte schließlich ein Stipendium bei einem Internat bekommen. Anfangs waren er und Nikolai immer noch im selben Schulbus zur Schule gefahren und hatten nachts im selben Schlafsaal geschlafen, doch ohne seinen Freund neben sich war Nikolai in der Schule rapide schlechter geworden und von einem Lehrer aufs Korn genommen worden, den er verabscheut hatte.

„Sag mal, Nikolai, warum sind deine Noten plötzlich so schlecht geworden?“

Nikolai hatte die Achseln gezuckt. Der Lehrer hatte es schon lange auf ihn abgesehen und brummte ihm ständig Nachsitzen auf, sodass Nikolai den Schulbus verpasste und zu Fuß zum Waisenhaus gehen musste.

„Hat Sevastyan dir früher geholfen?“

„Nein. Kann ich jetzt gehen? Ich verpasse sonst den Bus.“ Draußen schneite es, und seine Jacke war ziemlich dünn.

„Wir müssen das klären“, sagte der Lehrer. „Es wird sich im Antrag für ein Stipendium deines Freundes nicht gut machen, wenn ich reinschreiben muss, dass er dir beim Schummeln geholfen hat.“

„Hat er nicht!“

Der Lehrer legte ihm eine Mathematikarbeit vor, die Nikolai schon geschrieben hatte, und bat ihn, die Aufgaben noch mal zu lösen. „Du konntest die Aufgaben doch vor zwei Monaten, warum kannst du sie dann jetzt nicht?“, fragte er, als Nikolai nur hilflos auf das Blatt Papier starrte.

„Keine Ahnung.“

„Das könnte schlimme Folgen für deinen Freund haben!“

Nikolai zerbrach sich verzweifelt den Kopf, um auch allein auf die Lösungen zu kommen. Klar hatte Sev ihm geholfen. Es war ihnen nicht wie Schummeln vorgekommen, nur wie ein bloßer Freundschaftsdienst.

Aber jetzt konnte es deswegen Ärger geben.

„Hat Sevastyan dir nun geholfen oder nicht?“ Der Lehrer hob eine Hand. Nikolai dachte schon, er wolle ihn schlagen, doch stattdessen legte der Mann ihm die Hand auf eine Schulter.

„Nein.“ Nikolai versuchte vergeblich, die Hand abzuschütteln. Als er draußen die Hupe des Schulbusses hörte, wusste er, dass er mal wieder zu Fuß zum Waisenhaus würde laufen müssen.

„Ich fahre dich nach Hause“, bot der Lehrer ihm an, doch Nikolai wollte lieber allein durch den Schnee gehen. „Was Sevastyans Hilfe angeht …“

„Wir haben nicht geschummelt“, wiederholte Nikolai, um seinen Freund zu schützen. „Sev hat mir nur gezeigt, wie es geht.“

„Ist schon gut“, sagte der Lehrer sanft.

Nikolai wusste nicht, was er von dem plötzlich veränderten Tonfall des Lehrers halten sollte. Sein hämmerndes Herz verriet ihm, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte.

„Das kann unter uns bleiben. Niemand braucht deswegen Ärger zu kriegen.“

Nikolai, den Blick immer noch starr auf die Aufgaben gerichtet, spürte plötzlich eine Hand auf einem Oberschenkel.

„Nicht wahr?“, hakte der Lehrer nach.

Nikolai gab keine Antwort.

Sein Butler verzog bei seiner Rückkehr angesichts des umgestoßenen Tisches kaum eine Miene und legte stattdessen den im Kaufhaus besorgten Anzug bereit.

Nikolai ging unter die Dusche und entschied sich gegen eine Rasur, bevor er das gestärkte weiße Hemd und die graue Krawatte anlegte, die sein Butler für ihn ausgesucht hatte. Der dunkle Anzug saß besser als gedacht. Um nicht erkannt zu werden, setzte er eine Sonnenbrille auf. Er würde sie erst abnehmen, wenn er die Kirche betrat.

Außerdem verzichtete er auf seinen Chauffeur und fuhr stattdessen mit dem Taxi.

Der Fahrer plauderte über das ungewöhnlich warme Wetter für Mai, doch Nikolai gab nur einsilbige Antworten. Als sie vor der Kirche hielten und der Fahrer sich wegen seiner Bezahlung umdrehte, schüttelte Nikolai den Kopf. „Zwei Minuten noch“, sagte er mit seinem russischen Akzent.

Aus den zwei Minuten wurden zehn, doch dank der großzügigen Entlohnung protestierte der Fahrer nicht.

Nikolai beobachtete die Hochzeitsgäste, die die Stufen hochgingen, und stellte sich schon mal innerlich darauf ein, ihnen zu folgen. Die Presse war da, und die Polizei hielt Schaulustige in Schach.

Sev musste bereits in der Kirche sein, denn er war nirgendwo zu sehen. Dafür, dass er früher so introvertiert gewesen war – ein echter Bücherwurm und Computerfreak –, waren ganz schön viele Gäste da.

Er sah eine große, schlanke Frau mit langem, leuchtend rotem Haar aus einer Limousine steigen. Lachend und plaudernd half sie einer hochschwangeren Frau beim Aussteigen. Letztere musste Daniils Frau Libby sein. Nikolai hatte ihr Foto in einer Zeitung gesehen.

Dann war Daniil bestimmt auch hier.

Die beiden Frauen stiegen die Treppe hoch und verschwanden in der Kirche. Die Glocken begannen zu läuten.

„Noch zwei Minuten“, sagte er zum Fahrer.

Mit seiner Vergangenheit konfrontiert zu werden, fiel ihm verdammt schwer.

In der Nacht bevor er weggelaufen war, hatte Sev ihn nach dem Grund für seine Tränen gefragt. Nikolai hatte die Frage schon damals nicht beantworten wollen. Und jetzt war er genauso wenig bereit dazu.

Widerstrebend stieg er aus dem Taxi und ging die Stufen hoch. Als der Wagen der Braut vorfuhr, schlüpfte er möglichst unauffällig in die Kirche.

Wäre Yuri noch am Leben, würde er Nikolai bestimmt raten, sich der Situation zu stellen, doch Nikolai wollte keine klugen Ratschläge.

Es gab keinen Grund, über seine Vergangenheit zu reden.

Und die Scham wieder wachzurufen.

1. KAPITEL

„Ich verstehe dich nicht, Rachel!“

Libby war sichtlich schockiert über Rachels Neuigkeit, nach einer langen Tournee durch Australien und Asien das Ballettensemble zu verlassen.

Bis vor wenigen Monaten waren die beiden Frauen nicht nur Kolleginnen gewesen, sondern hatten auch eine Wohnung geteilt. Libby hatte schon letztes Jahr mit dem Tanzen aufgehört – kurz bevor sie ihren Ehemann kennengelernt hatte.

Oder vielmehr war sie zu dieser Entscheidung gezwungen worden. Rachel konnte sich noch gut daran erinnern, wie schwer es ihrer Freundin gefallen war, ihre Karriere zu beenden. Wochenlang hatten sie über nichts anderes geredet.

Rachel hingegen hatte ihre Entscheidung mit sich allein ausgemacht.

Sie und Libby waren sehr unterschiedlich. Libby trug ihr Herz auf der Zunge, während Rachel ihre Gefühle für sich behielt und niemanden an sich heranließ.

Niemals.

Natürlich war sie gesellig, aber wenn sie sich unterhielt, dann am liebsten über ihren jeweiligen Gesprächspartner. Sie flirtete auch gern und ging mit Männern aus, aber nur zu ihren eigenen Bedingungen.

Immer.

Rachel war dem glücklichen Brautpaar noch nie begegnet. Sie ging nur zur Hochzeit, um Libby zu begleiten, die in wenigen Tagen ihr erstes Kind erwartete und deren Mann Daniil Trauzeuge war und daher nicht die ganze Zeit an ihrer Seite sein konnte.

Da Daniil das Hotel gehörte, in dem die Hochzeitsfeier stattfand, hatte Rachel eine tolle Suite bekommen. Sie hatte sich lange in die Wanne gelegt, was jedoch nichts gegen ihre Nervosität ausgerichtet hatte.

Rachel war im Grunde immer nervös, auch wenn sie das normalerweise gut verbarg. Aber heute war sie besonders angespannt.

Vermutlich war das der Grund, warum sie Libby gegenüber hatte fallen lassen, dass sie nicht zum Ballettensemble zurückkehren würde, als Libby sie abholen wollte.

„Aber was willst du stattdessen tun?“, fragte Libby.

„Das weiß ich noch nicht“, gestand Rachel, während sie ihre Heizwickler aus ihrem langen roten Haar zog. „Das kann ich mir an meinen vielen freien Abenden und nach dem Ausschlafen überlegen.“

„Wie konntest du nur kündigen, ohne irgendwelche Pläne zu haben? Ich dachte, du bist glücklich …“

„Ich war glücklich und bin es immer noch.“ Rachel hoffte, das Thema zu wechseln, indem sie in ihre Reisetasche griff und ein orangefarbenes Samtkleid herauszog. „Was hältst du hiervon?“

„Das ist ganz schön …“ Libby verstummte abrupt, während Rachel sich in das hautenge Kleid quetschte. Sie verzog das Gesicht, als habe sie Schmerzen.

Rachel sah sie stirnrunzelnd an. „Du wirst doch wohl nicht ausgerechnet heute das Baby bekommen?“

„Hoffentlich nicht.“

„Meinst du, es ist so weit?“

„Kann schon sein.“

„Oje!“, sagte Rachel. „Wie aufregend.“

Libby seufzte. „Von wegen! Diese Hochzeit ist Daniil sehr wichtig. Sev ist für ihn wie ein Bruder.“

„Ach, mach dir keine Sorgen“, sagte Rachel mit der Autorität einer Frau, die jede Menge Krankenhausserien gesehen hatte. „Erste Babys brauchen immer eine Ewigkeit, und außerdem ist deine Fruchtblase noch nicht geplatzt. Hauptsache, das passiert nicht in der Kirche!“

„Du machst mir wirklich Mut, Rachel“, sagte Libby, musste jedoch lächeln. „Komm schon, schmink dich endlich. Wir müssen los.“

„Das erledige ich im Taxi …“, sagte Rachel, bevor ihr einfiel, dass Libby inzwischen stinkreich war und Daniils Chauffeur sie zur Kirche bringen würde. Sie schlüpfte in sehr hohe Pumps, bevor sie mit Libby die Suite verließ.

Kaum saßen sie in Daniils bequemem Wagen, öffnete sie ihre große Handtasche und begann, Make-up aufzutragen.

„Du siehst total blass aus“, sagte Libby. „Aber wir haben ja auch gar nicht Mittag gegessen!“

„Ich hatte auch nichts zum Frühstück.“ Rachel nahm einen Karamellbonbon aus ihrer Tasche und fuhr fort, sich zu schminken. Zuerst überschminkte sie ihre Sommersprossen und tuschte sich dann die rotblonden Wimpern schwarz, sodass ihre grünen Augen betont wurden. Anschließend fügte sie etwas Rouge und korallenroten Lippenstift hinzu und betrachtete im Handspiegel die Lücke zwischen ihren etwas hervorstehenden Vorderzähnen. „Ich spiele mit dem Gedanken, meine Zähne korrigieren zu lassen.“

„Wieso?“

„Ach, nur so. Na los, halt mich auf dem Laufenden. Ich habe den Überblick verloren, was diese ganzen Russen angeht“, sagte sie, während sie die Locken in ihrem Haar ordnete. „Der Bräutigam heißt doch Sev, oder? Daniils Freund aus dem Waisenhaus?“

„Ja. Obwohl es vielleicht klüger wäre, ihn nicht auf das Waisenhaus anzusprechen.“

„Ich kann durchaus taktvoll sein, wenn ich will.“

Libby lächelte. „Manchmal.“

„Erzähl mir etwas über die Braut.“

„Sie heißt Naomi und war in New York Sevs Assistentin, kommt aber eigentlich aus London.“

„Und? Wie ist sie so?“

„Ich bin ihr erst einmal begegnet, und da war sie noch seine Angestellte. Daniil und ich waren damals in den Flitterwochen. Ach ja, Anya kommt übrigens auch.“

„Anya?“

„Tatania“, fügte Libby den Künstlernamen der Tänzerin hinzu.

Anya war auch im Waisenhaus aufgewachsen, allerdings als Tochter der Köchin. Inzwischen war sie Primaballerina in einem russischen Ballettensemble und trat in London Strawinskys Feuervogel auf. Rachel hatte sie letzte Spielzeit gesehen und gehofft, noch mal Tickets zu bekommen, bevor die Inszenierung abgesetzt wurde, aber das war unmöglich gewesen.

„Glaubst du, sie kann mir ein Ticket besorgen?“, fragte sie aufgeregt. „Die Vorstellung ist komplett ausverkauft.“

„Vielleicht ja, aber ich bezweifle, dass sie das tun wird. Sie ist nicht gerade hilfsbereit.“

„Na ja, es ist zumindest einen Versuch wert. Was ist mit dem anderen?“ Rachel wusste von Libby, dass es vier Waisenjungen gegeben hatte, aber es fiel ihr schwer, sich an alle Namen zu erinnern. „Heißt er nicht Nikolai?“

„Nein, nein!“, protestierte Libby. „Nikolai ist derjenige, der tot ist. Er hat sich mit vierzehn das Leben genommen, weil er von seinem Lehrer missbraucht worden war.“

„Oh …“ Rachel blinzelte erschrocken, versuchte jedoch, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Es gab Themen, über die sie nicht gern redete, schon gar nicht an einem Hochzeitstag und in Gegenwart ihrer hochschwangeren Freundin.

Oder vielmehr nie.

„Du meinst Roman“, fuhr Libby fort, der nichts aufgefallen war. „Daniils Zwillingsbruder. Er ist …“ Wieder verstummte sie abrupt und verzog das Gesicht.

Rachel sah Libby eindringlich an. „Hast du etwa noch eine Wehe?“ Sie fuhren gerade vor der Kirche vor.

„Vielleicht“, räumte sie ein. „Aber mach jetzt bloß keinen Wirbel, Rachel! Ich will die Hochzeit nicht ruinieren.“

„Ach, das wirst du schon nicht. Wenn alle Stricke reißen, werde ich einfach einen Mantel über dich werfen oder so.“

Die Glocken läuteten, und die Presse knipste Fotos von den Gästen, die in die schöne, alte Kirche strömten. Im Innern war alles mit weißen Rosen geschmückt. Orgelklänge erfüllten den Raum. Als Rachel ihrer Freundin zu einer der vorderen Reihen folgte, hörte sie die Gäste aufgeregt tuscheln.

Sie liebte Hochzeiten, und diese hier würde besonders toll werden, davon war sie fest überzeugt. Daniil war genauso sexy wie der Bräutigam. Wenn auch nur die Hälfte der männlichen Gäste so aussah wie die beiden, würde sie einen sehr angenehmen Tag haben.

Sie drehte sich nach einer gertenschlanken, schönen Frau um, die in der Reihe hinter ihnen Platz nahm und Libby auf eine Schulter tippte.

„Hallo, Libby.“

„Hi, Anya. Schön, dich zu sehen“, sagte Libby lächelnd. „Das ist übrigens meine Freundin Rachel …“

„Anya!“, platzte Rachel heraus und errötete heftig. Sie war ein Riesenfan Tatanias und verfolgte deren Karriere schon seit Jahren. „Ich glaube, ich habe Sie mindestens zehn Mal auf der Bühne …“, Rachel rechnete nach, „… nein, zwölf Mal gesehen.“

„Rachel übertreibt nicht“, erklärte Libby. „Sie ist bei allen deiner Londoner Auftritte gewesen, wenn sie nicht selbst auftreten musste.“

„Eigentlich hatte ich gehofft, Sie noch mal in Feuervogel zu sehen.“

Anya schüttelte den Kopf. „Das Stück wird nächste Woche abgesetzt.“

„Ja, ich weiß. Deshalb habe ich leider kein Ticket mehr bekommen.“ Rachel seufzte melodramatisch – in der Hoffnung, dass Anya ein Herz für eine ehemalige Kollegin hatte.

Doch die sagte nur ungerührt: „Kein Wunder, die Vorstellung ist schon seit einer Ewigkeit ausverkauft.“

Rachel drehte sich enttäuscht um. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Libby ein Lachen unterdrückte.

„Habe ich’s nicht gesagt?“, flüsterte sie.

Rachel seufzte wieder. „Ja, das hast du.“

Während sie auf die Ankunft der Braut warteten, kam Libby auf Rachels berufliche Zukunft zurück. „Du weißt ja, dass ich im Studio gerade eine Vertretung für mich eingestellt habe, aber ich suche immer nach …“

„Libby“, fiel Rachel ihr ungeduldig ins Wort. „Ich will nicht unterrichten.“

„Was willst du dann tun?“

„Ich weiß es noch nicht.“

Ihre Mutter hatte ihr gestern Abend die gleiche Frage gestellt, jedoch mit dem Zusatz: „Ich habe dir doch geraten, dafür zu sorgen, dass du auf etwas zurückgreifen kannst.“

Autor

Carol Marinelli
<p>Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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