Nur eine Nacht mit Dr. Robinson?

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"Mein Leben ist gut so, wie es ist." Ben Robinson hat der Liebe abgeschworen. Daran ändert auch sein Urlaubsflirt mit der schönen Ärztin Shanna nichts! Bis sie ihn überraschend in seiner Klinik in Argentinien besucht und längst verloren geglaubte Gefühle in ihm weckt...


  • Erscheinungstag 29.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729608
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Ben Robinson öffnete die Fensterläden und ließ die kühle Morgenluft in den Raum. Eine Schicht Neuschnee lag über dem Tal. Das freute ihn, denn so konnte er seinen letzten Urlaubstag noch mit Skifahren verbringen. Perfekt. Absolut perfekt.

Tatsächlich war alles an diesem Urlaub perfekt. Das erste Mal in fünf Jahren, dass er Zeit für sich hatte. Die Toskana im Winter war immer sein Traum gewesen, von dem er nie gedacht hatte, dass er je Wirklichkeit werden würde. Morgens schlief er lang und gönnte sich abends all die italienischen Köstlichkeiten. Tagsüber erforschte er die märchenhaften Dörfer des Tals, die sich in den letzten zweihundert Jahren nicht verändert zu haben schienen, dazu uralte Kirchen, Schlösser und Burgen.

Außerdem hatte er Shanna getroffen. Sie mochte dieselben Dinge wie er: späte Abendessen, kleine Entdeckungen. Alles ganz leicht und einfach. Ben wusste nicht genau, was sich zwischen ihnen entwickelt hatte. Freundschaft? Eine kurze Bekanntschaft? Nun war es jedenfalls vorbei: Sie hatte Pläne für diesen Tag, er hatte seine eigenen, und morgen reiste er ab.

Es war kein klassisches Urlaubsabenteuer gewesen. Keine Küsse – nicht einmal ein Abschiedskuss. Keine gemeinsamen Morgenstunden im Bett, keine Intimitäten während des Dinners. Gestern hatten sie sich verabschiedet, ohne über seine Abreise zu sprechen. Aber genauso hatte er es gewollt: genug Abstand. Eine nette Begleitung, aber nicht mehr.

So war es sicher.

Er seufzte. Vielleicht würde Shanna heute noch einmal in das Café kommen, in dem sie sich während der letzten zwei Wochen morgens getroffen hatten. Aber er wollte sich nicht darauf verlassen. Das tat er nie.

„Ist hier noch frei?“, fragte eine bekannte Stimme.

„Vielleicht“, erwiderte er, ohne aufzublicken, damit sie nicht die Freude in seinen Augen sah. „Wenn die Richtige fragt.“

„Wer wäre denn die Richtige?“

„Eine, die ihre Pläne für den Tag ändert und mit mir zum Skifahren kommt.“ Das sagte er so neutral wie möglich, um nicht zu viel Hoffnung oder Angst zu verraten.

Shanna Brooks. Sie war bis zu den Augen in Schals vergraben, auf dem Kopf eine Mütze, unter der Strähnen ihres kupferfarbenen Haares hervorlugten. Wie immer nahm sie ihm den Atem. Als sie sich gegenüber von Ben niederließ, konnte er nicht anders, als die so lebendigen grünen Augen zu bemerken.

Sie schälte sich aus den vielen Lagen Kleidung, ein Ritual, bei dem er ihr freudig zusah. Er war schließlich nicht tot, nur allein. Freiwillig.

„Du könntest ja auch mit mir einkaufen gehen“, sagte sie und legte die Mütze auf das Fensterbrett.

„Das geht nicht“, sagte er. „Ich habe eine Mission. Zwölf Tage hintereinander ohne Verletzungen Ski fahren.“

„Was, wenn dich dein Glück verlässt und du dir gerade am letzten Tag das Schienbein brichst?“

„Dann musst du mich ins Krankenhaus fahren.“

Sie nickte. „Gut. Nach dem Shoppen, mit all meinen Tüten und Taschen.“

„Dir sind noch ein Paar Handschuhe also wichtiger als meine schweren Verletzungen?“ Er begab sich auf gefährliches Terrain, das wusste er, viel zu nah an einem Flirt.

„Ja, schließlich bin ich immer noch im Urlaub.“

Er setzte einen verzweifelten Gesichtsausdruck auf. „Aber du könntest wenigstens zusehen, wie sie den Gips anlegen.“

„Nicht mein Fachgebiet“, sagte sie.

„Was war dein Fachgebiet?“, fragte er. Sie hatte ihm überhaupt erst fünf oder sechs Tage, nachdem sie sich kennengelernt hatten, erzählt, dass sie Ärztin war – obwohl sie wusste, dass er ebenfalls als Arzt arbeitete.

„Keine Knochen.“ Sie blickte in die Ferne. Er sah, wie sie versuchte, Traurigkeit oder Missbilligung nicht an die Oberfläche kommen zu lassen.

„Ich konnte Knochen auch nie besonders gut leiden“, sagte er. Er winkte dem Kellner, der ihnen Kaffee an den Tisch brachte.

„Kann ich dich heute zu einem Sekt überreden?“, fragte sie.

„Kaffee ist besser.“

Sie hielt inne, und ein wissender Ausdruck stahl sich auf ihr Gesicht. „Du trinkst nie, oder?“

„Warum fragst du?“

„Beim Abendessen habe ich ein paar Mal Wein getrunken, aber du hast immer …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Du hast recht. Kaffee ist gut. Aber du hättest es mir erzählen sollen, Ben, dann hätte ich nicht …“

„Da gibt es nichts zu erzählen.“ Warum sollte er einen kleinen Flirt mit so etwas belasten? Es war so nett zwischen ihnen, gerade weil er den normalen Ben einmal vergessen hatte. Doch auch jetzt, wo es Zeit wurde, den richtigen Ben Robinson wieder hervorzuholen, sah er keine Notwendigkeit, etwas zu erklären.

„Außer von einem Alkoholproblem? In der Vergangenheit, nehme ich an? Es wäre einfach gut zu wissen gewesen, dann hätte ich keinen Wein getrunken.“

„Was du trinkst oder nicht trinkst, ist mir egal“, unterbrach er sie. „Davon lasse ich mich nicht beeinflussen.“

„Aber ich wäre gern rücksichtsvoller gewesen.“

Und nun begannen die Peinlichkeiten zwischen ihnen, obwohl der letzte Tag einfach nur nett hätte sein sollen. Genau deswegen vermied er Beziehungen. Ja, er hatte ein Alkoholproblem gehabt, aber das war lange her. Und ja, ab und zu war er immer noch in Versuchung, auch wenn er seit zehn Jahren keinen Drink mehr angerührt hatte.

Sie griff nach seiner Hand. „Glaub mir, Ben, ich verstehe, wie Schwächen die Oberhand gewinnen. Aber du hast recht, wir kennen uns nicht gut genug, um uns etwas beichten zu müssen. Es war schön, ein paar Stunden mit einem netten Mann zu verbringen.“

Dann kam das Frühstück, sie aßen und unterhielten sich über Unwichtiges. Es war vorbei. Sie verabschiedeten sich freundlich, und er ging Skifahren, sie shoppen. Danach verbrachte Ben Robinson, für immer allein, wie er es sich geschworen hatte zu bleiben, die sechsunddreißig Stunden im Flugzeug und beim Umsteigen damit, sich zu fragen, warum er nicht einfach einmal den Moment genossen hatte.

„Weil einen danach die Realität wieder einholt“, murmelte er und zog den Sitzgurt fest.

„Kaffee? Tee? Ein Erfrischungsgetränk?“, fragte die Flugbegleitung, während er versuchte, seine langen Beine auszustrecken. „Oder ein Cocktail, Sir?“

An Abenden wie diesen war er in Versuchung. Es war schwer, weiterzukämpfen, weil er nicht wusste, wogegen er stärker kämpfte: gegen den Drang, sich mit Alkohol zu betäuben, oder gegen sich selbst. Doch dann dachte er an Shannas grüne Augen, an ihre Lebendigkeit, einen Funken, der ihn seine Pläne für den Urlaub hatte ändern lassen. Doch nun war Shanna nur noch eine Erinnerung. Wie jedes Mal, wenn er versucht war, seinen Entschluss zu vergessen, atmete er tief ein und führte sich seine Verantwortlichkeiten vor Augen. „Nur Wasser bitte“, sagte er zur Flugbegleiterin.

„Okay, Ben Robinson, wer bist du wirklich?“ Vor zwei Tagen hatten sie sich zum letzten Mal gesehen. Sie fragte sich noch immer, warum er ihr nicht vertraut hatte. Es ging nicht nur um das Trinken. Sie hatten eine schöne Zeit miteinander gehabt, aber jede einzelne Minute hatte er ihr deutlich gezeigt, dass er ausreichend Abstand bevorzugte. Gemeinsam allein – so fühlte sie sich, wenn sie zusammen waren.

„Wer bist du?“, fragte sie den Computerbildschirm, als sie Bens Namen in die Suchmaschine eingab. „Und was machst du in Argentinien?“ Und wo genau in Argentinien bist du eigentlich? Erst als er weg war, wurde ihr klar, dass sie nicht einmal das wusste.

Und doch war eine merkwürdige Art Verbindung zwischen ihnen entstanden. Was an Ben Robinson zog sie so an?

Vielleicht war es ganz einfach: Er wirkte, als wisse er, was er wollte. Als hätte er sich selbst längst gefunden. Sie hingegen wusste gar nichts, fühlte sich verloren. Er war stabil, sicher. Ihre eigene Sicherheit hatte sich in Luft aufgelöst, war nichts gewesen als eine Illusion. So etwas würde Ben nicht passieren, er würde keine Illusionen an sich heranlassen. Natürlich war das Leben, das er sich ausgesucht hatte, kein einfaches, aber die Härte gab Sicherheit. Und die brauchte Shanna auch, denn sie war ins Straucheln geraten.

War Ben nicht auch gestrauchelt? Die Narben auf seinem Hals verrieten das. Und der Alkohol. Doch er hatte es geschafft, und das war bei ihr noch nicht der Fall. Deswegen gab sie jetzt seinen Namen ein und suchte nach medizinischen Einrichtungen und Publikationen, die ihn erwähnen konnten.

Sie hatte ihr Leben unterbrochen, um herauszufinden, wie sie jemand anders sein konnte. Wie sie einen neuen Anfang machen und zu mehr Sachlichkeit finden konnte. Gefühllosigkeit. So lebte Ben, so hatte er Erfolg. So musste auch sie leben, wenn sie weiter Ärztin sein wollte. Sie musste Abstand zwischen sich und ihre Leidenschaft – die Medizin – bringen oder aber diese Leidenschaft vollständig aufgeben.

Ben hatte sie fasziniert. Das war ihr am ersten Morgen klar geworden, als sie im Café aufeinandergetroffen waren, und später, als sie Schulter an Schulter im Skilift gesessen hatten, ohne viel zu reden. Er hatte Abstand, und doch war er Arzt, führte ein kleines Krankenhaus. Wie passte das zusammen?

„Wahrscheinlich bin ich verrückt, Ben“, sagte sie zum Bildschirm, als eine Liste mit Links angezeigt wurde, von denen ihr keiner weiterhalf. „Aber wir beide sind noch nicht fertig miteinander.“ Sie klickte sich weiter, bis der vierte Versuch zum Erfolg führte. „Bist du mein Ben Robinson?“, fragte sie den Mann, der auf dem Bildschirm auftauchte. Attraktiv, ein nicht besonders freundliches Lächeln. Dieselben Augen, aber hinter Brillengläsern. Kürzeres Haar, kein Dreitagebart.

„Dr. Benjamin Robinson, Eigentümer und Leiter von …“ Shanna seufzte erleichtert. Nein, sie war nicht verrückt. Und so buchte Dr. Shanna Brooks ein Flugticket, packte ihre Taschen und machte sich auf den Weg nach Argentinien.

„Hast du dich wieder eingelebt?“, fragte Dr. Amanda Kenner ihren Bruder. „Oder musst du dich von deinem Urlaub erholen?“

„Noch eine Woche oder zwei in der Toskana wären nett gewesen. Aber da das nicht geht, habe ich mich wieder eingelebt.“ Ben bat sie mit einer Geste, ihm durch das Krankenhaus zu folgen, das Caridad hieß und vierzig Patienten aufnehmen konnte. Es galt, Patienten zu untersuchen, und Ben war trotz der Schönheit der Toskana froh, zurück zu sein. Hier gehörte er hin.

Nur an Shanna dachte er voller Bedauern. Er war auch nur ein Mann mit Wünschen, Hoffnungen und Träumen. Vor allem war er jedoch Realist, und das würde sich niemals ändern.

„Du könntest doch gar nicht länger wegbleiben“, neckte Amanda ihn. „Ich wundere mich, dass du es überhaupt so lange ausgehalten hast.“

„Es war schön. Leckeres Essen, großartige Pisten, eine saubere Pension mit einer netten Eigentümerin, Signora Palmadessa. Aber es war Urlaub. Man kann ja nicht sein Leben lang Urlaub machen.“

Bevor sie die Station betraten, stellte Amanda sich ihrem Bruder in den Weg. „Du hast jemanden kennengelernt, oder?“

„Nicht, was du denkst.“

„Aber du hast dich in sie verliebt. Du hast dich in deinen Urlaubsflirt verliebt.“

„Kein Flirt, nicht verliebt. Es war nur schön, Zeit mit ihr zu verbringen. Nicht alleine essen zu müssen. Nichts weiter.“

„Warum dann dieses sehnsüchtige Seufzen?“

Er verdrehte die Augen. „Nicht sehnsüchtig. Genervt. Ich muss Patienten untersuchen, und du stehst im Weg.“

„Tut mir leid, Ben. Ich hatte wirklich gehofft, dass du eine hübsche Italienerin triffst, Liebe auf den ersten Blick, wildes Abenteuer. Du hättest sie heiraten sollen und mir schreiben, dass du für immer in der Toskana bleibst und viele kleine Babys kriegst.“ Ihre Augen glänzten voller Tränen. „Ich will nur, dass du glücklich bist. Das ist das Einzige, was ich mir immer für dich gewünscht habe.“

„Danke, Amanda, ich weiß es zu schätzen. Aber ich fühle mich gut so, wie es ist“, sagte er herzlich. „Es hat lange gedauert, aber es war die richtige Entscheidung. Jetzt musst nur du es noch akzeptieren.“ Schon mit fünfzehn hatte er gewusst, dass er gern allein war. Mit zweiundzwanzig bestätigte es ihm seine Verlobte, Nancy Collier, in dem Moment, als sie vor Schreck nach Luft schnappte, während sie zum ersten Mal miteinander schlafen wollten.

Leider hatte ihr Schreck nichts mit Ekstase zu tun. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, dann die Entschuldigungen und die Peinlichkeit … Das wollte kein Mann erleben. Und doch war Nancys Ekel vor den Narben auf seinem Körper längst nicht so schlimm gewesen wie die Tatsache, dass es immer so sein würde. Ein Blick auf das Monster, und die Leute liefen davon. Das hatte schließlich sein inneres Monster geweckt.

Es war einfacher, niemandem das Grauen zu zeigen.

„Du hast dich für die schwierigste Lösung entschieden, Ben. Du bist so allein und machst es dir so schwer. Ich wünsch’ mir so sehr, dass du eine wunderbare Frau triffst.“

So wie Shanna … „Mein Leben ist gut so, wie es ist. Ich bin nicht allein.“ Unbewusst fuhr er mit den Fingern über die Narben am Hals. „Und du bist schwanger. Die Hormone wühlen dich auf. Wie geht es meinem Neffen eigentlich?“, fragte er.

„Er tritt eifrig und mit großer Präzision. Vielleicht wird er auch einmal Arzt.“

Ben trat an Amanda vorbei und öffnete die Tür zur Station. Er freute sich auf Amandas Nachwuchs. Kinder waren großartig, mit all ihren großen Erwartungen und der Bereitschaft, das Leben aufzusaugen. So war auch er einmal gewesen.

Doch eines Tages war alles vorbei gewesen. Keine Erwartungen mehr, keine Hoffnungen und Träume. Die ließen sich dort, wo er das nächste Jahr verbrachte, nicht erfüllen – auf einer Krankenhausstation für Verbrennungsopfer, auf der er um sein Leben kämpfte, auf der ihm ein ums andere Mal Haut verpflanzt wurde, auf der er sich gegen zahllose Infektionen wehrte, die versuchten, sein geschwächtes Immunsystem auszunutzen.

Er hatte nur noch versucht, die nächsten Minuten, die nächste Stunde, den nächsten Tag zu erleben.

„Tut mir leid, dass es nichts geworden ist“, sagte Amanda erneut, als sie nebeneinander zu ihrer ersten Patientin gingen. „Deine Affäre in der Toskana.“

„Da war nichts, das etwas hätte werden können“, sagte er und wandte sich noch einmal an Amanda: „Weißt du, das war ja das Gute. Sie wollte nichts von mir. Sonst hätte ich auch meinen Urlaub nicht mit ihr verbracht.“ Er drückte ihren Arm. „Es ist lieb von dir, dass du dich sorgst, aber momentan musst du dich wirklich um Wichtigeres kümmern. Und ich muss diese Dame hier mit ihrer unkontrollierten Diabetes behandeln.“

Amanda gab sich für dieses Mal geschlagen und verließ den Raum. Ben zog einen Stuhl neben das Bett der Patientin. „Ich hatte nicht erwartet, Sie so schnell wiederzusehen“, sagte er. „Erst vor drei Wochen waren Sie zuletzt hier, Maria. Wir müssen noch einmal darüber sprechen, was geschehen kann, wenn Sie nicht auf sich achtgeben.“ Während er sprach, schielte sie schon wieder auf den Teller mit Gebäck, den ihr überfürsorglicher Ehemann dagelassen hatte.

Seufzend begann Ben seine Litanei, die die Frau schon zehn Mal gehört hatte. Es würde wieder nichts nutzen. Doch er verstand sie: Es war nie einfach, etwas aufzugeben, das man liebte oder nach dem es einen verlangte.

2. KAPITEL

„Da lang“, sagte der mürrische Taxifahrer. Zwischen seinen Lippen hing nur noch der Filter einer abgebrannten Zigarette. „Weiter fahr ich nicht.“

Shanna warf ihre übergroße Reisetasche aus dem Wagen. In Erwartung eines Trinkgelds schob der Mann seine fleischige Hand aus dem Fenster. Sie hätte ihm am liebsten geraten, mit dem Rauchen aufzuhören und seinen Kunden gegenüber freundlicher zu sein, aber es war einfacher, ihm ein paar Pesos in die Hand zu legen. Er grunzte und fuhr davon, vollkommen uninteressiert daran, wie sie das nächste Stück ihrer Reise hinter sich bringen würde.

Soweit sie wusste, war das Dorf noch weit entfernt. Es hieß Aldea de Cascada – das Dorf am Wasserfall –, wurde jedoch wegen Bens Krankenhauses oft einfach Aldea de Hospital genannt.

Mücken umschwirrten sie hier mitten im Nirgendwo. Noch nie hatte sie so geschwitzt. „Okay“, sagte sie und griff nach der Reisetasche. „Los jetzt. Wenn du dein Leben zurückwillst, ist das die einzige Möglichkeit.“

Sie hoffte, dass der mit Gras überwachsene Pfad sie zum Krankenhaus führte oder zumindest zu jemandem, der ihr sagen konnte, wie es weiterging. Alternativen gab es ohnehin nicht: In Kürze würde die Sonne untergehen.

Mit jedem Schritt überlegte sie, wie sie Ben erklären würde, was sie hier machte, ohne als komplette Irre dazustehen. Einige nette Tage in einem winzigen italienischen Dorf waren nicht genug, um ihm nach Argentinien zu folgen.

„Ayúdeme por favor. Mi madre fue mordida por una serpiente. Está muy enferma. No puede mover. Pienso que se morirá. Ayúdeme por favor!“

Ein Mädchen, nicht älter als zehn, erschien auf dem Weg und lief auf sie zu. Das Kind hatte Angst, weil – soweit Shanna sie verstand – ihre Mutter von einer Schlange gebissen worden war.

„Atmet sie?“, fragte Shanna instinktiv, bevor ihr klar wurde, dass das Kind bestimmt kein Englisch sprach. „Respirar. ¿Respira su madre?“, wiederholte sie und war froh, dass ihre Eltern sie zum Spanischlernen gezwungen hatten.

„Yo no sé. Está en el suelo, como si estuviera durmiendo. Pero yo no sé si puede respirar.“

Sie lag bewusstlos auf dem Boden und das Mädchen wusste nicht, ob sie noch atmete. Ob das Kind das Krankenhaus kannte?

„¿Sabe donde está el hospital?“

Das Mädchen nickte und zeigte den Pfad entlang.

„¿Está muy lejos?“ War es weit?

Das Mädchen schüttelte den Kopf. No.“

„Bueno. Por favor, corre al hospital, los dice lo que usted me dijo, y los dice que hay ya un médico con su madre, pero necesitan alguien que pueda ayudar a llevarla al hospital.“

Sie bat das Mädchen, zum Krankenhaus zu laufen und Hilfe zu holen, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie nicht verstand oder Angst hatte. Also eilten sie gemeinsam durch das Gras zu der Stelle, wo ihre Mutter lag. Shanna fragte das Mädchen nach seinem Namen.

„Valeria“, sagte sie.

„Eso es un hermoso nombre.“ Ein schöner Name.

„Agradecimiento.“

Valeria lächelte höflich, trotz ihrer Angst.

„¿Y qué es el nombre de su madre?“

„Su nombre es Ines.“

Die Mutter hieß Ines. In diesem Moment sahen sie die Frau hinter einem großen Büschel Pampasgras auf dem Boden liegen. Zum Glück atmete sie noch, wenn auch ganz schwach.

Shanna ließ ihre Tasche fallen, blieb wegen der Schlangen jedoch stehen. Grubenottern waren hier verbreitet. Sie griff nach der medizinischen Ausrüstung, die sie mit ins Land hatte bringen dürfen: keine Medikamente, nur Ausrüstung. „Soy médica, Valeria. Pero necesito ayuda. Por eso yo deseo que vaya al hospital.“ Ich bin Ärztin, aber ich brauche Hilfe.

Zu Hause reichte ein Knopfdruck. Hier wusste sie nicht weiter. Sie legte sich das Stethoskop um den Hals und knipste die kleine Stiftlampe an. Ines sah nicht gut aus. Wenn es wirklich eine Grubenotter gewesen war, würde nur das Gegengift helfen. Ihr Herz raste, und der linke Knöchel war an der Bissstelle geschwollen, rot und heiß.

Als Allgemeinärztin hatte sie mit Schlangenbissen nichts zu tun, doch an der Universität hatten sie auf dem Lehrplan gestanden. Sie wusste, dass die Frau ohne Behandlung ins Koma fallen und sterben würde. Blaue Lippen hatte sie bereits.

Sie bat das Mädchen erneut, zum Krankenhaus zu laufen, denn so lange Ines noch atmete, bestand Hoffnung. Allerdings nur in Ben Robinsons Krankenhaus und nur, wenn er das richtige Gegengift hatte.

Das Kind zog an Shannas T-Shirt. Sí, puedo. Pero tengo amigos cerca que pueden ayudar a llevar a mi madre allí. Creo que sería más rápido.“

Sie hatte Freunde, die Ines schneller dorthin tragen könnten. Shanna schickte sie mit einem Nicken los. Shanna wachte über die Frau und wusch die Bisswunde so gut wie möglich mit Wasser aus ihrer Flasche aus. Früher hatte man einen Druckverband gemacht, aber Studien hatten gezeigt, dass sich das Gift dann dort konzentrierte, wo das Bein abgebunden wurde, und somit noch schneller eine Amputation nötig wurde oder das Opfer noch rascher starb.

Dann hatte man gedacht, es würde helfen, die Wunde aufzuschneiden und das Gift herauszusaugen. Doch leider waren viele Menschen dabei gestorben, wenn sich das Gift über eine kleine Wunde an den Lippen im Körper der Retter selbst verteilt hatte.

Also musste sie hier sitzen und warten. Sie fühlte sich so hilflos wie an dem Tag, an dem sie ihrer Patientin Elsa Willoughby eine Nierentransplantation versprochen hatte. Ein großes Versprechen, keine Frage, doch Elsa ging es so schlecht, dass sie an die erste Stelle der Warteliste hätte rücken müssen. Shanna hatte allerdings nicht erwartet, dass das Krankenhaus ihr die Operation verbieten würde. Die Weigerung kam von ihrem Großvater und wurde von ihrem Vater und mehreren anderen Ärzten unterstützt, die alle den Namen Brooks trugen. Wie eine Wand hatten sie ihnen gegenübergestanden.

„Deine Patientin ist zu alt“, hatte ihr Großvater gesagt. Das war nur einer von einem Dutzend weiterer Gründe, um Elsa die Niere zu verwehren. Im Brooks Medical Center, einem Mischkonzern aus drei Krankenhäusern, neun Kliniken und vierzehn anderen medizinischen Einrichtungen, würde sie nicht operiert werden.

Vier Monate später war Elsa gestorben. Shanna hatte immer noch Albträume, in denen sie ihrer Patientin mitteilen musste, dass sie nichts mehr für sie tun konnte. Dass das System, in das sie vertraut hatte, sie im Stich gelassen hatte. Shanna hatte die Nacht allein verbracht und geheult.

Am nächsten Morgen war sie noch einmal zu ihrem Großvater gegangen, um ihn zu überzeugen. Doch sie hatte kein Glück. „Wenn ich sehe, wie sehr dich diese Sache emotional belastet, glaube ich, du wärst in der Verwaltung besser aufgehoben. Als praktizierende Ärztin bist du nicht geeignet“, hatte er gesagt. Sie sorgte sich um ihre Patientin und sollte deswegen in die Verwaltung?

So hatte sie die Medizin erst einmal aufgegeben. Sie musste einen anderen Weg finden, um weiter als Ärztin arbeiten zu können. Sie hoffte, dass Ben ihr helfen konnte.

Nun tat sie allerdings erst einmal wieder das, was sie auch für Elsa getan hatte, nachdem sie ihr die schlechte Nachricht gebracht hatte: Sie hielt Ines’ Hand. Jedes Mal, wenn die Frau zusammenzuckte, schnellte ihr eigener Puls in die Höhe. Jedes Mal, wenn Ines schwer atmete, musste sie selbst tief Luft holen. Selbst im Dschungel konnte sie die Missbilligung ihrer ganzen Familie spüren.

Glücklicherweise dauerte es nur wenige Minuten, bis Valeria zurückkam. Es waren nicht nur ein oder zwei Freunde, die sie brachte, sondern zwanzig. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Eine so schnelle Reaktion, so viel Hilfe.

Shanna konnte ihnen nur folgen. Nach etwa einer halben Meile erreichten sie ein Gebäude aus Holz. Sie ließen Shanna den Vortritt. Einige der Männer trugen Ines vorsichtig hinter Shanna her.

Shanna sah Ben sofort, und selbst in der Eile fühlte sie ihr Herz schneller klopfen. Ben hatte sich über einen leeren Untersuchungstisch gebeugt und bastelte an einer Lampe. Offensichtlich war dies hier die Notaufnahme.

„Ist hier noch frei?“, fragte sie und lächelte, als er aufsah.

„Es ist wohl kein Zufall, dass du hier bist, oder?“, fragte Ben. Sie saßen im Ärztezimmer, einem winzigen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen, einem alten Sofa, einem Kühlschrank und kaum genug Platz, sich umzudrehen. „So etwas nennt man wohl Stalking, stimmt’s?“

Sie griff nach der Tasse Yerba-Mate, den er ihr zubereitet hatte, ein Teegetränk, das in Argentinien beliebt war. Sie hatte sonst nichts zum Festhalten.

„Ich habe die ganzen dreißig Stunden in der Luft darüber nachgedacht, welche Fragen du mir stellen würdest. Was ich antworten könnte. Was sich plausibel anhört.“

„Plausibel wäre hilfreich“, sagte er, immer noch vollkommen verblüfft. Er fragte sich, ob er vielleicht halluzinierte oder jemand seine Gedanken gelesen und in die Wirklichkeit umgesetzt hatte. Seit er die Toskana verlassen hatte, hatte er ununterbrochen an Shanna gedacht. Nun saß sie tatsächlich vor ihm, wie hergezaubert. „Aber das wird schwierig, nachdem du mir um die halbe Welt gefolgt bist. Es sollte eine wirklich gute Erklärung sein.“

„Vielleicht ist Stalking doch das Einzige, was passt“, sagte sie fröhlich. Sie nahm einen Schluck des bitteren Matetees. „Aber nein, ich bin keine Stalkerin. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinn.“

„Was ist denn dann bitte eine nicht herkömmliche Stalkerin?“ Es war wohl schmeichelhaft, dass sie ihm gefolgt war – zumindest hoffte er das. Denn natürlich war es möglich, dass Shanna Brooks vollkommen geisteskrank war und er das in der Toskana einfach nicht bemerkt hatte. Aber das machte keinen Sinn, denn er hatte ihr mehr als einmal tief in die Augen geblickt, und da gab es nichts, was für Verrücktheit sprach. Stattdessen hatte er dort große Lebendigkeit und diesen Funken gefunden, der ihn so anzog …

„Es ist schwer zu erklären. Ich … ich brauche eine Veränderung.“

„Du brauchst eine Veränderung, fliegst mir nach und landest in meinem Dschungelkrankenhaus. Das auf keiner Karte eingezeichnet ist und das man auch mit GPS nicht finden kann. Du musst dich also ganz schön angestrengt haben.“

Shanna zuckte mit den Schultern. „Stimmt. Hier ist man wirklich im Nirgendwo. Aber du hast erzählt, dass du in Argentinien lebst. Da bin ich kreativ geworden.“ Sie nahm einen weiteren Schluck Tee. „Dieses Zeug schmeckt dir also? Reichlich bitter …“

Blieb sie mit Absicht so vage? Oder war sie unsicher? Shanna Brooks wirkte fast genauso überrascht wie er selbst, tatsächlich hier zu sein.

„Also?“, fragte er.

„Warum ich hier bin?“ Sie atmete tief ein. „Die Antwort lautet … Ich will so sein wie du. Und wer könnte mir das besser beibringen als du selbst?“

Nun war er wieder bei der Theorie gelandet, sie könnte geisteskrank sein. „Du meinst, du möchtest ein einsiedlerischer Arzt sein, der ein abgeschiedenes Krankenhaus mit Finanzproblemen leitet, das rein von Ehrenamtlichen getragen wird, tief im argentinischen Dschungel?“

Autor

Dianne Drake
Diane, eine relative neue Erscheinung im Liebesromanbetrieb, ist am meisten für ihre Sachliteratur unter dem Namen JJ Despain bekannt. Sie hat mehr als sieben Sachbücher geschrieben, und ihre Magazin Artikel erschienen in zahlreichen Zeitschriften. Zusätzlich zu ihrer Schreibtätigkeit, unterrichtet Dianne jedes Jahr in dutzenden von Schreibkursen.
Dianne`s offizieller Bildungshintergrund besteht...
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