Pikantes Gerücht um Miss Verity

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Im Zorn lässt sich Miss Verity zu einer Lüge hinreißen: Sie behauptet, verlobt zu sein – mit dem Duke of Longhurst, dem Erzfeind ihrer Familie! Die prahlerischen Erzählungen ihrer Nachbarin über die Saison in London konnte Verity einfach nicht länger ertragen. Und was ist schon dabei? Ganz sicher wird dieses pikante Gerücht niemals an die Ohren des Dukes dringen! Doch dann kommt es, wie es kommen muss: Magnus Warring, Duke of Longhurst, steht vor ihr und verlangt erzürnt, dass sie ihre Lüge zurücknimmt. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, ihn zu überreden, Veritys kleines Spiel für ein Weilchen mitzuspielen …


  • Erscheinungstag 28.06.2025
  • Bandnummer 175
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532211
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Vivienne Lorret

Pikantes Gerücht um Miss Verity

Vivienne Lorret

Bestsellerautorin Vivienne Lorret liebt Liebesromane, ihren pinkfarbenen Laptop, ihren Ehemann und ihre beiden Teenagersöhne (nicht zwingend in genau dieser Reihenfolge …). Sie beherrscht die Kunst, unzählige Tassen Tee in Wörter zu verwandeln, und hat sich mittlerweile mit zahlreichen wunderbaren Regency-Romancesin die Herzen ihrer Leserinnen und Leser geschrieben.

1. KAPITEL

Aus dem Fenster zu klettern, schien theoretisch eine gute Idee. In der Praxis jedoch …

Verity Hartley wünschte, sie hätte nicht vergessen, dass Vater einige Sprossen des efeuumrankten Spaliers zerbrochen hatte, als er letzte Woche den Romeo für Mutters Julia gab. Jetzt hing sie hier an den Fingerspitzen und ihre Füße baumelten in der Luft.

Und ihre Schwestern hatten mal wieder an allem Schuld.

Als Verity eben am Salon vorbeikam, hatten sie ein neues Stück geprobt. Durch die offene Tür hatte sie Honoria wie eine Königin in der Mitte des Raums stehen sehen, das Haar zu einer goldenen Krone aufgetürmt, wie sie drei ihrer Verehrer anwies, die Chaiselongue auf das Podest in der hinteren Ecke zu stellen.

„Etwas links der Mitte, wenn ich bitten darf. Nein, links meint die andere Seite, zwischen die Pappmaché-Säulen. So, genau – und jetzt noch etwas weiter zurück, nicht so, mehr … Ja, perfekt.“ Wenn sich eins mit Sicherheit über Honoria sagen ließ, dann, dass sie stets wusste, was sie wollte.

Althea hatte am Schreibtisch gestanden, den dicken, rotbraunen Zopf achtlos über der Schulter, und mit fliegender Feder letzte Änderungen im Stück vermerkt.

„Ich brauche unbedingt noch eine dritte Furie, um die Szene zu vollenden. Sonst könnte ich mir gleich den Klingelzug zum Strick nehmen, um mir die Schmach des Scheiterns zu ersparen.“

Mit ihren achtzehn Jahren war Thea die jüngste der Schwestern, und sie zeigte einen ausgeprägten Hang zum Melodramatischen. Ihre Tage auf Erden seien ohne den Hauch von Drama, so ihre ständige Klage, eine endlose Ödnis, in der nichts an ihre Seele rühre. „Wo steckt eigentlich unsere Schwester? Diesen Part könnte man sogar ihr zutrauen.“

Und das war der Moment, in dem Verity sich davongemacht hatte, schnell den Flur hinab zum Musikzimmer und durchs offene Fenster hinaus.

Zugegeben, nicht ihre beste Entscheidung. Aber lieber würde sie drei Tage ein härenes Hemd tragen, als sich zu einer weiteren Aufführung überreden zu lassen.

Andererseits, dachte sie und riskierte einen Blick am Saum ihrer olivgrünen Röcke und ihren baumelnden Füßen vorbei auf den stacheligen Wacholderbusch zwei Stockwerke unter ihr, wäre vom Dornbusch gepfählt zu werden auch eine Möglichkeit.

Sie schluckte und wandte sich mit verstärkter Anstrengung wieder dem Spalier zu. Wobei nichts von alledem nötig gewesen wäre, wenn ihre Schwestern sie einfach nur verstehen würden. Doch darauf zu hoffen, würde ein frommer Wunsch bleiben.

Beide waren sie begnadet mit den berühmten Engelszungen der Hartleys und einem Faible fürs Dramatische. Wann immer sie den Gästen nach Tisch eine ihrer kleinen Darbietungen gönnten, zeigte sich das Publikum entzückt. Mit einem einzigen leidenschaftlichen Wort oder einer anmutigen Ohnmacht auf besagter Chaiselongue konnten sie alte Zankäpfel zu Tränen rühren und abgeklärte Unholde wie liebeskranke Jünglinge seufzen lassen.

Nur Verity machte sich auf der Bühne in etwa so gut wie eine Topfpflanze, die seit einem Jahr weder Licht noch Wasser bekommen hatte.

Was gefühlt auch die Zeitspanne schien, die sie schon an der Hauswand hing wie eine vom Vorjahr vergessene Festgirlande.

Während sie mit den Füßen nach Halt suchte, gruben sich die schmalen Holzsprossen schmerzhaft in ihre Handflächen. Zischend biss sie sich auf die Unterlippe und begann, sich ihre Beerdigung auszumalen.

Vater würde eine hervorragende Vorstellung abliefern, sich das Herz halten und all die peinlichen Begebenheiten aus ihrer Kindheit und Jugend zum Besten geben, wie er es in Gesellschaft so gern tat. Mutter hinge, sylphengleich in schwarze Seide drapiert, an seinem Arm. Ihre Stimme würde brechen in Trauer und Ergriffenheit. Und wenn sie fertig waren, würde kein Auge mehr trocken sein.

Truman, der Stammhalter der Familie und als Ältester Mutters Liebling, würde von seinen Reisen zurückkehren, um an ihrer Seite zu sein. Honoria würde Schleier tragen, um in einem letzten Akt der Schwesternliebe ihre Schönheit nicht zur Schau zu stellen. Thea würde in wohlgemessenen Abständen leise schniefen und sich im Geiste Notizen machen, um das tragische Ereignis in einem künftigen Stück zu verwerten. Und Verity? Sie würde vorn in ihrem Sarg liegen und sich wünschen, dass ihr so viel Aufmerksamkeit schon vor ihrem verfrühten Tod zuteilgeworden wäre – der übrigens, so stand es zu befürchten, jeden Moment eintreten könnte.

Doch dann, gerade als sie dachte, sich keinen Moment länger halten zu können, traf sie mit der Spitze ihres linken Schuhs auf Widerstand.

Sie atmete erleichtert auf und ließ die Stirn am Efeu ruhen. Und sollte sie sich bei diesem leichtfertigen Manöver einen juckenden Hautausschlag zuziehen, sei’s drum! Es war immer noch besser, als auf einer Bühne zu stehen.

„Ha! Hab ich dich erwischt!“

Verity fuhr ertappt zusammen. Ihr Blick schoss hoch zum Fenster, an dem Honoria stand. „Aber wie konntest du wissen …“

„Wo du steckst?“ Ein Paar blasser Augenbrauen wölbte sich unter den kunstvoll zerzausten blonden Locken, als sie über den geweißten Sims spähte. „Du bist einfach zu berechenbar. Ganz ehrlich, ich bin enttäuscht. Von uns dreien solltest du eigentlich diejenige mit ein bisschen Grips sein.“

„Nein, bin ich nicht. Ich bin die praktisch Veranlagte und das war praktisch der einzige Ausweg, weil die Treppe von den Hausmädchen blockiert war, die gerade die Teppiche zum Ausklopfen nach draußen brachten.“

Honorias geschwungene Lippen verzogen sich zu einem triumphierenden Lächeln, und ihre tiefblauen Augen funkelten. „Und hast dabei völlig vergessen, dass Vater das Spalier während unserer Lektion über die Sternstunden der Bühnenkunst ramponiert hat, hab ich recht?“

Verity zögerte einen Moment, bevor sie halbherzig nickte. „Ja, kann schon sein.“

„Nun, da ich dich erwischt habe, werde ich meinen Logenplatz nicht verlassen, bevor du wieder im Haus bist. Die Zungenbrecher sind nämlich hier und Thea und ich in der Unterzahl.“

Die Zungenbrecher war ihr Spitzname für Percival, Peter und Carlton Culpepper.

Vor Jahren hatte Vater sie deren Namen als Aufwärmübung vor besonders hitzigen Passagen aufsagen lassen, eine Praxis, die sie längst übernommen hatten.

Die drei Culpeppers waren die Söhne eines Landedelmanns aus der Gegend und unverbesserliche Verehrer von Honoria und Thea. Völlig unbeeindruckt davon, wie oft ihre Anträge mit einem Korb bedacht wurden, versuchten sie es doch immer wieder aufs Neue.

Percival hatte einmal um Verity geworben – vermutlich hatte er eine Wette verloren –, aber sein Interesse war schnell wieder erlahmt. Und wen wunderte es, war sie doch die Unscheinbare der Schwestern und mit fast sechsundzwanzig Jahren auch nicht mehr die Jüngste. Es war eine allgemein bekannte Tatsache, dass Männer wie er sich nicht gerade rissen um Frauen wie sie.

Sie hatte sich längst abgefunden, von der Schönheit ihrer beiden jüngeren Schwestern in den Schatten gestellt zu werden. Deren Anblick traf arglose Betrachter wie ein Blitz, und wenn es ihnen nicht gleich die Sprache verschlug, stammelten sie überschwängliche, andächtige Komplimente. Fiel ihr Blick dagegen auf Verity … sahen sie diskret, doch sichtlich enttäuscht schnell wieder weg.

Sie nannte es den Anblick der letzten Weintraube. Denn genau so schaute man, wenn man am Boden der Obstschale bloß noch eine einzige Traube fand, die, vom Stiel gelöst, zwischen den Birnen, Orangen und Pfirsichen hindurchgefallen war, unbeachtet und vergessen, bis ein unansehnlicher grüner Flaum sich auf der längst nicht mehr taufrischen Schale gebildet hatte.

Auch wenn Verity wusste, dass sie keinen unansehnlichen grünen Flaum hatte, zumindest noch nicht.

„Oh, ich werde leider nicht mitmachen können, ich muss …“

Sie überlegte, was wichtig genug sein konnte und halbwegs plausibel klang. Für sie war es eine Frage des Prinzips, Täuschung und Lüge wann immer möglich zu vermeiden.

„… noch nach den Vögeln sehen“, verkündete sie schließlich und war sehr stolz auf sich. Denn es stimmte, irgendwann später wollte sie tatsächlich bei den Nistkäfigen vorbeischauen.

„Was für eine erbärmliche Ausrede!“, stöhnte Honoria. „Ich kann unseren Gästen unmöglich sagen, dass du lieber bunt angemalte Holzkästen anstarrst, als dich ihrer Gesellschaft zu erfreuen.“

„Dann denk dir eben eine andere aus. Du weißt ja, dass ich kein Talent für Schwindeleien habe.“

Ehrlich gesagt war sie eine komplette Niete im Lügen. Noch so was, das sie nicht mit ihrer Familie gemein hatte.

Insgeheim war sie überzeugt, dass man sie als Säugling ausgesetzt hatte und die Hartleys nur so nett waren, sich ihrer anzunehmen. Und auch wenn sie ihr ans Herz gewachsen waren, fragte sie sich doch bisweilen, ob es nicht besser gewesen wäre, von einem Rudel Wölfe großgezogen zu werden als von einer Sippe Möchtegern-Schauspieler.

Als ihre Schwester einen Blick über die Schulter warf, stahl Verity sich noch ein paar Sprossen weiter hinab, wobei sie die zerbrochenen in der Mitte geschickt aussparte.

„Na gut.“ Honoria zupfte die Puffärmel ihres hellblau-violetten Tageskleides zurecht und tat einen Seufzer, der zugleich Akzeptanz und Resignation zum Ausdruck brachte. „Dann werden Thea und ich uns mit deinem Text abwechseln müssen. Allerdings denke ich nicht, dass es den Zungenbrechern auffallen wird. Sie sind wie junge Hunde, die den halben Nachmittag damit verbringen, hechelnd mit dem Schwanz zu wedeln, und die andere Hälfte hoffen sie, dass jemand ihnen ein Stöckchen wirft. Aber ich kann ihnen noch so oft erklären, dass ich seit meiner Geburt mit Viscount Vandemere verlobt bin, sie wollen es einfach nicht hören. Woraus man nur schließen kann, dass Männer Freude haben an der Qual hoffnungsloser Unterfangen.“

Solche Probleme hätte ich auch gern, dachte Verity. „Vielleicht glauben sie nicht daran, dass dein erfundener Viscount existiert.“

„Natürlich existiert er, wenn auch bloß in der Fiktion. Warum sollten sie daran zweifeln? Meine Darbietung der Geschichte seines mysteriösen Verschwindens wird mit jedem Mal besser.“

„Und ihnen schöne Augen zu machen, dürfte ein Übriges tun.“

Honoria grinste. „Womit sonst sollte eine junge Frau sich in diesem verschlafenen Nest die Zeit vertreiben? Ich mache nur das Beste aus meinen Talenten. Und ich bin der festen Überzeugung, dass jede Frau die ihr gegebenen Fertigkeiten nutzen sollte. Wenn sie sich selbst verleugnet, wird sie es nicht weit bringen und wenig Freude im Leben haben. Wozu sind wir denn auf der Welt, wenn nicht, um die Hauptrolle in unserem eigenen Leben zu spielen?“

Verity schüttelte den Kopf. „Hätte Vater sich eine ordentliche Saison für uns leisten können, hätte deine vermutlich mit dem Ausbruch des nächsten Trojanischen Kriegs geendet.“

„Das denke ich auch“, sagte Honoria in aller Unbescheidenheit. „Wobei ich mir etwas anderes ausdenken würde als dieses fade Holzpferd. Ein feuerspeiender Drache wäre eher nach meinem Geschmack.“

„Erzähl das doch mal Thea. Vielleicht kann sie es in eines ihrer Stücke schreiben.“

„Das wird sie wohl kaum, wo sie gerade erst ihrer Raubritter- und Drachenphase entwachsen ist. Da fällt mir ein … Sie meinte vorhin, unserer ländlichen Kulisse fehle noch ein Hauch Wahrhaftigkeit. Oje. Du glaubst doch nicht, dass sie wieder die Hühner in den Salon holen will?“

Verity hielt schaudernd in ihrem Abstieg inne. Sie erinnerte sich nur ungern daran. Denn sowie Vaters Wolfshunde das Federvieh gewittert hatten, war alles in einem furchtbaren Blutbad geendet. Noch Wochen später hatten sie verirrte Federn im Salon gefunden.

„Ich will hoffen, dass sie ihre Lektion gelernt hat. An den neuen Ferkeln scheint sie allerdings einen Narren gefressen zu haben. Wir sollten vielleicht besser mal nachsehen, nur für den Fall. Ich klettere schnell runter und laufe dann in den Küchengarten.“

„Tu das. Und ich sollte zurück in den Salon“, pflichtete Honoria ihr bei. Doch bevor sie verschwand, beugte sie sich noch mal aus dem Fenster und sah aus schmalen Augen zu ihr herunter. „Aber glaub nicht, du könntest dich einfach davonschleichen. Wenn du nicht in einer Viertelstunde zurück bist, komme ich dich suchen. Und ich kenne sämtliche deiner Verstecke.“

Verity verdrehte angesichts dieser leeren Drohung die Augen. Ihre Schwester wusste längst nicht alles.

Honoria hing noch immer über dem Sims und begann nun, an den Fingern abzuzählen. „Der kleine Garten beim Pächterhaus …“

„Pah, das war ja leicht“, sagte Verity. Und wenn schon, ihre Schwester würde ganz sicher nicht wissen …

„Dann hinter dem Wäldchen und an den Brombeeren vorbei in Richtung Witwensitz. Soll ich weitermachen?“

Verity zog die Augenbrauen zusammen. „Spionierst du mir hinterher?“

„Du erinnerst dich an das Fernglas, das Truman mir letztes Weihnachten geschenkt hat? Du wärst erstaunt, wie weit man damit vom Dach aus sehen kann.“ Honoria lächelte triumphierend. „Und aus dem Alter, dich in Schränken zu verstecken, dürftest du ja heraus sein, nicht wahr?“

„Du elende Schnüfflerin.“

„Dann bis gleich.“ Ihre Schwester winkte ihr kurz zu und sprang davon.

Verflixt aber auch!

Damit war klar, dass sie sich ein neues Geheimversteck suchen musste, in das sie flüchten konnte, wenn man sie einmal mehr in Bedrängnis brachte oder zu einer Aufführung verpflichten wollte – wobei das eine üblicherweise aus dem anderen folgte.

Das Problem war, dass es sie immer aus dem Haus zog, wenn sie einen Moment für sich brauchte. Seit sie sich erinnern konnte, waren ihre Verstecke immer draußen gewesen. Und nun stellte sich heraus, dass es bloß Neugier und Entschlossenheit, ein Fenster und ein Fernglas brauchte, um ihr auf die Schliche zu kommen. Von den oberen Etagen aus hatte man einen weiten Blick über die sanften, grünen Hügel. Da gab es keinen Ort, an den sie ungesehen gelangte.

Doch ihre fehlende Privatsphäre wollte sie später angehen. Erst einmal galt es sicherzustellen, dass Thea nicht wieder ein völliges Tohuwabohu im Haus anrichtete.

Vorsichtig hangelte Verity sich weiter am wild wuchernden Efeu herunter. Fast war sie am halb geöffneten Fenster des Empfangszimmers in der Beletage vorbei, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte.

„Natürlich hoffe ich, dass meine Töchter glücklich werden. Ich wünsche ihren Herzen ungeahnte Höhenflüge und dass sie tausend Sterne strahlen sehen, wenn sie ihren Erwählten in die Augen blicken. Nur leider ist, wie Sie ja wissen, die Wahl nicht allein an uns, auch wenn sie es sein sollte.“ Mutter ließ ein leichtes Lachen hören.

Verity hielt inne und überlegte, mit wem ihre Mutter sprechen konnte. Ihres Wissens hatten sich heute keine Gäste angekündigt. Und wer aus dem Dorf unangemeldet auftauchte, wollte in der Regel Vater sprechen.

Natürlich könnten es die Nachbarn unten aus dem Tal sein, die gefürchteten Hunnicutts.

Deren Besuche waren gleichsam unerwartet wie unangenehm. Es gab in ganz Addlewick keine Familie, die ihnen das Wasser reichen konnte. Die Hunnicutts waren aufgeblasene Snobs der schlimmsten Sorte, vor allem die Tochter.

Nell Hunnicutt war ihr ein Dorn im Auge, seit sie denken konnte. Und wenn Mutter so vertraulich mit ihrer Erzfeindin sprechen sollte, würde Verity ihr das sehr übel nehmen.

„Nie wurden wahrere Wort gesprochen“, erwiderte die mysteriöse Besucherin. „Und ich muss gestehen, Ihre romantische Seele vermisst zu haben, Roxana. Sowohl meine Tochter als auch mein Enkel betrachten die Ehe als eine Pflicht, die es zu erfüllen gilt, und mich halten sie für eine sentimentale alte Schachtel.“

Ah, jetzt erkannte Verity die sanfte, wohlmodulierte Stimme, doch es überraschte sie, sie hier zu hören und nicht auf Hartley Hall. Denn seit dem Großen Skandal verkehrte man nicht mehr mit der Familie der Countess Broadbent.

In ihrer Neugier, den Grund dieses unvorhergesehenen Besuchs zu erfahren, schob sie sich seitlich am Spalier entlang, gerade weit genug, um durch den Fensterpalt zu spähen. Es konnte ja nie schaden, ein wenig die Ohren offen zu halten, nicht wahr? Und mehr Aufregung würde dieser Monat vermutlich nicht mehr zu bieten haben.

Überrascht sah sie die beiden Frauen beim Kartenspiel beisammensitzen, fast wie alte Freundinnen. Aber ihre Mutter war schon immer für ihre einnehmende Art bekannt gewesen.

In den Gesellschaftsspalten war Baroness Roxana Hartley einst für ihre Ausstrahlung gerühmt worden, die weder Zeit noch Zwängen unterworfen sei, ihre dunkle Schönheit wie ein Nebelschweif bei Nacht, ihre Stimme leicht und lieblich wie in lauer Sommerbrise flatternder Seidentaft.

Über Verity hatte es lediglich geheißen, dass sie sich einzig dadurch auszeichne, Baron Hartleys Tochter zu sein – und einem ansonsten nicht weiter in Erinnerung bleibe.

Die Countess wirkte gealtert, was nur zu erwarten war in den sieben Jahren, die man sie nicht unter diesem Dach gesehen hatte. Ihr silbergraues Haar trug sie zu einem Knoten aufgesteckt, und die Jahre hatten feine Spuren um ihren Mund und die hellbraunen Augen hinterlassen. Doch ihre Haltung ließ keine Schwäche erkennen, und ihr fein geschnittenes Gesicht keinen Groll. Aber so war sie schon immer. Streng und eigensinnig, aber niemals grausam oder intrigant. Verity hatte immer zu ihr aufgeschaut.

Lady Broadbent schürzte die Lippen, als sie die Karten in ihrer Hand betrachtete. „Die Frage nach Verity ist damit aber noch nicht beantwortet. Sicher sähen Sie es gern, sie als Erste zu verheiraten.“

Verheiraten? Wieso redeten sie jetzt vom Heiraten? Und dann noch ausgerechnet über sie!

In der Ferne war plötzlich das Bellen der Hunde zu hören, weshalb sie die Antwort ihrer Mutter nicht verstand. Mit gespitzten Ohren reckte sie sich weiter vor zum Fenster und trat mit dem linken Schuh krachend auf eine vertrocknete Efeuranke.

Roxana Hartley ließ sich in ihren rosa gepolsterten Stuhl sinken und runzelte die Stirn. „Früher einmal, vielleicht. Aber meine älteste Tochter ist anders, als wir es sind. Sie war schon immer etwas … zurückhaltend.“

Das letzte Wort wurde mit einem Seufzer ausgestoßen, als könne sie sich keine schlimmere Charaktereigenschaft vorstellen. Verity traf das mitten ins Herz. Schlimm genug zu wissen, dass man eine Enttäuschung war, doch wie ernüchternd, es die eigene Mutter so offen aussprechen zu hören.

„Und ich fürchte“, fuhr Mutter fort, „wenn sie die Wahl hätte, würde sie am liebsten ein ganz kleines, bescheidenes Leben führen.“

„Du liebe Güte“, meinte Lady Broadbent mit nachsichtigem Tadel. „Zu meiner Zeit war es undenkbar, aus Liebe zu heiraten. Wenn man einen Mann bekam, den man halbwegs erträglich fand, war das schon viel wert. Aber ich habe auf Pomeroy gewartet, sehr zum Verdruss meiner Eltern. Und als er sich dann endlich durchringen konnte, hatten sich all die Scherereien gelohnt.“

„Con und ich wurden praktisch enterbt, als wir nach Gretna Green durchbrannten. Doch das befeuerte nur unsere Liebe. Oh, diese Leidenschaft!“ Mutter ließ ihr berühmtes schelmisches Lächeln sehen, bevor sie wieder seufzte. „Und das will ich auch für meine Kinder, selbst für Verity. Wobei es dafür jetzt wahrscheinlich zu spät ist.“

Zu spät, für sie? Nannte ihre Mutter sie jetzt also alt und langweilig? Und was sollte dieses „selbst für Verity“ bedeuten?

„Wenigstens ist sie keins von diesen dummen Gänschen, die es auf meinen Enkel abgesehen haben“, warf die Countess ein. „Meine größte Sorge ist, dass er sich eine von denen zur Frau nimmt und ich bis ans Ende meiner Tage mit der jungen Duchess beim Tee und bei Tisch sitzen und mir ihr geistloses Geplapper anhören muss, wenn doch ihre größte Errungenschaft darin besteht, ihre neuen Hüte auszuführen.“

Mutter lachte verständnisvoll. „Nun, wenn es Ihnen solche Sorge bereitet, könnte er statt eines der Gänschen auch einfach …“

Den Rest des Satzes sollte Verity nie erfahren, denn just in dem Moment brach die Sprosse unter ihrem Fuß.

Sie versuchte, sich am Efeu zu halten, und setzte den Fuß auf die nächste Sprosse. Doch die brach auch.

Das brachte sie aus dem Gleichgewicht und sie kippte hintüber, klammerte sich am Spalier fest, das sie gerade noch zu fassen bekam. Puh, dachte sie und atmete erleichtert auf, gerade noch mal gutgegangen. Bis auf einmal …

Das kreischende Knirschen der sich aus der Fassade lösenden Nägel sie erstarren ließ.

Fantastisch, dachte sie, jetzt kann ich mich auch noch fett fühlen … „Oooaaaahhh!“, schrie sie, als das Spalier sich löste und in einem anmutigen Bogen zurückfiel, vom Haus weg, mit ihr.

Das war es. Das war das Ende ihres unverheirateten, unscheinbaren Lebens.

Sie kniff die Augen zusammen und hing mit den Fingerspitzen am Spalier, ihre Beine baumelten in der Luft und sie sah schon die Inschrift ihres Grabsteins vor sich.

Hier ruht Verity Hartley

Geliebte Tochter und Schwester

In einer sonst glanzlosen Existenz

Erneut die Hunde zu hören, lenkte sie einen Augenblick davon ab, sich den gierigen Klauen des Todes hinzugeben. Seltsam, aber ihr Gekläffe und Gejaule klang viel näher als erwartet.

Als sie etwas ihren Rocksaum streifen spürte, blinzelte sie vorsichtig mit einem Auge und stellte fest, dass der Boden kaum mehr als eine Handbreit unter ihr war. Dann hob sie den Blick und sah das Spalier sich wie eine gesprengte Brücke über ihr wölben.

Oh. Na gut. Dann würde sie heute wohl doch nicht sterben.

Sie ließ los, kam geschickt auf dem Boden auf, strich sich die Hände ab und kraulte den Hunden beruhigend die Ohren.

„Verity!“, rief ihre Mutter aus dem Fenster. „Hast du dir wehgetan?“

Sie trat unter dem Efeubaldachin hervor und winkte, nachdem sie sich eine auf Abwege geratene Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen hatte. „Nichts passiert.“

„Ich hätte fast einen Herzanfall bekommen! Bestimmt werde ich den ganzen Monat Alpträume haben. Was hast du da draußen gemacht?“

Gelauscht, dachte sie still. Gelauscht und dabei erfahren, dass selbst du meine Heiratsaussichten für hoffnungslos hältst.

Nicht dass Verity sich Hoffnungen gemacht hätte. Sie hätte es nur schöner gefunden, wenn wenigstens ihre Mutter noch an sie geglaubt hätte.

Das sagte sie natürlich alles nicht. Wenn sie in etwas gut war, dann den Mund zu halten. Und es blieb ihr dann auch erspart, sich mit dem Geständnis zu blamieren, dass sie, alt und langweilig wie sie war, nur nicht im Zentrum aller Aufmerksamkeit hatte stehen wollen – und das hatte ja wirklich prächtig geklappt –, aber all das blieb ihr wie gesagt erspart, weil die Wolfshunde nun laut zu knurren begannen.

Sowohl Barrister als auch Sergeant-at-Arms, besser bekannt als Queen’s Council, standen ihr wachsam zur Seite und richteten den Blick auf etwas hinter ihr.

Oder vielmehr jemanden.

Denn als sie sich umdrehte, sah sie sich ausgerechnet der Person gegenüber, die ihr jetzt gerade noch gefehlt hatte. Natürlich hatte Miss Nell Hunnicutt, diese eingebildete Kuh, sie mal wieder in einem Moment abpassen müssen, in dem sie alles andere als eine gute Figur machte.

Wahrscheinlich witterte sie das Unglück anderer Leute mit dem Orientierungssinn einer Brieftaube. Womit man diesen klugen Vögeln vermutlich Unrecht tat.

Denn eigentlich erinnerte Nell Hunnicutt mehr an eine Zecke. Eine nach Blut dürstende Zecke, und genau so sah sie auch aus in ihrem rotbraunen Promenadenkleid und dem dazu passenden Rüschenschirmchen.

„Ich muss schon sagen, Miss Hartley, was haben wir denn jetzt schon wieder angestellt?“, sagte die Zecke mit einem affektierten Lachen. „Es scheint sich ja während der Zeit, die ich in London war, nichts geändert zu haben. Als ich Sie das letzte Mal sah, robbten Sie, wenn ich mich recht erinnere, auf Händen und Knien durch eine Schlammpfütze.“

Bedauerlicherweise stimmte das. Sie war mit ihren Schwestern zum Einkaufen im Dorf gewesen, als einer der Händler ihnen nachgeeilt kam, weil Honoria etwas in seinem Laden hatte liegen lassen, und dabei hatte er Verity über den Haufen gerannt. Das Beschämendste daran war, dass er es nicht mal gemerkt hatte, denn anscheinend hatte Verity bereits das Schicksal aller alten Jungfern ereilt, unsichtbar zu sein. Nur leider nicht für Nell, die das ganze Spektakel kichernd aus ihrer Kutsche verfolgt hatte.

„Wahrscheinlich muss man das hier …“, sie deutete mit der Spitze ihres Schirms auf Veritys zerrissenes Kleid und die verstrubbelten Haare, „… bereits als Fortschritt werten. Immerhin sind Sie auf den Beinen.“

„Wie gut, dass Sie mich daran erinnern, Miss Hunnicutt. Und was führt Sie heute Schönes nach Hartley Hall?“

„Reine Menschenliebe, könnte man sagen. Ich hatte mir gedacht, ich könnte mal wieder bei meinen armen Nachbarinnen vorbeischauen und sie mit Berichten meiner Saison aufheitern. Es ist das Mindeste, was ich tun kann, um jenen London nahezubringen, die Pracht und Glanz der Stadt nie lang genug aus eigener Anschauung erfahren werden. Und ich muss wirklich sagen …“

„Müssen Sie, wirklich?“, grollte Verity leise vor sich hin.

„… dass ich mein Lebtag nicht so viele hinreißende Kleider getragen habe. Aber die braucht es auch, wenn man jeden Abend zu so glamourösen Veranstaltungen eingeladen ist wie ich. Ich habe sieben Paar Schuhe zertanzt. Sieben! Und die Saison hat gerade erst ihren Höhepunkt erreicht. Oh, und ich habe eine Putzmacherin mit absolut göttlichen Händen gefunden. Sie macht die hübschesten Hüte und ich habe längst aufgehört zu zählen, wie oft Gentlemen sich zu der Bemerkung hinreißen ließen, dass sie keiner besser zu Gesicht stünden als mir.“

Verity dachte unweigerlich an die dummen Gänse, die um Lady Broadbents Enkel buhlten. „Dann wird man Sie sicher sehr vermissen, bei all diesen glamourösen Veranstaltungen, und Sie sollten so bald wie möglich nach London zurückkehren.“

„Ganz recht. Allerdings finde ich mich in einem Dilemma“, beschied ihr die Zecke, das Gänschen, die Taube mit dem untrüglichen Instinkt. „Sehen Sie, Miss Hartley, es haben gleich drei Herren um meine Hand angehalten. Drei! Ich bat darum, meine Optionen in Ruhe abwägen zu dürfen. Natürlich mögen drei Verehrer einem nicht viel erscheinen, bedenkt man all die Burschen, die Ihren Schwestern das Haus einrennen.“ Sie machte eine Pause, die gerade lang genug war, um ihren Worten die gewünschte Bedeutung zu verleihen und Verity grimmig die Brauen zusammenziehen zu lassen. „Nichts für ungut, ich bewundere Honoria wirklich sehr. Im Grunde bewundere ich Ihre ganze Familie.“

„Aber sicher.“ Verity war kurz davor, die Hunde auf sie loszulassen.

„Oh, wie sehr ich wünschte, Sie hätten eine anständige Saison gehabt, dann könnte ich Sie jetzt um Rat fragen, für wen ich mich entscheiden soll. Der eine wurde kürzlich zum Ritter geschlagen, der andere ist ein Viscount, und der dritte – Sie merken, liebe Miss Hartley, ich spare mir das Beste bis zum Schluss auf – ist Marquess mit einem Anwesen in Derbyshire.“

„Wie schön für Sie, Miss Hunnicutt. Aber ich fürchte, da kann ich Ihnen keinen Rat geben, und meine Schwestern sind leider gerade beschäftigt mit besagten Burschen, weshalb ich Sie bitten muss, Ihren Besuch auf einen anderen Tag zu verschieben.“ Oder sich gleich gar nicht mehr blicken zu lassen, dachte Verity und beugte sich vor, um Barry das drahtige Fell zu kraulen. Sofort schob Sergeant sich unter ihren Arm und forderte gleichfalls ein paar Streicheleinheiten.

Nell schnalzte verärgert mit der Zunge und ließ den Blick am Haus hinaufwandern. „So ein Pech. Unser Gärtner meinte nämlich, er habe Lady Broadbent vorhin in diese Richtung fahren sehen. Ihr Enkel, der Duke, weilt ebenfalls in der Stadt, müssen Sie wissen. Und ich habe bereits mit ihm diniert. Zweimal.“ Sie hielt inne, um Verity Gelegenheit zu geben, sich beeindruckt zu zeigen. „Aber es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass Ihre Ladyschaft einen Fuß in dieses Haus setzen würde, nicht wahr? Allein die Vorstellung, nein, es wäre wirklich zu komisch.“

„Wie der Zufall es will, ist die Countess tatsächlich hier“, sagte Verity voller Genugtuung, das hochmütige Lachen ihrer Nachbarin verstummen zu lassen. „Es hat sich einiges verändert in der Zeit, die Sie weg waren.“

„Ach ja?“

„Allerdings.“

Nell zupfte am Rüschensaum ihres Handschuhs. „Und dürfte ich erfahren, was diese unerwartete Versöhnung zwischen Ihren Familien bewirkt hat?“

Verity wusste selbst nicht, was in sie gefahren war – ob es Bosheit war, noch ein Rest des Schocks, das Spalier des Todes überlebt zu haben, oder schlicht ihr Bedürfnis, Miss Hunnicutt an ihren Platz zu verweisen –, aber zum ersten Mal in ihrem Leben gelang es ihr, eine Lüge zu erzählen. Eine ziemlich gute Lüge sogar. Das merkte sie daran, wie sie eine richtige Gänsehaut bekam, als sie die Worte aussprach.

„Oh, ihr Enkel, der Duke of Longhurst, und ich sind verlobt, müssen Sie wissen.“

2. KAPITEL

Magnus Warring, fünfter Duke of Longhurst, saß im Büro einer Londoner Fabriketage Phineas Snow gegenüber.

Snow, genannt der Knopfbaron, war einer der reichsten Kaufleute in ganz England. Halb Adler, halb Bulle, nicht nur seinem Temperament, sondern auch seinem Äußeren nach, mit stahlgrauem Haar und weißen Schläfen, betrachtete er nun, die drahtigen Brauen über dem stählernen Blick zusammengezogen, die Partie frisch ausgestanzter Knöpfe.

„Welcher Offizier unseres Militärs würde sich damit seine Uniform verschandeln lassen? Die Oberfläche ist körnig und stumpf. Wo bleibt der Glanz, die Liebe zum Detail?“, herrschte er seinen Werkmeister an, dessen Blick gleichsam fassungslos und nervös auf ihm ruhte.

„Ich weiß nicht, Sir. Das sind die ersten Exemplare der neuen Charge – genau wie von Ihnen geordert.“

„Qualitätsknöpfe, Mr. Jones, zeichnen den Rang eines Menschen aus. Es gab Zeiten, da waren sie von so großem Wert, dass ein Mann mit einem Knopf seines Rocks all seine Schulden begleichen konnte. Ein einziger Knopf. Das hier spottet dieser noblen Geschichte.“ Snow warf die Messingscheibe zurück in die mit Filz ausgekleidete Schatulle. Mit einem blechernen Ton schlug sie zwischen dem anderen Ausschuss auf. „Die Legierung taugt nichts, fangen Sie am besten noch mal ganz von vorn an. Und bringen Sie mir gleich das erste Exemplar. Ich verlange Perfektion, nicht mehr und auch nicht weniger.“

Der Mann verließ das Büro in solcher Hast, dass er fast über seine Füße stolperte.

„Und der Kerl taugt auch nichts, wenn Sie mich fragen“, grummelte Snow ihm hinterher. Dann wandte er sich an Magnus, der den Austausch schweigend verfolgt hatte. „Gut, nachdem das geklärt wäre, lassen Sie uns zu der Angelegenheit kommen, wegen der ich Sie heute hergebeten hatte, will sagen, meine Tochter.“

Jeder andere wäre unter so unerbittlicher Musterung wohl eingeschüchtert gewesen. Nicht so Magnus. Was Snow auch sagen oder tun mochte, es konnte ihn nicht aus der Fassung bringen.

Noch bevor er den Titel offiziell erlangt hatte, hatte er oft am Schreibtisch seines Vaters gesessen und hatte sein Gegenüber mit jenem Blick bedacht, in dessen Genuss auch Snow jetzt kam. Sein Vater war zu sanft gewesen, zu idealistisch und sprunghaft, um das Familienanwesen zu führen. Magnus, von Kindheit an pragmatisch, hatte die Zügel daher früh selbst in die Hand genommen.

„Ich denke, ich habe meine Absichten bezüglich Miss Snow deutlich gemacht“, sagte er nun in seiner nüchternen Art. „Unsere Verbindung wäre für beide Parteien von Vorteil – für Sie der gesellschaftliche Aufstieg und die nötigen Kontakte, Ihr Geschäft auszubauen, und …“

„… und Sie bekämen Annas Mitgift“, schloss Snow und hob die Hand, als Magnus etwas erwidern wollte. „Keiner von uns ist ein romantischer Träumer, wir stehen mit beiden Beinen im Leben, wir sehen die Dinge so, wie sie sind. Lassen Sie uns nicht die Intelligenz des anderen beleidigen, indem wir uns da etwas vormachen.“

Magnus neigte den Kopf. Dass die Verbindung Snow und dessen Tochter aus dem Mittelstand in die Kreise des Adels erheben würde, dass dank der Mitgift Longhurst für die kommenden Generationen gesichert wäre – all das interessierte den Mann nicht, ihm ging es allein ums Geschäft, und dafür respektierte Magnus ihn.

Gefühle waren etwas für weltfremde Träumer.

„Ich habe mein Vermögen nicht auf dem Rücken anderer Menschen gemacht. Ich habe mir meinen Ruf und meinen Reichtum durch erstklassige Ware erworben, die für sich spricht. Sie werden keinen Skandal finden, der mit dem Namen Snow verbunden ist. Darauf bin ich stolz, und das soll auch so bleiben.“ Er hieb mit dem fleischigen Finger vor sich auf den Schreibtisch. „Das ist übrigens der Grund, weshalb keiner von Annas Verehrern meinen Ansprüchen genügte.“

Magnus wartete, bis Snow das zu erwartende „Außer Ihnen“ nachsetzte, bevor sie die Sache mit einem Handschlag besiegelten. Die Verträge würden später unterzeichnet und waren eine reine Formalität. Er war sich sicher, mit diesem Treffen Aufnahme in das Knopfimperium gefunden zu haben.

Denn wenn dem Duke of Longhurst eines wichtig war in seinen Geschäften, dann waren es Sicherheit und stabile Verlässlichkeit.

Und so wartete er einen Moment, und dann noch einen, doch als außer dem rhythmischen Stampfen der Stanzpressen und der emsigen Betriebsamkeit der Arbeiter nichts zu hören war, begriff er, dass die Worte nicht kommen würden.

Stattdessen füllte Snow seine breite Brust mit einem tiefen Atemzug Werksluft, die von einer Melange aus erhitztem Metall, Maschinenöl und süßem Pfeifentabak erfüllt war. „Heute Nachmittag erreichte mich die Nachricht einer höchst unerwarteten Entwicklung, die Ihren Namen mit der Tochter eines Baron Conchobar Erasmus Hartley in Verbindung bringt, ebenjenem Hartley, der vor Jahren in diesen Skandal verwickelt war, der, wie Sie sich sicher erinnern …“

„Ich erinnere mich“, beschied Magnus ihm knapp und grub die Finger in die Armlehnen seines Stuhls, dessen dürre Spindelbeine ächzten unter seiner athletischen Statur. Die grauen Augen seines Gegenübers schossen sich sofort auf die weiß hervortretenden Knöchel ein. Er versuchte, seinen Griff zu lockern. „Es muss sich um ein Missverständnis handeln.“

„Ein Missverständnis, sagen Sie?“ Der Knopfbaron schob die Lippen vor. „Das hört man nicht gern, dieses Wort. Entweder wollen Sie damit sagen, ich hätte etwas falsch verstanden, oder Sie räumen ein, dass das Versehen bei Ihnen lag.“

„Weder noch, Sir, das versichere ich Ihnen. Es ist völlig undenkbar für mich, auch nur irgendetwas mit dieser Familie zu tun zu haben.“

„Soweit ich unterrichtet bin, waren Sie mit Hartleys Sohn zusammen auf der Universität.“

„Eine Bekanntschaft, die schon vor Jahren ein Ende fand, als sein Vater in diesen Betrugsskandal verwickelt war, durch den mein Vater sein Vermögen verlor. Es gibt Dinge, die sind unverzeihlich.“ Allein dass Truman „Hawk“ Hartley ihn nicht beizeiten gewarnt hatte, ließ ihn keinen Deut besser aussehen als seinen alten Herrn.

Snow schob seinen Stuhl zurück, dass dessen Beine quietschten auf den nackten Holzdielen.

„Dann sind wir uns ja einig“, sagte Snow mit einem Nicken. Er hatte die Angewohnheit, mit in die Armlöcher seiner Weste eingehakten Daumen dazustehen, die Arme angewinkelt wie ein Flügelpaar im Ruhezustand. „Charakterfehler sind nicht hinnehmbar. Was Verfehlungen des Tuns angeht – oder vermeintlichen Tuns, wenn Sie so wollen –, sollten diese umgehend beseitigt werden. Soweit ich das beurteilen kann, haben Sie keine ruinösen Tendenzen. Wenn man sich den Scherbenhaufen ansieht, den Sie geerbt haben, hätten Sie, wie so viele Ihres Standes, eine Reihe unkluger Entscheidungen treffen können, wie Ihr Heil im Glücksspiel zu suchen, Ihr Haus zu beleihen oder die Ländereien für einen Apfel und ein Ei abzustoßen, nur um im Folgejahr noch schlechter dazustehen. Stattdessen haben Sie die Ärmel hochgekrempelt und sich zusammen mit Ihren Pächtern an die Arbeit gemacht. Sie haben Ihr Land bestellt und zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine profitable Ernte eingefahren. Ich muss gestehen, ich bin beeindruckt“, sagte er – und setzte nach: „Wenn auch noch nicht ganz überzeugt.“

In dem Wissen, dass er die Einwilligung, Miss Snow zu heiraten, nur dann erhielte, wenn er das Missverständnis zweifelsfrei ausräumte, stand Magnus ebenfalls auf. „Ich werde sofort nach Addlewick reisen und diesen …“, er hielt kurz inne, „… Irrtum klären.“

Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro, bevor der Knopfbaron ihn auch noch über die Bedeutung dieses Wortes belehren konnte.

In Magnus grummelte und rumorte es den ganzen Weg zurück zu seinem Stadthaus. Er wusste nicht, was Hartley jetzt schon wieder vorhatte, aber er würde dem verdammt noch mal ein Ende machen.

Die letzten sieben Jahre hatte er hart geschuftet, um das klaffende Loch zu füllen, das Hartleys Betrug in das Familienvermögen gerissen hatten. Im Schweiße seines Angesichts und mit Schwielen an den Händen hatte er sein Land bestellt, endlich ein Bewässerungssystem anlegen lassen und seinen Pächtern geholfen, bessere Erträge zu erzielen. Doch der letzte Winter war hart gewesen und der Frühling hatte Überschwemmungen gebracht. Was er an Boden gut gemacht hatte, würde, wortwörtlich, schon bald wieder weggeschwemmt sein.

Deshalb würde er tun, was jeder Mann von Stand in seiner Situation machen würde. Er würde eine reiche Erbin heiraten.

Doch dieses lächerliche Gerücht, er sei mit der Tochter dieses Betrügers verlobt, könnte ihm alles verderben.

Sowie er zur Tür herein war, wies er den Diener an, seine Tasche zu packen, und überbrachte die Nachricht dann seiner Mutter.

Wie erwartet nahm Geraldine Warring, Dowager Duchess of Longhurst, sie nicht sonderlich gut auf. Unter dem straff zurückgebundenen, leicht ergrauten dunklen Haar legte ihre Stirn sich in ungläubige Falten. Und als der Name Hartley fiel, schien in ihren Augen der seit Jahren schwelende Hass auf, der nie ganz erlöschen würde. Sie presste ihre Lippen zusammen. „Du musst diese Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt schaffen.“

„Das habe ich vor, Mutter.“

„Davon hängt alles ab. Nicht nur die Zukunft von Longhurst, sondern auch die deines Bruders.“

Er mühte sich gerade mit einem Paar schwarzer Handschuhe ab, die ihm nach den Jahren körperlicher Arbeit kaum noch passten, doch das Zittern ihrer Stimme ließ ihn aufschauen. Besorgt sah er, wie ihre unteren Lidränder sich röteten.

Als ihre Blicke sich trafen, wandte sie sich schnell ab und machte sich an dem Blumenarrangement auf dem Tisch in der Halle zu schaffen.

Nach außen wirkte sie so hart, konnte streng und abweisend sein, wie die Umstände es ihr abverlangt hatte. Frauen, die sanftmütige Träumer heirateten, blieb oft gar keine andere Wahl. Doch wenn es um ihre Söhne ging, bekam die harte Fassade bisweilen Risse und eine weichere, unbestimmte Seite kam zum Vorschein.

Er warf die Handschuhe beiseite, legte ihr die Hand auf die Schulter und gab ihr einen mitfühlenden Kuss auf die Wange. Sein Mitgefühl erstreckte sich indes nicht auf seinen jüngeren Bruder, dessen impulsivem Wesen ihr Vater viel zu lange Nachsicht gezeigt hatte.

Rowan trieb sich seit Jahren in der Weltgeschichte herum. Kürzlich hatte es seit Langem mal wieder ein Lebenszeichen von ihm gegeben. Er werde, hatte er geschrieben, bald nach Hause kommen – vorausgesetzt, er könne das Leben führen, das sein Vater ihm einst versprochen hatte.

Jahrelang hatte Magnus kein Wort von ihm gehört und das Schlimmste befürchtet. Doch dann, vor einem Monat, hatte Mutter den Brief erhalten. Was hieß, dass er Miss Snows Mitgift nicht mehr nur dazu brauchte, das Anwesen über Wasser zu halten und die Familienkasse zu füllen, sondern auch, um seinem Bruder einen respektablen Lebensstil zu verschaffen.

Und ausgerechnet jetzt musste Hartleys Name wieder aus der Versenkung auftauchen und drohte ihm alles zu vermasseln.

„Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, dieses unvorhergesehene Problem aus der Welt zu schaffen“, versprach ihr Magnus.

Sie blinzelte schnell, ehe sie ihn ansah. „Es ist ja nur, weil ich Rowan so lang nicht gesehen habe und mir wünsche, dass er – dass ihr beide – alle Möglichkeiten haben sollt, die euch im Leben zustehen. Ich habe deinen Vater schließlich aus gutem Grund geheiratet.“

Magnus war solches Anspruchsdenken fremd. Umso wichtiger war es ihm jedoch, seiner Verantwortung nachzukommen. Und er kannte seinen Bruder und wusste, dass auf Rowan in dieser Hinsicht nicht zu zählen war. Sicherheit und Stabilität waren Fremdworte für ihn. Vermutlich bedeutete seine Heimkehr bloß, dass er vor irgendetwas auf der Flucht war. Wie üblich.

Aber bevor Magnus seinen wohlüberlegten Kurs zum Fortbestand der Warrings weiter verfolgen konnte, musste er erst mal herausfinden, was zum Henker Hartley diesmal wieder im Schilde führte.

3. KAPITEL

Für Verity war nur eines schlimmer als das schlechte Gewissen, das einer Lüge auf dem Fuße folgte: dass ihre Mutter und Lady Broadbent alles mitbekommen hatten.

Denn das bedeutete, dass sie es nicht einfach würde abstreiten können. Sie konnte nicht so tun, als habe Nell Hunnicutt es falsch verstanden oder sich gar alles ausgedacht. Den ohnehin angespannten Beziehungen zwischen beiden Häusern hatte sie damit einen unwiderruflichen Bärendienst erwiesen.

Zwei Tage waren vergangen seit der Großen Lüge. Zwei Tage, in denen sie jeden Moment damit rechnete, dass Nell wieder auftauchen und Verity ihre eine, dumme Lüge mit immer weiteren Lügen würde unterfüttern müssen. Wohin sollte das nur führen? Würde sie von der feinen belgischen Spitze in ihrer imaginierten Aussteuer schwärmen? Die Route der nur ausgedachten Hochzeitsreise beschreiben? Sich Namen überlegen für die Kinder, die sie mit einem Mann haben würde, dem sie kein einziges Mal begegnet war?

Allein der Gedanke war anstrengend. Irgendwann würde sie wegen dieser Dummheit zusammenbrechen, so sehr erschöpfte sie das alles.

Als daher eine Einladung zum Tee nach Swanscott Manor eintraf, wusste Verity, dass ihr Stündlein geschlagen hatte. Jetzt würde sich alles rächen, jedes Wort. Hätte sie ein Büßerhemd besessen, so würde sie es anlegen.

In Ermangelung mittelalterlicher Methoden der Selbstgeißelung streckte sie stattdessen den Kopf in Theas Zimmer und erklärte sich bereit, eine Rolle in ihrem Stück zu übernehmen.

„Und nur dass du es weißt“, setzte Verity schicksalsergeben nach, „dieser Auftritt wird mein Ende sein.“

Ihre Schwester zeigte sich davon ungerührt und grinste. „Eher wird das Publikum sich totlachen. Aber sei’s drum, unterhaltsam wird es so oder so.“

Diese unglaublich aufmunternden Worte im Ohr, verließ Verity Hartley Hall schweren, doch entschlossenen Schrittes.

Der Regen hatte schon vor Stunden aufgehört, aber sie zog trotzdem die Kapuze ihres Umhangs über. Kein Sonnenschein für die arme Büßerin, nur schlammige Pfützen. Und bis sie den Ort ihrer Anklage erreicht hatte, fühlten ihre Beine sich so bleiern an, als schleppe sie eiserne Fesseln hinter sich her.

Sehr zu ihrer Überraschung wurde sie ausgenommen freundlich in den Salon der Countess gebeten, dessen Wände bespannt waren mit floral gemusterten Seidentapeten, die Luft erfüllt vom Duft der Bouquets bunter Treibhausblumen. Aber sie würde sich von der heiteren Stimmung nicht täuschen lassen und machte sich aufs Schlimmste gefasst.

Man würde sie maßregeln, sie schelten, die Stimme erheben, mit dem Finger auf sie zeigen, bis es am Ende gar den Einsatz von Riechsalz brauchte, oh ja, sie sah es vor sich, nie würde sie diese Schmach überleben …

Weil sie die Ungewissheit dessen, was sie erwartete, nicht länger ertrug, setzte Verity, kaum dass sie zwei Schritte in den Salon gemacht hatte, zu einer Erklärung an. „Ich möchte mich aufrichtig dafür entschuldigen, Mylady, Ihre Familie in meine Lügengeschichte mit hineingezogen zu haben. Das war unverzeihlich von mir. Und ich kann nicht mal Nell Hunnicutt die Schuld geben, die mir schon immer ein Dorn im Auge war, dabei bin ich kaum besser, denn …“

Sowie die Worte heraus waren, folgte eine ganze Flut von Geständnissen, die sie später bereuen würde, aber sie konnte sich nicht zurückhalten.

Jede ihrer Unzulänglichkeiten wurde aufgelistet („… wie eine Topfpflanze, müssen Sie wissen …“), jede Schmach („… und dann landete ich auf allen vieren im Schlamm, und es war keineswegs das erste Mal …“), jede gut gemeinte, aber letztlich katastrophale Entscheidung („… und dann hing ich da am Spalier und die Hunde kläfften zu meinen Füßen, und den Rest wissen Sie ja selbst. Kein Moment ist seither vergangen, in dem ich nicht wünschte, ich wäre auf den Kopf gefallen …“).

Lady Broadbent wartete geduldig, bis sie fertig war, dann schüttelte sie den Kopf. „Gütiger Himmel, das nahm ja gar kein Ende mehr! Dachten Sie, ich hätte Sie herbestellt, um Sie auspeitschen zu lassen?“

„Nun ja … so etwas in der Art.“

Die Countess drehte sich um und klingelte mit dem kleinen Silberglöckchen, das neben ihr auf dem Tisch stand. Sogleich erschien ein Dienstmädchen an der Tür. „Adelaide, bringen Sie uns bitte die neunschwänzige Katze.“ Als das Mädchen nur verwirrt blinzelte, setzte sie nach: „Oder nein, vergessen Sie es. Bringen Sie uns einfach Tee und ein wenig Gebäck.“

Das Mädchen knickste und ließ sie allein. Lady Broadbent deutete auf das cremefarbene Damastsofa und verzog leicht spöttisch die Mundwinkel.

„Mylady haben mich nicht herbestellt, um mich zu züchtigen?“, fragte Verity, als sie sich ganz vorn auf die Sitzkante sinken ließ.

In einem Haushalt aufgewachsen, in dem immerzu mit allem zu rechnen war – beispielsweise mit Hühnern, die im Salon herumflatterten, oder Vater, der vorgab, Mutter habe ihm Gift ins Essen getan, um im Speisezimmer sein grausiges Sterben zu inszenieren –, neigte sie dazu, alles zu hinterfragen und den Dingen auf den Grund zu gehen.

Die Countess wischte ihren Einwand mit einer vagen Geste beiseite und schüttelte erneut den Kopf. „Unsinn, meine Gute. An Ihrer Stelle hätte ich womöglich genauso gehandelt. Tatsächlich habe ich wohl auch ein-, zweimal geflunkert, um Lord Broadbent auf mich aufmerksam zu machen.“

„Oh, aber es ging mir nicht darum, Ihren Enkelsohn auf mich aufmerksam zu machen. Tatsächlich wäre es mir lieber, wenn er nie davon erfahren würde. Glauben Sie, wir könnten das irgendwie einrichten? Das Gerücht im Keim ersticken, bevor es sich weiter verbreitet?“

„Gerüchte entwickeln schnell ein Eigenleben, fürchte ich. Wenn sie einmal in der Welt sind, fängt man sie nicht wieder ein.“

Verity nickte düster. Sie hatte die Dienerschaft in Hartley Hall belauscht und daher wusste sie, dass ihre Lüge sich schneller im Dorf verbreitete als Hühnerfedern im Salon. Besucher kündigten sich an und Leute, die sie bislang kaum zur Kenntnis genommen hatten, schickten Glückwünsche.

Ohnehin nutzten die Dorfbewohner jeden Vorwand, um bei ihrem Vater vorbeizuschauen, hofften sie doch stets darauf, für eines seiner Stücke besetzt zu werden.

„Mein einziger Trost ist, dass es nicht allzu lange währen wird. Die Wahrheit dürfte eher früher als später ans Licht kommen“, sagte Verity.

Und dann würden alle sie wieder ganz mitleidig anschauen, genau wie damals, nach dem Vorfall in der Bäckerei. Oje. Noch so ein Alptraum, wenn auch von anderer Art, doch sie wollte sich einem Problem nach dem anderen widmen.

„Das mag sein“, meinte die Countess. „Aber meiner Erfahrung nach dichten die Leute sich ihre eigene Wahrheit zurecht.“

Genau das hatte auch Veritys Vater gesagt, als sie ihm alles gebeichtet hatte. Und wer wüsste das besser als Conchobar Hartley, für den Lüge und Wahrheit zwei Seiten derselben Medaille waren. Wenn man eine Münze nur schnell genug drehte, konnte man Kopf und Zahl nicht mehr auseinanderhalten.

Die Vorstellung ließ ihr ganz schwindelig werden. Ihre Lüge war schlimm genug. Aber wenn sie jetzt noch ein Eigenleben entwickelte …

„Niemand, der noch halbwegs bei Verstand ist, wird diese an den Haaren herbeigezogene Geschichte glauben. Allein die Vorstellung romantischer Verwicklungen zwischen Angehörigen unserer Familien … Das hätte shakespeare’sche Züge. Wir sind doch praktisch wie die Capulets und die Montagues“, überlegte sie, verspürte leisen Neid auf Julia und wünschte, sie hätte auch einen willkommnen Dolch, um ihrem Elend ein Ende zu bereiten. „Außerdem bin ich Ihrem Enkel noch kein einziges Mal begegnet.“

Lady Broadbent schien von den nicht minder haarsträubenden Ausführungen ihrer Besucherin weder brüskiert noch beunruhigt. Sie spitzte lediglich die Lippen und ließ sich zu einem unverbindlichen Hmm-hmm hinreißen, ungefähr so, als zucke sie mit den Schultern. „Solche Nebensächlichkeiten spielen kaum eine Rolle, wenn das Gerücht zu verlockend ist. Zweifellos macht schon ein neues die Runde, wie Sie beide sich kennengelernt haben.“

Als das Dienstmädchen in diesem Moment mit dem Teetablett in Händen wieder auftauchte, erkundigte Lady Broadbent sich sogleich. „Sag einmal, Adelaide, hast du etwas Neues über meinen Enkel und Miss Hartley gehört?“

„Wenn ich so frei sein darf, Mylady“, begann das Mädchen, während es alles auf dem Rosenholztischchen arrangierte. „Ich hab gehört, dass Mr. Hartley, der Bruder der jungen Dame, sie vor Jahren einander vorgestellt hat und dass sie sich seitdem heimlich schreiben.“

Lady Broadbent hob fasziniert die Brauen und richtete den Blick auf Verity. „Liebesbriefe, versteht sich. Leidenschaftliche Liebesbriefe.“

„Oh ja, Mylady, sehr. Mrs. Rayburn von der Post hat erzählt, wie sie vor ein paar Monaten versehentlich einen abgefangen hat. Die Adresse war so unleserlich, und wie sie ihn dann geöffnet hatte, fand sie darin eine Haarlocke von Seiner Durchlaucht sowie ein Gedicht, das er für sie verfasst hat, in dem es um ihre Liebe ging, die nur im Geheimen erblühen könne, weil ihre Familien doch bis aufs Blut verfeindet sind. Es hat uns alle sehr bewegt, das muss ich schon sagen.“

Verity stöhnte. Von allen Herzögen, die sie sich für ihre kleine Lüge hätte erwählen oder erfinden können, warum hatte sie ausgerechnet ihn nehmen müssen? Und warum schien niemand, außer ihr selbst, den Ernst der Lage zu erkennen?

Zutiefst beunruhigt stand sie auf und trat ans Kastenfenster. Der Blick hinaus war von neun bleigefassten Scheiben unterteilt, eine wohlgeordnete Welt. Oben der Himmel, in der Mitte der Horizont, unten der Garten. Es wäre so einfach gewesen, ihr kleines, wohlgeordnetes Leben weiterzuführen wie bisher, wenn sie einfach bloß den Mund gehalten hätte.

Verity hatte den Duke ein paar Mal gesehen, wenn er zu Besuch bei seiner Großmutter war und sie ins Dorf begleitete. Aber das war Jahre her und immer nur vom Weiten. Sie hatte sich auch nicht für ihn interessiert. Die Verehrer ihrer Schwestern hatten ihr immer schon gereicht.

Oh, und natürlich war er mit ihrem Bruder auf die Jagd gegangen, und sie hatte die beiden von ihrem Fenster aus über die große Weide davonreiten sehen. Aber auch das war Jahre her. Und Truman hatte nie Freunde mit zum Essen gebracht, aus dem ganz einfachen Grund, dass seine Familie ihn garantiert damit in Verlegenheit bringen würde, nach – oder gar noch während – des Essens ein Stück zu improvisieren.

„Dieses Gerede ist doch lächerlich. Würde ein Mann, der leidenschaftliche Liebesbriefe schreibt, denn nicht mal den Wunsch verspüren, das Dorf seiner Liebsten – oder wenigstens seine Großmutter – zu besuchen? Verzeihen Sie, Mylady. Aber haben denn alle vergessen, dass er seit Jahren nicht mehr hier war?“

„Da Sie es gerade erwähnen …“, begann Lady Broadbent.

Aber Verity ließ ihr keine Gelegenheit, den Satz zu beenden. Zu sehr regte das alles, dieser ganze Irrsinn, den sie mit ihrer dummen Lüge ausgelöst hatte, sie auf. „Wahrscheinlich interessiert es auch niemanden, dass Seine Gnaden und ich uns noch nie begegnet sind. Im Dorf erfinden sie lieber Briefe, die nie geschrieben wurden. Mein einziger Trost bleibt, dass wirklich niemand ehrlich von sich behaupten kann, mich und den Duke schon einmal zusammen im selben Raum gesehen zu haben.“

Hinter ihr räusperte sich jemand, und als sie sich umdrehte, blieb ihr fast der Mund offen stehen.

In der Tür stand ein Mann. Ein Gentleman. Und nicht irgendein Gentleman.

Oh nein. Nein, nein, nein. Das darf nicht wahr sein, dachte sie, als sie den Mund wieder zuklappte und das Herz ihr bis zum Hals schlug.

War es aber. Er war es. Der Duke of Longhurst war hier!

Obwohl sie ihn immer nur von Weitem gesehen hatte, hätte sie sein rabenschwarzes Haar und die stolzen, breiten Schultern überall erkannt.

Was sie von fern indes nie bemerkt hatte, war, wie scharf umrissen seine Kinnpartie war, wenn er wie jetzt den Kiefermuskel spannte. Wie aus Granit gehauen, und sein Mund, bar aller Freundlichkeit, musste aus demselben Material sein.

Aus der Nähe sah sie auch, dass seine Haut nicht die vornehme Blässe hatte, sein Gesicht gebräunt war und hager. Unter schweren dunklen Brauen sah ein Paar hellbrauner Augen sie mit so glühender Intensität an, als lodere in seinem Schädel das Feuer von Honorias trojanischem Drachen, mit dem er alles niederbrannte, was sich ihm in den Weg stellte.

Und das war im Moment Verity.

„Wie ich bereits sagte“, fuhr die Countess fort, „der Grund, aus dem ich Sie heute herbat, ist der Besuch meines Enkels. Ich dachte, Sie beide hätten vielleicht ein paar Dinge zu klären. Magnus, ich möchte dir Miss Hartley vorstellen – Verity, mein Enkelsohn.“

Er blieb mit einem knappen, kaum höflichen Nicken an der Tür stehen und ließ seinen Blick auf ihren schlammbespritzten Röcken ruhen, ihn langsam wieder nach oben wandern, ehe er wieder sie ansah.

Ein Teil von ihr fragte sich, ob noch jemand Schwefel und Rauch roch oder ob sie sich das bloß einbildete. Der ...

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