Ransom Canyon: Lone Heart Pass

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Ransom Canyon 3: Lone Heart Pass

Die Ransom-Canyon-Saga geht weiter!

Wo Familienbande geknüpft und zerrissen werden, wo junge Liebe auflodert, während alte Flammen erlöschen, führt der Weg in ein neues Zuhause über den Lone Heart Pass im Ransom Canyon.

Die heruntergekommene Lone Heart Ranch, die Jubilee Hamilton geerbt hat, ist nach einem Desaster ihre letzte Chance für einen Neuanfang. Ihr Verbündeter dabei ist Charley Collins: ihr neuer Vorarbeiter, Single-Dad und der Einzige, der sie vor dem Ruin retten kann.

Bis jetzt endete jede Beziehung von Charley in einer Katastrophe. Damit ist jetzt Schluss, schwört er sich. Trotzdem wächst zwischen ihm und Jubilee täglich die Anziehungskraft. Gegen seinen Willen steuern sie auf eine heiße Affäre zu – und in die nächste Katastrophe in Charleys Leben?

Vernachlässigung und Verzweiflung ist alles, was der junge Thatcher Jones kennt. Als er in eine Morduntersuchung verwickelt wird, kann er nur noch Jubilee und Charley vertrauen …


  • Erscheinungstag 25.10.2025
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783751538169
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jodi Thomas

Ransom Canyon: Lone Heart Pass

1. KAPITEL

Jubilee Hamilton

November 2009

Die Georgetown Street vor dem Büro von Jubilee Hamilton glich eher einem schlammigen Fluss als einer schönen alten Backsteinstraße.

„Warum muss es am Wahltag immer regnen?“, fragte sie die lebensgroße Figur ihres Kandidaten.

Die wenigen Freiwilligen, die noch im Wahlkampfbüro waren, räumten ihre Schreibtische auf. Die Wahllokale waren noch keine Stunde geschlossen und Jubilees Kandidat war bereits zum Verlierer erklärt worden.

Oder vielleicht war sie die Verliererin. Vor zwei Monaten hatte sich ihr Lebensgefährte von ihr verabschiedet – der Mann, von dem sie geglaubt hatte, dass sie eines Tages mit ihm zusammenziehen und zwei bis fünf Kinder haben würde. David hatte sie selbstverliebt und arbeitssüchtig genannt. Und dann hatte er ihr auch noch vorgeworfen, kalt, gedankenlos und egozentrisch zu sein.

Als sie widersprach, stellte er nur eine Frage: „Wann ist mein Geburtstag, Jub?“

Sie verschränkte die Arme, als wollte sie zeigen, dass sie nicht auf seine Spielchen einging. Doch diesmal gab ihr sanftmütiger Liebhaber nicht nach. „Nun?“ Todunglücklich sah er sie an.

Als sie nicht antwortete, fragte David noch einmal: „Wir sind jetzt seit drei Jahren zusammen. Wann habe ich Geburtstag, Jub?“

„Am neunzehnten Februar“, vermutete sie.

„Nicht mal annähernd.“ David griff nach seiner Aktentasche und ging zur Tür. „Ich hole meine Sachen, wenn die Wahl vorbei ist. Bis dahin wirst du ohnehin keine Zeit für mich haben.“

Jubilee hatte auch keine Zeit, ihn zu vermissen. Sie musste einen Wahlkampf organisieren und arbeitete so viele Stunden, dass sie jede zweite Nacht im Büro schlief. Irgendwann in den folgenden Wochen kam David bei ihr vorbei und packte seine Sachen. Als sie nach Hause kam, wartete ein Berg von Umzugskartons auf sie, auf allen stand ein „D“. Sie erinnerte sich nur an ihre Erleichterung, dass er ihre frisch gewaschene Kleidung hatte hängen lassen.

Ein paar Tage später waren die Ds verschwunden und ein Wohnungsschlüssel lag auf dem Tresen. Ihr blieb keine Zeit, David oder seine Kartons zu vermissen.

Jubilee hatte daran gedacht, zu weinen, ließ es aber bleiben. Schon vorher waren Freunde verschwunden. Zwei während des Studiums, einer vor David, als sie in Washington gelebt hatte. Für Liebhaber würde später Zeit sein. Jetzt, mit sechsundzwanzig, musste sie sich um ihre Karriere kümmern. Wie immer war die Arbeit ihr Leben. Männer waren nur Statisten. Sie konnte mit ihnen leben, aber genauso gut auch ohne sie.

Sie hatte kaum die wachsenden Stapel an Post oder das Schild an der Tür bemerkt, auf dem stand, dass sie zwei Wochen Zeit hätte, das Haus zu räumen.

Es hatte angefangen zu regnen. Die Wahl war vorbei. Ihr Kandidat hatte verloren. Sie hatte verloren. Am nächsten Morgen wartete kein Job mehr auf sie. Und diesmal würde David sie nicht an der Tür empfangen, um sie zu trösten.

Ihre dritte Niederlage als Wahlkampfmanagerin. Beim dritten Mal bist du raus, dachte sie.

Sie ging allein durch den Regen, ohne darauf zu achten, dass ihre Kleidung durchnässt wurde. Sie hatte so viel gegeben – und am Ende nichts bekommen. Nicht einmal einen Anruf von dem Kandidaten, für den sie Tag und Nacht gearbeitet hatte.

Als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss, die mehr einem Lagerraum als einem Zuhause glich, wunderte sie sich kaum, dass das Licht nicht anging. Um kleinere Dinge wie das Bezahlen der Rechnungen hatte sich immer David gekümmert.

Sie ließ sich auf eine der Kisten sinken und griff nach ihrem Telefon, doch dann wurde ihr bewusst, dass sie niemanden anrufen konnte. Keine Freunde. Keine alten Schulfreunde, mit denen sie in Kontakt geblieben war. Alle Nummern in ihrem Handy waren geschäftlich, bis auf drei ihrer Familie. Sie scrollte hinunter zu den Hamiltons. Die erste Nummer gehörte ihren Eltern. Sie hatten nicht mehr mit ihr gesprochen, seit sie die Hochzeit ihrer Schwester verpasst hatte. Jubilee zuckte mit den Schultern.

Wie wichtig war schon eine Brautjungfer?

Destinys Hochzeit war trotzdem wunderschön gewesen. Jubilee hatte die Fotos auf Facebook gesehen. Wäre sie dort gewesen, die zu große, zu dünne Schwester, hätte sie nur Destinys perfekten Tag gestört.

Sie scrollte weiter in der Liste. Destiny. Ihre sechs Jahre ältere Schwester, stets hübscher, immer klüger und nie besonders erfreut, sie um sich zu haben.

In Gedanken ging Jubilee ihre Kindheit durch, als blätterte sie durch alte Karteikarten.

Als sie drei war, hatte Destiny ihr alle Haare abgeschnitten. Als Jubilee fünf war, hatte ihre Schwester ihr erzählt, sie wäre adoptiert. Mit sieben hatte sie Jubilee nach Einbruch der Dunkelheit im Park zurückgelassen. Mit zehn hatte sie ihre Fahrradreifen aufgeschlitzt, damit Jubilee ihr nicht hinterherfahren konnte. Oh ja, dachte Jubilee, nicht zu vergessen, dass du mir gesagt hast, ich würde sterben, als ich meine erste Periode bekam. Die ganze Familie hatte gelacht, als sie mit zwölf ihr Testament aufgesetzt hatte.

Eine nach der anderen fielen die Karteikarten in ihrem Kopf zu Boden, und das Bedürfnis, mit Destiny zu reden, verschwand. Egal wie ihr Nachname heute lautete.

Wenn große Schwestern auf einer Skala von eins bis zehn bewertet würden, würde Destiny im zweistelligen Minusbereich rangieren.

Sie scrollte weiter zum nächsten Hamilton. Ihr Urgroßvater. Mit elf hatte sie einen Sommer bei ihm verbracht, weil ihre Eltern mit Destiny Universitäten anschauen wollten. Als sie Jubilee bei Grandpa Levy absetzten, hatten sie gewunken und gelächelt, als würden sie ein lästiges Haustier im Tierheim abgeben.

Zwei Wochen später riefen sie an und erklärten, sie könnten wegen einer Autopanne nicht nach Texas kommen, um sie abzuholen. Eine Woche später stand die nächste Universitäts-Besichtigung an. Dann wollte ihr Vater warten, bis er ein paar Tage freihätte, damit die Reise von Kansas nach Texas nicht so anstrengend für die Familie wäre.

Bevor sie zurückkamen, hatte Jubilee die ersten zwei Wochen Schule verpasst und es war ihr egal gewesen. Sie wäre gern für immer auf der Ranch geblieben.

Grandpa Levy war grimmig und alt. Schon mit elf hatte sie verstanden, dass der Rest der Familie ihn nicht leiden konnte und das wertlose, trockene Farmland nicht wollte, auf dem er seit seiner Geburt lebte. Levy redete mit vollem Mund, fluchte mehr, als die Methodisten erlaubten, badete nur einmal in der Woche und beschwerte sich über alles, nur nicht über sie.

Als ihre Eltern sie schließlich abholten, nahmen sie sich kaum die Zeit, den Motor abzustellen. Der alte Mann umarmte sie nicht, legte aber die wettergegerbte Hand fest auf ihre Schulter, als könnte er es nicht ertragen, sie gehen zu lassen.

Das bedeutete mehr, als Worte je hätten ausdrücken können.

Jubilee hatte nie jemandem erzählt, wie wunderbar Grandpa Levy zu ihr gewesen war. Er hatte ihr ein Pferd geschenkt und ihr das Reiten beigebracht und den ganzen Sommer über war sie an seiner Seite gewesen. Sie sammelte Eier, half bei der Geburt von Kälbern und mähte Gras. Zum ersten Mal in ihrem Leben sagte ihr niemand, was sie falsch machte.

Jubilee starrte auf seine Nummer. Seit Weihnachten hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen. Aber als sie seine raue Stimme gehört hatte, hatte sie sich sofort wieder wie das elfjährige Mädchen gefühlt, das ständig kicherte und ihm Dinge erzählte, die ihn wahrscheinlich nicht interessierten.

Ihr Großvater hatte ihr zugehört und zu ihren Schimpftiraden Kommentare abgegeben wie: „Du wirst es schon noch verstehen, Kind. Gott hat dir den Verstand ja nicht aus Versehen gegeben.“

Sie wollte mit ihm reden, musste ihm sagen, dass sie noch immer nichts herausgefunden hatte.

Jubilee wählte seine Nummer und hörte das Freizeichen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das alte Haustelefon, das an der Wand zwischen Küche und Wohnzimmer hing. Sie konnte es beinah durch die leeren Schlafzimmer und staubigen Flure läuten hören. Ihr Großvater bewohnte im Grunde nur die beiden Zimmer neben der Küche, die anderen nutzte er, wie er immer sagte, „nur zum Schlafen.“

„Geh ran“, flüsterte sie. Sie musste wissen, dass noch jemand da draußen war. In dieser Nacht, in diesem Moment, fühlte es sich an, als wäre sie ganz allein auf der Welt. „Bitte, Grandpa, geh ran.“

Nach dem zwanzigsten Klingeln legte sie auf. Der alte Mann hatte nicht einmal einen Anrufbeantworter und von einem Mobiltelefon hatte er wahrscheinlich noch nie etwas gehört. Vielleicht war er im Stall oder drüben beim Korral, wo von Frühjahr bis Herbst die Cowboys wohnten, die für ihn arbeiteten. Vielleicht war er auch die zweispurige Straße entlang in die Stadt gefahren, wie er es einmal im Monat tat.

Falls ja, saß er jetzt bestimmt im kleinen Café in Crossroads beim Abendessen und hatte gerade zwei Stück von Dorothys Pie bestellt.

Sie wünschte, sie säße ihm gegenüber in der Nische.

Im schwachen Schein der Straßenlaterne ging sie zum Kamin und zündete die Holzscheite an. Seltsam, dass sie ihn nach mehr als einem Dutzend Jahren immer noch vermisste, obwohl sie nie jemanden sonst vermisst hatte. Jahrelang hatte sie bei ihren Eltern gelebt und erinnerte sich nur an Bruchstücke, aber sie erinnerte sich an jeden einzelnen Moment jenes Sommers.

Als die in Papier gewickelten Holzscheite Feuer fingen, tanzte das Licht der Flammen auf den Kartons und den leeren Wänden ihrer Welt. Im warmen Kühlschrank fand sie eine halbe Flasche Wein und eine Tüte mit Halloween-Süßigkeiten. Sie war nicht zu Hause gewesen, um sie zu verteilen. Sie kuschelte sich vor dem Feuer in einen Sessel und begann, die Post zu lesen. Die meisten Umschläge warf sie, ohne sie zu öffnen, direkt in den Kamin. Werbebriefe. Briefe von Fremden. Kataloge, voller Dinge, die sie weder brauchte noch wollte.

Einen nach dem anderen warf sie die Umschläge in die Flammen, zusammen mit allen Hoffnungen und Träumen, die sie für ihre Karriere als Wahlkampfmanagerin gehabt hatte.

Im letzten Poststapel bemerkte sie einen großen weißen Umschlag, der an sie adressiert war. Aus einer plötzlichen Neugier heraus warf sie ihn nicht sofort ins Feuer. Der Poststempel war über einen Monat alt. Bestimmt nichts Wichtiges, sonst hätte man sie angerufen.

Langsam öffnete sie den Umschlag.

Als sie den oberen Teil der Seite überflog, brach sie in Tränen aus. Dann begann sie, Levy Hamiltons Testament zu lesen. Wort für Wort. Laut. Um den Schmerz der Wahrheit zu spüren.

Die letzte Seite war eine hingekritzelte Notiz auf dem Briefpapier eines Anwalts.

Levy ist vor zwei Monaten gestorben, Miss Hamilton. Wir konnten keine Angehörigen erreichen, also habe ich seinem Wunsch entsprochen und ihn auf seinem Land beerdigt. Als er Sie zur Alleinerbin der Lone Heart Ranch machte, sagte er mir, Sie würden schon wissen, was mit dem alten Anwesen zu tun ist. Ich hoffe, diese Nachricht erreicht Sie irgendwann.

Wir sehen uns, wenn Sie hier sind.

Jubilee drehte den Umschlag um. Er war zweimal weitergeleitet worden, bevor er bei ihr angekommen war.

Sie legte das Testament beiseite und weinte so heftig wie noch nie zuvor in ihrem Leben – um den einzigen Menschen, der sie je wirklich geliebt hatte. Den einzigen Menschen, den sie je geliebt hatte.

Nachdem das Feuer heruntergebrannt war und die Schatten langsam um das letzte Licht tanzten, glaubte sie, Levys Hand auf ihrer Schulter zu spüren. Seine Finger schienen sie nicht loslassen zu wollen.

Im Morgengrauen packte sie ihre letzten Kleidungsstücke zusammen, rief eine Lagerfirma an, damit sie die Kisten abholten, und verließ ihr Leben in Washington mit einem Koffer und ihrer leeren Aktentasche.

Über die Feiertage würde sie zu ihren Eltern fahren. Sie wollte versuchen, die verlorenen Teile ihrer selbst zu finden und herauszubekommen, ob sie sie wieder zusammensetzen konnte.

Doch ob ganz oder zerbrochen, sie würde dort neu anfangen, wo der Wind niemals ganz nachließ und Staub zu jeder Mahlzeit gehörte. Sie hatte zwar nur ein paar Monate dort gelebt, aber die Lone Heart Ranch war der einzige Ort, an dem sie sich je wirklich zu Hause gefühlt hatte.

2. KAPITEL

Charley Collins

Februar 2010

„Nächste Runde, Charley.“ Der Junge auf der anderen Seite der Bar war kaum alt genug, um zu trinken, aber sein Lachen war laut und seine Stimme fordernd. „Es ist Valentinstag und keiner von uns hat ein Date. Wenn das kein Grund zum Trinken ist.“

Charley Collins fluchte leise vor sich hin. Die Uni-Jungs hatten eindeutig schon genug, aber wenn er sie nicht bediente, würde er gefeuert, und er konnte es sich nicht leisten, noch einen Job zu verlieren. Diese dunkle, staubige Bar war nichts Besonderes, aber seine Arbeit hier sorgte für Essen auf dem Tisch und Benzin in seinem Pick-up.

„Bist du nicht der Bruder von Reid Collins?“, fragte der Einzige der Jungs, der noch halbwegs klar sprechen konnte. „Du siehst aus wie er. Größer, vielleicht ein bisschen älter. Hast das gleiche rotbraune Haar wie er. Sieht aus wie Red-River-Schlamm, wenn du mich fragst.“

Bevor Charley etwas erwidern konnte, schüttelte ein anderer Betrunkener heftig den Kopf. „Ein Bruder von Reid wäre sicher kein Barkeeper.“ Er rülpste. „Die Collins sind reich. Stinkreich. Sie besitzen mehr Land, als ein Cowboy an einem Tag abreiten kann.“

In der Hoffnung, die Jungs würden das Interesse verlieren, ging Charley zum anderen Ende der Bar. Er verabscheute, wie sie den ganzen Abend über Frauen gesprochen hatten, aber das war ihm immer noch lieber, als ihr Gerede über ihn zu hören.

Der halbwegs Nüchterne fuhr gerade so laut fort, dass Charley ihn verstehen konnte: „Ich habe gehört, dass Reid einen großen Bruder hat, ein paar Jahre älter als er. Papa Collins hat seinen ältesten Sohn verleugnet. Reid sagte, sein Vater hätte seinen Bruder von einem bewaffneten Wachmann von der Ranch eskortieren lassen wie einen Verbrecher. Angeblich hat Davis Collins seinem eigenen Sohn gedroht, dass er ihn wegen Hausfriedensbruchs erschießen ließe, wenn er je wieder einen Fuß auf sein Land setzen würde.“

Charley hob den Kasten mit den Bierflaschen auf und ging nach draußen. Er hatte genug gehört und brauchte dringend frische Luft.

Nach einigen Schritten nahmen der Lärm und die Gerüche der Bar ab, aber er ging weiter durch die Gasse. Nachdem er die Flaschen neben die Mülltonnen gestellt hatte, ließ er den Blick über das offene Land hinter dem Two Step Saloon schweifen und atmete tief ein. Er brauchte saubere Luft, Raum und Stille. Er war für das weite Land der Prärie geboren und wusste nicht, wie lange er es noch aushalten würde, tagsüber in einer Bar zu schuften und nachts in einer winzigen Zweizimmerwohnung darüber zu schlafen.

Jedes Mal wenn er dachte, es könnte nicht schlimmer werden, wurde er eines Besseren belehrt.

Während er in den Nachthimmel hinaufschaute, hätte er am liebsten geflucht oder seinen Ärger in Alkohol ertränkt. Aber das Fluchen wollte er sich nicht angewöhnen und Alkohol konnte er sich nicht leisten.

Er wollte nicht aufgeben oder weglaufen. Nicht ohne etwas in der Hand zu haben, um irgendwo neu anzufangen. Und wenn er ehrlich war, passte ein anderer Ort nicht zu ihm. Texas war ein Teil von ihm. Er gehörte hierher, auch wenn es ihm so vorkam, als würde die Hälfte der Leute im Umkreis von hundert Meilen versuchen, ihn zu vertreiben.

Wie ein Bergmann, der noch einmal tief Luft holte, bevor er zurück in die Dunkelheit stieg, atmete Charley ein und drehte sich um.

Im Schatten nahe der Hintertür sah er eine hochgewachsene Frau. Selbst ihre Silhouette war makellos. Langes, dunkles Haar wehte im Wind wie ein Umhang um ihre Schultern. Für einen Moment hoffte er fast, sie wäre nur ein Geist. In letzter Zeit hatte er wesentlich weniger Angst vor Geistern als vor Frauen.

Als er noch einen halben Meter entfernt war, erkannte er ihr Gesicht – nicht, dass er mehr als ihre Silhouette gebraucht hätte, um zu wissen, wer sie war.

„Hallo, Lexie. Hast du die Abzweigung zur Damentoilette verpasst?“

Ihr Lachen war leise und sexy. Sie war jetzt in den Dreißigern, hatte aber nichts von der Schönheitskönigin eingebüßt, die sie einmal gewesen war. Vor einer Stunde war sie mit einem Mann im Anzug und schicken Stiefeln hereingekommen. Die Stiefel sahen aus, als wären sie noch nie mit einem Krümel Dreck in Berührung gekommen.

„Ich bin dir nach draußen gefolgt, Charley.“ Sie wirkte wie eine Spinne, die darauf lauerte, dass sich eine Fliege in ihrem Netz verfing.

„Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du verdammt gut aussiehst? So groß und schlank und mit diesen wunderschönen blauen Augen … Ich wollte mich eigentlich auf meinen zukünftigen Ex-Ehemann konzentrieren, konnte den Blick aber nicht von dir losreißen. Du bist diese perfekte Mischung aus Prinz Charming und Bad Boy. Wie gut ein Mann im Bett ist, erkenne ich schon daran, wie er sich bewegt – und du, Schatz, bist purer Sex-Appeal auf zwei Beinen.“

Charley überlegte kurz, ob er widersprechen sollte. Sie musste blind sein. Seit zwei Monaten war ein neuer Haarschnitt überfällig, die letzte Rasur lag vier Tage zurück und in seinen Jeans und dem Hemd hatte er schon die letzten beiden Nächte geschlafen.

„Ja, die Lüge habe ich schon mal gehört“, erwiderte er trocken. „Meine letzte Stiefmutter hat mir auch erzählt, wie unwiderstehlich ich bin – eine Stunde bevor mein Vater mich rausgeworfen hat.“

Lexie trat näher. „Das muss eine wilde Stunde gewesen sein.“

Er hatte nicht vor, ins Detail zu gehen. Wahrscheinlich wusste ohnehin schon die halbe Stadt Bescheid. Seit der Highschool fuhr er sein Leben regelmäßig gegen die Wand. Selbst Frösche hatten mehr Verstand, wenn es um Frauen ging. In seinem letzten Studienjahr hatte sein Vater, der mächtige Davis Collins, schließlich genug gehabt.

Eigentlich war Charley während der Weihnachtsferien nur ein paar Tage nach Hause gekommen, um endlich mit seinem Vater über seine Zukunft zu reden. Charley hatte studiert, um die Leitung der Ranch zu übernehmen, die seit hundert Jahren seiner Familie gehörte. Bis zum Abschluss fehlte ihm nur noch ein Semester, und sein Vater wollte ihm die Arbeit überlassen, um mit seiner neuesten, hirnlosen Frau durch die Welt zu reisen.

Sie war die vierte Ehefrau seines Vaters, jung genug, um dessen Tochter zu sein. Charley hatte noch nie Nein zu einer hübschen Frau gesagt und es auch nicht getan, als sie nur in einem hauchdünnen seidenen Pyjamahöschen in sein Zimmer gekommen war. Sie hatte kein Wort gesagt, nur die Tür hinter sich geschlossen und gelächelt.

Der Rest war allgemein bekannt. Sein alter Herr hatte sie in flagranti erwischt und ihn von der Ranch gejagt. Alles, was Charley gehörte – sogar sein Pferd –, ließ sein Vater von ein paar Cowboys in einen Anhänger verladen und zu Charleys Adresse an der Uni bringen.

Noch vor Jahresende waren Charleys Konten und Kreditkarten gesperrt. Er musste die Universität abbrechen und sich einen Vollzeitjob suchen. Also gab er seinen Traum vom abgeschlossenen Studium auf und kam nach Hause, nach Crossroads, Texas, zu seinen wenigen echten Freunden.

Sie hatten ihm Hilfe angeboten, aber irgendwann musste er sein Leben selbst in die Hand nehmen. Selbst ein mieser Job und eine Bruchbude als Wohnung waren besser als Almosen.

Aber was Lexi ihm hier anbot, waren keine Almosen.

„Was machst du in der Stadt, Lexie?“

„Ich versuche, das alte Haus meiner Tante loszuwerden. Kennst du jemanden, der es kaufen möchte? Das Haus ist riesig.“

„Nein.“

„Wann hast du Feierabend, Charley? Wir könnten uns nach Mitternacht noch ein bisschen amüsieren. Mein Süßer muss in ein paar Minuten zurück nach Dallas und dann bin ich ganz allein.“

„Danke für das Angebot, aber nein.“ Er löste den Arm aus ihrer Umklammerung. „Vielleicht ein anderes Mal.“

Am liebsten wäre er durch die offene Tür zurück in den Lärm und Gestank geflüchtet. Das wäre immer noch angenehmer gewesen als das, was Lexie ihm gerade angeboten hatte.

Charley arbeitete hinter der Bar und bemerkte nicht, wie sie ging. Als er wieder hochsah, war der Tisch, an dem sie gesessen hatte, leer. Lexie war Gift und das brauchte er nicht.

Ein paar Stunden später war es ruhig in der Bar und alle Betrunkenen waren gegangen. Nachdem er die letzten Gläser gespült hatte, machte er sich auf den Weg nach oben in seine Wohnung. Beim Vorbeigehen nickte er dem Besitzer der Bar Ike Perez zum Abschied zu.

„Sag Daniela, sie soll sofort runterkommen. Ich will nicht auf sie warten.“ Perez klang brummiger, als er war. Er gehörte zu den wenigen in der Stadt, die Charley eine Chance gegeben hatten. Kurzzeitjobs fand man genug, aber er brauchte etwas Festes. Zu diesem Job gehörte neben dem niedrigen Gehalt auch ein Platz zum Leben.

Charley klopfte an seine eigene Wohnungstür.

Die fünfzehnjährige Daniela riss die Tür auf und rieb sich die Augen. „Ich weiß“, murmelte sie. „Daddy will los.“

„Schläft die kleine Prinzessin?“, fragte Charley, als er an dem Mädchen vorbeiging. Mit ihren Einssechzig war sie wahrscheinlich schon ausgewachsen. Daniela war jung, aber eine gute Babysitterin.

„Ja. Ich habe eine neue Taktik.“ Daniela kicherte. „Ich lasse sie so lange fernsehen, bis sie einschläft. Sonst hört sie nie auf zu reden. Das Kind hat vielleicht eine Fantasie!“

Charley reichte Daniela ihren Rucksack. „Danke.“ Dann gab er ihr einen Zehner – die Hälfte seines Trinkgelds heute Abend.

„Kein Problem. Ich bin lieber hier als zu Hause, wo ich Mama beim Kochen fürs Wochenende helfen muss.“ Sie stapfte die Treppe hinunter. „Gute Nacht, Mr. Collins. Bis nächstes Wochenende.“

Charley schloss die Tür, zog seine Stiefel aus und schlich auf Zehenspitzen in das Schlafzimmer. Ein winziges Nachtlicht erhellte den Raum gerade genug, dass er die kleine Erhebung im Bett erkennen konnte. Vorsichtig setzte er sich neben Lillie und zog ihren kleinen Körper an sich. Er liebte ihren Duft, das weiche Haar.

„Gute Nacht, Kleines“, flüsterte er. „Ich hab dich lieb. Für immer und ewig.“

Lillie streckte sich, schlang im Halbschlaf den Arm um seinen Hals und flüsterte: „Ich hab dich auch lieb, Daddy.“

Er wiegte sie sanft, bis sie wieder eingeschlafen war, dann ging er ins Wohnzimmer. Dort zog er die Decke und das Kissen hinter der Couch hervor und versuchte irgendwie, seine langen Beine unterzubringen.

In der Stille lächelte er vor sich hin. Von all den Fehlern, die er in seinem Leben gemacht hatte, war Lillie das einzig Gute. Als sein Vater vor fünf Jahren erfahren hatte, dass Charleys Freundin schwanger war, war er wütend gewesen. Schließlich hatte Davis Collins akzeptiert, dass die beiden heirateten. Aber er hatte weder Sharon noch Lillie jemals auf die Ranch eingeladen. Davis Collins hatte sein einziges Enkelkind bis heute nicht gesehen.

Ein Jahr nach Lillies Geburt hatte Sharon Charley verlassen. Mutter zu sein wäre nichts für sie. Als Davis hörte, dass Charley das Baby behalten wollte, kam es erneut zum Streit. Er hatte zugestimmt, Charleys Studiengebühren zu zahlen und sonst nichts.

„Sie ist dein Fehler, nicht meiner“, hatte er nur gesagt.

Also arbeitete Charley dreißig Stunden pro Woche und trug die Verantwortung allein. Sharons Eltern nahmen die kleine Lillie während seiner seltenen Besuche auf der Ranch seines Vaters bei sich auf.

Inzwischen schlug Charley sich seit fast zwei Jahren allein mit seiner Tochter durch. Beinahe wäre er am Ziel gewesen. Nur noch ein Semester, dann hätte er seinen Abschluss in der Tasche gehabt und Lillie eine bessere Zukunft bieten können. Er hatte geglaubt, sein Vater würde ihm danach die Ranch übergeben und selbst nach Dallas ziehen. Vielleicht sogar Lillie akzeptieren – irgendwann.

Aber dann hatte Charley es wieder vermasselt. Er hatte nicht einmal daran gedacht, mit der hirnlosen vierten Frau seines Vaters zu schlafen. Doch als sie in sein Zimmer gekommen war, hatte sein Verstand ausgesetzt.

Charley kletterte aus seinem Behelfsbett auf der Couch, ging zum Kühlschrank und holte sich eine Flasche Wasser. Der Boden knarrte so laut, dass er fürchtete, seine kleine Prinzessin zu wecken.

Weder das Wasser noch zwei Aspirin halfen gegen seine Probleme. Zuerst hatte er gehofft, sein Vater würde sich beruhigen. Schließlich prahlte dieser selbst oft damit, mit den Frauen anderer Männer zu schlafen.

Obwohl sein Vater ihn von der Ranch gejagt hatte, hatte Charley sein letztes Semester beenden wollen. Aber sein Vater war nicht länger bereit gewesen, die Studiengebühren zu zahlen. Charley hatte zusammengekratzt, was er konnte, aber dann war Lillie krank geworden.

Die Arztrechnungen und sein Verdienstausfall machten es unmöglich, finanziell über die Runden zu kommen. Er nahm einen Job an und plante, das Studium zu beenden, sobald er wieder auf den Beinen wäre. Aber er musste sich um Lillie kümmern und ein Kind konnte nicht auf dem Rücksitz eines Autos leben und sich von Fast Food ernähren. Dann wurde auch noch sein Auto abgeschleppt.

Schließlich hatte er aufgegeben, sich genug Geld für einen alten Pick-up geliehen und war zurück nach Crossroads gefahren. Jetzt war Lillie fünf und er war seinem Abschluss keinen Schritt näher gekommen. Ebenso wenig dem Ziel, sein Leben in Ordnung zu bringen.

Er starrte an die Decke, als könnte er dort die Lösung für seine Probleme finden. Doch es war vergebens.

Mit den Frauen hatte er abgeschlossen. Was er seiner Stiefmutter angetan hatte, würde er wohl nie wiedergutmachen können, selbst wenn sein Vater jetzt mit Ehefrau Nummer fünf verheiratet war. In dieser Stadt wurde niemals etwas vergessen. Also stand er jeden Morgen auf und machte seinen Job, auch wenn er ihn hasste – wegen Lillie.

Noch einmal erhob er sich, um nach ihr zu sehen, wie jeden Abend, egal wie müde er war. Nachdem er ihr die Decke über die Schultern gezogen hatte, ging er zurück zu seinem Bett.

Im ersten Jahr hatte sie oft wegen ihrer Mutter geweint. Charley schwor sich, dass sie seinetwegen niemals weinen würde. Er wollte in ihrer Nähe sein. Egal welche Fehler sie im Leben vielleicht machen würde, sie würde immer seine Tochter bleiben.

Im Geiste ging Charley die Jobs durch, die nächste Woche anstanden. An jeweils einem Tag Aushilfe auf zwei Ranches, am Mittwoch Hilfsarbeiter im Eisenwarenladen und jeden Morgen, sofern er gebraucht wurde, Lagerarbeiter im Lebensmittelgeschäft.

Die Eltern seiner Ex-Frau halfen ihm mit Lillie, wo sie konnten. Wenn er vor Sonnenaufgang gehen musste, brachten Ted und Helen Lee sie morgens zum Kindergarten, und an den Tagen, an denen er nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück war, holten sie sie ab. Aber jeden Abend wollte Charley derjenige sein, der sie ins Bett brachte.

Sharons Eltern waren gute Menschen. Seit über einem Jahr hatten sie nichts mehr von ihrer Tochter gehört – bis auf eine Postkarte, dass sie nach L. A. ziehen würde.

Die beiden besaßen nicht viel, waren aber gut zu Lillie und ihm. An manchen Tagen dachte Charley, dass die Kleine ihr einziger Sonnenschein war.

Er lächelte, während er in den Schlaf glitt. Am nächsten Morgen wartete etwas ganz Besonderes. Sonntags machten er und Lillie immer Pfannkuchen. Danach sattelten sie ihr Pony und sein Pferd und ritten hinunter nach Ransom Canyon, solange die Luft noch kalt und der Tag jung war. Sie ritten, redeten und lachten. Er erzählte ihr Geschichten, die er von seinem Großvater gehört hatte, von Longhorn-Rindern und wilden Mustangs, die über das Land zogen.

Wenn sie eine Pause machten, bat sie um mehr Storys. Ihre Lieblingsgeschichte handelte von den großen Büffelherden und davon, wie sie die Erde erzittern ließen.

Sie kicherte, legte die Hand auf den Boden und schwor, sie könne spüren, wie die Herde auf sie zukäme.

Charley lachte mit ihr und für einen kurzen Moment fühlte er sich reich.

3. KAPITEL

Jubilee

22. Februar

Der Morgen dämmerte über der Lone Heart Ranch, als Jubilee Hamilton ein Klopfen an der Hintertür hörte.

„Geh weg!“, schrie sie und zog sich die Decke über den Kopf.

Wie rücksichtslos, dachte sie und presste die Augen fest zusammen, als könnte sie sich so wieder zum Schlafen zwingen. Verstand in dieser öden Gegend denn niemand, dass sie gerade einen Nervenzusammenbruch hatte und nicht belästigt werden wollte?

„Machen Sie die Tür auf, Lady!“, rief ein Mann, der offenbar direkt unter ihrem Fenster stand.

„Nein“, antwortete sie.

„Auch gut. Dann lasse ich die Lebensmittel auf der Veranda. Bis Mittag sind sie sicher verdorben.“

„Lebensmittel?“ Sie setzte sich auf. „Einkäufe?“ Sie hatte das Haus ihrer Eltern vor drei Tagen verlassen und sich seitdem nur von Karottensticks und Eiweißriegeln ernährt. In der kleinen Stadt Crossroads hatte sie angehalten, um Lebensmittel zu kaufen. Der griesgrämige Händler hatte sie gedrängt, sich zu beeilen. Es wäre fast Ladenschluss. Jubilee war zu erschöpft, um sich zu beeilen oder sich um die Uhrzeit zu kümmern.

Als sie den Laden verlassen wollte, fragte der Besitzer sie aus, bis er herausfand, dass sie Levy Hamiltons Urenkelin war. Danach ratterte er eine Wegbeschreibung herunter, die er als „Abkürzung“ zu Levys Haus bezeichnete.

Stundenlang irrte sie auf unbeschilderten Nebenstraßen umher. Als sie endlich auf der Ranch ankam, stellte sie fest, dass ihre Einkäufe fehlten. Sie hatte gedacht, sie wären im Kofferraum, aber der war leer.

Das war vor zwei oder drei Tagen gewesen. Seitdem weinte sie, führte Selbstgespräche und wanderte in dem großen alten Haus herum. Am ersten Tag rationierte sie die M&Ms. Am zweiten Tag aß sie Pfirsiche aus der einzigen Dose im Regal, dann beschloss sie zu schlafen, bis der Hunger sie weckte.

Immer wieder hatte sie Albträume von Weihnachten mit ihren Eltern. Von ihrer Mutter, die ununterbrochen redete wie in einem Werbespot. Von ihrem Vater, der Jubilee ständig mit ihrer Schwester verglich. Von Destiny, die wie eine böse Fee vorbeikam und sich aufspielte. Und als wären ein reicher Ehemann und ein neues Auto nicht schon genug, brachte sie auch noch süße Zwillinge mit. Destiny war schon immer eine Streberin gewesen.

Tagelang hatte Jubilee sich in ihrem alten Kinderzimmer versteckt. Doch das hatte nicht geholfen. Am Ende kam die Predigt ihrer Mutter, die ihr eine Liste von Arbeitsplätzen in der Gegend vorlegte.

„Du brauchst ein Ziel, Jub. Es ist nicht normal, keine Ziele zu haben, Jub, und im Moment ist es mein Lebensziel, dich mit einem zu versorgen.“

Jubilee hatte nur ein Ziel. Davonzulaufen. Und genau das tat sie. Sie packte ihren Koffer und fuhr, während ihre Mutter ihr oben von der Haustreppe aus immer noch einen Vortrag hielt. Jubilee hatte ihre Reise zur Lone Heart Ranch lange genug aufgeschoben.

„Also machen Sie jetzt auf, Lady, oder nicht?“, unterbrach der Cowboy ihre unangenehmen Erinnerungen.

Jubilees linkes Bein verfing sich in der Decke und sie fiel aus dem Bett.

„Alles in Ordnung?“, rief er.

„Ich komme“, rief sie zurück, während sie in ihrer einzigen Reisetasche nach etwas Sauberem zum Anziehen wühlte.

Wenn sie sterben würde, müsste jemand ihre Kleidung waschen, bevor man sie beerdigen konnte. Sie hatte nicht einmal saubere Socken. Ihr gesamter Besitz – abgesehen von einem Koffer voller schmutziger Wäsche – war im November in ein Lager gebracht worden.

„Essen“, wiederholte sie, während sie hastig nach irgendetwas griff, das sie anziehen konnte, bevor der Cowboy mit den Lebensmitteln verschwunden wäre. Richtiges Essen. Grünes Gemüse. Obst. Süßigkeiten.

Sie stolperte zum Fenster und zog sich gleichzeitig die Kleidung zurecht. „Wo haben Sie meine Einkäufe gefunden?“

„Sie haben sie vor zweieinhalb Tagen im Laden in Crossroads im Einkaufswagen zurückgelassen“, erklärte der Mann. Er klang verärgert. „Die Mitarbeiter haben sie in den Kühlschrank gestellt, weil sie dachten, Sie würden zurückkommen. Als das nicht passierte, hat mich der Geschäftsführer beauftragt, sie Ihnen zu bringen.“

Sie richtete sich auf, zog sich einen alten armeegrünen Regenmantel als Morgenmantel über, dazu ein altes Paar Socken, das sie in einer von Grandpa Levys Schubladen gefunden hatte. Die eine Socke hatte einen roten Streifen um die Wade, die andere war blau gestreift, aber wen interessierte das schon.

Als sie sich aus dem Fenster lehnte, sah sie nur die Spitze eines abgewetzten Stetsons. „Ich habe sie vergessen? Ich dachte, sie wären verschwunden, als ich mich verfahren habe, oder bei einem der vielen Schlaglöcher rausgefallen. Ich bin nicht zurückgekommen, weil ich den Weg in die Stadt nicht mehr wusste. Ich habe Stunden gebraucht, bis ich die Farm gefunden hatte.“

Der Cowboy sah auf, und sie hätte schwören können, dass er innerlich die Augen verdrehte. „Könnten Sie mir Ihre Lebensgeschichte ein andermal erzählen? Ich würde jetzt die Lebensmittel abladen.“

Dann fügte er etwas leiser, aber laut genug, dass sie ihn trotzdem hörte, hinzu: „Lady, Sie sind zwölf Meilen von der Stadt entfernt, nicht mitten im Amazonas.“

Langsam ging sie die Treppe hinunter, griff nach einem alten Regenschirm und schlich auf Zehenspitzen vorsichtig zur Tür. Der Regenmantel reichte ihr kaum bis zu den Knien, aber er musste reichen.

Offenbar hatte der Mann lange genug gewartet, denn er rief: „Sie sind Jubilee Hamilton?“

Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und sah einen Mann in Stiefeln, Jeans, einem abgetragenen Hemd und einem Cowboyhut. „Woher wissen Sie das?“

Er lächelte. „Sie haben auch Ihre Kreditkarte im Laden vergessen.“ Einen Moment lang betrachtete er sie, dann fragte er: „Wollen Sie die Lebensmittel jetzt haben oder nicht? Falls ja, müssen Sie die Tür ein bisschen weiter öffnen. Falls nicht, fahre ich jetzt zurück in die Stadt.“

Sie hob ihren Schirm. „Woher soll ich wissen, dass Sie nicht hier sind, um mich auszurauben oder zu vergewaltigen?“

Er schaute auf die hässlichen, nicht zusammenpassenden Socken mit einem Loch am rechten großen Zeh und dann auf ihr zerzaustes, ungewaschenes blondes Haar. „Verlockende Idee, Lady, aber ich habe den Frauen abgeschworen. Vielleicht ein andermal. Und was den Raub angeht – das hätte ich doch längst erledigen können. Schließlich habe ich Ihre Kreditkarte.“

Langsam öffnete Jubilee die Tür. „Die Farm gehört übrigens mir.“

Er trug die ersten Tüten ins Haus. „Das habe ich mir schon gedacht. Aber es ist eine Ranch, keine Farm.“

„Wie auch immer.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Der alte Levy ist vor ein paar Monaten gestorben.“ Der Cowboy bemühte sich nicht einmal, sie anzusehen, sondern ging direkt in die Küche. „Jemand hat erzählt, dass das Haus und das ganze Land drum herum jetzt seiner Urenkelin aus der Großstadt gehören. Als ich den Namen Hamilton auf Ihrer Kreditkarte gesehen habe, dachte ich mir schon, wohin ich die Lebensmittel bringen soll – noch bevor der Manager es mir sagte. Sie sehen genauso aus wie Levy.“

Jubilee richtete sich auf. „Wirklich?“ Sie erinnerte sich an ihren Großvater als einen gebückten, kahlköpfigen alten Mann mit lederner, sonnenverbrannter Haut.

„Ja, verrückt.“ Der Cowboy hatte sich noch immer nicht zu ihr umgedreht, also war ihr mürrischer Blick verschwendet.

Sie folgte ihm in die Küche. „Sie kannten meinen Urgroßvater? Und die Ranch kennen Sie auch?“

„Klar. Ich habe dem alten Mann oft geholfen. Er konnte nicht mehr viel selbst machen, aber er hat mir gezeigt, wie es geht. Und er hat gut gezahlt.“ Der Fremde ging zurück zum Wagen, um eine weitere Ladung Lebensmittel zu holen.

Sie folgte ihm wie ein Hündchen. Zu müde, um ihre Gedanken zu ordnen, stützte sie sich auf den Regenschirm und sah ihm einfach nur zu.

Als er die letzte Tüte hereingebracht hatte, nahm er seinen Hut ab und nickte höflich, wie es ihm wahrscheinlich seine Mutter beigebracht hatte. „Ich bin Charley Collins. Mein Beileid zu Ihrem Verlust. Ich werde den alten Mann vermissen. Er war immer anständig zu mir.“

„Was genau haben Sie für meinen Großvater gearbeitet?“

Charley zuckte mit den Schultern. „Er hatte etwa fünfzig Stück Vieh. Ich habe ihm im Frühjahr beim Brandmarken geholfen und im Herbst beim Mähen. Letztes Jahr habe ich mit ihm das Frühjahrsheu gesät. Als es Zeit für die Ernte war, war er schon zu schwach, um allein in den Traktor zu steigen. Ich habe dafür gesorgt, dass das Heu in die Scheune kam.“ Der gut aussehende Mann musterte sie. „Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie man eine Ranch dieser Größe führt, Mary Poppins? Sie ist vielleicht nicht riesig, aber es gibt jede Menge zu tun.“

Verwundert schüttelte sie den Kopf. „Nein. Warum haben Sie mich Mary Poppins genannt?“

„Entweder das oder Paddington Bear. Mit dem Regenmantel, dem Schirm und diesen hässlichen Socken könnten Sie an Halloween als beides durchgehen.“ Sein süffisantes Grinsen zeigte, dass er sich seiner Wirkung sehr deutlich bewusst war. In neuer Kleidung und geputzten Stiefeln hätte er wie ein Covermodel ausgesehen.

Stirnrunzelnd erwiderte sie seinen Blick. Netter Versuch, Cowboy, aber vergiss es. Ich bin immun gegen attraktive Männer.

Seine Miene wurde ernst. „Auf einem Hof wie diesem ist die Arbeit nie erledigt. Wenn man nicht gerade Getreide für den Winter anbaut oder nach dem Vieh sieht, flickt man Zäune und repariert die Maschinen. Bei der Viehzucht muss man sich jeden Tag um die Tiere kümmern. Die Zäune müssen ständig repariert werden. Bei jedem Regen wird irgendein Pfosten unterspült und die Arbeit verdoppelt sich.“

„Das hatte ich befürchtet.“ Sie fuhr sich durch die zerzausten Haare, die sich anfühlten, als hätte sich über Nacht etwas darin eingenistet.

Der Mann sah sie an, als wäre sie ein kleines Kätzchen, das versuchte, übers Wasser zu laufen. „Lady, Sie sind mit der Arbeit bereits vier Monate im Rückstand. Vielleicht sollten Sie darüber nachdenken, das Haus zu verkaufen und zurück in die Stadt zu gehen. Um das hier rechtzeitig bis zum Frühjahr fertigzubekommen, bräuchte man ein Dutzend Männer.“

„Ich bleibe.“ Sie reckte das Kinn und hielt seinem Blick aus blauen Augen stand. Sie brauchte diesem Fremden nicht zu sagen, dass sie nirgendwo anders hinkonnte. Das war ihm wahrscheinlich schon längst klar.

„Dann wünsche ich Ihnen viel Glück, Miss Hamilton.“

Sie schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit zu vertreiben, und machte einen Schritt auf ihre einzige Chance zu. „Würden Sie für mich arbeiten? Ich zahle Ihnen dasselbe wie mein Urgroßvater. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wo ich anfangen soll, aber ich muss es irgendwie schaffen.“ Selbst wenn es sie ihre gesamten Ersparnisse kosten würde.

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Der Weg hier raus ist weit. Ich habe nur einen oder vielleicht zwei Tage in der Woche frei. Ein einzelner Tag macht hier keinen großen Unterschied. Und um am Wochenende herzukommen, müsste ich meinen Job als Barkeeper aufgeben. Dann würde ich auch die kostenlose Wohnung verlieren, die dazugehört.“

Jubilees Gehirn arbeitete inzwischen klar genug, um zu erkennen, dass er ihr Angebot nicht ablehnte, sondern verhandelte.

„Drüben bei den Pferdeställen gibt es ein kleines Haus. Als ich ein Kind war, wohnte dort ein Hilfsarbeiter mit seiner Frau. Ich weiß nicht, in welchem Zustand es jetzt ist. Wenn Sie fünf Tage die Woche für mich arbeiten, zahle ich fünf Dollar mehr pro Stunde als Levy und gebe Ihnen das Haus dazu.“

Sie musste ihm ein gutes Angebot machen. Wahrscheinlich würde niemand sonst auf einer Ranch mitten im Nirgendwo arbeiten.

Sie wusste nicht viel über diesen Mann, aber er war ehrlich, sonst hätte er ihr nicht die Lebensmittel und die Kreditkarte gebracht. Wenn er regelmäßig für ihren Grandpa gearbeitet hatte, konnte er zupacken und er kannte die Ranch.

„Hält der Schulbus hier irgendwo in der Nähe?“

Die Frage überraschte sie. „Keine Ahnung. Haben Sie Familie?“

„Eine Tochter.“ Er wirkte nicht begeistert von dem Angebot. „Wenn ich für Sie arbeite, nehme ich mir morgens frei, um sie zur Schule zu bringen. Und wenn sie hier ist, erledige ich meine Aufgaben in der Nähe vom Haus, damit ich ein Auge auf sie haben kann.“

Jubilee schaute sich um. Sie sah genug Arbeit, um ihn monatelang zu beschäftigen. „Einverstanden.“

„Ich müsste meine beiden Pferde in der Scheune unterbringen.“ Er warf einen Blick über die Schulter. „Wenigstens ist sie in gutem Zustand.“

„Kein Problem. Es gibt ein Dutzend Boxen.“

Er musterte sie. „Erhöhen Sie auf zehn Dollar mehr pro Stunde, und Sie haben einen Vorarbeiter, nicht nur eine Hilfskraft. Ich bringe mein eigenes Pferd und meine Ausrüstung mit. Ich berechne Ihnen eine Fünfzig-Stunden-Woche, aber ich arbeite so lange, bis alles erledigt ist. Wenn weitere Männer gebraucht werden, stelle ich sie ein und Sie zahlen den üblichen Lohn.“

Jubilee überlegte, ob sie sagen sollte, dass ihr zehn Dollar mehr pro Stunde sehr viel vorkamen – aber was blieb ihr anderes übrig? Sie hatte genug Ersparnisse. Ihr Auto war abbezahlt. Also warum nicht alles auf eine Karte setzen? Diese Chance war ihre einzige in der Stadt.

Sie nickte.

Er setzte seinen Hut wieder auf. „Ich ziehe heute Nachmittag ein und komme morgen früh zum Frühstück. Dann besprechen wir, wo wir anfangen.“

„Frühstück?“

„Das war die übliche Routine mit Levy. Wir haben beim Frühstück geplant, und danach habe ich gearbeitet, bis der Tag zu Ende oder der Job erledigt war. Irgendein Problem damit?“

„Nein.“

„Können Sie kochen?“

„Nein, aber wie schwer kann das schon sein?“

Als er lächelte, wurde ihr klar, wie jung er war. Vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als sie. Doch sein stahlharter Blick sprach Bände. Er hatte offensichtlich kein einfaches Leben hinter sich, und sie bezweifelte, dass er leicht Vertrauen fasste. Was ihr nur recht war. Ihr ging es ähnlich.

„Ich bringe ein paar Schachteln Müsli und Milch mit“, sagte er, als er die Veranda verließ. „Sie kochen den Kaffee. Morgen legen wir einen Plan fest.“

Erneut begegnete sie seinem Blick. „Helfen Sie mir, die Ranch zum Laufen zu bringen? Ehrlich gesagt ist das meine letzte Chance.“

Er nickte. „Ich helfe Ihnen, aber Sie müssen normale Kleidung tragen, Lady. Sonst lassen die Leute hier Sie direkt einliefern.“

„Das werde ich mir merken, Mr. Collins.“ Sie ignorierte seine Beleidigung und überlegte kurz, ob sie hinzufügen sollte, dass sie kein Interesse an Freundschaften hatte und er es gar nicht erst versuchen sollte. Vielleicht war es besser, die Beziehung formell zu halten. Sie würde ihm nicht zu viel erzählen und er würde sich nicht in ihre Garderobe einmischen.

Ihre Beziehung würde rein professionell sein. Sie hatte das Gefühl, dass es auch ihm so am liebsten wäre.

Nachdem er weggefahren war, ging Jubilee zurück ins Bett. Ihr fiel wieder ein, wie früh es bei ihrem Grandpa Frühstück gegeben hatte.

Bevor sie wieder einschlief, aß sie ein Dutzend Früchte und eine Tüte Kekse. Könnte das Frühstück nur näher am Brunch liegen, war ihr Gedanke, bevor sie in den Schlaf glitt. Vor allem wenn sie jeden Tag miteinander reden würden. Bestimmt wäre Charley Collins damit einverstanden.

Schließlich war sie der Boss. Da durfte sie ja wohl ein paar Regeln aufstellen.

4. KAPITEL

Thatcher Jones

23. Februar

Thatcher Jones raste die ausgewaschene Schotterstraße hinunter, als wäre er ein Formel-1-Rennfahrer und nicht immer noch zu jung für den Führerschein. Ein rostiges altes Schild markierte den Beginn einer Ranch namens Lone Heart. Das ehemals herzförmige Brandzeichen hing schief am Pfosten.

Er nahm den Fuß vom Gas. Er und sein Ford Pick-up von 1963 könnten es gerade noch schaffen, bevor der Regen einsetzte. Niemand wohnte mehr auf der Ranch. Es sollte leicht sein, hinein- und wieder herauszukommen, ohne dass jemand etwas bemerkte.

Seit vier Monaten beobachtete Thatcher ein Nest von Klapperschlangen unter dem hinteren Viehgitter auf der Ranch. Jetzt zogen neue Leute in der Nähe vom Pass ein, und wenn er nicht rasch handelte, würde er vielleicht zweihundert Dollar verlieren.

Zu allem Überfluss kam auch noch ein Sturm von Norden auf, obwohl es für einen Februartag ungewöhnlich heiß war. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich der Streifenwagen des Sheriffs vor ihm auf. Thatcher stieß einen Fluch aus.

Er trat auf die Bremse, lehnte sich aus dem Fenster und schrie: „Verdammt, Sheriff, fahren Sie beiseite. Meine Bremsen sind nicht gut.“

Sheriff Dan Brigman rührte sich nicht von der Stelle, und Thatcher wusste aus Erfahrung, dass Brigman sich nicht bewegen würde, egal wie sehr er schrie. Er trat mit beiden Füßen auf die Bremse, musste aber in den Graben ausweichen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

Als der verbeulte alte Ford endlich zum Stehen kam, stieg Thatcher aus. Mit einer Hand umklammerte er fest den oberen Rand eines Getreidesacks.

„Wollen Sie uns beide umbringen, Sheriff?“, forderte Thatcher den Gesetzeshüter heraus, obwohl er Brigman kaum bis zur Schulter reichte. „Ich habe nicht vierzehn Jahre überlebt, nur um bei einem Unfall mit einem Polizisten zu sterben.“

Der Sheriff verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte ruhig: „Was hast du da im Sack, Junge?“

Man hatte Thatcher bereits ein Dutzend Mal gesagt, er solle auf fremdem Land keine Schlangen jagen, aber Zuhören gehörte nicht zu seinen Stärken.

Genauso wenig wie Ehrlichkeit. „Kuhfladen. Die Pfadfinder veranstalten unten im Canyon eine Vorführung, wie die Leute früher trockene Fladen verbrannt haben, um sich im Winter warm zu halten. Das ist bloß Brennmaterial für ihr Feuer.“

Brigman warf einen Blick auf den Sack, und Thatcher hoffte inständig, dass dieser nicht zu wackeln begann. „Ich habe dir doch gesagt, dass Klapperschlangenjagd nichts für Kinder ist.“

„Das ist Kuhmist, Sheriff. Ich schwöre.“

Brigman schüttelte den Kopf. „Mist ist das wirklich, Thatcher. Bind den Sack zu und leg ihn auf die Ladefläche deines Pick-ups. Du bist noch nicht alt genug, um Auto zu fahren, kurvst hier draußen im Nirgendwo rum und jagst Klapperschlangen in einem alten Pick-up, der vielleicht nicht mal bis nach Hause durchhält. Mir fallen ein Dutzend Möglichkeiten ein, wie ich dich irgendwo tot auffinde.“

„Ich bin alt genug zum Fahren. Ich brauche nicht mal mehr eine Wolldecke, um übers Lenkrad zu schauen, und Jagen ist nicht gefährlich. Ich mache das, seit ich zehn bin. Du musst nur rumzappeln, wenn du nach ihnen greifst. Dann sieht die Schlange dich nur verschwommen und du gibst kein eindeutiges Ziel ab.“

„Wer hat dir das erzählt?“

„Mein Grandpa. Er hat ständig gezittert, weil er so oft gebissen wurde.“ Thatchers Blinzeln verriet, dass er log.

„Steig in den Streifenwagen.“ Brigman verzog keine Miene. „Ich bringe dich nach Hause. Aber ich schwöre dir, Thatcher Jones, das ist das letzte Mal, dass ich dich auf einer Straße hier im County erwische.“

Der Junge ging auf den Streifenwagen zu. „Sie haben gesagt, ich könnte auf den Nebenstraßen der Landstraße 111 fahren.“

„Ja, in der Nähe von deinem Haus. Aber ich schätze, du musstest über mindestens vier andere Landstraßen und eine Autobahn fahren, um herzukommen.“

„Das können Sie nicht beweisen, Sheriff.“ Thatcher verknotete den Sack, warf ihn auf die Ladefläche des Pick-ups und kletterte auf den Beifahrersitz des Cruisers. Ihm gefiel nicht, wie vertraut sich das anfühlte. „Sie können mich nur verhaften, wenn Sie mich auf frischer Tat ertappen.“

„Genau deshalb bringe ich dich ja nach Hause.“

Thatcher fuhr sich mit seinen schmutzigen Fingern durch das noch schmutzigere braune Haar. Er hatte es nicht einmal bis zur Hamilton-Ranch geschafft. Verdammt, bis er zurückkäme, wären die Schlangen wahrscheinlich zwei Meter lang. Er seufzte. Brigman würde nicht nachgeben. „Halten wir noch bei der Dairy Queen, bevor Sie mich nach Hause bringen, Sheriff?“

„Das ist Standardvorgehen der Polizei, mein Junge. Burger, doppelt Fleisch, doppelt Käse.“ Brigman startete sein Auto. „Wie geht es deiner Mom?“

„Sie ist letzte Woche wieder gestorben.“

Brigman starrte ihn an, sagte aber nichts.

„Sie war bei der Auferstehung drüben am Red River in Oklahoma. Der Prediger zahlt ihr bei jedem Gottesdienst hundert Dollar, damit sie umfällt und sich vom Heiligen Geist retten lässt. Kein schlechter Job. Sie bekommt nur fünfundzwanzig, wenn sie wie in Trance redet, und fünfzig, wenn sie auf Krücken kommt.“

Der Sheriff runzelte die Stirn.

„Das ist nicht verboten, Sheriff.“ Schnell wechselte Thatcher das Thema. „Wenn jemand meinen Wagen klaut, Sheriff, dann sind Sie schuld.“

Brigman lächelte. „Der Dieb wird leicht zu finden sein. Nachdem er deinen Sack geöffnet hat, liegt er tot auf der Straße. Von Kuhfladen gebissen zu werden wäre allerdings eine merkwürdige Todesursache.“

Schweigend fuhren sie nach Crossroads. Thatcher wusste, jede weitere Bemerkung würde nur eine neue Predigt nach sich ziehen.

Gerade als die Kellnerin ihnen die Burger durch das Drive-in-Fenster reichte, blitzte es hell auf und Donner rollte mit dem Wind heran. „Das Gewitter zieht früher auf, als ich dachte“, sagte Thatcher mehr zu sich selbst als zum Sheriff. 

Wie die meisten Farmer richtete er sein Leben nach dem Wetter aus. Es überraschte ihn immer wieder, dass Stadtkinder morgens wie Hühner aufwachten und nach draußen gingen, ohne sich darum zu kümmern oder überhaupt zu wissen, was das Wetter für sie bereithielt. Wenn es anfing zu regnen oder zu schneien, nahmen sie es persönlich, als wäre es nicht einfach der Lauf der Dinge.

„Wie wär’s, wenn wir die Burger in meinem Büro essen, Junge?“, schlug Brigman vor und bog auf die Hauptstraße ab.

„Keine schlechte Idee, Sheriff. Ich habe gesehen, wie Sie bei Regen fahren.“

Wenige Minuten später rannten sie durch den Regen ins Bezirksamt, um nicht völlig durchnässt zu werden.

An Pearly Days Schreibtisch vorbei gingen sie durch das breite Foyer in Brigmans Zweizimmerbüro. Pearly war schon nach Hause gegangen und hatte ihre Süßigkeitenschüssel unbewacht gelassen. Sie war die Empfangsdame für sämtliche Büros in dem zweistöckigen Gebäude.

Zusätzlich nahm sie die Notrufe in Crossroads entgegen und koordinierte die Einsätze von Polizei, Krankenwagen und Feuerwehr. Wenn sie um fünf Uhr nach Hause ging, stellte sie alle Notrufe auf ihr Handy um.

Bei einem Notfall riefen die Leute nicht „Ruf den Notruf an“, sondern „Ruf Pearly an.“

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