Romana Exklusiv Band 316

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SCHAU MIR INS HERZ von DAPHNE HOPE
Auf der malerischen Mittelmeerinsel Gozo geht für Carol ein Traum in Erfüllung: Nicolas Comino bietet ihr eine Rolle in dem Film an, der auf seinem Anwesen gedreht wird. Doch nach Drehschluss ist der attraktive Baron wie ausgewechselt. Er behauptet, Carol habe ihn in eine Liebesfalle gelockt!

KÜSSE - HEISS WIE DIE SONNE SIZILIENS von CAROL GRACE
Endlich zu Hause! Ihr geerbtes Weingut auf Sizilien ist für Isabel ein Ort der Ruhe. Wären da nur nicht die widerstreitenden Gefühle für ihren attraktiven Nachbarn Dario Montessori! So sehr sie ihn hasst, weil er ihr das Weingut streitig machen will, so sehr sehnt sie sich nach seinen Küssen …

SKANDAL IM KÖNIGREICH DER LIEBE von NANCY ROBARDS THOMPSON
Ihre Liebe war berauschend schön wie das Mittelmeer im Sonnenlicht - bis Margeaux St. Michel verließ. Nun kehrt sie als bezaubernde Frau zurück, und Henri spürt: Niemals kann es für ihn eine andere geben. Doch ist seine Göttin dieses Mal bereit für die Liebe mit ihm?


  • Erscheinungstag 15.11.2019
  • Bandnummer 316
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744991
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Daphne Hope, Carol Grace, Nancy Robards Thompson

ROMANA EXKLUSIV BAND 316

1. KAPITEL

Wäre es Carol an jenem Tag zu heiß gewesen oder hätte ihre Neugier sie nicht bewogen, den steilen Weg hinaufzuwandern, auf dem man zur Grotte der Kalypso gelangte, würde dieses Buch auf der ersten Seite enden.

Der Strand schimmerte golden, hätte es begonnen. Die drei Urlauber lagen dösend in der Maisonne, bis es Zeit war, eine letzte Runde zu schwimmen. Am nächsten Tag war ihr Mittelmeerurlaub vorüber, und sie würden nach Hause fahren.

Aber da Carol sich eher rastlos und unternehmungslustig fühlte als träge und faul, brach sie auf. Der Weg schien nach ihr zu rufen, sie gleichsam zu sich zu locken, beinahe so, als würde er wollen, dass sie ihm folgte und ihn erkundete. So, als hüte er ein Geheimnis oder hielte ein ganz eigenes Glücksversprechen bereit.

Je weiter sie auf ihrem Weg vorankam, desto mehr hatte Carol den Eindruck, selbst zu einem Teil der Landschaft zu werden. Ein Gefühl vollkommenen Friedens erfüllte sie. Die breiten, flachen Steine, mit denen man den Weg gepflastert hatte, waren von Wind und Wetter geglättet. In den unregelmäßigen Ritzen dazwischen blühten Wildblumen – blaue, gelbe und purpurrote. Sie leuchteten in so lebhaften, fröhlichen Farben, dass Carol stehen blieb, um den Anblick in sich aufzunehmen.

Es war still bis auf das Summen der Bienen, die über den Kleeblüten schwebten, oder das gelegentliche Rascheln des Windes in den fedrigen Grasbüscheln und das entfernte Geräusch heranrollender Wellen auf dem Sand.

Sie gönnte sich einen Augenblick Zeit, um zu Atem zu kommen, und drehte sich um. Unter ihr lag der goldene Bogen des Strandes. Mit dem geübten Auge der Designerin nahm Carol die Umrisse der Felsen im tiefblauen Wasser wahr. Sie machte sich eine geistige Skizze der Silhouetten, die zauberhaft zur Geltung kommen würden in einer neuen Kollektion von Seidendrucken.

Lächelnd hob sie die Hand und winkte den beiden Sonnenanbetern zu, die dort unten lagen und so klein aussahen, dass sie wie Gestalten wirkten, die man durch ein verkehrt herum gehaltenes Fernglas betrachtete. Sogar John, ihr Bruder, der starke, ein wenig ungelenke John, erschien von hier aus nicht größer als eine Action-Man-Puppe.

Sie lagen auf dem Bauch und sonnten sich. Die beiden hatten nicht mitkommen wollen.

„Zu heiß“, hatte John rundheraus abgelehnt. „Und viel zu anstrengend.“

„Es ist doch unser letzter Tag“, hatte Rosie ihn unterstützt. „Die letzte Möglichkeit, Sonne zu tanken, bevor wir nach Hause müssen. Warum bleibst du nicht auch hier, Carol, und entspannst dich ein bisschen? Du hast so lange über diesen dämlichen Zeichnungen gebrütet, und es würde dir guttun, einfach nur in der Sonne zu liegen und zu faulenzen.“

Aber Carol hatte gelacht und erklärt, Rosie könne das viel besser als sie und solle sich für sie beide entspannen. Sie wolle herausfinden, wo der Weg hinführte.

„Auf den Berg“, hatte John gebrummelt. „Und wenn du es genau wissen willst, brauchst du nicht mal hinaufzuklettern.“ Aus dem Reiseführer hatte er zitiert: „Die Bucht von Ramla. Nicht nur liefert der Sand dort einen Bestandteil von erstklassigem Zement …“

Rosie hatte ihm das Buch aus der Hand gerissen. „John, du bist ein hoffnungsloser Fall, wirklich. Wenn man dir etwas von Rosen und Mondschein erzählt, erklärst du einem, wie man einen Komposthaufen anlegt. Ah ja, da ist es, unglaublich romantisch. ‚Oben auf der Steilküste, hoch über der Bucht befindet sich die Grotte, in der der Sage nach Odysseus sieben Jahre lang im Bann der Zauberin Kalypso lebte …“

„Eine Höhle?“, hatte John gefragt. „Wir haben gestern Dutzende davon besichtigt.“

„Bevor die Straße gebaut wurde“, war Rosie fortgefahren, „gab es nur einen einzigen Weg dorthin – den antiken gepflasterten Pfad … Oh Carol, du musst ihn unbedingt ausprobieren! Ich würde mitkommen, glaub mir, aber ich bin fix und fertig von diesen ganzen Tempelanlagen, durch die wir heute Morgen gelaufen sind.“

Lächelnd wandte Carol sich um und ging weiter. Die Sonne schien ihr auf den Rücken, wärmte ihn ebenso wie die glatten grauen Steine, auf die sie trat, und den Blumenteppich, der sich zu ihren Füßen ausbreitete: fedriger Fenchel, purpurrote Malve und blau blühender Borretsch. Ihr Blick blieb an einer silbrigen Distel hängen, und vor ihrem inneren Auge erschien der Umriss der Pflanze als gedrucktes Muster auf Samt – blau und grün auf grauem Untergrund, genau wie die Rosette stachliger Blätter hier vor dem grauen Stein.

Eine Eidechse huschte auf den Weg. Mit bebenden Flanken verharrte das Tier an einem sonnigen Fleck, und Carol bewunderte die Perfektion seines geschuppten Körpers. Ein winziger graugrüner Drachen mit verschleierten Augen.

Sie warf einen Blick auf den Weg, der vor ihr lag, und fragte sich, wie weit die Grotte wohl noch entfernt sein mochte. Zu ihrer Linken entdeckte sie eine Villa, die sie zuvor nicht gesehen hatte, da sie hinter einem dichten Gürtel blühender Bäume verborgen lag. Das Haus war, wie fast alle Gebäude auf Gozo, aus gelblichen Steinquadern erbaut, die mit den Jahren ausbleichten und einen sanften, warmen Honigton annahmen. Doch wenn die Steine neu waren, so wie bei dieser Villa, leuchtete die Farbe beinahe wie Gold.

Dann bemerkte sie den Mann, der vor dem Haus stand und mit zusammengekniffenen Augen zu ihr schaute.

Ihre Blicke trafen sich, und Carol war, als ob ein Stromschlag durch sie hindurchraste. Ihr Herzschlag geriet ins Stolpern, und sie bekam keine Luft. Nie zuvor in ihrem Leben war sie sich der Gegenwart eines Menschen so überdeutlich bewusst gewesen.

Der Mann war hoch gewachsen. Einschüchternd groß, dachte Carol. Er war ein dunkler Typ mit so tief gebräunter Haut, dass es sich um einen Einheimischen handeln musste – obwohl sein schwarzes Haar glatt war, wie sie feststellte, und nicht gelockt wie das der Fischer von Malta. Die Art, wie er die Lippen aufeinanderpresste, hätte seinem Gesicht ein finsteres, beinahe grausames Aussehen verliehen, wären da nicht die Fältchen um seine Mundwinkel gewesen, die verrieten, dass er auch lachen konnte.

Aber es waren die Augen des Mannes, die Carol fesselten. Sie waren unverwandt auf sie gerichtet und besaßen die gleiche geheimnisvolle Tiefe wie das Meer hinter ihr.

Ganz schön unverfroren, dachte sie. Wie er mich mustert, und dann auch noch mit diesem Respekt gebietenden Blick. Sie wusste, dass sie hübsch war und dass Männer sie oft bewundernd anschauten, aber im Allgemeinen sahen sie fort, wenn sie zurückstarrte.

Was genau das war, was sie nun selber tat. Sie blinzelte und senkte den Blick auf den Weg vor ihr. Die Eidechse huschte in eine Ritze zwischen zwei Steinen und war verschwunden. Als Carol wieder hochschaute, war der Mann nicht mehr da.

Sie verspürte einen winzigen Stich der Enttäuschung, und die eigentümliche Aufregung, die sie durchflutet hatte, während sie ihn betrachtete, ließ nach. Sie zuckte die Schultern. Wahrscheinlich ohnehin nur ein Tourist, der die Augen wegen der Sonne zusammengekniffen hatte, und nicht ihretwegen. Oder doch …? Sie erinnerte sich an das Gefühl plötzlicher Wachheit, als sie geglaubt hatte, sein durchdringender Blick ruhe auf ihr.

Da der Mann verschwunden war, betrachtete sie in Ruhe die säulengeschmückte Vorderfront der Villa, vor der sich eine Terrasse erstreckte, die an allen vier Ecken von steinernen Statuen flankiert war. Sie entdeckte einen Brunnen mit einem flachen Becken darunter, in das jedoch kein Wasser sprudelte. Neben der Terrasse hatte man einen mächtigen Haufen gelber Steinblöcke abgeladen. Maurerwerkzeug lag achtlos überall auf dem Boden verstreut. Die Villa war eine Baustelle.

Das musste es sein: Der Fremde war ein Handwerker, und wahrscheinlich einer, der es nicht mochte, wenn Leute, die hier vorbeikamen, ihn bei der Arbeit störten. Verglichen mit den gutmütigen Maltesern waren die Gozitaner, wenn auch nicht wirklich abweisend, so doch reservierter und stolzer – und unabhängiger – in ihrer Art. Dennoch, dachte Carol, ich hätte ihn fragen sollen, wie weit es noch ist bis zur Grotte der Kalypso. Entweder war sie daran vorbeigelaufen, oder der Reiseführer enthielt falsche Informationen.

Sie folgte dem Weg weiter bergaufwärts. Nach ein paar Minuten gelangte sie zu einem massiven kleinen Gebäude, das aus dem gleichen gelblichen Stein errichtet war wie alle Häuser auf der Insel und an dessen Fenster ein Zettel hing. „Postkarten und Klöppelspitze aus Gozo“ stand darauf.

Das muss ich Rosie erzählen, dachte Carol. Die Freundin ihres Bruders vertrat die Ansicht, dass Stricken die Klöppelei als Nationalhandwerk auf der Insel abzulösen begann. John hatte dagegengehalten, dass die Spitzenherstellung auf Gozo eine ungebrochene Tradition sei, und den Reiseführer zitiert, um seinen Standpunkt zu untermauern. Rosie war nicht überzeugt gewesen und hatte gemeint, das wolle sie sehen, bevor sie es glaubte.

Und hier war der Beweis. Carol lächelte in sich hinein und beschloss, eine Kleinigkeit zu kaufen, ein Taschentuch oder ein anderes Mitbringsel aus Spitze, damit Rosie wusste, dass der Reiseführer doch recht hatte.

Carol ging um das Haus herum. Vor der Tür saß eine alte Frau, ganz in Schwarz gekleidet, auf einem Holzschemel, mit einer Klöppelarbeit beschäftigt. Der Anblick erschien Carol wie eine lebendig gewordene Illustration der Bekanntmachung im Fenster.

Die alte Frau sah hoch und lächelte, als Carol herankam. „Merhba“, begrüßte sie sie und fragte: „Möchten Sie sich meine Spitzen ansehen? Dann kommen Sie herein. Ich habe viele verschiedene Sorten, und sie sind alle erlesen. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.“

Im Innern des Hauses war es kühl und dämmrig, beinahe dunkel nach dem gleißenden Sonnenlicht draußen. An einer Wand standen zwei Tische nebeneinander, auf denen die alte Frau Muster ihrer Arbeit ausgelegt hatte. Säuberliche Stapel von Deckchen und Servietten; Taschentücher, deren Ecken so gefaltet waren, dass man die Spitzenverzierungen mit ihren Blumen und Blättern und Vögeln sehen konnte. An der gegenüberliegenden Wand war ein prächtiges Tischtuch angeheftet.

„Wie schön!“, sagte Carol bewundernd.

Die alte Frau lächelte. „Für das da“, sie deutete auf das Tischtuch an der Wand, „habe ich zwei Jahre gebraucht. Deshalb ist es sehr teuer. Hundert Pfund. So viel Geld wollen die Leute nicht ausgeben.“

Hundert Pfund für zwei Jahre Arbeit erschienen Carol ein bescheidener Betrag. Kein Wunder, dass die jungen Frauen auf der Insel lieber strickten.

„Warten Sie einen Moment“, sagte die alte Spitzenklöpplerin. „Ich habe noch etwas viel Schöneres, das ich Ihnen zeigen kann.“ Sie verschwand hinter einem Perlenvorhang, der vor der Tür zu einem Nebenraum hing. Als sie zurückkam, trug sie eine flache Pappschachtel auf ihren ausgestreckten Armen und setzte sie behutsam auf einem der Tische ab.

Carol fragte sich, was so Wertvolles in dem Karton sein konnte, das eine solche Vorsicht notwendig machte. Eine Altardecke? Es war jedenfalls etwas sehr Besonderes, das da in so viel Seidenpapier eingehüllt lag. Sie sah ein schimmerndes Gespinst, als die alte Frau schließlich ein fein gearbeitetes Spitzentuch auseinanderfaltete. Es war ein Brautschleier.

Carol hielt den Atem an. Der Schleier war traumhaft, hauchzart wie Spinnweben, aber von einem cremigen, satten Perlweiß. Die alte Frau hielt ihn hoch und sagte: „Legen Sie ihn an.“

Liebevoll, aber unbeirrbar drapierte sie ihr den Schleier auf den Kopf, heftete ihn mit Nadeln fest und drehte Carol zu einem Spiegel um, der an der Querwand hing.

Es war ein alter Spiegel, gelbstichig und mit blinden Flecken in der Silberbeschichtung, sodass der Hintergrund verschwamm und der Schleier sich fließend und schimmernd vor ihm abhob. Carol hatte kaum Zeit, den Anblick in sich aufzunehmen. Sie hörte, wie eine Tür aufflog, dann Schritte und einen barschen Ausruf, der in der Stille des Raumes zu explodieren schien.

Hinter ihrem eigenen Spiegelbild tauchte der Mann auf, der vor der Villa gestanden hatte. Carol zuckte zusammen. Ihr war, als sähe sie eine Erscheinung aus irgendeiner dunkleren Region der Welt, und irgendetwas im Gesicht des Unbekannten machte ihr Angst. Für einen kurzen Moment schien Leidenschaft darin aufzuflammen, dann war der Ausdruck verschwunden, und nur der Zorn, der schon vorher darin gewesen war, blieb.

„Da sind Sie also“, fuhr er sie an, „und gehen Ihrem Vergnügen nach.“ Bevor Carol ein Wort sagen konnte, packte er sie beim Handgelenk und riss sie zu sich herum.

„Sie tun mir weh!“, rief Carol empört.

Die alte Frau ließ ihren Blick bestürzt zwischen ihnen hin und her wandern. Dann verschwand sie in den Raum nebenan.

Als er ihre Stimme hörte, ließ der Fremde Carol los und trat einen Schritt zurück. Er musterte sie, nunmehr ohne jeden Zorn. Stattdessen lag ein Ausdruck von Sarkasmus in seinen Zügen.

„Ich fürchte, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen“, sagte er mit der Miene eines Menschen, dem Reue fremd war.

Carol reckte ihr Kinn. Sie musste zu ihm hochschauen, um seinem Blick zu begegnen, und das ärgerte sie.

„Kann ich eine Erklärung erwarten?“, fragte sie kalt. „Oder habe ich es mit einem Verrückten zu tun?“

Sie bedauerte es, dass sie nicht größer war, und fühlte sich ihm auf lächerliche Weise unterlegen mit dem Brautschleier, den die alte Frau in ihrem Haar festgesteckt hatte.

„Hören Sie auf“, erwiderte er. Seine Stimme hatte einen so gebieterischen Unterton, dass Carol, ohne es zu wollen, die Luft anhielt. „Es ist schon genug Zeit verschwendet worden, und ich kann Ihnen versichern, dass ich keineswegs verrückt bin. Fragen Sie Ta Dentella. Ich werde Ihnen alles erklären, sobald wir losgefahren sind.“

„Ganz sicher nicht.“ Carol stemmte die Arme in die Seiten. „Sie stürmen hier herein, begehen eine Körperverletzung …“, sie warf einen sprechenden Blick auf das Handgelenk, das er so grob ergriffen hatte, „… und meinen, Ihre fadenscheinige Entschuldigung genügt, damit ich Ihnen widerspruchslos folge. Sind Sie es gewöhnt, dass man Ihren Befehlen gehorcht? Oder zählen Sie einfach auf Ihren umwerfenden Charme?“

Sie hatte damit gerechnet, dass er verärgert auf ihre sarkastische Bemerkung reagieren würde. Stattdessen erschien ein Funke Humor in seinen Augen, und seine Mundwinkel zuckten.

„Wenn Sie mich charmant erleben wollen“, erwiderte er, „müssen Sie warten.“ Er tat einen Schritt auf sie zu und hob sie hoch, als wäre sie ein Kind. „Sie sind klein, und ich bin groß. Und aller Wahrscheinlichkeit nach bin ich auch stärker als Sie. Machen Sie sich das klar. Lassen Sie mich Ihnen sagen, dass ich für meine Rücksichtslosigkeit bekannt bin, wenn es um Dinge geht, die mir wichtig sind, und vergessen Sie nicht, dass ich ein Mann bin und Sie …“, er hielt inne, trug sie nach draußen und stellte sie draußen neben einem roten Sportwagen auf die Füße, „… eine Frau. Also, steigen Sie jetzt ein?“ Er öffnete die Beifahrertür und wartete.

„Sie könnten mich wenigstens bitten“, gab Carol zurück. Sie war ärgerlich und durcheinander, aber sie würde diesem unberechenbaren Irren gegenüber keine Angst zeigen.

Er runzelte kurz die Stirn, dann breitete sich ein so offenes, warmes Lächeln auf seinen Zügen aus, dass Carols Furcht augenblicklich schwand.

„Bitte“, sagte er. Sein Lächeln vertiefte sich, und sein Blick hielt ihren in einer Weise fest, als sei er darauf aus, sie seinem Willen zu unterwerfen. „Steigen Sie ein. Sie würden mir damit einen Gefallen tun. Einen großen Gefallen.“

Carol lachte. „Sie haben mich überredet“, erwiderte sie, „aber Sie müssen mich in spätestens einer halben Stunde zurückbringen. Mein Bruder ist unten am Strand, und er wird die Polizei alarmieren, wenn ich zu lange wegbleibe. Könnte ich ihm nicht wenigstens eine Nachricht zukommen lassen, wo ich bin?“

„Dafür ist keine Zeit“, antwortete der Fremde, „und es ist auch nicht nötig. Ta Dentella kann ihn beruhigen, falls er hier hochkommt und nach Ihnen sucht.“ Die alte Frau stand am Fenster und blickte zu ihnen heraus. Sie nickte lächelnd und hob ihre Hand, beinahe so, als wolle sie sie segnen.

„Sehen Sie? Sie wird Ihrem Bruder sagen, dass Sie in guten Händen sind. Und wir werden nicht lange brauchen. Ich habe es genauso eilig wie Sie.“

Das stimmt, dachte Carol ein paar Minuten später, als er das Auto mit kreischenden Reifen durch die erste Kurve jagte und eine gelbliche Staubwolke hinter ihnen aufwirbelte. Es erstaunte sie, dass sie keine Angst hatte, sondern nur ein eigentümlich erhebendes Gefühl von Freiheit und Abenteuer.

„Und in wessen guten Händen bin ich?“, wollte sie wissen. Sie passierten zwei Männer, die unweit der Straße, in die sie abgebogen waren, gelbe Steinquader zurechtschnitten, eine Schar Schulkinder und schließlich einen alten Bauern auf einem hoch mit Heu beladenen Eselskarren.

„Ich heiße Nicolas de Piro, Barone de Comino“, sagte der Mann an ihrer Seite. „In meiner Familie werde ich Nick gerufen, und meine Freunde …“, er lächelte und entblößte dabei seine strahlend weißen Zähne, „nennen mich Diablo, glaube ich. Aber hinter meinem Rücken. Und wie heißen Sie?“

Carol sagte ihm ihren Namen, während sie im Stillen befand, dass „Diablo“ hervorragend zu seinem dunklen Typ passte. Sie kamen durch eines der kleinen Städtchen, die auf Gozo nicht größer waren als ein Dorf, und fuhren an einer Gruppe schwarzhaariger Frauen vorbei, die strickend unter einem Baum auf dem Platz in der Mitte des Ortes saßen. Die Frauen blickten von ihrer Arbeit auf, doch sie hatten sie hinter sich gelassen, bevor Carol sehen konnte, ob ihr ungewöhnlicher Anblick sie überraschte.

Sie hielt den wehenden Schleier mit einer Hand zusammen und klammerte sich mit der anderen am Griff an der Beifahrerseite fest, um nicht gegen Nicolas geworfen zu werden, wenn er in halsbrecherischem Tempo in die Kurven fuhr, und war kaum in der Lage aufzunehmen, was er ihr währenddessen erzählte.

Es ging um eine Filmcrew, die einen historischen Film auf der Insel drehte – Carol hatte Gäste im Hotel darüber reden hören, wie sie sich nun erinnerte – und die Hauptdarstellerin, die spurlos verschwunden war, nachdem sie gedroht hatte, ihre Koffer zu packen und abzureisen.

Der Geringschätzigkeit nach zu urteilen, mit der er von ihnen sprach, schien Nicolas nicht viel von den Leuten zu halten und froh zu sein, wenn er sie bald loswurde.

„Jedenfalls können sie die letzten Szenen nicht drehen ohne die Hauptdarstellerin“, schloss er.

„Wäre das nicht in Ihrem Sinne?“, fragte sie ihn.

„Ich will, dass sie den Film fertigstellen und verschwinden!“, antwortete er. „Sie zahlen mir eine Menge Geld für die Dreherlaubnis auf meinem Besitz, aber bevor die unberechenbare Madrilena sich eines Besseren besinnt und zurückkommt, sind sie bankrott. Und jetzt setzt auch noch der Hauptdarsteller sie unter Druck und droht, nach Hause zu fliegen, wenn Madrilena nicht wieder auftaucht. Ich hoffe, wir kommen nicht zu spät.“

Ich bezweifle, dass wir überhaupt ankommen, wenn er weiter so schnell fährt, dachte Carol, aber so eigensinnig, wie Nicolas war, unterließ sie es lieber, ihren Gedanken laut zu äußern. Sie befanden sich nun auf einer Straße, die so nah entlang der steil abfallenden Klippen verlief, dass Carol nicht wagte, hinunterzublicken.

„Was mir nicht klar ist“, sagte sie und bekämpfte tapfer das Bedürfnis, die Augen zu schließen, „ist, wie ich in die Sache hineinpasse. Ich habe keine Ahnung, wo diese Schauspielerin sein könnte. Ich weiß nicht mal, wie sie aussieht.“

„Genau darum geht es.“ Nicolas schien direkt auf die Klippen zuzusteuern, um im letzten Moment das Steuer herumzureißen und eine der scharfen Haarnadelkurven zu nehmen, in denen sich die Straße zur Küste wand.

Eine Traube von Menschen – Kameraleute, Schauspieler in ihren Kostümen, das Scriptgirl und ein Mann mit einem Megafon – erschien in ihrem Blickfeld, als das Cabriolet kurz darauf bremste. Die Wirkung ihrer Ankunft war so dramatisch, als ob jemand einen Zauberstab geschwungen hätte. Sämtliche Gesichter waren ihnen zugewandt, alle standen da wie vom Donner gerührt.

Dann löste sich der Mann mit dem Megafon aus der Gruppe und kam auf das Auto zu. Er trug eine Sonnenbrille, einen weißen Leinenhut und blaue Shorts zu einem orangeroten T-Shirt. Er war nicht sonderlich groß, doch sein Spitzbart gab ihm das Aussehen von Wichtigkeit, und er schien vor Energie zu sprühen.

Mon cher baron, Sie haben sie gefunden!“, rief er aus. „Aber wie ist das möglich? Sie hat uns doch aus Sizilien angerufen. Nun ja, wahrscheinlich war das auch wieder einer ihrer miesen Tricks.“

Er wandte sich zu Carol. „Sieh dir die Leute an. Hast du eine Vorstellung, wie viel sie mich pro Minute kosten?“ Mit einer ausladenden Bewegung wies er auf die Matrosen, Bauern und Kameraleute. „Wieso spielst du ständig Katz und Maus mit mir? Das Hochzeitskleid gefällt dir nicht, es ist zu eng, du kriegst keine Luft, wenn du es anhast. Du musst vom Set weg, du kannst deinen Filmpartner nicht ausstehen. Ich, Varelle, bin ein Ungeheuer, ich behandele dich nicht mit dem nötigen Respekt. Du weigerst dich, die Trauungsszene abzudrehen! Und was ist das Ding, das du auf dem Kopf hast, wenn nicht ein Brautschleier?“

Er ließ seine Tirade vom Stapel, und Carol fragte sich, ob sie von einem Irren an den andern geraten war. Während der ganzen Zeit saß Nicolas schweigend da, die Arme vor der Brust verschränkt, und lächelte auf eine Art, die sie auf die Palme brachte.

„Sagen Sie ihm“, verlangte sie schließlich, als der kleine Mann eine Pause machte, um Luft zu holen, „dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, wovon er spricht, und erklären Sie mir, wieso Sie mich hergebracht haben. Etwa damit er mich beschimpft?“

Nicolas hob eine Augenbraue. „Ich dachte, das wäre völlig klar“, sagte er.

„Völlig.“ Carol begann, die Nadeln herauszuziehen, mit denen der Schleier in ihrem Haar festgesteckt war. „Erst entführen Sie mich. Dann fahren Sie, als wollten Sie uns beide umbringen. Und dann …“, sie schob sich den Schleier vom Kopf, sodass er ihr auf die Schultern fiel, „… geben Sie mich als jemand aus, der ich nicht bin.“

Der Mann mit dem Bart starrte sie an. Er war im Begriff gewesen, seine Strafpredigt fortzusetzen, doch nun sah er aus wie eine Figur auf der Filmleinwand, wenn der Ton abgedreht war. Seine Lippen bewegten sich stumm.

Dann ging er hinüber zur Fahrerseite, schlug Nicolas auf die Schulter und brach in brüllendes Gelächter aus.

„Sie sind ein Zauberer, mein Freund. Wo haben Sie sie gefunden? Nein, sagen Sie nichts. Sie haben irgendeine Beschwörung gemurmelt, und voilà, da war sie, unsere Hauptdarstellerin.“

Carol zuckte zusammen. „Ich bin keine Schauspielerin“, protestierte sie.

Nicolas lächelte. „Beinahe“, sagte er zu Varelle gewandt. „Jedenfalls fand ich sie an einem verzauberten Ort, in der Nähe der Kalypso-Grotte. Und ich dachte auch erst, sie sei Madrilena. Als sie sich der Villa näherte, war ich mir nicht sicher, aber als sie in Ta Dentellas Haus stand und diesen Brautschleier trug, fiel ich tatsächlich auf die Ähnlichkeit herein.“

Darum also hatte er sie so durchdringend gemustert. Nicht weil er sich von ihr angezogen fühlte, sondern weil sie aussah wie jemand anderes.

„Nun verstehe ich auch, wieso Sie sich im Haus der alten Frau wie ein Verrückter aufgeführt haben“, sagte sie. „Aber ich habe keine Ahnung, was ich hier soll, und wenn Sie glauben, die Hauptrolle in diesem Film ließe sich mit mir besetzen, sind Sie verrückter, als ich dachte. Ich bin keine Schauspielerin. Meine Stimme ist anders. Und ich reise morgen ab. Ich kann Ihnen nicht helfen.“

Beide Männer sahen sie an. Nicolas mit einem anerkennenden Lächeln, Varelle abschätzend.

„Wer ist sie überhaupt?“, fragte der Regisseur. „Ich würde mich an sie erinnern, wenn sie bei den Komparsen gewesen wäre. Dieses Haar – nun ja, wir werden es färben müssen. Oder …“ Er drehte sich um und brüllte: „Kate! Eine dunkle Perücke. Und ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf. Glattes Haar, wie bei Madrilena. Und sag Antonio, dass alles in Ordnung ist.“ Er wandte sich wieder zu Nicolas, der im Begriff war, aus dem Wagen zu steigen. „Nick, mein Freund, wie heißt sie?“

„Sie haben versprochen, mich zurückzubringen“, mischte Carol sich ein. „Mein Bruder wird schon Suchtrupps nach mir ausgeschickt haben.“ Aber als Nicolas ihr die Hand hinhielt, um ihr aus dem Auto zu helfen, ergriff sie sie.

„Erlauben Sie mir zuvor, Sie mit Monsieur Georges Varelle bekannt zu machen“, sagte er. „Er ist der Regisseur vieler erfolgreicher Filme. Monsieur Varelle, dies ist Miss Goodwin. Ihr Vorname ist Carol, obwohl ich finde, Kalypso passt besser zu ihr.“

„Monsieur Varelle.“ Carol schenkte Nicolas keine Beachtung. „Es tut mir leid, aber ich bin nicht die Richtige für diesen Job. Wirklich nicht.“

Sie hätte genauso gut ein zwitscherndes Vögelchen sein können, dem Eindruck nach zu urteilen, den ihre Worte auf den Regisseur machten. Varelle musterte sie mit schräg gelegtem Kopf.

„Gute Figur“, sagte er. „Und ungefähr die gleiche Größe. Nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssten bei den Totalaufnahmen. Die meisten Szenen der Trauung werden sowieso von hinten gedreht. Die Nahaufnahmen können wir auf ein Minimum reduzieren. Und die Hochzeitsfeier ist im Kasten. Ja, mein Freund, es wird gehen mit ihr, da bin ich sicher.“

Carol wandte sich zu Nicolas. „Sagen Sie ihm, dass ich es nicht tun werde. Egal, was er von mir will.“

Sie hatte die Stimme erhoben, und diesmal schien Varelle sie zu hören, denn er sah sie verblüfft an.

„Nick, mein Lieber, Ihr Schützling will nicht mitmachen. Wieso? Erzählen Sie mir nicht, dass Sie sie hergebracht haben, ohne ihr zu sagen, warum.“ Er schüttelte den Kopf und sprach Carol zum ersten Mal direkt an.

„Miss Goodwin, was müssen Sie von mir denken? Dass ich genauso ungehobelt bin wie Nick? Das werde ich ihm nie verzeihen. Kommen Sie, Sie müssen sich setzen.“ Er klatschte in die Hände und rief: „Bringt ein paar Stühle. Ihnen ist bestimmt heiß, und Sie haben Durst. Und was zu trinken. Und Eis. Hier, nehmen Sie Platz.“ Und als Carol erneut protestieren wollte: „Erlauben Sie mir wenigstens, Ihnen eine Zitronenlimonade anzubieten.“

Es war wie auf einer Bühne. Ein Mann brachte drei zusammenklappbare Stühle, ein anderer ein Tablett mit drei hohen Gläsern. Varelle reichte ihr eines und das zweite Nicolas, dann setzte er sich.

„So ist es besser. Nun können wir uns gemütlich unterhalten. Wissen Sie von unseren Schwierigkeiten?“

„Nur dass Ihre Hauptdarstellerin verschwunden ist. Aber es kann nicht Ihr Ernst sein, dass ich sie ersetzen soll.“

„Warten Sie, meine Liebe, warten Sie. Hören Sie mir zu, und Sie werden sehen, so unmöglich ist das nicht. Sie können uns ganz sicher helfen, unsere Probleme zu lösen. Ich kann mein Budget einhalten, und der Film wird fertig. Und Nick wird uns schneller los. Ja, ja, mein Freund, ich weiß, dass Sie das wollen. All das mit Ihrer Unterstützung, mademoiselle. Sie sind ein Geschenk des Himmels!“

Carol nippte an ihrem Drink. Er war eiskalt und sehr sauer. „Ich weiß nicht …“

„Keine Sorge, ich werde es Ihnen erklären. Wir haben den Film fast fertig, aber das bisschen, das wir noch abdrehen müssen, ist von entscheidender Bedeutung.“

Rasch gab er Carol einen Abriss der fraglichen Szenen. Den Hochzeitszug vom Hafen zur Kapelle. Dann die Trauungszeremonie …

„Aber wenn ihr Gesicht ohnehin verschleiert ist“, wandte Carol ein, „brauchen Sie keine Doppelgängerin.“

„Doch“, antwortete Varelle. „Am Ende der Szene wirft die Braut ihren Schleier zurück, und der Bräutigam sieht zum ersten Mal ihr Gesicht. Es ist eine erzwungene Heirat, müssen Sie wissen, und der Bräutigam, ein Korsar, ist wie vom Donner gerührt, als er erkennt, dass es sich bei seiner entführten Braut um die Frau handelt, in die er sich vor langer Zeit verliebte und die er glaubte nie wiederzusehen. Sie muss ihr Gesicht zeigen. Ihm und natürlich den Zuschauern.“ Der Regisseur lehnte sich vor und sah Carol beschwörend an. „Nur diese beiden Szenen. Das ist alles, worum ich Sie bitte.“

Carol überlegte. „Und Sie denken, ich könnte es machen?“

„Auf jeden Fall! Sie wären perfekt. Sagen Sie Ja!“ Varelles hypnotischer Blick war auf sie geheftet, als hinge das Schicksal Tausender Menschen von ihrer Antwort ab.

„Hier ist die Perücke, die Sie haben wollten, Monsieur Varelle.“ Eine junge Frau tauchte hinter seinem Stuhl auf. Der Regisseur sprang auf die Füße. „Sehr gut! Wir probieren es gleich …“ Bevor Carol etwas einwenden konnte, hatte die Maskenbildnerin ihr die Perücke aufgesetzt und ihr echtes Haar fachkundig darunter verborgen.

„Perfekt“, wiederholte Varelle. „Finden Sie nicht auch, Nick? Kommen Sie, übernehmen Sie kurz die Rolle des Korsaren. Stehen Sie auf, Miss Goodwin! Wo ist Antonio? Er soll herkommen. Und jetzt der Schleier. Steckt ihn ihr an.“

„Lassen Sie mich das machen“, verlangte Nicolas unerwartet. Er nahm Carol den Schleier von den Schultern und drapierte ihn so auf ihrem Haar, dass ein Teil der weichen Spitzenfalten nach vorne fiel und ihr Gesicht verdeckte. Plötzlich bemerkte Carol, dass er sie gespannt ansah. Wie schon bei ihrem allerersten Blickkontakt, raste diese sonderbar prickelnde Erregung durch sie hindurch.

Natürlich konnte sie nicht bleiben und in diesem Film mitspielen. Die Idee war einfach lächerlich. Sie fuhr morgen nach Hause. Aber vielleicht …? Nein, das Atelier wartete schon auf ihre Entwürfe für Célie et Cie. Und wenn sie die Skizzen John mitgab? Er würde sie abliefern, ihr Bruder war verlässlich wie die Bank von England.

Varelle lief um sie herum und überschlug sich beinahe vor Begeisterung. „Perfekt“, rief er, „besser, als ich je geglaubt hätte. Nehmen Sie sie bei der Hand, Nick.“

Nicolas ergriff ihre Hand und hielt sie so fest, dass Carol nach Luft schnappte.

„Und Sie, mademoiselle, werfen Sie den Schleier zurück und sehen Sie ihm in die Augen.“

Carol folgte der Anweisung und spürte, wie Nicks Griff noch fester wurde. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass ihr Herz einen Satz tat, als sie dem fesselnden Blick seiner dunklen Augen begegnete.

Nicolas lächelte sie an. „Werden Sie die Rolle übernehmen?“, fragte er leise.

„Ein weiterer Gefallen?“

„Ein großer“, bekräftigte er.

Erst später, nachdem Varelle sie mit einem Handkuss verabschiedet und Nicolas sie nach Ramla zurückgebracht hatte, wurde Carol klar, warum sie bereit war, sich auf diese verrückte Geschichte einzulassen: Etwas an den dunklen, faszinierenden Blicken und der beherrschenden Persönlichkeit des Barone de Comino schlug sie in Bann und schien sie zu zwingen, auf Gozo zu bleiben.

„Und, wie ist er so, dein barone?“, wollte Rosie wissen, nachdem Carol ihr und John die Änderung ihrer Pläne mitgeteilt hatte. „Alt und fett oder jung und umwerfend attraktiv? Oder ein finsterer Bösewicht aus einem Schauerroman, der Frauen raubt und in seine Festung verschleppt?“

„Nun …“ Carol zögerte. Was war das hervorstechendste Merkmal an Nicolas? Seine Größe? Der beunruhigende Blick, mit dem er einen ansah? Oder seine befehlsgewohnte Art, mit der er davon ausging, jeder habe zu tun, was er verlangte, sogar Varelle?

„Er ist ein Mann, der es gewöhnt ist, seinen Kopf durchzusetzen“, erklärte ihr Bruder. „Wie sonst hat er es geschafft, dich in dieses aberwitzige Projekt zu verwickeln?“

„Es ist gar nicht so aberwitzig“, wandte Carol ein. „Und wenn ihr zwei Tage länger bleiben würdet, könnten wir zusammen heimreisen. Wäre das nicht machbar?“

„Unmöglich.“ John schüttelte den Kopf. „Ich habe am Montag einen Geschäftstermin. Außerdem sind unsere Flüge nicht umbuchbar.“

Dann lasst sie verfallen, hätte Carol gern gesagt. Lasst sie verfallen, und bleibt hier bei mir. Aber sie wusste, genauso gut hätte sie mit dem Felsen von Gibraltar verhandeln können. Und außerdem – wovor sollte sie Angst haben?

2. KAPITEL

Carol stand am Kai von Mgarr und winkte John und Rosie hinterher. Im Hafenbecken schaukelten die kleinen, bunt gestrichenen Fischerboote anmutig auf den Wellen, und die Fähre nach Malta hatte den Wellenbrecher bereits passiert. Ihr blassblauer Rumpf schimmerte im Sonnenlicht, und John und Rosie standen an Deck und winkten zurück.

Eine Woge der Zuneigung erfasste Carol, für Rosie mit ihrer unbeschwerten Art und für John, der so vertrauenswürdig und anständig und so vernünftig war. Sie konnte sich hundertprozentig darauf verlassen, dass er ihre kostbaren Entwürfe im Atelier abliefern würde.

„Hallo, Sie da – sind Sie Carol?“ Als sie die Stimme hörte, drehte Carol sich um. Sie hatte den Landrover, der hinter ihr parkte, gar nicht kommen hören. Eine junge Frau lehnte sich aus dem Fenster auf der Fahrerseite und lächelte. „Varelle hat uns geschickt, um Sie zu holen“, rief sie. „Wir waren schon im Hotel, und dort sagte man uns, dass wir Sie hier finden.“

Einen Herzschlag lang glaubte Carol, der dunkelhaarige Beifahrer neben dem Mädchen sei Nicolas, doch auf den zweiten Blick sah sie, dass der Mann blasser und schmaler war als der barone. Er war attraktiv, ohne dass die Ausdruckslosigkeit seiner hübschen Züge es mit Nicolas’ eindringlicher Ausstrahlung hätte aufnehmen können.

„Das ist Tony“, stellte die junge Frau ihren Begleiter vor und lächelte offen. „Ihr Partner. Und ich bin Kate. Kostüme, Requisiten, Gläserspülerin, Mädchen für alles und so weiter.“

„Ich war gespannt auf Sie“, wandte Tony sich an Carol und lächelte ebenfalls. „Ich hoffe, Sie sind keine solche Hexe wie Madrilena. Aber ich sehe schon, Sie sind anders. Das ganze Gegenteil von ihr. Wir werden gut miteinander auskommen, da bin ich sicher.“

Carol stieg ein und nahm amüsiert zur Kenntnis, wie er sich ihretwegen in Szene setzte. Den ganzen Weg vom Hafen, an der Uptodate Garage, der einzigen Disco, und der traditionsreichen Gleneagels Bar vorbei, gab er den großen Mimen für sie.

„Und was steht denn heute auf dem Drehplan?“, fragte er schließlich an Kate gewandt.

„Die Ankunft der türkischen Flotte – zwei Schiffe, um genau zu sein – heute Morgen. Der Hochzeitszug, dem die Gefangenen entgegenkommen, am Nachmittag. Die Zitadelle soll heute Abend in Flammen aufgehen, aber wo Varelle die Massen von Leuten herkriegen will, wenn sämtliche Gozitaner auf dem Volksfest sind, ist uns allen ein Rätsel“, antwortete Kate sachlich.

„Hört sich ziemlich dramatisch an“, bemerkte Carol.

„Kennen Sie die Story etwa nicht?“, fragte Tony. „Sie ist hochdramatisch, romantisch und alles andere, was sonst noch auf – isch“ endet. Bombastisch, idiotisch und ansonsten völlig …“

„Halt den Mund, Tony“, mischte Kate sich ein. „Jedermann weiß, dass du die Rolle des mutigen Korsaren liebst. Er ist der Anführer der Seeräuber“, wandte sie sich an Carol, während sie in einen Feldweg einbog. „Die Türken pflegten Gozo in regelmäßigen Abständen zu überfallen, und im Jahr 1551 kamen sie mit einer Flotte von hundertfünfzig Galeeren.“

„Unter der Führung eines Typen namens Sinam Baxa“, warf Tony ein.

„Er belagerte die Zitadelle“, ergriff Kate wieder das Wort, „und als er sie eingenommen hatte, deportierte er sechstausend Gozitaner als Sklaven. Nur ein paar wenige konnten fliehen.“

„Wie kam es zu der Hochzeit?“, wollte Carol wissen.

„Er war ursprünglich ein Einheimischer“, erklärte Kate. „Ein Fischer, den die Türken entführten, als er achtzehn war. Er erwies sich als so guter Seemann, dass sie ihn schließlich zum Kommandeur ihrer Flotte machten. Und die Hochzeit mit der jungen Dame aus einer angesehenen Familie Gozos sollte den Feindseligkeiten gegen die Invasoren ein Ende setzen. Umso bestürzter dürfte er gewesen sein, als er nach der Trauung entdeckte, dass es sich bei seiner Braut um das Mädchen aus guter Familie handelte, in das er sich vor langer Zeit unsterblich und ohne Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft verliebt hatte.“

Der Landrover holperte über die unebene Piste, die an hohen grünen Hecken von Kaktusfeigen vorbeiführte, und erreichte schließlich den Drehort. Als Kate bremste, kam ein kleiner Junge von etwa fünf Jahren auf den Wagen zugelaufen. Er weinte herzzerreißend.

Kaum war das Auto zum Stehen gekommen, sprang Carol hinaus.

„Was ist denn los?“, fragte sie den Kleinen und legte tröstend den Arm um seine Schultern. „Hast du dir wehgetan?“

Unfähig zu sprechen, schluchzte das Kind und sagte schließlich: „Mein Kaninchen. Mein Pietro. Er ist …“

Ein wütendes Brüllen unterbrach den Jungen. Ungefähr fünfzig Meter entfernt von ihnen stand Varelle auf einem Kamerawagen.

„Seid ihr bescheuert?“, schrie er in sein Megafon. „Was machst du denn da, Kate?“

„Oh Gott, er filmt gerade“, flüsterte Kate erschrocken. „Aber …“, sie sah auf das weinende Kind hinunter, „… der Kleine schauspielert nicht!“

„Besser, du lässt Varelle machen“, riet Tony ihr vom Auto aus. „Sonst platzt er noch vor Wut.“

„Zum Teufel mit ihm“, erwiderte Kate zornig. „Es reicht. Ich bin sicher, er hat das Kaninchen aus dem Käfig gelassen. Hast du Pietro ordentlich eingesperrt?“, fragte sie den Kleinen.

Der Junge nickte und brach erneut in Tränen aus. „Ich habe die Käfigtür verriegelt. Jemand hat sie wieder aufgemacht.“

„Wir finden ihn“, versuchte Kate, ihn zu beruhigen. „Der Hase ist sein Haustier“, erklärte sie Carol. „Er bringt ihn zu den Dreharbeiten mit und kümmert sich rührend um ihn. Es ist eine Schande …“

„Kate! Carol! Seid ihr völlig von Sinnen?“ Varelle stürmte auf sie zu. Er war außer sich. „Endlich – endlich! – habe ich die Möglichkeit, ein Kind zu filmen, das verzweifelt ist über den Verlust seiner Mutter und seines Vaters und seiner ganzen Familie“ – seine Stimme bebte vor Zorn – „und ihr ruiniert mir die Szene!“

„Machen Sie die Sache mit mir aus“, sagte Kate. Doch Varelle hatte Carol bereits am Ellbogen genommen und führte sie ein Stück fort, während er unablässig auf sie einredete. Sein Ärger war von ihm abgefallen wie ein Mantel, den man achtlos von den Schultern wirft.

„Meine liebe Carol. Sie sind noch viel schöner, als ich gestern dachte. Es ist ein Wunder, dass der barone Sie für uns gefunden hat, wirklich. Elaine!“ Er klatschte in die Hände, und das Mädchen, das am Tag zuvor die Perücke gebracht hatte, erschien in der Tür eines der Wohnwagen und kam eilig auf sie zu.

„Das ist Elaine“, stellte Varelle sie Carol vor, als sie bei ihnen ankam. „Sie wirkt Wunder, und sie wird Sie so zurechtmachen, dass selbst Madrilena zweimal hinsehen müsste, um den Unterschied zu erkennen. Also los, gehen Sie mit ihr. Carlos, du siehst aus wie ein Priester, aber du verhältst dich nicht wie einer. Wo ist Antonio? Und warum ist Kate nicht hier?“ Er stürzte fort, Anweisungen schreiend und widerrufend und eine Heckwelle von Turbulenzen hinterlassend.

„Dieser Mann ist ein Derwisch“, sagte Elaine kurz angebunden, als sie Carol zu ihrem Wohnwagen führte. „Und wenn er nicht herumtanzt wie ein Verrückter, führt er sich auf wie Napoleon. Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen, aber hier glaubt jeder, seine Macht beweisen zu müssen. Allen voran Varelle und der vornehme barone.“ Ihre Stimme war schneidend, wenn nicht höhnisch.

„Ist der barone oft hier?“, fragte Carol.

Elaine warf ihr seidiges Haar zurück und maß sie mit ihren leicht schräg gestellten hellblauen Katzenaugen. Ihr Blick war abschätzig.

„Ziemlich oft“, antwortete sie, während sie Carol bedeutete, sich auf den Stuhl vor dem breiten Schminkspiegel zu setzen. „Nebenbei bemerkt – hat niemand Sie vor ihm gewarnt?“

„Was meinen Sie?“

„Er ist ein notorischer Schürzenjäger.“ Elaine verteilte Creme in Carols Gesicht und begann, sie so unsanft einzumassieren, dass es wehtat. „Es ist eine Frage des Stolzes für ihn“, fuhr sie fort. „Wenn er eine gut aussehende Frau sieht, muss er sie seiner Trophäensammlung hinzufügen. Ich sage Ihnen das nicht gern, aber ich finde, Sie sollten es wissen.“

Carol fühlte sich zunehmend unbehaglich in Elaines Gegenwart. „Wie kommen Sie darauf, dass der barone an mir interessiert sein könnte?“

„Keine Ahnung.“ Die Maskenbildnerin wandte den Blick ab. „Ein neues Gesicht, eine neue Herausforderung. Die Art, wie er Sie angesehen hat, als ich gestern die Perücke brachte.“

Carols Herzschlag beschleunigte sich. „Wie hat er mich denn angesehen?“ Die Worte waren heraus, bevor sie sie zurückhalten konnte. Ein Ausdruck boshafter Genugtuung huschte über Elaines Gesicht.

„Ungefähr so“, antwortete sie, „wie ein Raubvogel, der im Begriff ist, sich auf ein ahnungsloses Täubchen zu stürzen.“

„Danke für die Blumen“, gab Carol ironisch zurück. Warum liegt Ihnen so viel daran, mich zu warnen? wollte sie weiterfragen, doch draußen ertönte erneut ein wütendes Brüllen, und Kate steckte ihren Kopf zur Wohnwagentür herein.

„Los, beeilt euch“, rief sie. „Sonst gibt’s hier ein Blutvergießen. Varelle hat gerade den Kameramann zur Schnecke gemacht wegen der Totalaufnahmen von den Galeeren. Kann mir ein Mensch sagen, warum wir für diesen Besessenen arbeiten, wenn wir genauso gut einen friedlichen Job haben könnten, im Straßenbau zum Beispiel, oder als Raubtierdompteure?“

„Worüber regt er sich jetzt wieder auf?“, wollte Elaine wissen und bändigte Carols Haar mit einem breiten, eng sitzenden Band. „Wen hat er nun am Wickel?“

„Carlos. Varelle hat ihn beim Pokern erwischt. Er fegte die Karten vom Tisch und schrie Carlos an, wenn er einen Priester spielt, solle er sich auch wie einer benehmen und lieber beten. Carlos ist stinksauer. Aber egal, sieh zu, dass du mit der Perücke fertig wirst, und dann bring sie zu mir in den Garderobenwagen.“

Als Carol kurze Zeit später zwischen den Reihen von Kostümen stand, staunte sie über die Geschicklichkeit, mit der Kate ihr das starre, einengende Mieder zuschnürte und die weiten Unterröcke um ihre Taille befestigte. Genau wie das Hemd mit den weiten, langen Ärmeln, das Carol unter dem Mieder trug, waren sie aus apricotfarbenem Seidenmaterial gefertigt. Kate half ihr in das Übergewand aus rostrotem Brokat, dessen glockenförmiger Rock steif genug war, um von alleine zu stehen, und richtete die hohen Spitzen des Kragens, sodass sie Carols Gesicht wie zwei Flügel umrahmten. Sie zupfte die Längsschlitze in den prächtig gearbeiteten Ärmeln zurecht, damit sie den Blick auf die blass schimmernde Seide des Hemdes freigaben.

„Nun noch die bestickten Handschuhe“, sagte sie. „Den Schleier lege ich Ihnen später an, sonst sehen Sie nicht, wo Sie hinlaufen. Sie bieten einen fantastischen Anblick. Hoffen wir nur, dass Seine Exzellenz das auch findet.“

Varelle stand am äußersten Ende einer Klippe, die schroff zum Meer hinabstürzte. Der Regisseur wirkte so aufgeräumt wie der Göttervater, der im Begriff war, Blitze zu schleudern. Er blickte auf die Straße hinab, die sich in scharfen Haarnadelkurven zur Küste schlängelte. Als er bemerkte, dass Kate und Carol auf dem Weg zu ihm waren, winkte er sie mit einer ungeduldigen Geste zu sich.

„Sehen Sie sich diese Straße an“, sagte er an Carol gewandt. „Lassen Sie einen Moment auf sich wirken, wie sie sich den Berg hinunterwindet.“ Carol tat, wie ihr geheißen, und Varelle dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern. „Und nun schließen Sie die Augen. Stellen Sie sich sechstausend Menschen vor. Junge. Alte. Frauen. Männer. Kinder. Gesunde und Kranke. Sie alle werden diesen steilen, steinigen Weg hinuntergetrieben wie Schafe. Zu den Galeeren, die sie für immer von hier fortbringen. Sechstausend Menschen! Können Sie sie sehen? Nein, lassen Sie Ihre Augen geschlossen. Es ist ein Strom der Elenden. Eine Flut verängstigter, besiegter Adliger, Bauern und Fischer. Sehen Sie sie?“

Carol nickte, ganz im Bann seiner hypnotischen Stimme. Sie glaubte beinah, die Schreie der Eroberer zu hören, wie sie ihre menschliche Kriegsbeute zu den Schiffen peitschten.

„Und nun öffnen Sie Ihre Augen“, befahl Varelle. „Was sehen Sie?“

„Nichts“, sagte Carol wahrheitsgemäß.

„Exakt.“ Der Regisseur nickte zufrieden. „Nicht einen einzigen der Bauern. Keine wehklagenden Frauen. Kein schreiendes Kind. Ich brauche keine sechstausend Menschen“, fuhr er fort. „Das würde mein Budget ohnehin sprengen. Dreihundert reichen mir. Aber, wo zum Teufel, sind diese dreihundert?“

Dann fiel sein Blick auf den Hauptdarsteller. „Antonio!“, rief er. „Mein tapferer Piratenkapitän. Ich habe meinen Helden, ich habe die richtige Partnerin für ihn, ich habe die Seeleute – wenige, aber genug –, das Licht ist perfekt und konkurrenzlos schön.“ Er schwieg. „Aber wo sind meine Menschenmengen?“

Tony zog seine juwelenbesetzten Handschuhe glatt.

„Mein geschätzter Regisseur, fragen Sie den barone, nicht mich“, erwiderte er gelassen. „Wegen der Komparsen haben Sie mit ihm verhandelt. Das ist sein Bier, nicht meins.“

„Nicolas, natürlich.“ Varelle und wirbelte auf dem Absatz herum. „Ich rufe ihn an, dass er kommen soll.“

„Warum hat mich keiner daran erinnert, dass Volksfest ist?“, beschwerte sich Varelle, als er zehn Minuten später zurückkam. „Am zweiten Maiwochenende wird auf der ganzen Insel gefeiert. Es gibt Festzüge und Feuerwerk. In den Straßen wird getanzt, die Hälfte der Inselbewohner verkleidet sich, und die andere Hälfte findet sich als Zuschauer ein.“

„Also drehen wir heute keine Massenszenen mehr“, stellte Tony fest. „Was machen wir stattdessen?“

„Nicolas hat uns zum Lunch eingeladen“, sagte Varelle. „Uns alle. In seinem palazzo.“

„Da können wir uns doch glücklich schätzen.“ Tonys Antwort klang ausgesprochen sarkastisch.

„Hey“, wies Kate ihn in die Schranken. „Ich betrachte das als eine Ehre. Und ich wollte schon immer sehen, wo er lebt. Ich glaube, es ist ein großartiges Haus.“

Carol wusste nicht, was sie erwartet hatte – eine düstere, bewehrte Festung, die auf einer felsigen Landzunge thronte, vielleicht auch eine gotische Burg mit Türmchen und Zinnen, aber Nicolas’ Heim war keines von beiden.

Sie fuhren über unebenes Gelände, das von Wildblumen übersät war, und kamen auf eine Landstraße, die an Reihen stachliger Kaktusfeigen entlangführte. Schließlich erreichten sie ein offenes Tor, flankiert von eindrucksvollen Pfosten, auf deren verwitterten Steinen ein Wappen sichtbar war. Sie bogen in die Auffahrt ein, und als sie das Ende des schmalen Fahrwegs erreichten und den palazzo erblickten, war es wie eine Offenbarung.

Die ausgebleichten rosafarbenen Mauern des alten Gebäudes waren überwuchert von Kletterpflanzen. Blühende Bäume erhoben sich vor einem Torbogen, dessen schmiedeeiserne Gittertüren einladend offen standen und ihnen den Weg durch den Innenhof zum Eingang wiesen, wo der Wagen hielt und alle ausstiegen.

Nicolas erwartete seine Gäste am oberen Ende der Treppe. Während sie die ausgetretenen Steinstufen erklommen, schweifte sein Blick über die gesamte Filmcrew und blieb schließlich an Carol hängen. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und hoffte, dass es keinem von den andern auffallen würde. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass ihr das Herz bis zum Halse klopfte.

„Darf ich Sie in meinem Haus willkommen heißen“, begrüßte Nicolas sie. Er führte sie durch eine Flucht von Räumen, jedoch in einem solchen Tempo, dass Carol nur flüchtige Eindrücke wahrnahm – von langsam rotierenden Ventilatoren an hohen Decken, Porträts in vergoldeten Rahmen, schimmernden Überwürfen auf Sesseln, polierten Tischen, riesigen Blumenvasen, Marmorfußböden und hohen französischen Fenstertüren, die auf eine weitläufige Terrasse hinausgingen, auf deren Steinfliesen die Sonne gefleckte Muster malte.

Ein Tisch, der beinahe vom einen Ende bis zum andern reichte, war dort aufgestellt. Mit dem weißen Tafeltuch und dem feinen Porzellan, dem schweren Silberbesteck, den Kristallgläsern und üppigen Blumendekorationen schien er zu einem Bankett einzuladen. Nachdem Nicolas sie platziert hatte, erschienen zwei Bedienstete und füllten die Gläser.

„Monsieur Varelle“, wandte er sich an den Regisseur, „es tut mir leid um den verschwendeten Drehtag, aber es ist undenkbar, dass meine Landsleute am Volksfest arbeiten.“

Varelle zuckte mit den Schultern. „Und mir“, er setzte eine bedauernde Miene auf, „tut es leid, dass ich davon ausging, nichts könne wichtiger sein als mein Film. Trotzdem frage ich mich natürlich, warum die Komparsen mir nicht gesagt haben, dass sie heute nicht kommen, als ich sie gestern aufforderte, um elf Uhr vormittags am Drehort zu sein.“

„Aus Höflichkeit vermutlich“, erwiderte Nicolas. „Sie wollten Sie nicht darauf hinweisen, dass Ihnen ein Fehler unterlaufen ist.“

„Warum haben Sie es mir nicht gesagt?“, wollte der Regisseur wissen. „Kein Mensch würde Sie übermäßiger Höflichkeit bezichtigen.“

Nicolas nickte. „Ich hätte es getan, wenn ich nicht damit beschäftigt gewesen wäre, die ganze Insel nach Madrilena abzusuchen.“ Er hielt inne und lächelte. „Und einen hervorragenden Ersatz für sie zu finden.“ Sein Blick begegnete Carols, und sie fragte sich, ob er ihr ein Kompliment gemacht hatte oder nicht. Die Bemerkung selbst war nicht unbedingt schmeichelhaft, aber in der Art, wie er sie dabei anschaute, lag Anerkennung, beinahe so etwas wie Besitzerstolz. Plötzlich fielen ihr Elaines warnende Worte wieder ein. Sie sah fort und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das köstlich aussehende Essen.

Nachdem Nicolas sie zu Tisch gebeten hatte, erkundigte sich Tony: „Wie lange dauern die Feierlichkeiten?“

„Zwei Tage“, erwiderte Nicolas. „Heute Nachmittag beginnt der Umzug, und am Abend wird auf den Plätzen getanzt. Und das Gleiche findet morgen noch einmal statt.“

Varelle griff sich an die Stirn. „Zwei Tage!“, stöhnte er. „Aber gut, morgen ist Sonntag, und da hätte sowieso kein Gozitaner gearbeitet, wie ich inzwischen nur allzu gut weiß. Letzten Sonntag konnte ich auch nur die Nahaufnahmen mit Antonio und Madrilena drehen.“

„Was ein großes Glück war“, warf Kate ein. „Andernfalls hätten wir jetzt ein Problem.“

„Gott sei Dank ist Montag kein Feiertag.“ Varelle wandte sich zu Nicolas. „Als Grundbesitzer bewundere ich Sie, mein Freund, mit all Ihren Plänen für Bewässerungs- und Entsalzungsanlagen und Ihrem Vorhaben, dieses felsige Eiland fruchtbar zu machen. Aber Sie wären ein miserabler Regisseur. Sie haben keinen Begriff von Budgeteinhaltung, Überstunden, Zeitdruck. Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass Sie Ihren Leuten eine gute Verdienstmöglichkeit vorenthalten, wenn Sie sie nicht ermutigen, an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten?“

„Während des Volksfestes? Mein lieber Varelle, Sie sind es, der keinen Begriff von den Gegebenheiten hat. Was hätten die Leute davon, wenn sie heute und morgen für Sie arbeiten? Eine Extraeinnahme. Aber es geht um mehr. Sie würden anfangen, ihre Traditionen aufzugeben. Und wichtiger noch, ihre Selbstachtung. Gozo ist nicht reich, doch diese beiden Dinge sind wichtig für die Menschen, die hier leben.“

Die Menschen hier liegen ihm wirklich am Herzen, dachte Carol. Wahrscheinlich findet er es unerträglich, dass seine Landsleute immer mehr zur Touristenattraktion werden und Strohhüte und Spitzentaschentücher verkaufen.

Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn beobachtete und mit Varelle verglich. Die beiden Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können. Es belustigte sie zu sehen, dass der quirlige Regisseur allmählich dem Zauber seiner Umgebung erlag – oder vielleicht dem Charme ihres Gastgebers? Und Nicolas war hier in seinem palazzo so gelöst, wie sie ihn bisher nicht erlebt hatte. Er saß entspannt da, während er Varelle lauschte, still und ohne Energie für unnötige Bewegungen zu verschwenden, während der Regisseur ständig mit allen Gliedmaßen gleichzeitig zu gestikulieren schien.

Varelles Quecksilbrigkeit ließ Nicolas’ ruhige Stärke noch deutlicher hervortreten. Sein Schweigen, wenn er dem Regisseur zuhörte, hatte nichts damit zu tun, dass er dessen Ansichten teilte, sondern sie vielmehr einer Beurteilung unterzog. Seine Zurückhaltung war nicht im Mindesten passiv, eher eine Demonstration von Wachheit und Kraft. Carol kam zu der Überzeugung, dass jemand, der ernsthaft die Klingen mit ihm kreuzen wollte, einen schweren Stand haben würde.

Eine Bemerkung, die Tony ein paar Stunden zuvor gemacht hatte, kam ihr in den Sinn – dass man dem barone nachsagte, er habe bereits drei Beinahe-Bräute gehabt. Das war sicherlich eine Übertreibung, doch auch wenn es nicht drei waren, sondern nur eine, fragte Carol sich unwillkürlich, was für eine Frau es gewesen sein mochte, die Nicolas fast, aber dann eben doch nicht geheiratet hatte.

In diesem Moment sah er hoch und fing ihren Blick auf. Obwohl sie sofort auf ihren Teller schaute, war ihr bewusst, dass er sie nicht aus den Augen ließ.

„Sind Sie mir etwa auch böse?“, wollte er wissen.

„Sollte ich?“, fragte sie zurück. Sie war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie der Unterhaltung am Tisch keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt hatte. „Aus welchem Grund denn?“

„Weil ich mein Wort gebrochen habe. Ich hatte Ihnen versprochen, diese Sache würde nicht länger als einen, höchstens zwei Tage dauern.“

„Stimmt“, sagte Carol, während sie gleichzeitig überlegte, wie wenig es ausmachte, ob sie am Montag oder am Tag darauf oder die nächste Woche nach Hause fuhr. Sie hatte ihre Entwürfe gezeichnet, John würde sie abliefern, und sie konnte darauf vertrauen, dass das Atelier die Muster so herstellte, wie der Kunde es wünschte. Es bestand kein Grund zur Eile. Sie hatte nicht vor, sich von einem Mann, der so gefährlich attraktiv war wie Nicolas, aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen, aber was konnte es schaden, wenn sie ein wenig Zeit in seiner Gesellschaft verbrachte?

„Jedenfalls wäre es bedauerlich gewesen, wenn Sie unser Volksfest verpasst hätten“, unterbrach er ihre Überlegungen.

„Wann fängt es an?“, erkundigte Carol sich und sah ihn an.

„Um vier, aber die Vorbereitungen beginnen mindestens zwei Stunden früher.“

„Und von wo aus kann man den Umzug am besten beobachten?“

Nicolas lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte. „Der beste Platz ist selbstverständlich der an meiner Seite.“

3. KAPITEL

Carol wusste, dass dieser Tag ihr in Erinnerung bleiben würde, so lange sie lebte. Später wollte sie sich glauben machen, dass Nicolas sie absichtlich in seinen Bann geschlagen hatte, berechnend und mit der ihm eigenen Skrupellosigkeit, aber der Nachmittag und der Abend selbst waren eine Zeit reinster Magie.

Dabei fing alles an wie gewöhnlich. Nach dem Lunch brach die Filmcrew auf – Varelle fuhr mit Kate und den Kameraleuten; Tony und Elaine nahmen den Landrover, und Nicolas führte Carol zu seinem Sportwagen. Beim Einsteigen bemerkte sie flüchtig, dass die Maskenbildnerin ihr einen giftigen Blick zuschoss, und fragte sich unwillkürlich, ob aus Eifersucht, weil Nicolas ihr keinerlei Aufmerksamkeit schenkte, oder aus Wut, weil er es in der Vergangenheit vielleicht getan hatte.

Sie vergaß den Gedanken, sobald Nicolas den Gang einlegte und losfuhr. „Heute werde ich nicht rasen“, versprach er. Als sie das Ende der Auffahrt erreichten und der Landrover vor ihnen auf die Landstraße einbog, nahm Nicolas die entgegengesetzte Richtung. Er hielt Wort und verminderte die Geschwindigkeit auf Schritttempo, als sie den nächsten Ort erreichten. Auf der Straße herrschte dichtes Gedränge, ganze Familien waren unterwegs, und die Menschenmenge wälzte sich stadteinwärts. Jedermann war im Sonntagsstaat, die Älteren komplett in Schwarz, die Jüngeren in lebhaften Farben. Die Kinder hatten es Carol am meisten angetan.

„Sie sehen so schön aus!“, rief sie begeistert.

Nicolas nickte. „Sie werden geliebt. Das ist das beste Rezept für Schönheit.“

Er hielt häufig an, um ein paar Worte mit den Leuten zu wechseln. Stets wurde er mit einem freundlichen Lächeln begrüßt, alle schienen ihn zu kennen. Als Carol ihn darauf ansprach, zuckte er die Achseln. „Das ist völlig normal. Meine Familie lebt seit sechshundert Jahren in dieser Gegend. Es wäre merkwürdig, wenn man mich nicht kennen würde.“

„Haben Sie Ihr ganzes Leben hier verbracht?“, fragte Carol erstaunt.

„Erscheint Ihnen das so unvorstellbar?“, fragte er zurück. Um seine Mundwinkel zuckte es amüsiert. „Ich versichere Ihnen, wir sind einigermaßen zivilisiert auf dieser Insel, auch wenn Sie es offenbar nicht glauben.“ Er wurde ernst. „Aber um Ihre Frage zu beantworten: ‚Ich bin in England zur Schule gegangen und habe in Frankreich studiert. Wie allen Gozitanern liegt mir eine ordentliche Portion Fernweh im Blut, das mich immer wieder in die weite Welt hinauszieht.‘“

Jetset, schoss es Carol durch den Kopf, doch sie korrigierte sich umgehend. Jetsetter waren Menschen, die keine Wurzeln hatten, und wenn eines klar war, dann dies: Nicolas war seiner Heimat zutiefst verbunden.

„Jeder Ort hat seine eigene Tanzgruppe“, erklärte er ihr. „Ich habe Sie hierher mitgenommen, damit Sie sich die Vorbereitungen anschauen können, bevor der Umzug anfängt. Es langweilt Sie doch nicht?“

Es war eher eine Feststellung als eine Frage, dennoch antwortete Carol bereitwillig.

„Im Gegenteil, ich finde es toll! Die ganzen Umzugswagen, die Musikkapellen – hat eigentlich auch jeder Ort seine eigene Musikkapelle? – und all die Leute. Normalerweise begegnet man ihnen als Urlauber ja nicht wirklich. Außer den Fremdenführern oder denen, die Souvenirs verkaufen.“

Als sie das nächste Mal anhielten, ließ Nicolas es sich nicht nehmen, Carol vorzustellen – nicht als Touristin, auch nicht als jemand aus dem Filmteam, sondern als „eine Freundin aus England“. Sie parkten in der Nähe einer prächtigen Kirche, in deren Schatten der Marktplatz lag.

„Oh!“, rief Carol aus, als ihr nun eine Reihe geschmückter Eselskarren auffiel, die an der Längsseite des Platzes Aufstellung genommen hatten. „Können wir aussteigen und sie uns ansehen?“

„Selbstverständlich.“ Ihr Enthusiasmus schien Nicolas zu amüsieren. „Ich hatte ohnehin zugesagt, dass ich vor dem Umzug einen Blick darauf werfe.“

Einen der Eselskarren hatte man in die Arche Noah verwandelt, einen anderen in ein Lebkuchenhaus. Auf einem dritten befand sich ein fantastisches Vogelnest, und wieder ein anderer war zu einem gigantischen Blumenkorb geworden, dessen Henkel über und über mit Blüten besteckt war.

Der Fahrer half einer Gruppe Kinder, von denen jedes als Blume verkleidet war, nacheinander auf den Karren. Das letzte von ihnen, einen schmächtigen kleinen Jungen, hob Nicolas hoch und brachte ihn sicher auf seinem Platz im Korb unter.

„Sie mögen Kinder?“ Carol konnte ihre Überraschung nicht ganz verbergen.

„Sie meinen gekocht, gedünstet oder am Spieß gebraten?“, fragte er lachend zurück. „Wird mir etwa nachgesagt, ich wäre ein Ungeheuer?“

Sie schüttelte den Kopf. „Es passt einfach nicht ins Bild.“

Nicolas wurde ernst. „Ihr Bild von mir oder das von jemand anderem?“

Ein Mann schob eine fähnchengeschmückte Handkarre an ihnen vorüber. Er verkaufte etwas, das wie kleine Berge von steif geschlagenem Eiweiß aussah und stark nach Mandeln duftete.

„Was ist das?“, erkundigte Carol sich, froh, das Thema wechseln zu können. „Jeder hier, der jünger ist als zehn, scheint versessen darauf zu sein.“

„Prinjolata“, gab Nicolas Auskunft. „Festtagskuchen. Aber bedenken Sie, dass Bilder nur durch jemandes Einbildungskraft entstehen.“

Carol fühlte sich unbehaglich unter seinem bohrenden Blick. „Ich bin sicher, es interessiert Sie nicht im Mindesten, was die Leute von Ihnen denken.“

„Es stimmt, die Meinung der Leute ist mir egal. Aber so beunruhigend ich das finde …“, er legte ganz kurz seine Hand auf ihren Arm, „… Ihre Meinung von mir ist mir wichtig.“

Es war ein glücklicher Zufall, dass in diesem Moment die Kapelle zu spielen begann und das farbenfrohe Kaleidoskop aus Festzugswagen, Tanzgruppen, Musikanten und Maskierten sich in Bewegung setzte. So blieb es Carol erspart, irgendeine nichtssagende Bemerkung zu machen, die darüber hinwegtäuschte, dass ihr Herz bei Nicolas’ flüchtiger Berührung gefährlich ins Stolpern geraten war.

Fasziniert verfolgte sie das bunte Treiben, das an ihnen vorüberzog. Als der letzte Wagen – Neptuns Streitwagen, gezogen von Seepferden aus Pappmaché – den Marktplatz verlassen hatte, kam eine schwarz gekleidete Gestalt auf sie zu. Carol erkannte sie: Es war die Spitzenklöpplerin aus dem kleinen Haus in der Nähe der Kalypso-Grotte. Nicolas beugte sich zu ihr hinunter und nahm ihre beiden Hände in seine. Die alte Frau warf Carol einen Blick zu und fragte ihn auf Englisch: „Müsstest du nicht im Stadion sein?“ Ihr Ton war tadelnd, beinahe vorwurfsvoll.

„Du hast recht, wie immer, Ta Dentella“, erwiderte er mit überraschender Sanftmut. „Aber heute übernimmt Mutter diese Pflicht. Du weißt, sie liebt es, die Familie zu repräsentieren, und manchmal empfindet sie meine Gegenwart eher als lästig.“

„Sie ist stolz auf dich“, sagte die alte Frau, „solange du dich nicht ungebärdiger gibst, als du eigentlich bist.“

Nicolas warf Carol einen komisch verzweifelten Blick zu. „Da sehen Sie es. Keiner versteht mich. Dabei war Ta Dentella meine Kinderfrau, und sie kennt mich besser als jeder andere hier. Dennoch bin ich für sie immer noch der kleine Junge, dem man Ordnung und gutes Benehmen beibringen muss.“

Die alte Frau lachte. „Er hat nie getan, was man ihm sagte“, wandte sie sich an Carol. „Nie. Nicht mal, als er …“, sie streckte ihre Hand einen knappen Meter über dem Boden aus, „… so groß war.“

„Das glaube ich Ihnen aufs Wort.“ Carol war absolut sicher, dass Nicolas sich von keinem Menschen bevormunden ließ.

„Trotzdem brauchen Sie keine Angst vor ihm zu haben“, setzte die alte Frau überraschenderweise hinzu. „Auch wenn er sich manchmal wie ein wilder Tiger benimmt. Aber in seinem Herzen … nun, da sieht es ganz anders aus.“

Das erste Mal, seit Carol ihn kannte, wirkte Nicolas verlegen.

„Ta Dentella“, sagte er, während er Carol energisch mit sich zog, „ich muss Miss Goodwin von hier wegbringen, bevor du meinen Ruf endgültig ruinierst. Wie soll ich meine Rolle als Ungeheuer überzeugend spielen, wenn du ihr erzählst, wie ich mit vier gewesen bin?“

„Gott segne dich trotzdem“, rief die Spitzenklöpplerin ihnen nach, während er und Carol dem Festzug hinterherliefen.

„In ihren Augen können Sie einfach nichts falsch machen“, meinte Carol leise, als sie zum letzten Wagen aufgeschlossen hatten. „Ich glaube, sie hat Ihnen von der Wiege an Ihren Willen gelassen. Kein Wunder, dass sie Sie gestern einfach gewähren ließ, als Sie mich fortbrachten. In ihren Augen ist alles, was Sie tun, unweigerlich richtig.“

Nicolas packte ihr Handgelenk und zog sie zu sich herum, sodass sie ihn ansehen musste. „Vergessen Sie, wie wir uns das erste Mal begegnet sind“, sagte er mit einem stählernen Unterton in der Stimme. Dann lächelte er. „Lassen Sie uns noch einmal von vorn anfangen und einfach annehmen, wir hätten uns gerade erst kennengelernt. Auf einer schicken Party vielleicht. Und dass es uns ein Vergnügen ist“, sein Griff um ihr Handgelenk wurde fester, „dieses Volksfest miteinander zu besuchen.“

Sie sahen sich wortlos an. Dann wandte Nicolas sich ab, so als habe er etwas in ihren Augen gesucht, das zu sehen ihm plötzlich Angst machte.

Sei vorsichtig, warnte Carol sich. Er ist viel zu attraktiv. Du darfst dich nicht in ihn verlieben. Und dass diese Gefahr bestand, war ihr nur allzu bewusst.

Aber gegen Abend, als die ersten Raketen des Feuerwerks in die Luft geschossen wurden, konnte von einer Gefahr nicht mehr die Rede sein. Da war sie bereits zu einer Tatsache geworden.

„Sind das da drüben nicht Varelle und Kate?“, sagte Carol. „Doch, ja, ich bin sicher, sie winken uns zu.“

„Zu schade, dass wir sie nicht gesehen haben“, erwiderte Nicolas und legte ihr den Arm so fest um die Schultern, dass sie nicht zurückwinken konnte. „Kommen Sie, es ist Zeit, woanders hinzufahren.“ Er dirigierte sie zügig durch die Schar der Maskierten, die sich in den Straßen von Xewkija drängten.

„Sie hätten sich den beiden nicht anschließen wollen“, erklärte er ihr in seiner gewohnt diktatorischen Art, als sie zu seinem Wagen kamen. „Varelle kann heute ohnehin nicht mehr filmen, und wir haben etwas Besseres vor, als uns anzuhören, was ihn alles frustriert. Steigen Sie ein.“

Als sie aus der Stadt herausfuhren, gab Carol ihm im Stillen recht. Sie wollte nicht, dass irgendetwas den Zauber brach, den Gozo auf sie ausübte, seit sie sich in Nicolas’ Begleitung befand.

„Wohin entführen Sie mich diesmal?“, erkundigte sie sich scherzend.

„Nach Xlendi“, antwortete er. „Dort gibt es ein Restaurant direkt am Wasser. Und wenn wir Glück haben, werden wir keinen unserer Freunde vom Filmteam antreffen. Ich habe jedenfalls vorgesorgt und ihnen ein Lokal auf der anderen Seite der Insel empfohlen.“

„Sie mögen die Leute nicht besonders, habe ich recht?“

Nicolas zuckte die Schultern. „Sie bringen Geld, das macht sie erträglich. Und Varelle finde ich amüsant. Er kann genauso rücksichtslos werden wie ich, habe ich festgestellt. Kate ist auch okay. Der Rest …“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung und wechselte das Thema. „Ich möchte, dass Sie die Insel sehen, wie sie gesehen werden sollte. Nicht durch den Sucher einer Kamera.“

Carol hatte die Bucht von Xlendi in der Woche zuvor besucht. Sie war begeistert gewesen von der kleinen Stadt, deren natürliches Hafenbecken zwischen zwei steil abfallenden Felsen lag, von der Klarheit des Wassers, das wie flüssiges Glas auf den schmalen Sandstrand rollte, und von der Uferpromenade mit ihren hübschen Läden und Cafés. Heute jedoch waren die Geschäfte geschlossen, und ohne das Gewimmel von einheimischen Fischern und Touristen lag ein magischer Hauch über dem Ort.

Jedermann schien auf dem Volksfest zu sein, denn am Hafen herrschte Stille. Die Boote lagen vertäut und wiegten sich sanft auf der Wasseroberfläche, und die einzigen Geräusche waren das friedliche Plätschern der Wellen und das gedämpfte Klappern von Töpfen und Pfannen, das aus dem Restaurant zu ihnen herausdrang.

Der Eigentümer schien Nicolas gut zu kennen, denn er begrüßte sie wie zwei alte Freunde.

„Victor hat bei seinem Vater kochen gelernt. Und er hat noch nie in seinem Leben ein Kochbuch benutzt“, stellte Nicolas ihn Carol vor.

Der adrette kleine Mann mit dem spitzen Kinn und dem glänzenden schwarzen Haar lachte und deutete auf seine Stirn. „Das da ist mein Kochbuch, barone. Jedes Gericht ist eine Inspiration. Wie Poesie. Heute Abend serviere ich Ihnen fritturi von frischem Fisch und außerdem Kalbfleisch mit einem Pesto aus Oliven und Kräutern und noch ein paar andere Kleinigkeiten. Und während ich koche, können Sie den Wein probieren.“ Er stellte ihnen eine Karaffe Rotwein und zwei Gläser auf den Tisch und eilte in die Küche.

„Es stimmt“, sagte Nicolas und schenkte ihnen Wein ein. „Die meisten Küchenchefs produzieren kulinarische Prosa. Gegen sie ist Victor ein begnadeter Dichter.“

Carol hätte nicht sagen können, ob es das wahrhaft köstliche Essen war oder der samtige einheimische Rotwein oder der Charme ihres Gastgebers – dieser gefährliche Charme, dessen er sich sogar rühmte und dem sie unbedingt widerstehen wollte –, aber als sie ihren Kaffee tranken, war sie dem Zauber des Abends vollkommen erlegen.

Nicolas und sie hatten sich über gewöhnliche, alltägliche Dinge unterhalten. Über ihr Design-Atelier, ihre beruflichen Ambitionen. Über Nicolas’ Kindheit auf Gozo und seine Bewässerungsvorhaben. Doch der geheimnisvolle Zauber, von dem alles um sie her durchdrungen schien, wirkte auch zwischen ihnen beiden, und beinahe hatte Carol das Gefühl, als befänden sie und Nicolas sich in einer anderen Welt, eingewoben in einer Sphäre purer Magie.

Sie brachen auf, und Nicolas nahm sie mit auf eine Mondscheinfahrt über die Insel. Zu keiner anderen Zeit hätte der massige schwarze Umriss des Fungus Rock dramatischer, die Inland Sea romantischer wirken können als in dieser mondhellen Nacht. Das außergewöhnliche Netzmuster der Salzpfannen in den Felsen bei Xwenia glitzerte in einer Intensität, die es bei Tag niemals besaß. Die Zitadelle von Rabat mit ihren wuchtigen, schmucklosen Mauern warf ihren majestätischen Schatten auf sie, und alles – die quadratischen Wehrtürme auf den Hügeln, die uralten Tempelreste von Ggantija, die spinnenwebartige Silhouette der Windmühle bei Qala – atmete einen allgegenwärtigen, mächtigen Zauber.

Irgendwann brachte Nicolas das Auto zum Stehen, und sie stiegen aus. Er nahm ihre Hand und steuerte auf einen schmalen Weg zu, der hinunter zum Meer führte. Es war der gleiche, den sie schon einmal hinaufgewandert war, wie Carol bald feststellte. An jenem heißen Nachmittag, der hundert Jahre zurückzuliegen, zu einem anderen Leben zu gehören schien. Gestern …

„Das ist doch …“, begann sie.

„Der Weg zur Kalypso-Grotte, ja“, bestätigte Nicolas. „Der Höhleneingang wurde von einer Steinlawine verschüttet. Man kann nicht mehr hinein.“

Sie kamen zu der halb fertigen Villa. Nicolas führte sie durch den türlosen Eingang, unter den Säulen eines Innenhofes entlang, auf die von Statuen umstandene Terrasse, von der aus man die Bucht überblickte.

„Wem gehört dieses Haus?“, wollte Carol wissen. „Wird irgendjemand darin wohnen?“

„Der Bau wurde vor sieben Jahren begonnen …“ Nicolas zögerte kurz und fuhr dann fort: „Es sollte ein Sommerhaus werden.“

„Warum wurde es nicht fertiggestellt?“

„Das wird es noch.“ Er schien die Bemerkung nicht weiter kommentieren zu wollen. „Gefällt es Ihnen?“

Carol sah hinunter auf die weite Biegung des Strandes, der im Mondschein beinahe weiß wirkte, und die fast schwarze See dahinter, auf deren gekräuselter Oberfläche sich das Licht silbern brach. Die warme Nachtluft war erfüllt vom Duft nach Thymian und Fenchel.

„Es ist …“, sie hielt inne und suchte nach Worten, die die besondere Atmosphäre dieses Ortes einfingen, „… so überirdisch schön hier, dass man sich wie gebannt fühlt und nie wieder fort möchte.“

„Gebannt?“ Nicolas’ leises Lachen fühlte sich an wie eine Liebkosung. „Kalypso bannte Odysseus mit ihrem Zauber auf diese Insel. Sieben Jahre, wie die Sage behauptet.“ Der Blick seiner fesselnden dunklen Augen war unverwandt auf sie gerichtet.

„Odysseus war zu willensstark, sonst wäre er für immer geblieben.“

„Für immer“, wiederholte Nicolas nachdenklich. „Eine lange Zeit. Er und Kalypso wären noch hier, an dieser Stelle, an der Sie und ich gerade stehen, Carol.“

Er nahm ihre Hand in seine, und die Wärme seiner Berührung ging ihr durch und durch. Sie fühlte sich benommen, als sie zu ihm aufsah. Ihr Herz schlug viel zu schnell, und ihre Stimme klang atemlos, als sie erwiderte: „Und sie würden sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören.“

Das Mondlicht hatte die dunkle See in einen silbernen Spiegel verwandelt. Eine einsame Möwe kreischte, und das entfernte Rauschen der Wellen drang wie ein Flüstern vom Strand zu ihnen herauf.

„Sie wären nicht so lange stehen geblieben“, sagte Nicolas leise. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und sah ihr in die Augen. Dann beugte er sich zu ihr und küsste sie.

4. KAPITEL

Das einzig Dumme an magischen Momenten ist, dass sie nicht ewig währen, dachte Carol, als sie am nächsten Morgen aufwachte. Sie lag in der schmalen Schlafkoje des Wohnwagens, den Madrilena benutzt hatte, und spürte dem Abend mit Nicolas nach. Ihre Gefühle schwankten zwischen euphorischem Glück und abgrundtiefem Bedauern.

Sie konnte die intensive Freude, die sie in seinen Armen empfunden hatte, noch immer fühlen, seine fordernden Lippen auf ihren, seinen Körper, der sich gegen ihren presste. Sie erinnerte sich an den unverwandten Blick seiner fesselnden Augen und an sein leises Lachen, als sie irgendwann versucht hatte, sich von ihm zu lösen.

Wieso war es ihr auf einmal so wichtig gewesen, Abstand zu ihm herzustellen? Wo doch alles in ihr danach gestrebt hatte, sich den überwältigenden Gefühlen hinzugeben, die sie durchfluteten? War es Naivität gewesen? Instinkt? Auflehnung? Vorsicht? Ihre alberne englische Schulmädchenhaltung?

Nicolas hatte gelacht, sie noch einmal geküsst, mit einer Gründlichkeit, die ihr den Atem raubte, und sie losgelassen.

Autor

Carol Grace
Carol Grace wurde mit Fernweh im Blut geboren. Sie wuchs in Illinois auf, sehnte sich aber sehr bald danach, die weite Welt zu erkunden. Während des Studiums erfüllte sie sich diesen Traum erstmals mit einem Auslandssemester an der Sorbonne in Paris. Ihren Abschluss machte sie an der Universität von Los...
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