Romana Extra Band 82

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Therese Beharrie
… und plötzlich war es Leidenschaft

Sein Anblick bringt sie um den Verstand. Sein Kuss weckt in ihr ein sinnliches Feuerwerk. Doch als Jess erfährt, wer ihr Nachbar wirklich ist, rückt Dylan Nel für sie in weite Ferne. Denn wie soll sie dem Millionär erklären, dass sie die Leihmutter für das Baby seiner Schwester ist?

Cathy Bell
Küsse, so zart wie Oleanderblüten

Als Nora zu einer Hochzeit in die Provence eingeladen wird, bebt ihr Herz. Schließlich geben die Eltern der Braut ihr die Schuld am Tod von Jean. Nur durch dessen Bruder Pierre findet Nora ihr Lachen wieder. Aber ist ihre Liebe wirklich stärker als der Hass einer ganzen Familie?

Lynne Graham
Flucht in der Hochzeitsnacht

Hauptsache raus aus dem Leben im goldenen Käfig! Die zarte Ione ist beinahe froh, als ihr Adoptivvater sie mit einem fast Fremden verheiraten will, und plant bereits die Flucht in der Hochzeitsnacht. Aber als es so weit ist, sagt ihr Kopf Ja - und ihr Herz Nein!

A.C.Arthur
Wetteinsatz: Liebe!

Sie ist der Wetteinsatz für ein verlorenes Pokerspiel? Valora ist empört! Doch Gewinner Prinz Roland ist alles andere als ein herzloser Bad Boy. Sein Kuss verspricht nicht nur Leidenschaft, sondern Liebe. Bis eine Intrige das junge Paar und die ganze royale Familie in Gefahr bringt …


  • Erscheinungstag 11.06.2019
  • Bandnummer 82
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744809
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Therese Beharrie, Cathy Bell, Lynne Graham, A.C. Arthur

ROMANA EXTRA BAND 82

THERESE BEHARRIE

… und plötzlich war es Leidenschaft

Dylan ist von Jess nicht nur hingerissen, er verliebt sich auch in sie! Doch ihr Flirt findet ein jähes Ende, denn sie hat ihm etwas Unglaubliches verschwiegen. Kann Dylan ihr wirklich nicht verzeihen?

CATHY BELL

Küsse, so zart wie Oleanderblüten

Noras Ankunft im Vue avec Coeur trifft den smarten Parfum-Millionär Pierre wie ein Blitzschlag. Damals war sie vergeben, jetzt kann er ihr endlich seine Liebe zeigen. Aber lässt sie das auch zu?

LYNNE GRAHAM

Flucht in der Hochzeitsnacht

Ione lebt im Haus ihres Adoptivvaters wie eine Gefangene. Da erscheint ihr die arrangierte Hochzeit mit dem Unternehmer Alexis schon fast wie das Paradies. Ione ahnt noch gar nicht, wie recht sie hat …

A.C. ARTHUR

Wetteinsatz: Liebe!

Prinz Roland liebt das Spiel. Aber eine Frau beim Pokern zu gewinnen, ist auch für ihn eine Premiere. Nur gut, dass die schöne Val ihm die kalte Schulter zeigt. Denn eine Ehe ist für ihn undenkbar …

1. KAPITEL

Jessica Steyn hatte sich den halb nackten Mann, der sie in der vergangenen Woche so prächtig unterhalten hatte, wahrlich nicht ausgesucht. Aber sie konnte auch nicht leugnen, dass es sehr schnell zu ihrem Lieblingshobby geworden war, ihn zu beob­achten.

Sie sah ihm gebannt dabei zu, wie er stapelweise Holzscheite aufhob, wobei sich die Muskeln auf seinem nackten Rücken spannten und ein leichter Schweißfilm darauf erschien. Oh ja, das war eindeutig ein erstklassiges Unterhaltungsprogramm.

Die leichten Gewissensbisse aufgrund dieser heimlichen Beobachtung ignorierte sie. Denn schließlich war es ja nicht ihre Schuld, dass er kein Hemd trug. Und es war auch nicht ihre Schuld, dass er es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht hatte, Bäume im Hof zu fällen. Jeden Tag gegen Mittag trat er aus dem Haus, hackte Äste und Baumstämme, die er am Tag zuvor ab- und klein­gesägt hatte, zu Scheiten und stapelte sie zu einem Haufen. Eine schweißtreibende Arbeit bei der das alte T-Shirt, das er zunächst anhatte, schnell abgestreift wurde. Dann trug er das Brennholz in eine abgetrennte Ecke des Hofs, bis er wieder mit dem Ganzen von vorn begann.

Seit Jessica herausgefunden hatte, dass er dieses Ritual täglich vollzog, setzte sie sich gegen Mittag an das Fenster, von dem aus sie sein Anwesen im Blick hatte, um die Show zu genießen.

Dem Himmel sei Dank, dass ich ihn entdeckt habe, dachte sie und beobachtete fasziniert, wie er eine Flasche Wasser trank. Die Tropfen rannen ihm übers Kinn, seinen Hals herunter und über seine muskulöse Brust. Sofort machte ihr Herz einen Satz. Vielleicht sollte sie sich auch etwas zu trinken holen.

Er war eine gute Abwechslung an ansonsten ziemlich langweiligen Tagen. Denn ihre Freundin und Chefin Anja war mit ihrem Mann Chet auf einer Geschäftsreise, und Jessica hatte die meiste Zeit frei. Und nichts anderes zu tun, als Mr. Sexy von nebenan zu beobachten.

Natürlich dachte sie auch über das Kind nach, das in ihr heranwuchs.

Doch bevor sie sich in diesen Spekulationen verlieren konnte – und darüber nachdenken konnte, wie ihr das Leben dadurch zum ersten Mal sinnvoll erschien –, fragte sie sich, weshalb Anja nichts von diesem sexy Nachbarn erzählt hatte.

Sie half Anja jetzt seit zwei Jahren dabei, deren Yogastudio zu managen, doch dies war das erste Mal, dass sie ihn gesehen hatte. Um fair zu bleiben, war es allerdings auch das erste Mal, dass sich Jess länger als ein paar Tage in Anjas Privathaus aufhielt. Trotzdem hätte sie erwartet, dass Anja ihr von dem Mann erzählte – vielleicht nicht als Chefin, aber als ihre Freundin.

Und ganz bestimmt als Jessicas beste Freundin.

Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als sie sah, dass der Holzstapel, von dem sich Mr. Sexy gerade abgewandt hatte, instabil wurde, die obersten Scheite zu rutschen begannen, und der Mann das nicht bemerkte. Jess sprang von ihrem Stuhl hoch, einen Warnschrei auf den Lippen, aber es war zu spät. Die Scheite rollten ihm bereits zwischen die Füße, und sie beobachtete entsetzt, wie er zu Boden fiel. Im letzten Moment gelang es ihm noch, sich zu drehen, sodass er auf der Hüfte landete.

Bevor sie nur bis drei zählen konnte, war sie schon aus der Tür. So schnell es ihr gewölbter Leib erlaubte, lief sie zum Nachbargrundstück. Sie schickte ein leises Dankgebet zum Himmel, als sie erkannte, dass das Tor offen stand. Dann kniete sie schon neben ihm, und ihre Hände strichen über die muskulöse Brust, die sie vor wenigen Minuten heimlich bewundert hatte.

Doch sie konzentrierte sich darauf herauszufinden, ob irgendetwas gebrochen war. Im nächsten Moment wurden ihre Handgelenke von zwei starken Händen umfasst.

„Also, ich habe ja nichts dagegen, von einer schönen Frau gestreichelt zu werden. Aber vielleicht sollten wir damit warten, bis wir uns näher kennengelernt haben.“

Jess merkte, wie ihr Gesicht zu brennen begann, und zog ihre Hände abrupt zurück. Dadurch verlor sie das Gleichgewicht, fiel rückwärts und landete mit dem Po auf dem Boden. Instinktiv legte sich ihre Hand auf ihren Bauch. Aber sie zog sie sofort wieder zurück. Nicht nur, weil sein Blick ihr gefolgt war, sondern weil sie ganz sicher war, dass dem Baby nichts passiert war. Denn sie war nicht besonders hart gefallen.

„Ich nehme mal an, Ihre Reaktion bedeutet, dass Sie sich nicht den Kopf gestoßen haben.“ Sie sah ihn besorgt an. „Sind Sie okay?“

„Ja, ich glaube schon. Na ja, so okay, wie man nur sein kann, wenn man dabei beobachtet wird, wie ein paar Holzstücke einen umhauen.“

„Sie sollten sich erst mal nicht bewegen, bis sicher ist, dass Sie sich nichts gebrochen haben.“

„Mir geht’s gut, keine Angst.“ Er richtete sich auf. „Und wenn nicht, können Sie gern wieder zu meiner Rettung kommen.“

„Sehr unwahrscheinlich“, gab sie kühl zurück. „Sie hatten Glück, dass ich zufällig aus dem Fenster gesehen habe.“

„Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar. Sind Sie Ärztin?“

„Nein.“

„Krankenschwester?“

Sie schüttelte den Kopf und erhob sich.

„Also, da ich jetzt weiß, dass Sie sich nichts gebrochen haben, sollte ich wieder zurück ins Haus gehen.“ Sie wandte sich ab, doch er legte ihr die Hand auf den Arm.

„Moment, nicht so schnell. Wie kann ich mich bei Ihnen bedanken?“

Sie schnaubte. „Wofür? Dass ich uns beide in eine peinliche Lage gebracht habe?“

„Wieso das denn?“

„Weil Ihnen gar nichts passiert ist und meine Panik daher völlig grundlos war.“

„Sie sind meinetwegen in Panik geraten?“

Sie rollte die Augen. „Na ja, Ihr Sturz sah ziemlich dramatisch aus.“

Sein Gesichtsausdruck wurde ganz weich. „Gut, dann möchte ich mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie sich meinetwegen Sorgen gemacht haben. Das passiert nicht so oft.“

„Kann sein. Aber Sie müssen sich nicht bei mir bedanken. Sie sind doch wieder okay, oder?“

Er nickte.

„Gut, dann bis zum nächsten Mal!“

Sie wandte sich um, hatte aber erst ein paar Schritte gemacht, als er rief: „Welches Fenster?“

Jess drehte sich um. „Wie bitte?“

„Von welchem Fenster aus haben Sie mich gesehen?“

„Von dem dort!“ Sie zeigte auf das Fenster im ersten Stock des Nachbarhauses.

„Das ist das Haus meiner Schwester.“

Sie sah ihn erstaunt an. „Schwester?“, wiederholte sie. „Dann sind Sie Dylan?“

„Ja, richtig. Aber wer sind Sie denn? Und warum wohnen Sie in Anjas Haus?“

„Ich bin Jessica“, erklärte sie schnell. „Und ich wohne dort, solange Anja und Chet weg sind.“

Seine Augen zogen sich zusammen. „Wo sind sie?“

„In Sydney. Um dort Anjas neues Yogastudio aufzubauen, bevor …“ Sie brach im letzten Moment ab, denn auf gar keinen Fall durfte sie ihm von dem Baby erzählen. Anja hätte sie umgebracht. „Weiß Anja, dass Sie hier sind?“

„Nein.“

„Oh.“

Eine Weile herrschte Schweigen, dann fragte sie ihn: „Sie sind doch mindestens schon eine Woche hier. Warum haben Sie nicht angerufen oder sind einfach vorbeigekommen?“

„Woher wollen Sie wissen, dass ich mit meiner Schwester nicht telefoniert habe?“

„Das hätte sie mir bestimmt erzählt.“

Dylan betrachtete sie genauer. „Woher kennen Sie und Anja sich eigentlich?“

„Ich bin ihre persönliche Assistentin. Und ihre Freundin“, setzte sie hinzu, als sie bemerkte, wie ungläubig er sie anschaute. „Jetzt muss ich aber los.“

Doch anstatt sich in Bewegung zu setzen, konnte sie sich eine letzte Frage nicht verkneifen. „Und warum sind Sie hier?“

„Weil ich hier wohne. Das hier ist mein Haus.“

„Das war es aber nicht während der letzten zwei Jahre.“

„Oh doch“, erwiderte er und machte eine kleine Pause. „Aber selbst die Besten von uns laufen manchmal von zu Hause weg, stimmt’s?“

Jessicas Herz setzte einen Moment lang aus, und sie starrte ihn an. Warum hatte sie das Gefühl, als würde er über sie sprechen? Er konnte doch gar nicht wissen, dass auch sie vor Jahren ihr Zuhause verlassen hatte. Ihre Eltern hatten nicht einmal versucht, Jessica davon abzuhalten, weil sie ihnen offenbar nicht wichtig genug war.

„Wann kommen die beiden wieder?“, fragte Dylan mürrisch.

„Am Ende des Monats. Und seit wann sind Sie zurück?“

„Seit einer Woche.“

Ein plötzliches Gefühl der Enttäuschung überfiel sie, denn natürlich war ihr klar, dass sie ihn nicht mehr beobachten konnte, nachdem sie nun wusste, dass er Anjas Bruder war.

Der ältere Bruder ihrer besten Freundin und Onkel des Babys, das sie zur Welt bringen würde.

„Wissen Sie auch, wo ich die ganze Zeit war?“

„In England?“ Er nickte, und sie fuhr fort: „Ja, Anja hat mir erzählt, dass Sie geschäftlich unterwegs waren.“

„Das ist bestimmt nicht alles, was sie Ihnen erzählt hat, oder?“, fragte er mit einem zynischen Lächeln.

„Nein.“

Sein Lächeln erstarb. „Offensichtlich haben Sie schon viel von mir gehört, Jessica. Ich wusste nicht einmal, dass es Sie gibt.“

„Überrascht Sie das?“

„Nein.“ Ein Schatten fiel auf sein Gesicht. „Aber jetzt bin ich wieder da. Und ich möchte, dass wir unsere Bekanntschaft unter den richtigen Vorzeichen starten.“

„Was bedeutet das?“

„Sie sollten mit mir zu Mittag essen.“

„Nein“, sagte sie und biss sich auf die Lippe. Hoffentlich merkte er nichts von der Panik, die sie bei dieser Vorstellung ergriff. „Bestimmt können Sie mit Ihrer Zeit etwas Besseres anfangen.“

„Aber nein.“ Er grinste breit, und sie merkte, wie ihre Knie weich wurden. „Ich möchte die Frau kennenlernen, die im Haus meiner Schwester wohnt und die offensichtlich eine gute Freundin von ihr ist.“

Jess sah ihn ungläubig an. „Ich habe den Eindruck, Sie wollen sich bei mir einschmeicheln.“

Dylan lachte entspannt, was ihn total veränderte. Plötzlich fielen ihr auch seine haselnussbraunen Augen auf, die er mit seiner Schwester teilte. Der Dreitagebart unterstrich seine Männlichkeit, und seine Haut erinnerte sie an Eiche – nicht zu hell und nicht zu dunkel. Außerdem trug er immer noch kein T-Shirt.

„Und wenn Sie recht hätten …“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. Jessica wollte schon gehen, da packte er sie erneut beim Handgelenk und verursachte eine prickelnde Gänsehaut.

„Bitte entschuldigen Sie. Aber ich möchte wirklich gern mit Ihnen zu Mittag essen.“

„Warum denn?“

„Weil Sie Anjas Freundin sind und weil … weil ich meiner Schwester beweisen möchte, dass es mir ernst ist mit meiner Rückkehr. Ich will das, was zwischen uns schiefgelaufen ist, wieder geradebiegen. Deshalb bin ich hier.“ Dylan holte tief Luft. „Und wenn Sie und ich uns verstehen … Bitte glauben Sie mir, ich lüge Sie nicht an, Jess.“

Je länger sie ihn betrachtete, desto weicher wurde sie, denn sie hatte Hoffnung und Zuversicht aus seinen Worten herausgehört. Diese Sehnsucht war ihr vertraut, auch wenn sie mit niemandem darüber sprach.

Ganz tief in ihrem Herzen wünschte sie sich, dass ihre Eltern eines Tages auftauchen und sich um sie kümmern würden. Genau wie Dylan anscheinend gekommen war, um sich mit Anja zu versöhnen.

Natürlich war das eine törichte Hoffnung, denn ihre bisherigen Erfahrungen hatten sie eines Besseren belehrt. Trotzdem verspürte sie plötzlich den Impuls, seine Einladung anzunehmen. Außerdem hatte sie sich fest vorgenommen, alles zu tun, was in ihrer Macht stand, um die Entfremdung zu heilen, die in Anjas Familie herrschte. Jessica hoffte sehr, dass auch das Baby dazu beitragen konnte.

Sie wusste, dass Anja ziemlich stur war. Bestimmt würde sie den Bruder, der sie im Stich gelassen hatte, nachdem ihr Vater gestorben war, nicht einfach mit offenen Armen empfangen. Denn schließlich hatte Dylan ihr damals das Herz gebrochen. Er hatte ihr versprochen, immer für sie da zu sein, und dann war er von einem auf den anderen Tag verschwunden.

„Ich weiß nicht, warum Sie gegangen sind, Dylan“, sagte sie sanft. „Oder warum sie zwei Jahre lang weggeblieben sind. Und wahrscheinlich geht es mich auch gar nichts an. Aber warum haben Sie Anja seit ihrer Rückkehr nicht einmal kontaktiert?“

Seine Antwort ließ auf sich warten. „Ich … ich wusste nicht, ob sie mich überhaupt sehen will“, sagte er stockend. „Und um ehrlich zu sein, hatte ich Angst vor unserem Gespräch.“

Seine Offenheit rührte sie, und sie nickte. „Okay.“

„Okay?“

„Ja, okay. Dann kann ich nur hoffen, dass Sie genügend Vorräte im Haus haben, um eine Schwangere zu verköstigen, Dylan.“

Dylan brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, was er getan und was er gesagt hatte. Und er war sich nicht sicher, ob es richtig gewesen war. Eine unbekannte Frau zu sich einzuladen? Ihr anzuvertrauen, dass er hoffte, er könnte sich mit seiner Schwester versöhnen?

Das war ziemlich verrückt, hing aber bestimmt mit seiner Verzweiflung zusammen, weil seine Schwester zwei Jahre lang nicht mehr mit ihm gesprochen hatte.

Seit er wieder zurück war, hatte er mehrere Anläufe gemacht, einfach bei Anja zu klingeln. Doch jedes Mal hatte er an ihr Gesicht denken müssen, als er weggegangen war. Wie verloren sie damals gewirkt hatte, wie zerbrochen ihre Stimme geklungen hatte, als er sich von ihr verabschiedet hatte.

Und ausgerechnet heute, als er sich fest vorgenommen hatte, sie aufzusuchen, stellte sich heraus, dass sie gar nicht da war.

Stattdessen hatte er unversehens eine fremde Frau zum Mittagessen eingeladen. In der Hoffnung, dass sie ihm vielleicht etwas von Anja erzählen würde, was er noch nicht wusste. Eine fremde Frau, die auch noch schwanger war. Er sah verstohlen auf ihre Hand, doch sie trug keinen Ehering.

Stumm wandte er sich um und ging voran zum Haus. Als er die Tür öffnete, stürmte seine Labradorhündin Daisy heran, sprang bellend an ihm hoch und begrüßte Jessica genauso freudig. Die Frau beugte sich hinunter und streichelte das Tier mit einem warmen Lächeln, das Dylan mit völlig unbegründeter Hoffnung erfüllte.

„Hey, Daisy, zurück“, sagte er schließlich, als die Hündin mit dem Jaulen gar nicht aufhören wollte. „Bitte entschuldigen Sie. Manchmal ist sie Fremden gegenüber ein bisschen zu freundlich.“

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich liebe Hunde!“

„Haben Sie selbst auch einen?“

„Nein, leider nicht.“

„Mag Ihr Mann keine Hunde?“

„Es gibt keinen Mann.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Ich bin das, was man heutzutage als normaler Durchschnitt einer Gesellschaft bezeichnet – eine unverheiratete und schwangere Frau.“

Erneut regte sich Hoffnung in ihm. „Irgendwie kann ich das nicht glauben.“

„Dass ich unverheiratet und schwanger bin?“

„Nein, dass Sie durchschnittlich sind.“

„Aber Sie kennen mich doch kaum, Dylan.“

Ihre Blicke trafen sich, und es war, als ob Blitze zwischen ihnen zucken würden. Die Sekunden verstrichen, und die Spannung zwischen ihnen wurde immer stärker. Aber keiner von beiden senkte den Blick.

Schließlich räusperte er sich und fragte: „Worauf haben Sie Appetit?“

Sie gab sich einen Ruck und versuchte sich zu entspannen. „Haben Sie zufällig Erdnussbutter?“

Was für eine komische Frage! „Ja, ich glaube schon.“ Er sah sie ungläubig an. „Sind Sie sicher, dass Sie Erdnussbutter haben wollen? Ich habe bestimmt sehr viel nahrhaftere Dinge im Kühlschrank.“

„Erdnussbutter ist sehr nahrhaft“, verteidigte sie sich. „Besonders mit den Bananen dort drüben.“ Sie zeigte auf eine Schale mit Obst auf dem Küchentisch.

Dylan verzog ungläubig das Gesicht. „Erdnussbutter und Bananen?“

„Aber ja“, bestätigte Jess und lächelte. „Ich habe Sie gewarnt. Mit so etwas müssen Sie rechnen, wenn Sie eine schwangere Frau zum Lunch einladen.“

„Allerdings“, erwiderte er, fand jedoch zunächst die Worte nicht, denn ihr Lächeln war so … verwirrend. Genau wie ihr ovales Gesicht mit den hohen Wangenknochen, die zimtfarbenen Augen, ihr olivfarbener Teint, die vollen Lippen …

Sogar ihr dunkles lockiges Haar fand er verwirrend. Wahrscheinlich, weil sie es ziemlich unordentlich hochgesteckt hatte und er den plötzlichen Wunsch verspürte, es zu bändigen.

Sie trug weite Kleidung, die ihren Bauch verbarg. Deshalb war ihm am Anfang auch gar nicht aufgefallen, dass sie schwanger war, denn sonst hätte er bestimmt nicht mit ihr geflirtet.

„Wer hat sich eigentlich während Ihrer Abwesenheit um Daisy gekümmert?“, unterbrach sie seine Gedanken.

„Oh, ich habe sie erst in London bekommen und dann hierhergebracht.“

Daisy wedelte mit dem Schwanz, als er zu ihr hinüberblickte, und sein ganzes Herz füllte sich mit Liebe zu ihr. Sie hatte ihn vor Depressionen bewahrt, vor der Einsamkeit seines Kummers und seiner Wut. Vor seinem Schuldbewusstsein. Und sie hatte ihn gebraucht, auf eine ganz einfache Art und Weise.

Während die Art, wie seine Mutter und Schwester ihn gebraucht hatten, für Dylan schon immer kompliziert gewesen war. Natürlich gab er sich selbst die Schuld daran. Denn schließlich hatte er sich aus freien Stücken dazu entschieden, für seine Familie zu sorgen, nachdem der Vater sie verlassen hatte. Das Glücksspiel, vielmehr die Spielsucht war ihm wichtiger gewesen als Frau und Kinder.

Dylan musste sich um alles kümmern, denn nach Vaters Weggang hatten er und Anja sich auch nicht mehr auf ihre Mutter verlassen können. Aber der Gipfel von allem war gewesen, dass sich nach dem Tod kurz vor der Beerdigung seines Vaters herausgestellt hatte, dass seine Mutter gar nicht das unschuldige Opfer gewesen war, als das Dylan sie immer gesehen hatte. Sie hatte ihren Kindern jahrelang etwas vorgespielt. Und das hatte in ihm den starken Wunsch erweckt, zu fliehen und den ganzen Schlamassel hinter sich zu lassen.

Doch jetzt war er wieder zurück. Weil seine Schwester ihn nicht angelogen und nicht betrogen hatte. Es wurde Zeit, dass er aufhörte so zu tun, als hätte sie es getan.

„Das heißt, Daisy ist aus England?“, fragte Jess neugierig. „Ich habe noch nie einen englischen Hund getroffen. Um ehrlich zu sein, würde ich mich nicht wundern, wenn sie mich zum Tee einladen würde. Jedenfalls strahlt sie das aus.“

Er lachte. „Also, die Engländer nehmen ihren Tee eigentlich …“ Er brach ab. „Interessiert Sie das überhaupt?“

Jessica lachte ebenfalls. „Nein, nicht wirklich. Nur wenn ich nach England reisen würde, was in nächster Zeit bestimmt nicht passieren wird.“

„Wie weit sind Sie denn?“, fragte er und begann, das Mittagessen vorzubereiten. Da Erdnussbutter und Bananen nicht seine Sache waren, hatte er sich für ein Sandwich mit Hühnchen und Mayonnaise entschieden.

„Etwas über fünf Monate. Und … Dylan … wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten Sie vielleicht ein T-Shirt anziehen? Ihr Anblick verwirrt mich etwas.“

2. KAPITEL

„Mein Anblick verwirrt Sie?“, wiederholte er ungläubig.

„Ja“, erwiderte sie und nickte. „Würde es Sie nicht irritieren, wenn ich halb nackt für Sie kochen würde? Nein, bitte antworten Sie nicht darauf“, setzte sie schnell hinzu, als sie sein durchtriebenes Grinsen bemerkte. „Der Vergleich hinkt etwas.“

„Kann sein, aber mir gefällt er“, entgegnete er und zwinkerte ihr zu. „Kein Problem. Moment, ich hole mir rasch ein T-Shirt.“

Nachdem er die Küche verlassen hatte, atmete Jessica erst einmal tief durch. Erst jetzt merkte sie, wie befangen sie sich in seiner Gegenwart gefühlt hatte. Das hing natürlich damit zusammen, dass sie sehr wohl wusste, wie die Beziehung zwischen den Geschwistern war. Anja hatte ihr erzählt, wie sehr es sie verletzt hatte, als er einfach gegangen war.

Sie hatte ihm nicht einmal mitgeteilt, dass er Onkel werden würde. Oder dass sein Neffe oder seine Nichte von einer Leihmutter auf die Welt gebracht werden würde. Ganz bestimmt hatte sie ihm auch nicht von ihrer Fehlgeburt berichtet, die sie nach vielen Jahren des vergeblichen Kampfes, schwanger zu werden, erlitten hatte.

Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Jessica die Leihmutter war.

Da sie selbst nie erlebt hatte, was es bedeutete, eine richtige Familie zu haben, war Anja für Jess so etwas wie ein Familien­ersatz. Deshalb hatte sie ihr auch angeboten, das Kind für sie auf die Welt zu bringen. Und eigentlich hätte sie die Freundin jetzt anrufen und über Dylans Erscheinen informieren müssen, statt sich von ihm zum Lunch einladen zu lassen.

Um sich von diesen Gedanken abzulenken, sah sie sich um. Das Esszimmer und die Küche waren hell und freundlich eingerichtet. Im Wohnzimmer dominierten dunklere Farben, die sich gegen das Cremeweiß der Wände und den Backsteinkamin abhoben. Doch Jessica zog die Küche vor, weil sie mehr Behaglichkeit ausstrahlte. Sie war modern und trotzdem gemütlich – geschmackvoll, ohne protzig zu wirken. Direkt daneben befand sich ein einladend aussehender Wintergarten.

Bevor sie noch länger darüber nachdenken konnte, kehrte Dylan wieder zurück. Er trug ein blaues T-Shirt, das ihm nichts von seinem Sexappeal nahm. Bei seinem Anblick machte ihr Herz einen kleinen Satz, und erneut bereute sie ihren Entschluss, seiner Einladung gefolgt zu sein.

Er machte sich daran, das Essen zuzubereiten, und Jessica sah ihm gebannt dabei zu, wie er die Bananen schälte, in Stücke schnitt und in eine kleine Schüssel gab. Dann fügte er noch einen großen Klecks Erdnussbutter hinzu und hatte auch sein Sandwich in Windeseile fertig.

Damit gingen sie in den Wintergarten und ließen sich dort nieder.

„Sie hätten sich nicht solche Mühe machen müssen“, meinte Jessica.

„Es war keine Mühe“, erwiderte er achselzuckend und biss herzhaft in sein Sandwich.

Nachdem sie schweigend gegessen hatten, stellte Jess ihre Schüssel auf den Tisch zurück.

„Ehrlich gesagt mochte ich die Bäume im Hof, bevor Sie sie gefällt haben“, sagte sie.

„Ja, ich auch. Aber das viele Laub verstopft den Wasserabfluss, und bevor der Winter einbricht, wollte ich etwas dagegen unternehmen. Die Abflüsse müssen frei sein, wenn der Regen kommt. Außerdem braucht man Holz für den Kamin.“

Sie nickte. „Der Kamin ist traumhaft schön. Genau wie Ihr ganzes Haus.“

Er sah sie prüfend an. „Warum glaube ich Ihnen das nicht, Jess?“

„Keine Ahnung“, erwiderte sie und wurde unwillkürlich rot.

„Also, ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht“, sagte Dylan. „Doch ich hatte mit der Einrichtung des Hauses nicht so viel zu tun. Anja hat sich darum gekümmert. Mir gefällt ihr Haus sehr viel besser.“

„Aber ich dachte, Sie … Sie waren doch gar nicht mehr hier, seit … “ Seit Ihr Vater gestorben ist, hätte sie eigentlich sagen sollen, traute sich aber nicht.

Dylan schüttelte den Kopf. „Nein, war ich auch nicht. Aber ich habe Fotos gesehen. Und ich hatte immer den Eindruck, dass Anja dem Ausstatter freie Hand gelassen hat, um sich an mir zu rächen.“

„Wofür?“

„Dafür, dass ich weggegangen bin.“ Er starrte Jess an. „Aber wahrscheinlich wissen Sie mehr darüber als ich.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Dass Sie mehr über die Gefühle meiner Schwester wissen als ich. Würden Sie mir mehr verraten?“

Jessica biss sich auf die Lippen. „Nein“, sagte sie schließlich.

„Wie bitte? Aber ich dachte …“

„Was denn?“, unterbrach sie ihn. „Dass ich Ihnen alles erzähle, was Ihre Schwester über Sie gesagt hat?“

Er hob den Arm und strich sich über den Nacken. „Nun ja, da Sie ihre Freundin sind, müssten Sie doch etwas wissen, oder?“

„Also, die Tatsache, dass ich Anjas Freundin bin, besagt ja schon, dass ich Ihnen nicht alles erzählen werde, was ich weiß“, erwiderte Jess und lehnte sich zurück. „Haben Sie mich deshalb eingeladen? Damit ich Ihnen etwas berichte, das Ihnen dabei hilft, sich mit Ihrer Schwester zu versöhnen?“

„Und wenn es so wäre?“

„Dann würde ich sagen, dass es mich sehr gefreut hat, Sie kennenzulernen, Mr. Dylan Nel. Und ich würde Ihnen alles Gute für Ihre Rückkehr nach Kapstadt wünschen … bevor ich mich von Ihnen verabschiede.“

Er stellte seinen Teller auf den Tisch und sah sie bittend an. „Sie müssen doch gewusst haben, dass das der Grund für meine Einladung war. Zumindest teilweise.“

Jess dachte darüber nach. „Ja, vielleicht. Aber …“

Aber ich habe mir gewünscht, dass Sie mich kennenlernen wollten.

Fast hätte sie gelacht. Hatte sie ihre Lektion denn immer noch nicht gelernt? Die Leute interessierten sich nicht für sie, niemals.

„Offensichtlich wollen Sie etwas von mir, das ich Ihnen nicht liefern werde. Deshalb ist es wohl besser, wenn ich jetzt gehe.“

„Nein, Jess, bitte nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil … es tut mir leid.“ Dylan strich sich verwirrt durchs Haar. „Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht. Aber ich … wissen Sie, ich wollte nur wissen, welchen Schaden ich angerichtet habe, indem ich damals einfach verschwunden bin.“

„Das wissen Sie doch längst, oder?“

Er nickte. „Ja, aber es wäre gut, ein paar Informationen mehr zu haben.“

Jessica erhob sich. „Diese Informationen sollten von Ihrer Schwester kommen, nicht von mir. Oder von Ihrer Mutter.“

Sein Gesicht verschloss sich, und sie hatte das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben. Das alles war zwar interessant, ging sie jedoch nichts an. Daher wandte sie sich ab und ging zur Tür.

„Jess, ich …“, erklang Dylans Stimme hinter ihr.

Sie drehte sich noch einmal um und strich Daisy über den Kopf. „Ist schon okay. Sie sind mir keine Erklärung schuldig. Aber ich habe mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Dylan. Ich hoffe, Ihre Rückkehr nach Kapstadt erfüllt all Ihre Erwartungen.“

Sie war schon draußen, bevor er antworten konnte.

Lange nachdem Jess gegangen war, starrte Dylan benommen auf die Tür. Hoffentlich war diese Begegnung kein schlechtes Omen für seine Heimkehr.

Natürlich wollte er wissen, was seine Schwester über ihn dachte. Ihm war klar, dass er sie abgrundtief enttäuscht hatte. Aber aus irgendwelchen Gründen hatte er nicht gewollt, dass Jessica einen schlechten Eindruck von ihm bekam.

Außerdem war Anja auch nicht die Einzige, die enttäuscht war. Auch er wusste genau, wie sich das anfühlte. Sein ganzes Leben und vor allem sein Vater hatten ihn enttäuscht. Mit seiner Spielsucht. Mit seiner Abwesenheit. Mit allem, was er war. Vielleicht hätte Dylan all dies nach dessen Tod ja hinter sich lassen können. Doch dann hatte er herausgefunden, dass seine Mutter von der Sucht seines Vaters gewusst hatte. Und zwar lange vor seiner und Anjas Geburt.

Seine Schwester und er hatten ihre gesamte Kindheit damit verbracht, ihre Mutter zu trösten, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte. Sie hatten alles getan, um Mutter vor einer Depression zu bewahren, und dadurch hatten sie keine Kinder mehr sein können.

Was für einen Sinn hatte dieses Opfer gehabt, wenn all dies auf einer Lüge basierte?

Als Dylan das herausgefunden hatte, hatte er es nicht übers Herz gebracht, Anja davon zu erzählen. Daher war er gegangen und hatte versucht, allein mit seinem Zorn fertigzuwerden. Und mit seinem Kummer darüber, einen Menschen verloren zu haben, den er selbst kaum gekannt hatte.

Es war eine Ironie des Schicksals, dass er seine Schwester total enttäuscht hatte, indem er versucht hatte, ihr eine andere Enttäuschung zu ersparen. Nie würde er ihren Gesichtsausdruck vergessen, als er ihr verkündet hatte, dass er Südafrika verlassen würde. Er hatte sie im Stich gelassen.

Genau wie der Vater seine Kinder im Stich gelassen hatte.

3. KAPITEL

Als Jessica aufwachte, tropfte Wasser auf ihr Gesicht.

Sie brauchte einen Moment, um zu sich zu kommen und zu erkennen, dass das keine gute Sache war. Sie richtete sich auf, blickte zur Decke hoch und sah, dass sich von dort ein langer nasser Riss über die gesamte Länge des Raums zog.

Ihr erster Gedanke war, dass sie die Wasserleitung abstellen musste. Doch als sie sich vorbeugte, um nach ihren Schuhen zu greifen, fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, wo sich der Hauptwasserhahn im Haus befand.

Sofort wurde ihr klar, dass sie Dylan um Hilfe bitten musste. Seufzend schlüpfte sie in ihre Stiefel. Der ganze Boden im Eingangsbereich der Haustür war mit Wasser bedeckt, und ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie durchwatete. Sie schloss die Tür hinter sich, eilte zu Dylans Haus und klingelte dort ungeduldig.

Wenige Sekunden später öffnete er. Wieder starrte sie auf seine blanke Brust. Warum hat der Mann eigentlich nichts an? fragte sie sich ärgerlich. Wusste er denn nicht, dass es bereits Herbst war?

Sie kam gleich zur Sache. „Wissen Sie, wo sich die Hauptwasserleitung in Anjas Haus befindet?“

Er runzelte die Stirn. „Ja, warum?“

„Das erkläre ich Ihnen, sobald Sie sie abgestellt haben.“

Er musterte sie von Kopf bis Fuß, und erst jetzt wurde ihr klar, dass sie bestimmt schrecklich aussehen musste. Glücklicherweise schien ihn das nur davon zu überzeugen, wie dringlich die Angelegenheit war. Stumm ging er an ihr vorbei und stürmte dann auf Anjas Haus zu. Er öffnete eine versteckte Luke und stieg hinein. Jessica hatte Mühe, ihm zu folgen.

„Wenn Sie sich nicht etwas anziehen, kriegen Sie noch eine Erkältung“, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei fiel ihr auf, dass auch sie außer ihren Pyjamahosen und einem weiten Hemd nichts Warmes anhatte.

„Haben Sie eigentlich ein Problem damit, wenn ich kein Shirt anhabe?“, fragte er anzüglich.

„Nein, ich mache mir nur Sorgen um Ihre Gesundheit. Ach ja, wie geht es eigentlich Ihrer Hüfte?“

„Ist es nicht noch ein bisschen zu früh für solche Witze?“

„Ich wollte gar nicht witzig sein, ich …“ Sie biss sich verlegen auf die Lippen. „Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie so früh geweckt habe. Und vielen Dank für Ihre Hilfe!“

Dylan nickte. „Haben Sie einen Wasserrohrbruch?“

Sie seufzte. „Ich denke, ja. Jedenfalls ist Wasser auf mein Gesicht getropft, als ich aufgewacht bin. Dieses Haus ist wirklich eine Katastrophe.“

Sie wusste schon jetzt, dass das Ganze ein Albtraum für sie sein würde. Nicht nur, weil sie die Leitung reparieren lassen müsste, sondern weil sie ja eigentlich nur hier war, um für Anja auf das Haus aufzupassen. Sie hatte eine Eigentumswohnung gekauft und wartete nur darauf, dort einzuziehen. Das Apartment war zwar klein, aber es gehörte ihr, und dieser Umstand erfüllte Jessica mit Stolz.

Als sie vor zwei Jahren den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hatte, konnte sie als Referenz lediglich ihren Universitätsabschluss und etwas Erspartes vorweisen. Das hätte eigentlich genügen müssen, zumal der Familienname Steyn im Finanzsektor, für den sie ausgebildet worden war, einen ziemlich guten Ruf hatte. Aber Jessica hatte sich darauf nicht ausruhen wollen. Sie wollte etwas Eigenes, etwas, das nicht mit ihrer erfolgreichen, aber lieblosen Familie in Verbindung gebracht werden konnte. Die Eltern hatten sich immer nur für ihren Geschäftsbetrieb interessiert und nicht für das Kind, das sie irrtümlich gezeugt hatten.

Deshalb hatte sich Jess auch für einen Job beworben, für den sie eindeutig überqualifiziert war, nämlich dem Management eines Yogastudios. Sie kümmerte sich um Anjas Website, verwaltete die Buchungen, beantwortete Anfragen und E-Mails und half ihr dabei, die Eröffnung des zweiten Studios in Sydney vorzubereiten.

Tatsächlich hatte sich dieser Job als ein Segen für Jess erwiesen. Denn er war die willkommene Abkehr von ihrer Vergangenheit.

Seit zwei Jahren hatte sich Jess von ihrem verdienten Geld nur das Lebensnotwendigste erlaubt. Nur deshalb hatte sie es sich leisten können, die kleine Wohnung zu kaufen, die nur zwanzig Minuten von Chets und Anjas Haus entfernt war.

Leider musste noch sehr viel renoviert werden, bevor jemand dort wohnen konnte. Da Chet eine Baufirma gehörte, hatte er angeboten, diesen Job ohne Bezahlung zu übernehmen. Als Anja herausfand, dass Jess aus ihrer alten Wohnung rausmusste, bestand sie darauf, dass sie so lange bei ihnen wohnte, bis das neue Heim bezugsfertig war.

Jess wusste, dass Anja und Chet das Gefühl hatten, ihr etwas schuldig zu sein. Sie hatte es strikt abgelehnt, Geld dafür zu nehmen, dass sie das Kind für das Paar austrug. Für Jess waren sie wie Familie – die einzige Familie, die sie hatte. Sie lagen einander am Herzen. Sie kümmerten sich umeinander, und das nicht, weil sie etwas dafür zurückhaben wollten, sondern weil sie einander liebten und achteten.

Dieses Konzept war Jessicas Eltern offensichtlich fremd, was auch der Grund dafür war, dass sie seit Jahren nicht mehr mit ihnen gesprochen hatte. Aber das war in Ordnung, denn sie hatte ihren Platz im Leben gefunden.

Nur war der momentan nicht bewohnbar.

Sie seufzte. „Ich nehme an, ich sollte Anja anrufen.“

„Aber sie kann im Moment doch gar nichts tun.“

„Kann schon sein. Trotzdem sollte sie Bescheid wissen, bevor ich alles reparieren lasse.“

„Na gut“, stimmte er ihr zu. „Aber wie wär’s, wenn ich mir das Ganze vorher mal anschaue? Dann haben Sie vielleicht schon eine Lösung, wenn Sie mit ihr sprechen, und nicht nur ein Problem.“

Erleichtert sah sie ihn an, doch dann wurde sie gleich wieder misstrauisch. Warum bot er an, ihr zu helfen? Was erhoffte er sich davon?

„Wollen Sie sich etwa wieder bei Ihrer Schwester einschmeicheln?“, fragte sie argwöhnisch.

„Mache ich nicht alles nur deswegen?“, gab er trocken zurück, und sie schämte sich für ihr Misstrauen. Außerdem merkte sie, dass sie müde war und wirklich Hilfe brauchte. Daher nickte sie.

„Also, das wäre sehr nett von Ihnen. Danke.“

„Gut. Bin gleich wieder zurück!“

Er lief hinüber zu seinem Haus, und Jess bemerkte, dass seine Jeans fast von den Hüften rutschte. Was ihr einen perfekten Blick auf seinen Po bot und auf den muskulösen Rücken, über den zu streichen es ihr in den Fingern juckte.

Zwar versuchte sie, die Reaktion ihres Körpers zu ignorieren, doch sie konnte nicht verhindern, dass sie von lüsternen Gedanken bestürmt wurde. Obwohl es natürlich unwahrscheinlich war, dass er diese Jeans auch im Bett tragen würde. Aber wenn er wirklich keine Unterhosen …

Sie schloss kurz die Augen, denn sie hatte sich vorgestellt, wie es sein müsste, mit ihm im Bett zu liegen.

„Jess?“ Sie zuckte zusammen, und ihre Wangen röteten sich, als sie sah, dass Dylan wieder vor ihr stand, komplett angezogen. Er sah sie verwundert an. „Alles in Ordnung?“

„Ja, alles okay. Kommen Sie mit!“ Sie drehte sich um und ging aufs Haus zu.

Innerlich konnte sie sich nur über sich wundern. Im Grunde gehörte sie nicht zu der Art Frauen, die Fantasien gegenüber unbekannten Männern entwickelten. In ihrem ganzen Leben hatte sie überhaupt nur zweimal einen festen Freund gehabt, und beide Beziehungen hatten nicht länger als ein Jahr gedauert.

Nach dem letzten Mal hatte sie resigniert und sich damit abgefunden, dass sie die nächsten Jahre wahrscheinlich allein verbringen würde.

Doch vielleicht hing die Reaktion auf Dylan auch nur mit der vermehrten Ausschüttung von Schwangerschaftshormonen zusammen.

Denn es war ganz und gar unwahrscheinlich, dass sie den Bruder ihrer besten Freundin begehrte.

Sie war fast erleichtert, als sie die Pfützen am Boden erblickte, nachdem sie ins Haus eingetreten waren. Denn das würde sie von den verbotenen Gedanken ablenken.

„Wow!“, rief Dylan beeindruckt.

„Ja“, erwiderte sie und seufzte. „Ich habe keine Ahnung, was hier passiert ist.“

„Sieht so aus, als käme es aus dem oberen Stockwerk. Ich werde mir das mal anschauen.“

Während er nach oben ging, übte Jess sich in Schadensbegrenzung. Sie holte Handtücher aus dem Bad, um damit den Boden aufzuwischen, und trocknete auch alle Oberflächen ab. Glücklicherweise sah es so aus, als wäre das Wasser nur durch die Decke ihres Schlafzimmers gedrungen. Das Wohnzimmer mit den luxuriösen Möbeln und den teuren Teppichen hatte nichts abbekommen.

Sie war immer noch außer Atem, als Dylan zurückkam.

„Sieht so aus, als wäre im Bad oben der Wasserboiler explodiert. Das ist keine große Sache. Aber auf dem Boden gibt es mehrere Wasserschäden und … Alles klar bei Ihnen?“ Er sah sie an und merkte erst jetzt, wie schnell sie atmete.

„Ja, mir geht’s gut. Ich bin es nur nicht gewohnt, den Boden aufzuwischen.“

„Warum ruhen Sie sich nicht ein bisschen aus? Ich mache inzwischen ein paar Anrufe.“

Sie nickte und trat einen Schritt nach vorn. Dabei stolperte sie über eins der Handtücher. Im nächsten Moment spürte sie, wie ein starker Arm sich um ihre Taille legte, und dann sah sie direkt in Dylans Augen.

Sekunden verstrichen, und keiner von beiden sah weg. Der Anflug von Besorgnis in Dylans Augen verwandelte sich in Interesse.

In Begehren.

Und das war gefährlich.

Unwillkürlich musste Jess an ihre Fantasien von vorhin denken, und sie wurde ganz rot. Sie spürte das Klopfen seines Herzens, hörte seinen Atem und fragte sich, warum es ihr so schwerfiel, sich von ihm zu lösen.

Aber es fühlte sich einfach großartig an, seinen muskulösen Körper an ihrem zu spüren. Am liebsten hätte sie sich noch fester an ihn gedrückt, wenn da nicht ihr Bauch gewesen wäre …

Diese Vorstellung brachte sie abrupt wieder zu sich. Was, zum Teufel, fiel ihr nur ein? Wie hatte sie auch nur eine Minute vergessen können, dass sie schwanger war? Zudem noch mit einem Mitglied aus Dylans Familie?

Das Ganze war völlig unmöglich. Sie durfte nie vergessen, dass Dylan Anjas Bruder war und der Onkel ihres ungeborenen Babys.

„Äh, danke“, murmelte sie daher verlegen und machte sich von ihm los. „Warum wischen Sie nicht den Boden auf, und ich mache die Anrufe? Ich habe alle Nummern in meinem Computer.“

„Ist der nicht nass geworden?“, fragte er ruhig und trat einen Schritt zurück.

„Er ist im Wohnzimmer. Bis dahin ist das Wasser nicht gekommen.“

„Na gut.“

Jess wandte sich ab und schlug den Weg zum Wohnzimmer ein. Das, was in den letzten zehn Minuten passiert war, würde sich nicht wiederholen.

Jetzt nicht, und später auch nicht.

4. KAPITEL

Als Dylan fertig mit dem Aufwischen war, war der Klempner bereits eingetroffen und hatte seinen Verdacht bestätigt. Tatsächlich war ein Boiler explodiert, und das hatte den Wasserschaden verursacht. Während Jess mit der Versicherung telefonierte und abklärte, ob diese den Schaden übernehmen würde, beobachtete er sie heimlich. Sie hatte sich seit dem turbulenten Morgengrauen ziemlich seltsam verhalten, und er wusste nicht warum.

Hing es damit zusammen, wie sein Körper auf ihre Nähe reagiert hatte, als sie fast gefallen wäre? Verdammt noch mal, sie war schwanger, das durfte er nicht vergessen.

Trotzdem gab es etwas an ihr, das ihn geradezu magnetisch anzog. Und das hatte nichts mit ihrer Beziehung zu seiner Schwester zu tun.

„Heute Nachmittag kommen zwei Gutachter von der Versicherung vorbei“, informierte sie ihn, nachdem sie das Gespräch beendet hatte. Plötzlich sah er, wie müde sie war.

Dylan nickte. „Ja, das wundert mich nicht. Schließlich steht der Klempner, den wir geholt haben, nicht auf deren Service-Liste.“

„Hauptsache, wir bekommen recht bald einen neuen Boiler.“

„Was ist mit der Decke?“

„Ja, sie schicken uns jemanden, der sich darum kümmern wird.“

„Ich glaube, das ist keine große Sache. Erst mal muss sie trocknen, und dann kann man die Wasserspuren wahrscheinlich übermalen.“

„Vielleicht haben Sie recht“, erwiderte sie skeptisch. „Aber zwei Tage wird das mindestens dauern, schätze ich.“

„Könnten Sie in dieser Zeit woanders wohnen?“

„Leider nein. Meine eigene Wohnung wird gerade renoviert, das ist auch der Grund, weswegen ich hier bin.“

„Was ist mit dem Vater des Babys?“

Sie zögerte kurz. „Der ist im Moment keine Option.“

„Ist ihm denn egal, was mit der Mutter seines Kindes passiert?“

„Wie gesagt, es …“ Sie brach ab. „Machen Sie sich bitte um mich keine Sorgen. Mir wird schon etwas einfallen.“

Er sah sie nachdenklich an und erkannte, dass sie schon oft in ihrem Leben verletzt worden war. Sie war schwanger, wollte aber den Vater ihres Kindes nicht um Hilfe bitten. Dylan hätte gern gewusst, wer der Kerl war.

Er räusperte sich. „Na gut, wie wär’s, wenn wir erst mal wieder zu mir gehen und dort frühstücken? Wenn Sie sich etwas ausgeruht haben, können wir gemeinsam überlegen, wie es weitergehen soll.“

Fast hätte er gedacht, sie würde seinen Vorschlag ablehnen. „Sehr gern, danke“, sagte sie stattdessen. Sie ging rasch in ihr Zimmer, um ein paar Sachen zu packen.

Dylan nutzte die kleine Pause, um sich im Haus seiner Schwester umzuschauen. Es war genauso, wie er gesagt hatte – obwohl sie denselben Inneneinrichter engagiert hatten, wirkte Anjas Haus mit den hellen Farben viel gemütlicher als seins.

Als Jess wiederkam, nahm er ihr wortlos den kleinen Koffer ab und ging mit ihr hinaus. Draußen waren inzwischen dunkle Wolken aufgezogen.

Als er die Tür zu seinem Haus öffnete, sprang Daisy aufgeregt an ihm hoch und begrüßte auch Jess mit einem stürmischen Schwanzwedeln.

„Sie können das Gästezimmer haben“, sagte er. „Meine Haushälterin kommt jeden zweiten Tag, daher ist es bestimmt aufgeräumt. Sie haben dort auch ein eigenes Bad.“

„Danke, das ist super. Ich könnte jetzt gut eine Dusche vertragen.“

„Ja, prima. Ich bereite in der Zwischenzeit das Frühstück vor.“

„Ach, das müssen Sie nicht, ich …“

„Ja, ich weiß“, unterbrach er sie. „Aber ich habe auch ziemlichen Hunger, deshalb macht es mir gar keine Mühe.“

Nachdem er ihr das Gästezimmer gezeigt hatte, ging er in die Küche und fing mit den Vorbereitungen an. Kochen war eine der wenigen Haushaltstätigkeiten, die ihn nicht nervten. Als Jugendlicher hatte er es nur gelernt, um zu überleben. Denn nachdem ihr Vater sie verlassen hatte, hatte seine Mutter sich nicht mehr um den Haushalt kümmern können.

Deshalb hatte Dylan das Geld, das er im Safe seines Vaters gefunden hatte, benutzt, um Lebensmittel einzukaufen. Doch dann war ihm klar geworden, dass das allein nicht reichte, wenn er alle über die Runden bringen wollte.

Daher hatte er sich im Fernsehen eine Menge Kochshows angeschaut, ein paar alte Kochbücher durchgeblättert und sich selbst das Kochen beigebracht. Dabei hatte er gemerkt, dass es ihn beruhigte.

„Na, Sie sehen ja schon sehr viel besser aus“, sagte er zu Jess, als sie hereinkam. „Möchten Sie etwas trinken?“

„Ja, ein Tee wäre toll“, erwiderte sie und ließ sich auf einem der Barhocker vor der Kücheninsel nieder.

„Im Wohnzimmer sind die Stühle sehr viel bequemer.“

„Kann schon sein. Aber ich werde mir doch nicht die Gelegenheit entgehen lassen, Sie am Herd zu beobachten.“

Sie grinste durchtrieben, und er lachte. Es stimmte, sie sah wirklich sehr viel besser aus als vorher. Nicht nur, weil sie jetzt ein langärmeliges schwarzes Kleid trug, sondern weil sie nicht mehr so müde und erschöpft wirkte.

Insgeheim fragte er sich, ob er sie vielleicht dazu überreden konnte hierzubleiben, solange der Boiler in Anjas Haus nicht funktionierte. Dieser Gedanke überraschte ihn selbst, und je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee.

Nicht zuletzt deshalb, weil er sich danach sehnte, sie zu küssen und ihren weichen Körper an seinem zu spüren.

Was absolut nicht infrage kam.

Er stellte Jessica einen kleinen Teller mit Muffins und einen Becher Tee hin.

„Oh, vielen Dank.“ Sie griff nach einem Schokoladenmuffin. „Mmm, köstlich“, sagte sie, nachdem sie einen Bissen probiert hatte. „Woher haben Sie die?“

„Meine Haushälterin hat sie gemacht.“

„Würden Sie die Dame für mich um das Rezept bitten?“

„Kochen Sie etwa?“, fragte er und begann, das Obst zu schneiden.

„Hier geht es ums Backen, Dylan.“

„Also, backen Sie?“

„Nein.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. „Warum haben Sie mich dann korrigiert?“

„Weil ich es lustig fand“, erklärte sie, und ihre Augen funkelten. „Ich will ehrlich sein. Ich habe erst vor ein paar Jahren lernen müssen, wie man backt und kocht. Auch wenn ich in keiner Disziplin eine Meisterin bin, kann ich mich selbst ernähren. Und ich würde liebend gerne lernen, wie man solche Muffins macht.“

„Weshalb mussten Sie es lernen? Was ist passiert?“, fragte er, stellte die Schale mit dem Obst zur Seite und holte Eier und Schinken aus dem Kühlschrank.

„Ich … na ja, ich bin aus dem Haus meiner Eltern ausgezogen.“

Er runzelte die Stirn. „Wie alt sind Sie?“

„Alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen“, erwiderte sie mit einem gezwungenen Lächeln. „Aber wir hatten eine Köchin, daher musste ich mich nie um so etwas kümmern.“

„Sie hatten eine Köchin?“

„Ja, ganz schön extravagant, oder?“

Er drehte sich um und sah sie intensiv an. Vielleicht stammte die Verletzung, die er vorhin bei ihr bemerkt hatte, ja gar nicht vom Vater ihres Kindes.

„Dann hatten Sie also eine extravagante Kindheit?“

Jessica nickte steif. „Ja, kann man so sagen.“

„Und was würden Sie selbst sagen?“

„Dass man … dass sie … nun, mir hat es nie an etwas gefehlt.“

„Ihre Eltern sind wohlhabend?“

„Ja.“

„Aber warum arbeiten Sie dann …?“

„Warum ich als persönliche Assistentin arbeite?“ Dylan nickte.

„Um ehrlich zu sein, haben sich meine Eltern nie um mich gekümmert. Deshalb musste ich lernen, für mich selbst zu sorgen, als ich bei ihnen ausgezogen bin. Daher auch dieser Job.“

„Verstehe.“ Er wartete, ob sie noch mehr sagen würde.

„Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen“, fuhr sie fort. „Als Jugendliche habe ich für einen Laptop gespart. Ich wollte den alten meines Vaters nicht mehr benutzen, deshalb habe ich mir einen Job besorgt und jeden Cent gespart, damit ich mir einen neuen kaufen konnte. Aber der Laptop meines Vaters ging kaputt, bevor ich die Summe beisammenhatte. Deshalb habe ich meine Eltern gebeten, mir zu helfen.“ Sie stockte und wischte sich etwas aus dem Gesicht, das er nicht sehen konnte. „Ich dachte, sie wären stolz auf mich, weil ich schon die Hälfte der Summe zusammengespart hatte. Aber das waren sie nicht. Sie haben mir zwar den neuen Laptop gekauft. Aber immer, wenn ich etwas tat, womit sie nicht einverstanden waren, haben Sie mir das unter die Nase gerieben.“

Dylan atmete tief durch, und sein Herz zog sich zusammen, als er die Angst auf ihrem Gesicht sah. Angst, weil sie ihm etwas so Intimes mitgeteilt hatte.

„Das tut mir sehr leid, Jess“, sagte er voller Mitgefühl.

„Muss es nicht“, erwiderte sie und wich seinem Blick aus. „Schließlich ist es nicht Ihre Schuld.“

Trotzdem breitete sich danach langes, verlegenes Schweigen aus.

Er wünschte sich, ihr etwas sagen zu können, damit sie sich besser fühlte. Offensichtlich hatte sie eine ziemlich schlimme Kindheit gehabt, genau wie er auch. Deshalb hätte er eigentlich auch wissen müssen, was er ihr sagen könnte.

Stattdessen blieb er stumm, denn er wusste, wie schlimm es sich anfühlte. Und obwohl er Jess erst seit gestern kannte, war ihm klar, dass sie nicht die Art von Person war, die sich mit einem billigen Trost abspeisen lassen würde.

Das schätzte er an ihr, und er respektierte es.

Daher holte er nur tief Luft und sagte: „Ich habe den Eindruck, wir beide haben mehr gemeinsam, als ich dachte.“

5. KAPITEL

„Sieht ganz so aus“, erwiderte Jess und fragte sich, warum ihr das plötzlich so wichtig war. Und warum es sie nicht alarmierte.

Vielleicht weil sie merkte, wie viel besser sie sich fühlte, nachdem er es ausgesprochen hatte. Jetzt bedauerte sie auch nicht mehr, ihm die Geschichte von ihren Eltern erzählt zu haben. Obwohl es immer noch wehtat, wenn sie daran dachte.

Am liebsten hätte sie beide dafür verflucht. Mit aller Macht drängte sie die Tränen zurück, die in ihr aufzusteigen drohten, und sah plötzlich, dass Dylan sie beobachtete. Mit einem Mal fiel ihr das Atmen schwer.

„Tut mir leid, dass Ihre Eltern so gemein waren“, sagte er mit weicher Stimme.

„Ach, das ist doch egal.“

„Nein, ist es nicht.“

„Ihre Eltern haben Sie doch auch verletzt“, gab sie zurück. „Und trotzdem haben wir es beide überlebt.“

„Haben wir das?“, fragte er mit einem halben Lächeln. „Glauben Sie, dass wir überleben?“

„Sie nicht?“

Abrupt wechselte er das Thema. „Als ich vorhin bei Anja oben im Haus war, ist mir etwas Seltsames aufgefallen.“

Jess sah ihn überrascht an und kippte sich dann einen Becher Joghurt über ihren Obstsalat. „Was denn?“, fragte sie betont gleichmütig.

„Ein Stuhl“, erwiderte er, und sie erstarrte. „Vor einem Fenster.“

Sie räusperte sich. „Also, das ist wirklich seltsam.“

„Mit dem Ausblick auf mein Grundstück.“

„Das ist ja noch seltsamer.“ Sie machte sich über den Obstsalat her und merkte, wie schuldbewusst sie sich fühlte.

„Hab ich mir auch gedacht“, erwiderte er augenzwinkernd. „Bis mir klar wurde, dass es das Fenster ist, das Sie gestern erwähnt haben. Von wo Sie mich haben fallen sehen.“

„Ach, ja?“, krächzte sie.

„Und dann fiel mir auch wieder ein, dass Sie wussten, dass ich bereits seit einer Woche hier bin.“

„Ich, äh … tut mir leid, ich erinnere mich nicht daran. Das hängt bestimmt mit der Schwangerschaft zusammen.“

„Wie schade!“

Dylan stellte einen Teller mit Rührei und einen mit Schinken auf den Tresen. Dann holte er zwei leere Teller, tat ihnen auf und ließ sich auf dem Hocker neben ihr nieder. Jessica zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie am besten das Thema wechseln könnte.

Doch leider fiel ihr nichts ein. Er wusste, dass sie ihn beobachtet hatte.

Daher rollte sie mit den Augen und sagte: „Na gut, ich geb’s zu. Von dort aus habe ich Ihnen zugesehen.“

Er hob die Brauen, entgegnete darauf jedoch nichts.

Verdammt – warum war das nur so sexy?

Er neigte den Kopf zur Seite. „Dann geben Sie also zu, dass Sie eine perverse …“

„Ich bin keine perverse was auch immer“, unterbrach Jess ihn empört. „Was hätten Sie denn getan, wenn ich draußen nur im Bikini gearbeitet hätte?“

Dylan lachte. „Wahrscheinlich dasselbe wie Sie.“

„Na, sehen Sie!“

Er grinste und wirkte plötzlich viel sorgenfreier und jünger als sonst. Sie dachte daran, was er ihr zum Thema Überleben erzählt hatte, und verspürte zum ersten Mal so etwas wie Mitleid mit Anjas Bruder.

Bisher hatte sie ihn in einem ganz anderen Licht gesehen. Als den rücksichtslosen älteren Bruder, der seine Mutter und Schwester nur wenige Wochen nach der Beerdigung ihres Vaters im Stich gelassen hatte. Aber sie kannte natürlich nur Anjas Version der Geschichte.

Jetzt hatte Jessica die Gelegenheit, auch seine Seite zu hören, und sie hatte das Gefühl, dass ihr Urteil ein wenig voreilig gewesen war.

„Übrigens habe ich heute Morgen auch mit Anja gesprochen“, erklärte sie.

Sofort veränderte sich das Klima zwischen ihnen, wurde eine Spur kühler.

„Was hat sie gesagt?“, fragte er ruhig.

„Dass wir alles in die Wege leiten sollen, was getan werden muss.“

„Über mich, meine ich.“

Jessica räusperte sich. „Nun, sie hat in Sydney noch ein paar Dinge zu erledigen, dann kommt sie.“

„Wann?“

„Gegen Ende nächster Woche.“

Danach herrschte Schweigen. Sie wünschte sich, nichts gesagt zu haben, denn sie hatte ihnen das Frühstück verdorben.

„Haben Sie nicht erwähnt, dass sie dort ein zweites Yogastudio aufbauen will?“

Jess nickte, und wieder war es eine Weile still.

„Dann werde ich sie treffen, wenn sie zurück ist“, sagte er schließlich.

„Ach, wirklich?“, fragte sie mit sanfter Stimme.

„Sie meinen, weil ich bisher ein solcher Feigling war?“

„Nun, Feigling würde ich nicht sagen.“

„Oh doch, ich war feige. Ich wollte mich einfach nicht mit ihr konfrontieren müssen. Und wenn ich ehrlich bin, hat sich daran nichts geändert.“ Ihre Blicke trafen sich, und er setzte hinzu: „Aber das werde ich wohl tun müssen. Schließlich bin ich ja deshalb aus England hierhergekommen. Und deshalb mache ich jetzt auch eine kleine Pause, nachdem ich in den vergangenen zwei Jahren nur gearbeitet habe.“

„Ich habe den Eindruck, Sie sind ein ziemlich anständiger Kerl“, sagte Jess nachdenklich.

Seine Lippen zuckten. „Und vorher haben Sie das nicht gedacht?“

„Na ja, ich … also, heute Morgen haben Sie mir sehr geholfen. Und jetzt haben Sie mich zum Frühstück eingeladen. Das hätten Sie beides nicht tun müssen.“

„Das heißt, Sie glauben also nicht mehr, dass ich das nur getan habe, damit Sie meiner Schwester davon erzählen?“

Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Verdammt!

„Warum habe ich jetzt den Eindruck, dass Sie Ihre Meinung über mich geändert haben?“

„Das habe ich doch gar nicht“, widersprach sie automatisch. „Aber ich respektiere Ihren Wunsch, dass Sie sich mit Ihrer Schwester versöhnen wollen.“ Sie hielt kurz inne. „Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich jetzt in Ihr Gästezimmer gehe und mich ein bisschen ausruhe? Ich bleibe bestimmt nicht lange hier, nur bis ich weiß, wie lange die Arbeiten nebenan dauern werden.“

„Natürlich, bitte tun Sie das.“

Er erhob sich zugleich mit ihr und wirkte dabei ein wenig verlegen.

„Gut, dann bis später“, sagte Jessica und verließ die Küche. Sie war heilfroh, als sie sich im Gästezimmer auf dem Bett ausstrecken konnte. Das war ein anstrengender Morgen gewesen, auch ohne ihre Schwangerschaft.

Aber die Tatsache, dass ihre Gedanken und Gefühle total durcheinanderwirbelten, schrieb sie sehr wohl der Schwangerschaft zu. Das war die einzig mögliche Erklärung für ihren emotionalen Aufruhr und den leichten Verdruss, den sie empfand, wenn sie an Dylan dachte.

Sie hatte nicht gelogen, als sie ihm gesagt hatte, dass sie seinen Wunsch, sich mit Anja zu versöhnen, respektierte. Ganz nachvollziehen konnte sie es jedoch nicht, denn sie selbst hatte nicht den geringsten Wunsch, die Beziehung zu ihren Eltern wieder in Ordnung zu bringen. Außerdem hatte sie auch nicht den Eindruck, dass ihnen daran gelegen war.

Vielleicht lag der Grund für diesen Verdruss ja genau in diesem Punkt. Denn Dylans Geständnis hatte Jess an das erinnert, was sie nicht hatte – eine Familie, für die zu kämpfen es sich lohnte.

Plötzlich hoffte sie, dass Anja ihrem Bruder eine Chance geben würde. Ihre Freundin war am Telefon plötzlich verstummt, als Jess ihr von Dylans Ankunft berichtet hatte. Und dann hatte sie ihr höflich gedankt und das Gespräch beendet.

Beim Telefonat heute Morgen war ihre Reaktion ganz ähnlich gewesen. Aber Anja hatte Jess auch gesagt, dass sie versuchen wollte, früher zurückzukommen. Außerdem hatte sie ausdrücklich darum gebeten, Dylan nichts von dem Baby zu erzählen.

Damit hatte Jess kein Problem, im Gegenteil. Das war einzig und allein Anjas Sache. Es war nur so … insgeheim wünschte sie sich, ihm davon erzählen zu können.

Auch nur darüber nachzudenken, erschöpfte sie sehr, und sie schloss die Augen. Sie würde nicht zulassen, dass Dylans Dämonen ihr den Schlaf raubten.

Denn schließlich erlaubte sie das nicht einmal ihren eigenen Dämonen.

6. KAPITEL

Dylan hob den Kopf von dem Buch, das er gerade las, und Daisy sprang von der Couch. Sein Herz fing wie wild zu klopfen an, denn er hatte Jess erblickt, die gerade ins Wohnzimmer kam und genauso süß, sexy und verschlafen aussah wie am frühen Morgen, als er ihr die Tür geöffnet hatte.

Natürlich glaubte er nicht einen Moment lang, dass sie das extra tat, nur um ihn zu verwirren. Und trotzdem war es so, die Reaktion seines Körpers auf ihren Anblick war eindeutig.

„Gut geschlafen?“, fragte er.

„Ja, super, danke. Was ist mit der Versicherung?“

„Also, der Klempner ist schon wieder weg. Die Leute, die die Decke streichen sollen, können erst morgen kommen. Sie haben Ihr Telefon auf dem Küchentresen liegen gelassen, Jess“, erklärte er, als er ihren verdutzten Blick bemerkte.

Sie nickte, antwortete aber nicht. Stattdessen beugte sie sich zu Daisy hinunter, die wie immer fröhlich bellend an ihr hochsprang, und strich ihr über den Kopf. Dieses einfache Bild machte etwas mit seinem Herzen.

Doch er verstand es nicht ganz.

Wie konnte eine Frau, die er kaum kannte, eine so machtvolle Wirkung auf ihn haben? Eine Frau, die für ihn absolut tabu war, weil sie einerseits schwanger und andererseits die Freundin seiner Schwester war.

Aber es ließ sich nicht leugnen – Jess ging ihm unter die Haut. Sie verlockte ihn, und zwar nicht nur körperlich. Sie löste eine Sehnsucht in ihm aus, die ihn verwirrte, denn nie zuvor hatte er darüber nachgedacht.

Familie.

Der Anblick der schwangeren Jess löste in ihm den Wunsch nach Familie aus. Und zwar nach einer eigenen Familie, nach seiner Frau und seinen Kindern. Das haute ihn geradezu um, denn er hatte immer geglaubt, dass manche Menschen nicht dazu bestimmt waren, Kinder zu bekommen.

Er war nicht wie seine Mutter. Niemals würde er bewusst ein Kind in die Welt setzen, wohl wissend, in welch kaputte Situation es geboren werden würde. Und er wusste, dass er kaputt war. Vielleicht nicht ganz so sehr wie sein Vater, aber er war mit Sicherheit gefühlsmäßig nicht gesund und stabil genug, um selbst Vater zu werden.

Deshalb war die Vorstellung auch geradezu absurd.

Er legte sein Buch beiseite und erhob sich. „Ich mache einen Spaziergang“, sagte er.

„Kann ich mitkommen?“

Er sah sie erstaunt an. „Warum?“

„Na ja, ich glaube, dass es bald regnen wird.“ Sie zeigte durchs Fenster auf den Himmel, wo sich dunkle Wolken zusammenballten. „Vielleicht komme ich so schnell nicht wieder aus dem Haus. Und ich fühle mich ein bisschen …“

„Wie denn?“

„Als würde ich keine Luft mehr kriegen.“

Das war die einzige Antwort, die sie ihm auf seine Frage gab. Dylan seufzte und nickte. Dann pfiff er nach Daisy, und die drei brachen auf – zu einem der wichtigsten Orte seiner Kindheit.

Vor langer Zeit hatte nur ein großes Haus auf dem Grundstück gestanden, in dem Anja und er aufgewachsen waren, und als sie älter wurden und ihre Mutter weggezogen war, um näher an ihrer eigenen Familie zu sein, waren sie dort wohnen geblieben.

„Sie haben wirklich Glück“, sagte Jess, als sie auf einem Pfad zu dem großen Wald gingen, der sich hinter seinem Haus erstreckte. „Ich würde jemanden umbringen, wenn ich dafür so nah am Wald wohnen könnte.“

„Ja, ich habe Glück“, stimmte er ihr zu. „Aber das verdanke ich nur Anja. Wir haben hier als Kinder gewohnt, und wir …“

„Wie bitte?“ Jess sah ihn erstaunt an. „Sie haben hier als Kinder gewohnt? In Ihrem Haus?“

„Damals lagen unsere Häuser nicht nebeneinander. Es gab nur ein einziges großes Herrenhaus, in dem wir groß geworden sind. Aber wir haben es abreißen lassen, als meine Mutter nach Langebaan gezogen ist. Das Grundstück haben wir geteilt und zwei neue Häuser errichtet.“

Sie nickte, gab aber keinen Kommentar ab, während sie auf dem Waldweg entlanggingen, auf dem er so oft als Kind spazieren gegangen war. Die Bäume waren hoch und dicht, was Dylan das Gefühl gab, als würden sie sich in einer Art Filmkulisse bewegen. Daisy war bereits davongestürmt, doch sie würde sich auf dem Rückweg wieder zu ihnen gesellen, wie sie es immer tat.

„Aber warum haben Sie gesagt, dass Sie Ihr Glück Anja verdanken?“, fragte sie neugierig.

„Weil sie wollte, dass ich diesen Teil des Grundstücks bekam.“ Noch immer war er erstaunt über ihre Großzügigkeit. „Sie hat darauf bestanden, dass ich Zugang zu diesem Platz habe, den ich immer so geliebt habe.“ Sein Herz zog sich zusammen, als sie an dem Baum vorbeikamen, in den seine Schwester damals ihre Initialen geritzt hatte.

„Offensichtlich ist dies ein ganz besonderer Ort, der Ihnen beiden am Herzen gelegen hat, oder?“

„Ja, genau. Als Kinder sind wir oft hierhergekommen. Und später habe ich ihn aufgesucht, wenn ich … fliehen wollte.“

„Fliehen?“

„Na ja, vor der ganzen Verantwortung, mich um meine Familie kümmern zu müssen.“ Er räusperte sich und sah sie bedrückt an. „Klingt schrecklich, nicht wahr?“

„Wie alt waren Sie damals?“

„Vierzehn.“

Jess schüttelte den Kopf. „Nein, für einen Vierzehnjährigen klingt das nach viel zu viel Verantwortung.“ Sie machte eine Pause. „Ihr Vater verließ die Familie, als Sie vierzehn waren?“

„Ja. Was hat Anja Ihnen darüber erzählt?“

„Nicht viel.“

Sie blieben genau an der Stelle stehen, wo er all die Jahre immer stehen geblieben war. Auf dem Hügel mit der wunderbaren Aussicht auf Kapstadt hatte er damals von einem Leben geträumt, in dem seine Eltern nicht so ein komplettes Desaster waren. Und damals hatte er noch nicht einmal gewusst, was er jetzt über seine Mutter wusste.

„Nur dass er süchtig war und deshalb die Familie verlassen hat.“

Er nickte und ließ ihre Worte auf sich wirken.

„Hier ist es wunderschön“, sagte sie bewundernd, und er spürte, dass ihre Worte ihn beruhigten. Fast schien es ihm so, als hätte sie die Kraft, die Wunden seiner Vergangenheit zu heilen. Plötzlich war er froh darüber, dass sie hier war.

Was, zum Teufel, geschah nur mit ihm?

„Ja, das ist es“, bestätigte er und setzte hinzu: „Trotzdem fand ich es immer seltsam, dass Anja hier leben wollte.“

„Wollten Sie es denn nicht?“

„Nein. Mit dem Haus waren schließlich keine guten Erinnerungen verbunden. Aber dieser Platz hier war immer ein Zufluchtsort für uns.“ Er machte eine Armbewegung und beschrieb damit das Rund der Umgebung. „Deshalb haben wir uns damals geschworen, das Herrenhaus abzureißen und etwas Neues auf dem Gelände zu errichten.“ Er strich sich mit der Hand durchs Haar. „Dann lernte Anja irgendwann Chet kennen, und als sie beschlossen zu heiraten, haben wir zwei Häuser gebaut statt einem.“ Er sah Jess an. „Haben Sie sich nicht schon gefragt, warum sie sich so ähneln? Nun, wir hatten denselben Architekten.“

„Also, um ehrlich zu sein, ist mir das nicht aufgefallen.“

Ihm fiel ihr Tonfall auf. „Anja hat Ihnen also nie davon erzählt?“

Jess schüttelte den Kopf. „Sie ist ziemlich verschwiegen, was bestimmte Dinge angeht.“

„Sie meinen wohl mich.“

„Nicht nur. Es gibt da gewisse Details aus ihrer Vergangenheit, über die sie offensichtlich nicht sprechen möchte. Und ich habe sie nicht dazu gedrängt, weil ich … nun, ich wollte nicht riskieren, dass dadurch Distanz zwischen uns entsteht und sie mich von sich wegschieben würde.“

Sie seufzte, und er erkannte, dass es nicht leicht für Jess gewesen war, das einzugestehen.

„Nun, es war so, dass Anja noch einmal ganz von vorn beginnen wollte. Sie wollte einen sauberen Schnitt machen, und mir ging es genauso. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, zwei neue Häuser zu bauen und die Vergangenheit ruhen zu lassen.“ Er ließ sich dort nieder, wo das Gelände steil abfiel, und bedeutete ihr, sich auch zu setzen.

„Wahrscheinlich war es besser so“, sagte sie. „Mir fällt auf, wie oft wir beide über unsere Vergangenheit sprechen.“

Dylan antwortete nicht. Ihm war klar, dass es keine gute Idee war, sich auf Jess einzulassen und derart persönliche Dinge mit ihr zu teilen. Und doch konnte er nichts dagegen tun.

„Sie haben Anja von Ihren Eltern erzählt, nicht wahr?“, wollte er wissen.

„Ja, sie weiß Bescheid.“

„Gut.“

„Gut?“, fragte sie verwirrt. „Warum ist das gut?“

„Sie sollten nicht immer alles für sich behalten müssen.“

„Das tue ich doch auch gar nicht“, erwiderte sie trocken. „Ich habe Ihnen in der kurzen Zeit mehr über mich erzählt, als ich es je ihr gegenüber gemacht habe.“

„Ach, wirklich?“

Sie lachte leise – ein Klang, der ihm durch und durch ging. „Sie weiß nichts von der Geschichte mit dem Laptop. Sie weiß nur, dass sie … nun, dass sie keine guten Eltern gewesen sind. Und dass ihr Geld sie noch mehr verdorben hat. Obwohl … vielleicht ist es ja leichter für mich, dem Geld die Schuld daran zu geben, wie mies sie sich mir gegenüber verhalten haben.“

„Bestimmt gibt es da noch mehr, oder?“

„Gibt es das nicht immer?“, fragte sie bitter. „Aber ich nehme an, Sie sind jetzt im Bilde.“ Sie zuckte mit der Schulter.

Dylan streckte die Hand aus und ergriff ihre, ohne lange darüber nachzudenken. Jessica zog sie nicht weg, sondern verschränkte ihre Finger mit seinen. Er hätte nicht sagen können, wie lange sie so nebeneinandersaßen, aber er merkte, dass es sich gut anfühlte. Und dass er sich zum ersten Mal seit langer Zeit nicht mehr allein fühlte.

Wärme breitete sich in seiner Brust aus, und er spürte, dass er diesen Moment nicht zerstören wollte. Obwohl es natürlich sehr viel klüger gewesen wäre, sich hier und jetzt von ihr zu lösen.

Stattdessen sagte er: „Ich bin überrascht, dass Sie so nett zu mir sind, obwohl Sie wissen, was ich getan habe.“

„Und das wäre?“

„Ich habe meine Schwester im Stich gelassen.“ Er schaffte es nicht, sie anzuschauen. „Und dadurch habe ich sie sehr verletzt.“

„Um ehrlich zu sein, wollte ich gar nicht nett zu Ihnen sein“, bekannte Jess. „Ich habe ein paar Monate nach dem Tod Ihres Vaters bei Anja angefangen. Damals waren Sie schon weg. Das war aber zunächst kein Thema, obwohl ich genau gespürt habe, dass etwas nicht stimmte.“ Sie machte eine kleine Pause. „Dann habe ich sie eines Tages dabei überrascht, wie sie weinte, und erst da hat sie mir von ihrem Vater erzählt und wie traurig sie darüber ist, dass Sie abgehauen sind. Ich glaube, das war der Tag, an dem wir Freundinnen wurden. Natürlich war ich auch stets auf ihrer Seite.“

„Was ich gut verstehen kann, denn ich war wirklich ein schrecklicher Bruder.“ Schuldgefühle und Zorn über sein eigenes Versagen nagten an Dylan. „Ich bin ein schlechter Mensch.“

„Das sind Sie nicht!“

„Für Anja schon.“

„Nein, Dylan. Sie haben sie verletzt, das stimmt. Aber ich weiß, dass Sie ein anständiger Kerl sind. Das habe ich Ihnen heute Morgen doch schon gesagt.“ Sie drückte seine Hand und entzog ihm ihre dann sanft. Sofort spürte er eine gewisse Leere. „Mir gegenüber waren Sie jedenfalls bisher sehr nett.“

„Und Sie glauben nicht, dass es nur deshalb geschah, weil ich mich bei Anja einschmeicheln möchte?“

Sie lachte. „Also, ganz ehrlich denke ich nicht, dass das funktionieren würde.“

„Warum denn nicht?“

Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, wurde verschlossener. „Haben Sie vor, ihr zu sagen, warum Sie damals alles verlassen haben?“

„Natürlich“, erwiderte er, obwohl er selbst das Zögern in seiner Stimme hören konnte. Jessica nickte, antwortete jedoch nicht und legte sich die Hand auf den Bauch.

Er runzelte die Stirn und dachte wieder über ihre Schwangerschaft nach. Daran, was sie bedeutete. Und daran, dass sie auf jeden Fall bedeutete, dass er sie nicht an diesen Ort – an seinen Ort – hätte mitbringen sollen, denn jetzt würde er wahrscheinlich immer an sie denken, wenn er hierherkam. Dabei gab es sehr wahrscheinlich einen anderen Mann in ihrem Leben.

Auch wenn dieser Mann im Moment abwesend war.

„Wie ist es denn bisher so gelaufen?“, zwang er sich zu fragen.

„Was denn?“

„Ihre Schwangerschaft.“

„Oh, sehr gut“, erwiderte sie mit einer abwehrenden Handbewegung. „Ich kann mich nicht beschweren.“

„Sie können sich nicht oder wollen Sie sich nicht beschweren?“

Sie lachte. „Wie schaffen Sie es eigentlich, mich so zu durchschauen, Dylan?“ Die Worte versetzten ihm einen kleinen Stich, doch dann fuhr sie fort: „Also, ich kann mich nicht und ich werde mich auch nicht beschweren. Schließlich gibt es eine Menge Frauen, die alles dafür tun würden, in meiner Position zu sein.“

„Aber vielleicht nicht ganz, oder?“, bemerkte er ironisch.

Jessica sah ihn verwirrt an. „Was meinen Sie damit?“

Offensichtlich zwang sie ihn dazu, es auszusprechen. Dylan seufzte und sagte: „Sie sind schwanger und allein auf sich gestellt. Heute Morgen wollten Sie den Vater Ihres Kindes nicht einmal anrufen. Ich glaube kaum, dass viele Frauen in dieser Position sein wollen. Und Sie müssen auch nicht so tun, als würde es Sie nicht stören.“

Sie blinzelte und tat dann etwas Überraschendes – sie lehnte den Kopf zurück und lachte lauthals.

„Mir war nicht klar, dass ich einen Witz gemacht habe“, bemerkte er steif.

„Oh nein, bitte entschuldigen Sie.“ Sie holte tief Luft. „Aber um es mal ganz klar zu sagen: Ich bin nicht schwanger und allein, Dylan. Kein Mann hat mich verlassen.“

„Das verstehe ich nicht, ich …“

„Nun, es ist auch ein bisschen kompliziert.“ Die Minuten verstrichen, und keiner von beiden sagte ein Wort. Schließlich gab Jess sich einen Ruck.

Sie sah ihn an, und die Gefühle in ihrem Blick überwältigten ihn.

„Dylan … dieses Baby … gehört nicht mir. Ich bin nur … nur die Leihmutter.“

7. KAPITEL

Jess hielt den Atem an und hoffte, dass sie keinen Fehler gemacht hatte. Vielleicht hätte sie Dylan besser gar nichts gesagt. Aber irgendwie hatte sie nicht anders gekonnt, als ihm die Wahrheit zu sagen. Vielleicht war der Grund dafür ja, dass es sie gerührt hatte, zu hören, dass er sich ihretwegen Sorgen machte.

Doch als sie ihn anschaute, wusste sie, dass sie richtig gehandelt hatte. Nein, sie verriet Anja nicht, wenn sie ihrem Bruder sagte, dass sie eine Leihmutter war. Solange er nicht erfuhr, dass Anja die biologische Mutter war, würde es auch keine Probleme geben. Das hoffte sie jedenfalls.

„Sie sind … Leihmutter?“

„Ja, wie ich bereits sagte“, erwiderte sie leichthin, in dem Versuch, die Spannung ein wenig zu mildern.

„Aber wie … ich meine, warum …“ Offensichtlich konnte er mit dieser Information nicht viel anfangen.

„Nun, ich habe eine … eine Freundin, die vergeblich darum gekämpft hat, schwanger zu werden.“ Das war die beste Erklärung, die sie ihm liefern konnte.

„Und daher haben Sie … sich angeboten, das Kind für sie auszutragen?“

Sie neigte den Kopf und nickte. „Ja, genau das habe ich getan. Ist das für Sie ein Problem?“

„Nein, ich … nein, natürlich nicht.“ Er zwang sich, ihrem Blick zu begegnen. „Und bitte denken Sie nicht, dass ich Sie verurteile.“

„Nein? Irgendwie fühlt sich das für mich aber so an“, erwiderte sie mit belegter Stimme.

„Nein, es ist nur … also, das muss ich erst einmal verarbeiten.“ Dylan schluckte. „Ich habe noch nie so jemanden wie Sie getroffen. Spontan fällt es mir schwer, zu verstehen, warum Sie sich das antun.“

„Warum ich mir was antue?“, gab sie empört zurück. „Also, ich kann ja nachvollziehen, dass Sie diese Information erst einmal verdauen müssen. Aber Sie müssen meine Entscheidung ja auch nicht nachvollziehen oder gutheißen.“ Am liebsten wäre sie davongelaufen, doch sie wusste, dass ihr Bauch ihr dabei im Weg gewesen wäre. Und springen? Sie warf einen Blick in den Abgrund und entschied sich dagegen. Das wäre viel zu riskant gewesen. „Sind Sie so nett und helfen mir hoch? Es sieht so aus, als würde es gleich regnen. Am besten, wir gehen wieder zurück, einverstanden?“

Er nickte und half ihr ohne ein Wort hoch. Als ihre Haut bei dieser Berührung zu prickeln begann, ärgerte Jess sich noch mehr. Warum reagierte sie so stark auf seine körperliche Nähe?

Darüber dachte sie auch nach, als sie vor ihm den Weg zurück einschlug und dabei ein ziemliches Tempo vorlegte.

Doch sie musste zugeben, dass sie von Dylans Offenheit ziemlich beeindruckt war. Warum hatte er ihr Dinge erzählt, die sie von Anja noch nie gehört hatte? Und was hatte sie selbst dazu bewogen, ihm ihr Geheimnis anzuvertrauen? Ganz zu schweigen von der Enttäuschung, die sie verspürt hatte, als seine Reaktion darauf ganz anders ausfiel, als sie erwartet hatte.

Vielleicht sollte sie sich in Zukunft doch besser von ihm fernhalten, wenn sie ihre Freundschaft mit Anja nicht aufs Spiel setzen wollte.

Im nächsten Moment erklang lautes Donnern und riss sie aus ihren Gedanken. Und dann fing es an zu regnen… nicht ein schwaches Nieseln, sondern ein richtiger Platzregen, der sie beide innerhalb weniger Minuten komplett durchnässte.

Dylan blieb stehen und sah sie schuldbewusst an. „Tut mir leid. Wahrscheinlich hätten wir schon früher aufbrechen sollen.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, sagte Jessica. Zum Glück standen sie unter Bäumen und waren dadurch ein bisschen geschützt.

„Eigentlich hätte ich nichts dagegen, wenn wir so lange hierbleiben würden, bis der Sturm vorbei ist“, erklärte sie.

„Weil Sie nicht noch nasser werden wollen?“, fragte Dylan.

„Nein, weil es so schön ist. Wild, aber schön.“

Er nickte. „Ja, ich kenne dieses Gefühl.“

Ihre Blicke trafen sich, und erneut war da diese Spannung in der Luft.

„Hat … macht es Ihnen etwas aus, wie ich auf Ihre außergewöhnliche Mutterschaft reagiert habe?“, fragte er behutsam.

„Nein, das ist mir egal.“

„Das glaube ich Ihnen nicht.“

„Also, auch wenn es mir nicht egal ist, sollte es das sein. Denn schließlich trifft jeder im Leben seine eigenen Entscheidungen. Das Klügste, was wir tun können, ist, uns stets daran zu erinnern.“

Nur der Regen kommentierte ihre Aussage mit lautem Prasseln auf dem Blätterdach über ihnen. Dylan schwieg.

„Tun Sie immer das, was das Klügste ist?“, fragte er nach einer Weile und machte einen Schritt auf sie zu.

Sie unterdrückte den Impuls, einen Schritt zurückzuweichen, sondern verharrte in ihrer Position.

„Das hoffe ich zumindest“, erwiderte sie mit rauer Stimme.

Ehe sie sich dessen bewusst wurde, spürte sie, wie sich ihr Körper gegen seinen presste. Sie schluckte, und eine Stimme in ihrem Kopf warnte sie laut davor, einen Fehler zu machen.

Die Stimme riet ihr, davonzulaufen und sich ein Zimmer in einem Hotel zu suchen – weit weg von diesem Mann, der sie allein durch die Kraft seines Blickes gefangen nahm.

Bleib hier, übertönte jedoch eine andere innere Stimme diesen Warnruf.

„Ich habe nicht den Eindruck, dass ich gerade besonders klug bin“, sagte Jess leise.

„Meinetwegen?“, fragte er und legte seine Arme um ihre Taille. „Sollte ich mich deshalb gekränkt fühlen?“

„Nur wenn Sie glauben, dass ich falschliege.“ Als er nicht antwortete, nickte sie. „Hab ich mir schon gedacht.“

Im nächsten Moment berührten sich ihre Lippen.

Jess spürte, wie die Berührung ein Kribbeln durch ihren ganzen Körper jagte. Das Blut rauschte laut in ihren Ohren, während sie sich dem Vergnügen hingab, Dylan zu küssen.

Und dieser Mann konnte küssen, daran bestand kein Zweifel. Er küsste entschlossen und selbstsicher. Die Berührungen seiner Zunge raubten Jess den Atem. Sie fing am ganzen Körper zu zittern an, und gleichzeitig spürte sie im Kopf eine Leichtigkeit, die sie schwindelig machte. Es fühlte sich so wunderbar an, dass sie den Moment am liebsten für immer festgehalten hätte. Ganz wie von selbst legten sich ihre Arme um Dylans Taille.

Als ob sie ihn halten und nie wieder loslassen wollte.

Dylan stöhnte und begann sie überall zu streicheln. Über die Kurven ihrer Hüften, den gerundeten Bauch, ihre Brüste. Sie erwachten unter seinen Zärtlichkeiten, ihre Brustwarzen richteten sich auf. Tief in ihr entzündete sich die Glut des Begehrens, die schnell zu einem Feuer wurde.

Dylan drückte sie nach hinten, bis sie mit dem Rücken gegen einen Baumstamm stieß. Eine Regendusche prasselte auf sie herab, aber es spielte keine Rolle. Im Gegenteil, die unerwartete Abkühlung ließ das Feuer der Lust noch mehr lodern, entfachte ihr Begehren noch stärker.

Jess strich ihm fast fieberhaft über den muskulösen Rücken, nach dem sie sich nun schon so lange verzehrte. Sein nasses Hemd klebte ihm am Körper und verwehrte ihr den direkten Zugriff auf das, wonach sie sich sehnte.

Dann tasteten ihre Hände über seine stahlharte Brust, erfassten seinen Bizeps und glitten dann wieder über die definierten Brustmuskeln, die sie unter dem Shirt spüren konnte.

Er fühlte sich so unglaublich sexy an, dass sie plötzlich keine Luft mehr bekam. Sie musste sich ein wenig zurücklehnen und rang nach Atem. Dylan lehnte den Kopf gegen ihre Brust, und als er ihn hob und sie anschaute, umspielte ein Lächeln seine Lippen, das Jess genau zeigte, was sie gerade getan hatten.

Sie waren total leichtsinnig gewesen. Spontan. Gefährlich.

„Es regnet“, sagte sie heiser.

„Ja, ich weiß“, erwiderte er und lächelte. „Aber das wussten wir ja beide bevor … bevor das hier passierte.“

„Nein, Dylan, ich meine, dass es auf uns herabregnet“, erklärte Jess, während die harten Regentropfen auf sie prasselten. „Ich denke, wir sollten hier weg.“

„Gute Idee!“

Er nahm sie bei der Hand und pfiff nach Daisy. Wenige Sekunden später kam die Hündin nass und glücklich aus dem Unterholz angerannt. Sie eilten zurück zum Haus, und als sie es endlich erreichten, waren sie alle bis auf die Knochen durchnässt.

„Wir sollten jetzt erst mal die Sachen ausziehen“, verkündete sie und errötete sofort, als ihr klar wurde, was sie gerade gesagt hatte. „Äh, damit wollte ich natürlich nicht sagen, dass wir …“

„Ist mir klar“, erwiderte er mit funkelnden Augen. „Aber du hast recht.“

„Dylan, ich …“

„Nein, Jess“, unterbrach er sie. „Wir müssen nicht darüber reden.“

„Das wäre mir eigentlich auch sehr viel lieber“, stieß sie hervor. „Aber was gerade passiert ist, das war keine gute Idee.“

„Denkst du etwa, das weiß ich nicht?“, erwiderte er unerwartet ernst.

Plötzlich merkte sie, wie erschöpft sie war. „Na gut, vielleicht hast du ja recht. Ich werde jetzt duschen, und danach besorge ich mir für die nächsten Tage ein Hotelzimmer.“

„Du kannst hierbleiben.“

„Nein, ich …“

„Es wird nicht wieder passieren“, versicherte er. „Und es ist besser, wenn du in der Nähe bist. Schließlich musst du Anja berichten, wie es im Haus mit den Reparaturen weitergeht.“

Natürlich war das ein triftiger Grund, und doch hatte sie das Gefühl, einen schweren Fehler zu begehen, wenn sie in seinem Haus blieb. Aber es fiel ihr im Moment schwer, klar zu denken, weil sie von dem Kuss noch immer ganz durcheinander war.

Daher meinte sie nur: „Okay, ich werde es mir überlegen.“

Dann floh sie ins Gästezimmer, wo sie erst einmal ihre nassen Sachen auszog und eine heiße Dusche nahm.

Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, zog sie eine Wollstrumpfhose und einen weiten Pullover an. Beides ließ sie zwar noch unförmiger wirken, aber so fühlte sie sich sehr viel besser. In diesem Aufzug würde sie Dylan gewiss nicht verführen wollen.

Eine Unterkunft für die Nacht zu suchen war mit Energie verbunden, die sie derzeit nicht hatte. Sie müsste in den Regen zurück, ihre Autoschlüssel holen und durch das scheußliche Wetter fahren. Deshalb schien ihr Entschluss festzustehen. Sie würde diese Nacht in Dylans Haus bleiben.

Eigentlich hätte sie ihm das mitteilen müssen, doch stattdessen versteckte sie sich unter der Bettdecke und sagte sich, dass sie sich nur einen Moment lang ausruhen wollte. Dass sie einen Moment lang Trost brauchte.

Es war ein Fehler gewesen, ihn zu küssen. Denn jetzt, da sie erfahren hatte, wie es sich anfühlte, wollte sie mehr davon. Und das war keine Option.

Sie durfte die Freundschaft mit Anja nicht aufs Spiel setzen. Es war egal, dass Dylan nett zu ihr gewesen war und sie den Eindruck gewonnen hatte, er würde sie verstehen.

Aber damit wäre wahrscheinlich Schluss, wenn sie ihm gestehen würde, dass sie die Leihmutter für Anjas Baby war.

Nein, sinnvoller war es, Distanz zu ihm zu halten. Nur so konnten Enttäuschung und Schmerz für beide vermieden werden.

Damit stand Jessicas Entschluss fest. Sie zog die Decke noch fester um sich und schloss die Augen.

Dylan spürte eine innere Unruhe, die ihn fertigmachte. Sie war in dem Moment über ihn gekommen, als Jess ihn daran erinnert hatte, dass es keine gute Idee war, wenn sie sich küssten.

Dabei störte ihn am meisten, dass sie es gewesen war, die danach einen kühlen Kopf bewahrt hatte, während er seinen total verloren hatte.

Ehrlich betrachtet hatte er sich das Ganze wohl selbst zuzuschreiben. Denn er war es, der sie hatte küssen wollen, der im Wald die Distanz zu ihr hatte aufheben wollen. Doch schließlich war er auch nur ein Mann. Wie hätte er ihrer Schönheit und Verletzlichkeit widerstehen können? Zumal sich unter dieser Verletzlichkeit eine solche Leidenschaft verbarg?

Nachdem ihn diese Gedanken eine Weile gequält hatten, versorgte er Daisy, zog seine nassen Sachen aus, schlüpfte in Sportkleidung und ging in den Fitnessraum, um dort ein bisschen Dampf abzulassen.

Am liebsten hätte er wieder Holz gehackt. Die schwere körperliche Arbeit hätte ihn auch von der Erkenntnis abgelenkt, dass er längst mit seiner Schwester hätte reden müssen.

Aber leider gelang es ihm durch das Training lediglich, seinen Körper beschäftigt zu halten. Egal, wie sehr er sich dabei zum Äußersten trieb, immer wieder kehrten seine Gedanken zu den letzten Stunden zurück. Zu dem, was Jessica und er gesprochen und wie sie darauf reagiert hatten.

Schließlich beendete er sein Workout, nahm eine Dusche und ging wieder nach unten. Die ganze Zeit überlegte er, was er ihr sagen sollte. Sollte er sich vielleicht bei ihr entschuldigen? Aber wofür? Dass er es genossen hatte, sie zu küssen? Dass er der Anziehungskraft nachgegeben hatte, die sie auf ihn ausübte?

Schließlich hielt er es nicht mehr aus und ging sie suchen. Sie war weder im Wohnzimmer noch in der Küche, und einen schrecklichen Moment lang fragte er sich, ob sie vielleicht gegangen war, ohne sich von ihm zu verabschieden. Zum Schluss sah er im Gästezimmer nach und war erleichtert, als er ihre Umrisse unter der Bettdecke erblickte.

Nachdenklich betrachtete er sie. Ihr Gesicht war leicht gerötet, aus dem Haarknoten hatten sich ein paar lockige Strähnen gelöst. Offensichtlich trug sie einen dicken Wollpullover, und ein Arm ruhte auf ihrem leicht gerundeten Bauch. Es war ein Bild, von dem Dylan wusste, dass er es nicht so schnell vergessen würde.

Daher verließ er ganz leise das Zimmer, ohne sie zu wecken, und ging zurück in die Küche. Daisy, die in ihrem Körbchen in der Ecke saß, hob den Kopf und winselte leise, als er die Arme auf den Tresen stützte. Sein Herz klopfte so heftig, dass er kaum Atem holen konnte.

Was, zum Teufel, war mit ihm los? Warum berührte ihn der Anblick dieser Frau so sehr? Und warum hatte er den starken Wunsch, sie zu beschützen?

Was auch immer es war, es gefiel ihm nicht. Und trotzdem war es irgendwie vertraut. Es dauerte ein paar Minuten, doch dann erkannte er, weshalb er so ablehnend auf ihre Aussage reagiert hatte, dass sie eine Leihmutter war.

Ja, er verspürte ihr gegenüber einen starken Beschützerinstinkt. Und er hatte Angst davor, dass die Schwangerschaft sie irgendwie verletzen könnte und dass er nichts dagegen tun konnte.

Dabei war ihm natürlich klar, dass es nicht seine Aufgabe war, Jessica zu beschützen. Doch er konnte einfach nicht gegen dieses Gefühl ankämpfen.

Dylan holte tief Luft. Es würde eine lange Nacht werden.

8. KAPITEL

Jess fand Dylan vor dem Kamin im Wohnzimmer.

Der Regen schlug heftig gegen die Fenster, und Daisy hockte neben ihm auf der Couch. Immer, wenn es donnerte, fing sie leise zu winseln an. Jess konnte es ihr nicht verübeln, denn offensichtlich erlebten sie gerade einen der Stürme, für die Kapstadt so berüchtigt war.

Langsam ging sie auf die beiden zu.

„Hey“, sagte sie leise. Sofort sprang Daisy von der Couch und drängte sich gegen ihre Beine. Dylan hingegen rührte sich nicht, und als er sie schließlich anschaute, waren seine Augen erfüllt von Schmerz.

Es dauerte eine Weile, bis er antworten konnte. „Hey.“

„Bist du okay?“

„Ja, alles gut. Du hast ziemlich lange geschlafen.“

„Ich war ein bisschen erschöpft nach dem langen Tag.“

„Und wozu hast du dich entschieden?“

„Also, wenn es dir recht ist, möchte ich heute hier übernachten. Vorausgesetzt, dein Angebot steht noch.“

„Natürlich“, erwiderte er, doch seinem Ton nach zu urteilen, war er sich nicht ganz sicher.

„Möchtest du … soll ich uns vielleicht etwas zu essen machen?“

Er hob die Augenbrauen. „Hast du nicht gesagt, du könntest nicht kochen?“

„Nein, ich habe gesagt, ich hätte es erst vor ein paar Jahren gelernt. Ein paar Gerichte habe ich drauf. Ich könnte uns zum Beispiel ein Curry machen.“

Autor

AC Arthur
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Lynne Graham
Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen.

Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem...
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Autorin zu sein war immer Therese Beharries Traum. Doch erst während ihres letzten Studienjahres, als der Arbeitsalltag in einem Unternehmen bereits auf sie wartete, wurde ihr klar, dass sie diesen Traum bald zur Wirklichkeit machen wollte. Also machte sie sich ernsthaft ans Schreiben. Inzwischen verdient sie tatsächlich ihren Lebensunterhalt mit...

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