Romana Weihnachten Band 21

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Wo Weihnachtswunder wahr werden: Im goldenen Lichterglanz von Zermatt, in einer romantischen Reetdachkate auf Sylt und im märchenhaft verschneiten Erzgebirge entfaltet die Christnacht ihre Magie.

WEIHNACHTSGLÜCK AUF VIER PFOTEN von NIKKI WEST
Am Fuße des tief verschneiten Matterhorns rettet Emilia einen entlaufenen Hund. Als Dank lädt sein Besitzer, Eventmanager Laurin, sie zu einem Weihnachtspicknick in einer festlich geschmückten Seilbahngondel ein. Bald kommen sie sich näher. Doch Laurin birgt ein tragisches Geheimnis …

FEST DER LIEBE AUF SYLT von LILLI WIEMERS
Muschelsuchen am Strand und das Schmücken des friesischen Julbaums … So glücklich war seine Tochter lange nicht, weiß der verwitwete Unternehmer Christian. Ihr größter Weihnachtswunsch: Die nette Krankenschwester, die er für sie engagiert hat, soll ihre neue Mama werden! Aber kann er jemals wieder lieben?

KÜSSE WIE FEUER – HERZ AUS EIS? von ANNA KELLER
Im Advent kehrt Gertis Jugendliebe Kay überraschend in ihr Heimatdorf im Erzgebirge zurück. Die hübsche Kindergärtnerin schwebt im siebten Himmel, als ihre Wege sich immer öfter kreuzen. Aber trotz seiner leidenschaftlichen Küsse befürchtet sie: Ihr Traummann hat ein Herz aus Eis …


  • Erscheinungstag 08.10.2021
  • Bandnummer 21
  • ISBN / Artikelnummer 9783751503464
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nikki West, Lilli Wiemers, Anna Keller

Romana Weihnachten BAND 21

1. KAPITEL

Alles war wunderweiß. Die Berge, die in der Ferne ihre mächtigen Gipfel gen Himmel reckten, waren nicht einfach nur mit einer feinen Puderschicht überzogen, nein: Eine dicke Schneedecke hüllte sie alle ein.

Zum ersten Mal seit Monaten erlaubte Laurin es sich, einen Moment lang seine Gedanken schweifen zu lassen. Zu Hause im Mattertal würden die Menschen gerade ihre Weihnachtsdekorationen aufhängen. Lichterketten würden über die Straßen gespannt werden, Tannengirlanden über Türstürze und an Fensterrahmen. Der Schnee würde alle Geräusche dämpfen und den Zauber eines ruhigen, besinnlichen Wintertages noch verstärken … ganz im Gegensatz zu dem Ort, an dem er selbst gerade war …

Plötzlich nahm Laurin wieder die stampfende Partymusik über die Veranstaltungsfläche wahr. Soeben hatte auf der großen Bühne die Hauptband angefangen zu spielen. Mit coolen Sprüchen und mitreißendem Sound brachten die Musiker das Blut der Zuhörer in Wallung. Niemand störte sich daran, dass die Temperatur seit Tagen weit unter dem Nullpunkt lag. Feiern konnte man schließlich auch in Skiklamotten.

Und niemand wusste besser als Laurin Taugwalder, wie man eine solche Veranstaltung auf die Beine stellte.

Um ein Haar hätte er das Vibrieren seines Handys in der Manteltasche nicht bemerkt. Doch es gehörte zu seinem Job, jederzeit erreichbar zu sein. Wer immer gerade versuchte, ihn an die Strippe zu bekommen: Er tat dies bereits zum wiederholten Mal. Er angelte das Telefon aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display.

Zu Hause.

Sein Daumen schwebte schon über der Taste mit dem roten Telefonhörer.

War es so schwer zu begreifen, dass er arbeitete? Das Snow Hord Musicfestival, das Laurins Firma Swisswizz jedes Jahr in der letzten Novemberwoche organisierte, hatte sich im Laufe der vergangenen Jahre zu einem der angesagtesten Winter-Festivals Europas entwickelt. Tagsüber verwandelten Künstler das Niemandsland an den Hängen der Tessiner Alpen mit Schnee- und Eisskulpturen in eine glitzernd kalte Märchenlandschaft. In Schlössern aus Eis trafen die Besucher hier im italienisch sprechenden Teil der südlichen Schweiz auf Figuren des alpenländischen Brauchtums. Zwerge, Perchten, Hexen und Wolpertinger schmückten die Verkaufsstände der Schneebars. Wenn die Besucher nicht gerade die Pisten stürmten, konnten sie in Sitzsäcken mit Blick auf die Bergwipfel die Wintersonne genießen.

Abends wurde es richtig heiß – dann nämlich, wenn einige der größten Namen der Electro-Szene hedonistische Partygänger so richtig in Wallung brachten. Die Idee zum Snow Hord Festival war eine von Laurins ganz großen Eingebungen gewesen. Mit der Organisation des ersten Festivals hatte er sich einen Namen gemacht. Fünfzehn Jahre war das jetzt her. Trotzdem war es für ihn selbstverständlich, auch heute noch Jahr für Jahr vor Ort zu sein. Snow Hord war sein Baby, und er musste sicherstellen, dass hier alles lief wie am Schnürchen.

Er wollte den Anruf schon wegdrücken, als er es sich im letzten Moment anders überlegte. Seine Eltern machten eine schwere Zeit durch. Himmel, sie alle machten eine schwere Zeit durch. Wenn sie so dringend versuchten, ihn zu erreichen, musste das einen Grund haben.

„Hallo?“ Mit der freien Hand hielt er sich ein Ohr zu. Die Musik von der Bühne verschluckte nahezu jedes andere Geräusch. „Mama? Was gibt es? Ihr wisst doch, dass ich arbeite.“

„Laurin!“ Panik klang in der Art, wie seine Mutter seinen Namen aussprach. Sein Magen zog sich zusammen. Nicht jetzt, betete er im Stillen. Nicht noch eine Tragödie. Das würde sie ins Grab bringen und Vater gleich dazu.

Was sie dann sagte, ging in der Geräuschkulisse des Festivals unter.

„Mama! Hör zu. Ich rufe dich zurück, ich muss mir aber erst einen ruhigeren Platz zum Telefonieren suchen. Oder du schreibst mir eine Textnachricht.“

Wieder antwortete sie, und wieder war ihr panischer Unterton das Einzige, was zu ihm durchdrang. Er stieß einen Fluch aus und beendete das Gespräch.

„Ist was passiert?“ Reto, sein Assistent, sah ihn von der Seite aus an.

„Keine Ahnung. Ich muss zurückrufen. Hältst du hier die Stellung?“

Die Grimasse, die Reto zog, sagte alles.

Seit etwas mehr als drei Jahren war der hippe Veranstaltungsmann aus Bern seine rechte Hand. Ein wenig Zeit hatte es gebraucht, bis Reto sich an das Leben abseits der Großstadt gewöhnt hatte, nachdem Laurin die Firmenzentrale des Multi-Millionen-Konzerns für Erlebnisgeschenke und Veranstaltungsmanagement in dem Achttausend-Seelen-Städtchen Visp errichtet hatte. Auch Reto arbeitete hart, beinahe so hart wie Laurin selbst, und er kannte die Fallstricke des Veranstaltungsbusiness mittlerweile fast ebenso gut wie sein Boss. Vor allem in den letzten Monaten wäre Laurin ohne Reto aufgeschmissen gewesen. Wenn er es sich richtig überlegte, war eine Gehaltserhöhung und womöglich eine Beförderung für seinen Assistenten mehr als überfällig.

Er legte Reto eine Hand auf die Schulter. „Bin gleich wieder da.“

„In Ordnung, Boss.“

Laurin wollte sich gerade umdrehen, da hielt Reto ihn noch einmal zurück. „Laurin?“

„Ja?“

„Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes. Ihr braucht alle wirklich eine Atempause. Nach dem, was mit …“ Den Rest des Satzes hörte Laurin nicht mehr.

Ehe Reto zu Ende sprechen konnte, stapfte er davon. Er wollte nicht hören, was sein Assistent zu sagen hatte. Niemand durfte die Tragödie beim Namen nennen. Nicht einmal seine Eltern und er sprachen darüber. Worte machten das Unfassbare viel zu real. Er schluckte an dem Knoten in seiner Kehle, atmete gegen die Enge in der Brust an. Die eiskalte Winterluft brannte in seinen Lungen wie Feuer. Mit ausgreifenden Schritten lief er vor Reto davon. Vor Reto und seinem Mitleid. Seit er vor so vielen Jahren seine Firma gegründet und aufgezogen hatte, hatten ihn die Leute immer mit Ehrfurcht und Respekt angesehen. Retos Anteilnahme konnte er nicht ertragen.

In dem Zelt, das während des Festivals als Organisationszentrale diente, fand er einen ruhigen Platz. Nur wenige Schreibtische waren zu dieser Stunde noch besetzt. Die PR-Leute, nahm er an. Sie nutzten die Abendstunden, um aktuelle Pressemitteilungen zu versenden, Besucherzahlen, Infos zu den Top-Acts des heutigen Tages, den aktuellen Klatsch und Tratsch vom Pistenrand. Heizlüfter pusteten warme Luft in das Zelt. Augenblicklich begann Laurin zu schwitzen. Kein Wunder bei dem krassen Temperaturunterschied, wenn man von draußen hereinkam. Von Nervosität kam die plötzliche Schweißattacke jedenfalls sicher nicht.

Er zog seinen Mantel aus. Auf dem Weg zum hintersten freien Stuhl im Pressezelt erwiderte er die Grüße seiner Mitarbeiter mit einem knappen Kopfnicken. Den Mantel warf er über die Stuhllehne, dann atmete er einmal tief durch und betätigte die Kurzwahltaste für sein Elternhaus.

Die Verbindung hatte sich kaum aufgebaut, da meldete sich seine Mutter bereits. „Laurin. Um Himmels willen, zum Glück rufst du zurück. Es ist alles so fürchterlich. Wir haben schon überall gesucht und die Nachbarn gefragt, und Vater hatte es wieder im Rücken und …“

„Mutter!“, unterbrach er den Redeschwall, und dann, weil sie sich einfach nicht aufhalten ließ, noch einmal lauter: „Mutter! Ich verstehe kein Wort. Was ist passiert? Ist mit Vater alles in Ordnung?“

„Er hat sich wieder den Rücken verrissen. Deshalb kann er doch nicht schnell genug laufen. Wahrscheinlich war dem armen Hund einfach langweilig. Mit meinen Knien kann ich ja auch nicht so viel mit ihm raus, wie er es bei dir gewohnt ist. Und bei Simon war es ja noch mal was ganz …“ Sie unterbrach sich. Ein Zittern lag in ihren Worten. So, als ob sie nur mit Mühe Tränen unterdrückte. Dann räusperte sie sich und fuhr fort. „Also. Frau Reusser von nebenan sagte, sie habe Cäsar hinten am Wald gesehen, aber bis wir das Auto aus der Garage gefahren haben, war er schon weg, und jetzt wissen wir nicht mehr, was wir tun sollen. Das Gartentürchen war geschlossen, das schwöre ich dir. Und du hattest doch selbst den Zaun überprüft, und jetzt ist er weg. Was sollen wir nur tun? Gott, oh Gott, was sollen wir tun?“

Ein pochender Schmerz machte sich hinter Laurins Stirn breit. Das waren zu viele Informationen auf einmal. Er kniff sich in die Nasenwurzel, versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

„Von wem redest du, Mama? Wer ist weg?“

„Na, Cäsar. Das habe ich doch gesagt. Hörst du mir überhaupt zu?“

„Ich höre dir sehr gut zu“, stieß er mit einem Seufzen aus. „Was du versuchst, mir zu sagen, ist, dass euch der Hund entwischt ist? Ernsthaft?“ Das wird Simon euch verflucht übelnehmen, war das Erste, was Laurin durch den Kopf schoss. Dann traf ihn die Wahrheit wie ein Schlag gegen den Solarplexus.

Simon würde niemandem mehr Vorwürfe machen. Simon konnte überhaupt nichts mehr machen. Er lebte nicht mehr.

Wie man Dinge wissen und sie gleichzeitig verdrängen konnte, das war eine seltsame Sache. Alles, was ihnen von seinem kleinen Bruder geblieben war, war dieser verdammte Köter. Und jetzt war auch der noch verschwunden.

Seine Beine drohten unter dem Gewicht der Erkenntnis nachzugeben. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, stützte das Gesicht in die freie Handfläche. Nein, dachte er. Nein, nein, nein. Das durfte nicht wahr sein, doch es war wahr. Er, Laurin, war im Tessin, wo er zumindest in den nächsten drei Tagen dringend gebraucht wurde. Knapp einhundertfünfzig Kilometer entfernt von zu Hause, von Zermatt, wo Simons Hund seinen Eltern davongelaufen war. Und es gab nichts, was Laurin jetzt unternehmen konnte.

Aber wenn Cäsar verschwunden blieb, hatte er auch noch das letzte Bindeglied zu Simon verloren. Das Leben war einfach nicht fair.

Emilia Engel balancierte ihren Trolley auf den Rollen und warf einen Blick auf den Zettel in ihrer Hand. Wie sie vom Bahnhof in Zermatt zu ihrem Zuhause auf Zeit gelangen sollte, hatte die Vermieterin ihr am Telefon mitgeteilt. Emilia hatte sich alles haarklein aufgeschrieben. Bis zur unteren Wiestirstraße war sie gekommen. Ab da verlor sich die Spur. Nirgends konnte sie Straßennamen oder Hausnummern erkennen. Wie Holzperlen an einer Kette reihten sich urige Bauernhäuser rechts und links der Straße aneinander. Der Gehweg war nicht zu erkennen – dort, wo er war, türmte sich hüfthoch der zur Seite geschobene Schnee. Wie gut, dass Zermatt autofrei war. Ein normaler Wagen hätte in dem winzigen Gässchen kaum Platz gefunden.

Cleo schnüffelte an einem der Schneehaufen, ehe sie neben Emilia Sitz machte. Trotz des gefütterten Wintermantels, den Emilia ihrer Border-Terrier-Hündin noch im Zug angezogen hatte, zitterte das Tier vor Kälte.

„Und was machen wir jetzt?“ Emilia sah auf die kleine Hündin hinab. „Wenn wenigstens jemand hier wäre. Dann könnten wir fragen. Vielleicht sollten wir einfach noch einmal zurück zur Hauptstraße. In einem der Geschäfte wird uns sicher jemand helfen können.“

So ausgestorben es in dieser Gasse war, so belebt war es im Ortskern gewesen. Wintersportler mit Skiern auf den Schultern oder Snowboards unterm Arm bevölkerten die Straßen. Dazwischen bahnten sich Elektrobusse und Golfcarts, bis oben hin beladen mit Gepäck, einen Weg durch den Ort. Touristen bummelten von Geschäft zu Geschäft. Über den Straßen hingen Lichterketten, nahezu alle Ladeneingänge waren mit Weihnachtsgirlanden und Funkelsternen dekoriert. Einige der von außen besonders opulent geschmückten Fenster waren von innen verrammelt und mit Zahlen versehen. Ganz so, als wäre das gesamte Dorf ein einziger, großer Adventskalender, bei dem man die Türchen unter den vielen geschmückten Fenstern erst einmal entdecken musste. Ein glückliches Summen lag über dem Dorf, vermischt mit den Klängen von Weihnachtsliedern aus den Lautsprechern der Ladenlokale. Es war diese Art von freudiger Erwartung, die immer dann entstand, wenn Menschen sich auf das freuten, was der Tag oder die Nacht für sie bereithielt, wenn sie zusammenkamen und alle Sorgen für ein paar Stunden oder Tage nebensächlich wurden.

Mehr noch als Emilias erste wacklige Versuche auf Skiern war es diese Stimmung, die sich ihr von den Familienurlauben in Zermatt ins Gedächtnis gebrannt hatte. Das war gewesen, bevor ihre Eltern sich hatten scheiden lassen und Emilia keine richtige Familie mehr hatte. Hier, am Fuße des Matterhorns, hatte sie die schönsten Weihnachtsfeste ihres Lebens gefeiert.

Schon Wochen vorher hatte sie sich auf die Zeit mit ihren Eltern in der Schweiz gefreut. Wenn die Tage angefüllt mit winterklarer Luft und Pistenspaß waren, sie die Abende gemütlich bei Kaminfeuer und Kartenspiel in ihrer Unterkunft verbrachten und die Nächte von einem so tiefen und erholsamen Schlaf erfüllt waren, wie sie es nur waren, wenn man den ganzen Tag an der frischen Luft verbracht hatte. Genau danach sehnte sie sich auch jetzt, nach dieser Ruhe und Zufriedenheit in den Gliedern, die ihr nichts und niemand mehr hatte schenken können. Nicht ihr Job in der Tierklinik im Münchner Luxus-Stadtteil Bogenhausen und ganz sicher nicht die Beziehung mit Paul, die im Laufe des vergangenen halben Jahres immer mehr zu einer Belastung geworden war.

Ein aufforderndes Wuff von Cleo brachte Emilia zurück ins Hier und Jetzt. „Okay, okay. Du hast recht. Hier herumzustehen und Löcher in die Luft zu starren bringt uns einer warmen Unterkunft und einer Tasse heißen Tee nicht näher. Lass uns losgehen.“

Gerade als sie nach dem Bügel ihres Trolleys greifen wollte, öffnete sich keine zehn Meter entfernt von ihr eine Tür. Eine ältere Dame trat aus dem Haus. Im Schutz des Holzbalkons wischte sie sich die Hände an einer geblümten Kittelschürze ab. Die Haare hatte sie mit einem Tuch zurückgebunden, unter der Schürze lugte ein Wollrock hervor, und die Füße steckten in dicken Lammfellstiefeln.

„Suchen Sie etwas?“, rief die Fremde Emilia zu, in einem so breiten schweizerischen Akzent, dass Emilia sie zuerst kaum verstand.

„Ja, ähm, in der Tat. Ich suche diese Adresse.“ Den Zettel mit ihren handschriftlichen Notizen ausgestreckt, trat sie auf die ältere Dame zu. Der Untergrund war glatt, und Emilia musste bei jedem Schritt achtgeben, dass sie nicht ausrutschte. Cleo hatte diese Probleme nicht. Fröhlich schwanzwedelnd hüpfte sie auf die Fremde zu und umwuselte deren Beine. Einen Menschen, den die kleine Hündin nicht sofort als Freund betrachtete, hatte Emilia noch nicht kennengelernt.

Die Frau ließ sich nicht lange bitten. Sie bot Cleo ihre Hand zum Schnüffeln an und lockte die Hündin zu einem kurzen Spiel. Bis die beiden genug hatten, hatte sich auch Emilia dazugesellt.

„Kennen Sie das Haus Schalbetter? Das muss ganz in der Nähe sein, aber ich konnte nirgends Schilder mit Straßennamen finden.“

„Das Haus Schalbetter?“ Ohne einen Blick auf Emilias Zettel zu werfen, richtete sich die Fremde auf. „Da haben Sie Glück, junges Fräulein. Das hier ist es.“ Sie streckte ihre Hand zum Gruß aus. „Maria Schalbetter. Für dich aber gerne einfach nur Maria. Wir wollen es ja eine Weile miteinander aushalten. Du bist doch mein neuer Hausgast?“

„Ich denke schon.“ Emilia entfuhr ein Stoßseufzer. „Ich bin Emilia Engel – Emilia“, berichtigte sie sich sofort. „Wir hatten telefoniert. Was bin ich froh, Sie … dich … gefunden zu haben! Es ist eine Weile her, dass ich in Zermatt war.“

„Das kannst du mir alles erzählen, wenn du dich in der guten Stube aufgewärmt hast. Jetzt komm erst mal rein.“

Wuff, machte Cleo. Sie hielt nicht viel davon, übergangen zu werden.

Maria lachte und lehnte sich zu Cleo hinunter, um sie hinter den Ohren zu kraulen. „Du natürlich auch. Was ich eigentlich sagen wollte, war: Kommt rein, alle beide.“

Innerlich atmete Emilia auf. Menschen, die Tiere mochten, waren ihr grundsätzlich sympathisch. Was sollte jetzt noch schiefgehen?

Frohen Mutes folgte sie Maria und bemerkte noch, dass das Haus Schalbetter zu den hübschesten Gehöften in der Straße gehörte. Ein Sockel aus groben Steinen, darüber roh gezimmerte Balken, eine windschiefe Außentreppe, die seitlich in den ersten Stock führte. Die beiden Balkonreihen besaßen schöne Geländer aus gedrechselten Stäben. Das Dach war weiß vom Schnee, nur der gemauerte Schornstein ragte hervor, und grauer Rauch stieg in Kringeln aus ihm empor. Vom First hingen Eiszapfen und glitzerten in der Nachmittagssonne, unter der Treppe stapelte sich Feuerholz, und als wäre das alles nicht schon romantisch genug, thronte über der Eingangstür tatsächlich ein waschechtes Hirschgeweih. So wie dieses Haus hatten die Häuser in Zermatt wahrscheinlich schon vor Jahrhunderten ausgesehen, lange bevor der Ort durch den Bergsport am Fuße des Matterhorns berühmt geworden war.

„Soll ich die Schuhe ausziehen?“ Hinter der Eingangstür hielt Emilia an.

Maria nickte. „Nimm dir ein Paar von den Schlappen. Die sind schön warm. In die Stube geht es hier entlang.“ Sie deutete auf die erste Tür auf der rechten Seite des schmalen Flurs. „Ich war gerade dabei, ein paar Adventsgestecke zu machen. Damit übermorgen zum ersten Advent die Fenstersimse außen am Haus schön geschmückt sind.“ In ihre Augen trat ein träumerisches Leuchten. „Ich liebe die Weihnachtszeit. Du auch?“

Während sie sich die Stiefel aus- und die Pantoffeln anzog, nickte Emilia. Zwar war es nicht ganz vergleichbar mit dem Gefühl, nach einem Tag auf der Piste aus den Skistiefeln zu kommen, aber auch die dicken Winterschuhe gegen ein paar flauschige Lammfellpantoffeln zu tauschen, war eine Wohltat.

„Aber erst einmal mach ich dir was zum Aufwärmen. Dann zeige ich dir dein Zimmer. Und für dich“, sie richtete sich an Cleo, „habe ich auch was Feines besorgt.“

Emilia hängte ihre Jacke auf, rückte den Trolley an die Wand und folgte Maria in die Küche. Cleo hatte es sich dort bereits mit einem Knochen auf einer alten Decke gemütlich gemacht. Ein nostalgischer, holzbefeuerter Küchenofen verbreitete angenehme Wärme. Zwischen den Tannenzweigen und Weihnachtskugeln, aus denen Maria die Gestecke fertigte, dampften auf dem Esstisch schon zwei Becher. Ein herrlicher, malzig-süßer Duft schwängerte die Luft. Dick gepolsterte Kissen auf der Eckbank luden dazu ein, sich hinzusetzen.

„Ich hoffe, du magst Ovomaltine?“ Maria nahm auf einem der Stühle am Esstisch Platz und bedeutete Emilia mit einer Geste, es sich bequem zu machen. „Wenn du mich fragst, gibt es nichts Besseres, um Wärme in gefrorene Knochen zu bringen.“

„Oh, gerne! Die habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr getrunken.“ Emilia rutschte auf die hölzerne Bank. Sie legte beide Hände um den Becher und hielt ihre Nase in den süßen Dampf. „Mhhh, das riecht wie Erinnerung. Als Kind habe ich hier auch immer Ovomaltine bekommen.“

„Du kennst Zermatt also schon?“ Auch Maria nahm einen Schluck des schokoladigen Malzgetränks.

„Nein, nicht wirklich, aber früher war ich jedes Jahr mit meinen Eltern hier in Urlaub.“ Über sich selbst den Kopf schüttelnd, strich sie sich eine Strähne hinters Ohr. „Nenn mich sentimental, aber als ich beschlossen habe, dass ich dringend eine Auszeit von meinem Job in München brauche, waren es die Kindheitserinnerungen an unsere Urlaube in Zermatt, die mir als Erstes in den Kopf gekommen sind.“

„Du bist Tierärztin, hast du am Telefon gesagt. Aber bis zum Ende der Saison willst du in einer der Après-Ski-Bars jobben? Das ist ein ziemlicher Karriereknick, wenn du mich fragst.“

„Ich weiß.“ Vorsichtig stellte sie den Becher zurück auf den Tisch. Plötzlich fiel es ihr schwer, Maria in die Augen zu sehen. „Das haben daheim auch alle gesagt, als ich um unbezahlten Urlaub gebeten habe.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber was soll ich sagen? Das Bild, das ich während des Studiums von der Arbeit als Tierärztin hatte, hat reichlich wenig mit der Realität zu tun. Ich habe mich durch ein irres langes Studium gequält, weil ich Tieren helfen wollte, und dann …“ Sie ließ den Satz im Nichts verklingen. Wie sollte sie auch beschreiben, was sie mit jedem Tag in der Klinik mehr und mehr belastet hatte?

Es waren ja nicht die Tiere, die ihr den Job vermiest hatten, sondern die Menschen. Besitzer, die sich Hunde anschafften, weil deren Rasse gerade modern war, und die ihre Tiere zu einem Leben in Atemnot und Qual verdammten. Nager, die nach einem viel zu kurzen Leben in winzigen Käfigen zur Euthanasie gebracht wurden, einfach nur, weil sie noch am Leben waren. Und wer rechnete schon damit, dass ein Zwergkaninchen zehn Jahre alt werden konnte? Menschen, die im dicken Porsche-SUV vor die Klinik fuhren und dann nicht bereit waren, Geld für Spezialfutter auszugeben, das ihr Tier brauchte, um nicht jeden Tag von Übelkeit und Schmerzen geplagt zu werden.

Als dann auch noch die Sache mit Mietzi passiert war … Emilia war einfach nicht damit fertiggeworden, dass ihr Chef sie hatte zwingen wollen, auf Geheiß der Besitzer eine vollkommen gesunde Katze einzuschläfern. Aus dem einzigen Grund, dass diese ein Auge verloren hatte und deshalb nicht mehr dem Bild eines niedlichen Schmusekätzchens entsprach!

Das war zu viel gewesen. Emilia hatte nicht mehr weitermachen können wie zuvor. Und Paul hatte ihr den Laufpass gegeben.

Was sie jetzt brauchte, war eine Perspektive. Sie musste herausfinden, wie viel Tierleid sie bereit war mit anzusehen, nur um zahlungskräftige Besitzer als Kunden der Klinik zu behalten. Innerlich seufzte sie. All das war zu viel, um es einer quasi Fremden beim ersten Kennenlernen unter die Nase zu reiben.

Doch erstaunlicherweise schien Maria ihren inneren Kampf zu verstehen, und sie legte ihr tröstend die Hand auf den Unterarm. „Schon gut, Mädchen. Mir musst du nichts erklären. Ich war nur neugierig. Aber eins sollst du wissen: Wenn du reden willst, bin ich da. Nach einem so langen Leben wie meinem kann einen nicht mehr viel schockieren. Aber es liegt bei dir. Soll ich dir jetzt dein Zimmer zeigen?“

Lächelnd richtete sie ihren Blick auf Maria. „Das wäre sehr nett.“

Cleo teilte Emilias Enthusiasmus nicht. Sie warf einen Blick auf die steile Treppe und drehte wieder um zu dem Platz in der Küche. Emilia wollte sie rufen, doch Maria winkte ab. „Lass sie nur. Ich nehme die Stiege auch nur, wenn es unbedingt nötig ist. Es geht hoch bis unters Dach. Die Kleine musst du wahrscheinlich tragen. Wie heißt sie eigentlich?“

„Cleo.“

Eine Hand am Treppengeländer, eine auf die Brust gedrückt, sah Maria sich über die Schulter zu Emilia um. „So wie Kleopatra? Diese ägyptische Königin, die für ihre Schönheit bekannt war?“ Sie runzelte die Stirn. „Na, ich weiß ja nicht.“

„Hey!“ Emilia lachte. „Für einen Border-Terrier ist Cleo sehr schön. Border-Terrier-Damen tragen nun mal Bart. Das liegt in ihrer Natur.“

„Na, wenn du meinst.“ Sie lachten beide. „Hier sind wir.“ Ganz oben angekommen, stieß Maria eine Tür auf. „Sieh zu, wie du mit diesem Ungetüm an Koffer an mir vorbeikommst. Ich fürchte, wenn das Ding in deiner Kammer ist, haben du und deine bärtige Dame nicht mehr allzu viel Platz.“

Zuerst dachte Emilia, Maria würde übertreiben, doch weit gefehlt: Die Kammer war wirklich winzig. Mehr als ein Doppelbett, ein Schrank und eine Kommode, auf der neben einer Waschschüssel mit Henkelkrug noch ein Schminkspiegel stand, hatten darin nicht Platz. Die Möbel duckten sich in die Dachschräge. Alle Wände und auch die Zimmerdecke bestanden aus unbearbeitetem Holz. Auf dem Nachttisch stand in einem schmiedeeisernen Ständer eine Kerze, und von der höchsten Stelle im Zimmer baumelte eine Lampe mit bauchigem Schirm aus Stoff. Dicke, mit rot-weiß karierter Bettwäsche bezogene Daunendecken bauschten sich auf der Matratze. Die Vorhänge vor dem kleinen Fenster direkt gegenüber des Bettes waren aus demselben Stoff gefertigt.

Emilia trat ans Fenster. Da war es, das Matterhorn. Der König der Berge, der steinerne Wächter des Mattertals. Majestätisch reckte er die gebogene Spitze in den Himmel, als würde er den Finger nach der Unendlichkeit ausstrecken. Die Häuser des Dorfes wirkten winzig im Vergleich zu dieser Prahlerei der Natur. Als wären sie Schafe und der Berg ihr Schäfer. Emilia hielt die Luft an und konnte den Blick nicht abwenden.

„Ja, nicht wahr?“ In Marias Stimme klang ein Lächeln. „Man kann das Matterhorn ein Leben lang Tag für Tag sehen, und immer wieder raubt es einem den Atem … Das Bad, wenn du dich frisch machen möchtest, ist einen Stock tiefer. Und Waschen kannst du in der Waschküche. In der Speisekammer ist ein Kühlschrank für dich, aber wir haben ja verabredet, dass die Mahlzeiten in deinem Mietpreis enthalten sind. Nur, falls du dir auch selbst mal etwas machen möchtest, kannst du dort Lebensmittel aufbewahren.“

„Das ist …“ Immer noch rang Emilia um Fassung. Sie hatte sich sehr auf ihre Auszeit gefreut, aber mit wie viel Wärme und Gastfreundschaft Maria sie empfing, raubte ihr dennoch die Sprache. „Wow“, beendete sie also wenig eloquent den Satz.

Maria lachte gutherzig. „Dann meinst du also, du kannst es hier aushalten? Obwohl die Kammer doch recht eng ist?“

„Ja“, sagte sie, und aus irgendeinem Grund klang ihre Stimme kratzig. „Ich bin gespannt, was mich hier erwartet.“

2. KAPITEL

Das Weckerklingeln aus ihrem Handy riss Emilia am nächsten Morgen jäh aus ihren Träumen. Schlaftrunken fuhr sie hoch.

„Was zum Geier?“ Cleo, die es sich auf der freien Bettseite unter der Decke gemütlich gemacht hatte, gab ein verstimmtes Murren von sich. „Was?“, sagte Emilia streng. „Beschwer dich nicht. Ich dachte auch, dass ich den Alarm ausgestellt hätte. Blöde Technik.“ Sie angelte nach dem Telefon auf dem Nachttisch.

Dort, wo das Pyjamaoberteil an ihrem Arm nach oben rutschte, biss kalte Morgenluft in ihre Haut. Trotzdem gelang es ihr, den Wecker auszustellen. Dabei stieß sie gegen das Tischchen. Ihr fiel auf, dass sich der Wasserspiegel auf dem Glas, das sie sich am Abend bereitgestellt hatte, kein bisschen bewegte. Ein dünner Eisfilm hatte sich auf der Oberfläche gebildet. Allein bei dem Gedanken, was das bedeutete, fröstelte Emilia. Unter Marias dicker Daunendecke war es herrlich warm. Sollte sie sich wirklich in die Kälte wagen?

Sie riskierte einen Blick aus dem Fenster. Noch hing dichter Nebel im Tal. Sie wollte sich gerade wieder unter die Decke kuscheln, als Cleo ihr ihre feuchtkalte Hundenase gegen den Hals stupste.

„Hey, was soll das?“ Die Worte mochten vorwurfsvoll sein, doch ihr Tonfall verriet sie. Emilia liebte ihre kleine Hündin, und sie hätte sich ganz sicher keine Terrierdame angeschafft, wenn sie ihr Leben in Ruhe und Frieden hätte verbringen wollen.

Vorsichtig lugte sie unter die Decke. Cleo hatte ihr Köpfchen auf die Pfoten gelegt und blinzelte sie unternehmungslustig an. Um ganz sicherzugehen, dass sie ihren Willen bekam, setzte sie ein Winseln obendrauf.

„Okay, okay, verstanden. Du willst also raus. Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir in Marias Küche ein Frühstück finden.“ Ihr selbst stand der Sinn nicht nach Essen.

Sie war noch immer pappsatt von den köstlichen Käsebroten, die Maria am Abend zuvor serviert hatte. Dazu hatte ihre Wirtin fingerdicke Scheiben eines hiesigen Bergmilchkäses so lange in einer Pfanne angebraten, bis sie anfingen zu schmelzen. Der warme, cremige Käse kam dann zwischen zwei Scheiben geröstetes Sauerteigbrot, die Maria zuvor mit einer rohen Knoblauchzehe eingerieben hatte. Schon der Duft hatte Emilia das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen.

Es mochte ein Klischee sein, doch sie war sich sicher: Niemand kannte sich mit Käse so gut aus wie die Schweizer. Zu den Käsebroten hatte es ein paar sauer eingelegte Gurken gegeben, Perlzwiebeln und einen grünen Salat. Ein einfaches Mahl und gleichzeitig nicht nur eine der köstlichsten Speisen, die Emilia je gegessen hatte, sondern auch eine der nahrhaftesten. So nahrhaft, dass Emilia hätte schwören können, dass sie drei Tage lang nichts mehr würde essen können.

Cleo kannte solche Vorbehalte nicht. Sie hatte immer Hunger. Und wenn sie beide nun schon aufstehen mussten, um das arme Terriermädchen vor dem nahenden Hungertod zu bewahren, konnte Emilia den Tag auch nutzen, um ein paar der angefutterten Kalorien wieder abzutrainieren. Ihr Job begann erst am kommenden Montag, am neunundzwanzigsten November. Sie hatte also noch drei Tage Zeit, um sich zu akklimatisieren und in Zermatt ein wenig heimisch zu werden.

Wie sich herausstellte, waren sie und Cleo nicht die Ersten im Haus Schalbetter, die auf den Beinen waren. Maria war schon in der Stube. Der Ofen bollerte, aus einer hübschen Handfilterkanne stieg verführerischer Kaffeeduft auf. Ohne eine Einladung abzuwarten, stürzte Cleo sich auf die Portion Trockenfutter, die Maria ihr bereits in den Napf gegeben hat.

„Guten Morgen“, begrüßte Emilia ihre Vermieterin. „Darf ich mir eine Tasse von dem Kaffee nehmen?“

„Dafür ist er da.“ Die Ältere lächelte freundlich. Unglaublich, dass Emilia Maria erst gestern kennengelernt hatte. Nicht einmal vierundzwanzig Stunden im Haus Schalbetter, und sie fühlte sich bereits wie zu Hause.

Nach den ersten zwei Schlucken Kaffee war sie dann auch bereit für ein richtiges Gespräch. „Ich wollte gleich mit Cleo einen ausgiebigen Spaziergang machen. Am liebsten wäre mir eine Strecke etwas abseits der Menschenmengen, damit ich Cleo von der Leine nehmen kann. Hast du vielleicht einen Tipp für uns?“

„Hmm, lass mich überlegen. Wie wäre es mit einem Spaziergang vom Blauherd zur Fluhalp? Der Weg liegt fast immer in der Sonne und ist recht einfach zu gehen. Übertags, solange die meisten Urlauber auf den Pisten sind, solltet ihr dort nicht zu vielen Leuten begegnen. So richtig voll wird es dort eher im Frühjahr und Herbst, wenn die Wanderer kommen.“

„Klingt gut.“

„Da freue ich mich doch, dass ich helfen konnte.“ Den Rest des Frühstücks verbrachten sie in wohligem Schweigen. Anschließend half Emilia Maria, das Frühstücksgeschirr abzuräumen, dann machten Cleo und sie sich auf den Weg.

Zuerst fuhren sie mit der Standseilbahn bis Sunnegga. Von dort ging es mit Achtergondeln bis zur Bergstation Blauherd. Ein bisschen seltsam war es schon, sich als einzige Spaziergängerin unter all die Wintersportler zu mischen. Wenigstens mussten sie nicht lange anstehen: Die Bergbahnen hatten gerade erst ihren Dienst begonnen, und die vielen Wintersportler waren noch in ihren Pensionen, Hotels oder Ferienwohnungen.

Gemeinsam mit zwei Snowboarderinnen und einem Skifahrer bestiegen Cleo und Emilia ihre Kabine. Cleo erlebte die nächste Wonne des Tages, als sie von den anderen Passagieren in der Gondelkabine nach allen Regeln der Kunst bewundert und geherzt wurde.

Beim Aussteigen wünschte man sich gegenseitig noch „Viel Spaß“, und dann ging es los. Emilias Wanderung konnte beginnen.

Es dauerte nicht lange, bis sich Marias Versprechen bewahrheitete und Cleo und Emilia allein waren auf dem Winterwanderweg. Gelbe Hinweisschilder wiesen sie in die richtige Richtung. Der ausgebaute Pfad verlief ohne große Steigungen oder Gefälle. Die Sonne vertrieb die Wolkendecke, und Emilia war froh, ihre Sonnenbrille dabeizuhaben.

Sie waren in einem glitzernden Winterwunderland gelandet. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter Emilias Boots. Interessiert las sie die an Bäumen angebrachten Infotafeln über die hiesige Tierwelt im Winter, erfuhr so, dass Murmeltiere die kalte Jahreszeit eng aneinandergekuschelt in der Familienhöhle verbrachten. Die Körpertemperatur der possierlichen Tierchen sank dann auf gerade einmal fünf Grad Celsius, und ihr Herz schlug nur noch zehnmal pro Minute.

Nach etwa zwanzig Minuten erreichten Emilia und Cleo den Stellisee. Wie ein Spiegel aus poliertem Onyx lag das Wasser glatt und dunkel in der Landschaft, geborgen in einem Bett aus Schnee. Als wäre der See ein Tor, durch das man in eine andere Welt blicken konnte, spiegelten sich die Umrisse der umliegenden Bergriesen auf der eisbedeckten Oberfläche. Der größte Angeber von allen war einmal wieder das Matterhorn.

Nahe des Ufers ragten vereinzelt Büschel von vertrocknetem Wollgras aus der Schneedecke. Emilia zückte ihr Handy, gefangen in dem Wunsch, den atemberaubenden Blick festzuhalten, und doch wissend, dass keine Fotografie der Welt dem Original gerecht werden könnte. Trotzdem, einen Versuch war es wert. Sie ging in die Hocke, suchte nach dem richtigen Winkel, spielte mit den Einstellungen, als Cleo der Warterei müde wurde und laut bellend davonraste.

Hektisch richtete Emilia sich auf. „Cleo!“ Von der kleinen Hündin war nichts mehr zu sehen. „Cleo, hier!“ Im Stillen zählte sie bis fünf. Verdammt, womöglich war es keine gute Idee gewesen, Cleo abzuleinen, aber normalerweise hörte sie doch gut! Was, wenn sie eine Wildspur aufgenommen hatte? Vor Emilias innerem Auge tauchte eine verdattert blickende Murmeltierfamilie auf, die von einer hysterischen Border-Terrier-Hündin aus dem Winterschlaf gerissen worden war.

„Mist!“ Emilia setzte Cleo nach. Die Spuren ließen keinen Zweifel daran, welchen Weg der Hund genommen hatte.

In einer Senke zwischen zwei Felsbrocken fand Emilia Cleo. Dort war der Schnee niedergetrampelt, und es hatte sich eine Art natürliches Iglu gebildet. Cleo wedelte aufgeregt mit der Rute. Die Laute, die die kleine Hündin von sich gab, drückten gleichzeitig Aufforderung zum Spiel und Sorge aus. Offensichtlich hatte Cleo etwas in der Kuhle aufgestöbert. Emilias Vision von den aus dem Winterschlaf geschreckten Murmeltieren wurde immer wahrscheinlicher.

„Cleo, hier! Was hast du da? Lass mich mal sehen.“ Die letzten Meter zu Cleo waren die beschwerlichsten. Pudriger Schnee reichte Emilia bis zur Mitte der Wade. Eiskalte Bröckchen bahnten sich einen Weg zwischen ihrem Schuh und der Hose hindurch. „Verdammt!“ Neben Cleo ging sie in die Hocke, schob die Hündin zur Seite und … „Oh mein Gott, was machst du denn hier?“

Hinter Cleo lag zusammengekauert ein Hund. Ein Gesicht mit braun-weißer Maske und süßen Schlappohren sah ihr entgegen.

„Komm mal her zu mir. Wo sind denn deine Besitzer?“ Auffordernd strecke sie eine Hand nach dem Hund aus. Das und vielleicht auch das motivierende Bellen von Cleo verlieh dem Findeltier den nötigen Mut, um auf Emilia zuzukommen. Er war etwa kniehoch. Wie sein Gesicht war sein ganzes Fell braun-weiß gemustert, und seine Rute hätte einen hübschen Behang gehabt, wären die seidigen Strähnen nicht steifgefroren gewesen. Der arme Kerl kauerte mit Sicherheit nicht erst seit wenigen Minuten in der Schneekuhle.

Aus ihrer Jackentasche kramte Emilia eine Handvoll Leckerlis. „Hast du Hunger?“ Sie bot dem Hund das Fressen an. Er machte sich darüber her, als wäre er kurz vor dem Verhungern.

„Wir müssen deine Besitzer finden. Hier kannst du nämlich auf keinen Fall bleiben. Sonst erfrierst du noch. Wollen wir doch mal sehen, ob wir dein Herrchen oder Frauen ausfindig machen können.“

Aber weder Ausschauhalten noch Rufen half. Sie und die beiden Hunde waren allein auf weiter Flur.

Frustriert gab sie nach einer Weile auf. „Dann werde ich dich wohl also erst einmal mitnehmen. Du musst nämlich dringend ins Warme, das ist das Wichtigste. Danach sehen wir weiter. Sicher hast du einen Chip, oder es gibt eine Vermisstenanzeige für dich. Wir werden das Kind schon schaukeln. Auf geht’s.“

Das Futter hatte das Eis gebrochen. Ohne zu zögern, folgte der Streuner ihr und Cleo. Zum Glück war sie noch nicht allzu weit auf dem Spaziergang gekommen. Jetzt, beim Rückweg, zogen sich die zwanzig Minuten Fußmarsch nämlich hin wie Melasse. Bis sie endlich die Bergstation erreichte, war sie vollkommen fertig mit den Nerven. Ihre Finger kribbelten, so sehr drängte es sie danach, den Hund zu untersuchen. Er brauchte Hilfe, und Emilia konnte sie bieten. Doch dafür benötigte sie ihre Sachen, und die befanden sich in ihrer Dachkammer im Haus Schalbetter.

Zweieinhalb Tage. Über fünfzig verdammte Stunden war Cäsar mittlerweile verschwunden, und Laurin steckte im Tessin fest und konnte nichts tun. Zwar war heute der letzte Tag des Snow Hord Festivals, doch dann ging es an den Abbau und die Nachbearbeitung der Veranstaltung. Erfahrungsgemäß waren das die Tage, an denen es so richtig zur Sache ging. Nach einer Woche unter Hochspannung lagen die Nerven aller Beteiligten blank. Da konnte schon etwas Banales wie ein platter Reifen an einem der Tourbusse zur Katastrophe führen, und Laurin wurde gebraucht, um die Wogen zu glätten.

Von einem der Stände auf dem Gelände hatte er sich eine Bratwurst geholt, doch er bekam sie kaum herunter. Dabei war er sich sicher, dass es sich um eine ganz hervorragende Bratwurst handelte: zu hundert Prozent Bio und hergestellt in der Region, wie alles, das sie auf dem Festivalgelände anboten. Doch mit jeder Stunde, die verstrich, schlug ihm Cäsars Verschwinden mehr auf den Magen.

Er fühlte sich so unsagbar nutzlos. Eine Sache, eine einzige Sache hatte es gegeben, die er noch für Simon hatte tun können, und ausgerechnet darin hatte er versagt. Nicht, dass er gewusst hätte, was er von Zermatt aus Sinnvolles hätte tun können, um das sich seine Eltern nicht schon gekümmert hatten. Sie hatten alle Tierheime in der weiteren Region angerufen, Zettel aufgehängt und die halbe Nachbarschaft für die Suche nach dem verschwundenen Vierbeiner rekrutiert.

Doch Cäsar blieb unauffindbar. Es war, als hätte es ihn nie gegeben. Als hätte der Hund auch seinen letzten Auftrag gemeinsam mit Simon beendet. So wie es richtig gewesen wäre. So, wie es …

Nein! Laurin nahm seine Gedanken an die Leine. An die hätte auch Cäsar gehört, dann wäre er seinen Eltern nicht entwischt.

Er warf die halbe Bratwurst in den Mülleimer. Das Leben ging weiter. Das tat es immer, ganz egal, wie schwer es jeden Tag war, einer Welt ohne Simon ins Auge zu blicken. Und gerade jetzt brauchte Laurin alle Konzentration, die er aufbringen konnte. Ein Blick auf sein Handy, dann musste er zurück ins Orgazelt.

Wie immer hatte er jede Menge Nachrichten erhalten. Er scrollte durch die E-Mails und Textmitteilungen. Ein Lieferwagen war im Schnee stecken geblieben. Ein Sänger hatte sich den Fuß verstaucht und konnte deshalb zum Abschlusskonzert nicht die Bühne rocken, seine Mutter hatte ihm auf die Mailbox gesprochen und …

Er stockte. Was war das? Eine Textnachricht von einer unbekannten Nummer. Normalerweise beantwortete er solche Anfragen nicht, aber das Profilbild, das für diese Nummer hinterlegt war, zeigte eine junge Frau, die lachend den Kopf in den Nacken warf und einen kleinen Hund an ihr Gesicht hielt, als würde sie ihm etwas ins Ohr flüstern. Beide – Hund und Frau – waren so süß, dass ihr Bild mit einer Diabeteswarnung kommen sollte. Die Hundenärrin hatte halblanges Haar, glatt und in einem von diesen Brauntönen, die sich bei näherer Betrachtung in ein Kaleidoskop verschiedenster Farbtöne verwandelte: angefangen von Blond, über Rot und Rehbraun bis zu einem dunklen Kastanienton. Dasselbe Farbspiel fand sich in dem kurzen Drahthaar des Hundes. Das Duo blickte frech in die Kamera, doch während die Hundeaugen dunkel waren – so wie eben die meisten Hundeaugen –, waren die der jungen Frau von einem so einmaligen Blau, wie Laurin es noch nie gesehen hatte. Das allein wäre Grund genug für sein Herz gewesen, den Takt zu erhöhen.

Aber da war noch mehr. Hoffnung, vielleicht. Oder eine Art Vorahnung. Jedenfalls ein Gefühl, das sich schlagartig in seinem Körper ausbreitete und dafür sorgte, dass sein Finger leicht zitterte, als er die Textnachricht aufrief.

Hi, mein Name ist Emilia Engel, und ich glaube, ich habe Ihren Hund gefunden. Auf jeden Fall stand Ihre Nummer in der Infokapsel an seinem Halsband. Eins vorweg: Ihm geht es gut. Bevor ich Ihnen weitere Details preisgebe, geben Sie mir bitte einige Hinweise, dass Sie wirklich der Besitzer sind.

Erleichterung rauschte mit einer solchen Wucht durch Laurins Körper, dass ihm einen Moment lang der Atem wegblieb. Emilia Engel hatte Cäsar gefunden. Das musste ihre WhatsApp doch bedeuten, oder nicht? Emilia Engel. Er stieß ein Lachen aus, halb ungläubig, halb erleichtert. War er je einem Menschen begegnet, bei dem der Name so sehr Programm war?

Ich bin der Besitzer. Dem Himmel sei Dank, dass Sie ihn gefunden haben. Wir suchen ihn seit über zwei Tagen. Sein Name ist Cäsar, das ist übrigens der erste Hinweis. Er steht auch auf dem Zettel in der Infokapsel, von dem Sie meine Nummer haben. Er ist ein vier Jahre alter Welsh-Border-Collie und links über der Nase hat er einen schwarzen Fleck, der aussieht wie ein Muttermal.

Die beiden Häkchen am unteren Rand der Nachricht waren kaum von Grau auf Blau gewechselt und signalisierten damit, dass sein Text gelesen worden war, als ein rotierender Kreis bereits eine Antwort ankündigte.

Die Übertragung dauerte eine Weile. Laurin fürchtete, das Netz könnte wegen Überlastung zusammengebrochen sein, da erschien die Antwort.

Diesmal war es kein Text, sondern ein Bild. Cäsar lag auf einer dicken Decke auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt in einer dieser typischen Hundeposen, die niemals im Leben bequem sein konnten, und reckte den nackten Bauch in die Luft. Die Schnauze hatte er zu einem Grinsen verzogen, neben ihm lag der Hund von Emilias Profilbild. Er hatte es sich neben Cäsar bequem gemacht und benutzte Cäsars Bauch als Kissen. Die Bildunterschrift lautete:

Cäsar geht es gut. Cleo und ich haben ihn am Stellisee gefunden. Er war ziemlich unterkühlt und hatte ordentlich Kohldampf, aber jetzt wärmt er sich neben dem Ofen in der Küche auf. In ein paar Tagen hat er sein Abenteuer sicher schon halb vergessen.

Er wollte fragen, wie diese Fremde sich da so sicher sein konnte. Die Worte nahmen bereits in seinem Kopf Gestalt an, aber seine Daumen tippten etwas anderes. Das musste an der Erleichterung liegen, die machte ihn ganz kopflos.

Deine Hündin heißt Cleo? Cäsar und Kleopatra, das muss Schicksal sein! Da liegt eine große Liebe in der Luft.

Er wartete eine ganze Weile, doch diesmal kam wirklich keine Antwort zurück. Mist! Aber was hatte er sich auch dabei gedacht, mit einer Fremden zu flirten? Und das auch noch über eine Textnachricht. Kein Wunder, dass sie ihn jetzt ignorierte. Bestimmt war sie seit Jahren glücklich verheiratet und fürchtete nun, einem Internet-Stalker auf den Leim gegangen zu sein, der gezielt Hunde aussetzte, um sich an hübsche Frauen heranzumachen.

„Hier bist du!“ Atemlos kam Reto neben ihm zum Stehen. „Ich habe dich schon überall gesucht. Es gibt einen Super-GAU im Pressezentrum. Angeblich hatte die Firewall Lücken und jetzt ist ein Artikel, der …“

„Ich komme gleich.“ Laurin nickte. „Gib mir zwei Minuten. Ich muss nur noch schnell eine Nachricht fertig schreiben. Der Hund ist gefunden worden.“

Die Laune zum Flirten war ihm endgültig vergangen. Ein nüchterner Ton fiel ihm nicht mehr schwer.

Liebe Frau Engel, momentan bin ich beruflich im Tessin. Deshalb kann ich Cäsar nicht sofort abholen kommen, und meinen Eltern geht es momentan gesundheitlich nicht so gut. Bitte kontaktieren Sie mich, damit wir eine Interimslösung finden. Mit freundlichen Grüßen! Laurin Taugwalder

Interimslösung. Emilia musste das Wort mehrmals lesen, um glauben zu können, dass Cäsars Herrchen sich tatsächlich so gestochen ausgedrückt hatte. Mit Daumen und Zeigefinger vergrößerte sie das Profilbild des Absenders. Sie kniff die Augen zusammen, um möglichst viele Details auszumachen. Nein, der Typ auf dem Bild passte nicht zu einer Interimslösung. Der passte eher zu dem frechen Spruch über Cäsar und Kleopatra. Emilia konnte kaum glauben, dass ihr selbst die Namenskombi nicht sofort aufgefallen war. Laurin hatte ja recht, es wirkte in der Tat wie Schicksal, dass ausgerechnet Cleo den armen Cäsar aufgestöbert hatte.

Zurück zu dem Bild. Was mochte dieses Foto über den Menschen hinter dem Namen Laurin Taugwalder aussagen? Es war eine Studioaufnahme, so viel stand fest. Allein der nüchterne Hintergrund sprach Bände. Eines dieser typischen Bewerbungsbilder war es jedoch mit Sicherheit nicht. Der Mann auf dem Foto war etwa bis zu Brust sichtbar. Er trug ein simples weißes T-Shirt und dazu eine Lederjacke. Sein Haar sah so verwuschelt aus, als wäre er gerade aus dem Bett gekommen, doch sie hätte geschworen, dass in Wahrheit jede Menge Styling dahintersteckte. Sie wollte wetten, auch der Fünftagebart war ein Statement, genauso wie das Lächeln, das nicht wirklich ein Lächeln war, sondern eher das Versprechen auf eines. Der Blick des Mannes auf dem Foto wirkte ernst und seelenvoll. Dunkle Augenbrauen – schwarz, dunkelbraun? Emilia konnte es nicht erkennen. Jedenfalls hatten sie dieselbe Farbe wie seine Haare und betonten die Augen des Mannes.

Grau waren diese Augen, so wahnsinnig grau. Wie Wasser, das über Kiesel floss. Ein wohliger Schauer rieselte Emilia über den Rücken, wenn sie sich vorstellte, wie es wäre, von diesen Augen angeschaut zu werden. Dieser Typ musste einfach ein Aufreißer sein. Er wusste, wie attraktiv er war, und vermutlich nutzte er seinen Vorteil ohne schlechtes Gewissen. Für Männer wie diesen glich es einem Spiel, Frauen zu erobern. Geschah ihm recht, dass sie nicht sofort hatte antworten können, weil Maria in die Küche gekommen und Emilia abgelenkt hatte. Nichtsdestotrotz verdiente Laurin eine Rückmeldung auf seine Anfrage.

Sie hob den Daumen, um eine Antwort zu tippen, überlegte es sich dann jedoch anders und betätigte den Call-Knopf. Die Verbindung baute sich auf, und es begann zu klingeln. Einmal, zweimal, dreimal. Emilia seufzte. Natürlich ging Laurin Taugwalder nicht ans Telefon. Immerhin hatte er geschrieben, dass er sich beruflich im Ausland aufhielt.

Das Klingeln hörte auf. Sie rechnete fest damit, dass sich nun eine Mailbox melden würde. Stattdessen waren Windgeräusche zu hören. Und ziemlich laute Musik im Hintergrund.

„Taugwalder.“

„Hallo? Herr Taugwalder? Wir hatten geschrieben. Emilia Engel hier.“

„Ja. Ich habe die Nummer gesehen. Moment.“ Es raschelte. Sie hörte seine Stimme, konnte jedoch keine Worte ausmachen. Wahrscheinlich sprach er mit jemand anderem. Dann wurde die Hintergrundkulisse ein wenig leiser, und er meldete sich erneut: „Jetzt. Tut mir leid. Hier ist die Hölle los. Ist etwas mit Cäsar?“

Trotz der schlechten Verbindung nahm Emilia die Sorge in seinem Tonfall wahr. Sie beeilte sich zu antworten. „Nein, alles in bester Ordnung. Er und Cleo haben eben den Garten ausgekundschaftet. Cäsar findet es eine Frechheit, dass die Spatzen jedes Mal aufs Neue wegfliegen, wenn er mit ihnen spielen will.“

„Gut. Ja, das ist … gut.“ Sein Stocken packte Emilia am Herz. Sie verstand nur zu gut, was es bedeutete, sich Sorgen um ein geliebtes Tier zu machen.

„Ich rufe eigentlich an, um Ihnen anzubieten, dass Cäsar bei mir bleiben kann, bis Sie zurück sind.“

„Das … würden Sie tun?“

„Natürlich.“ Sie lachte. „Ich liebe Hunde, und Cleo freut sich über die Gesellschaft. Heute und morgen werden wir es wohl noch langsam angehen lassen, damit Cäsar sich von seinem Abenteuer erholen kann. Aber Sie können sicher sein, dass ich mich gut um ihn kümmern werde. Ich bin Tierärztin.“

„Ich erstatte Ihnen selbstverständlich alle Ausgaben. Ich …“ Er holte Atem, schien nach Worten zu suchen. „Ich stecke hier wirklich in einer Zwickmühle. Momentan bin ich in der Arbeit unabkömmlich, aber meine Eltern, die eigentlich auf Cäsar aufpassen sollten, sind offenbar überfordert mit der Aufgabe.“

„Gar kein Problem, wirklich. Und wegen der Ausgaben machen Sie sich keine Sorgen. Soll ich Ihnen eine Kopie meines Personalausweises zukommen lassen, damit Sie einen schriftlichen Nachweis haben, wem Sie Ihren Hund anvertrauen?“

„Nicht nötig. Sie tun mir einen riesengroßen Gefallen.“ Wieder suchte er einen Augenblick nach Worten, und diesmal meinte Emilia, in der kurzen Pause ein Lächeln zu hören. „Sie sind wirklich ein Engel, Emilia.“

Als ob sie diesen Witz noch nie gehört hätte! Doch so, wie Laurin Taugwalder es sagte, klang es nicht nach einem Scherz, sondern warm und dankbar und hundert Prozent ehrlich. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Womöglich hatte sie ihm mit ihrer Einschätzung doch Unrecht getan, und Laurin Taugwalder war gar kein Aufreißer. Auf jeden Fall war er ein Mann mit Herz. Allein seine Sorge um Cäsar machte das deutlich. Sie räusperte sich. „Emilia reicht. Ich bestehe nicht auf meine Funktion.“

„In Ordnung. Aber dann musst du mich Laurin nennen.“ Sein Lachen war noch schöner als seine Stimme. Wenn heiße Ovomaltine einen Klang hätte, würde sie genau so klingen. Nicht zu süß, nicht zu herb, aber vollmundig und mit dem Potenzial, den ganzen Körper mit Wärme zu erfüllen.

Im Hintergrund rief jemand nach ihm. „Ich muss Schluss machen. Halten Sie mich auf dem Laufenden, ja?“

„Auf jeden Fall.“

Sie beendeten das Gespräch. Eine ganze Weile noch blickte Emilia auf das Display ihres Telefons. Fast so, als könnte sie damit Laurin ein bisschen länger in der Leitung halten.

Mit dem Daumen strich sie über sein Profilbild, versuchte, in den Wasserkieselaugen des Mannes zu lesen, der so ein wunderbares Lachen hatte und so ein großes Herz.

Verrückt. Nach Paul hatte sie sich geschworen, um Männer für einen langen, langen Zeitraum einen weiten Bogen zu machen. Sie begriffen einfach nicht, dass Emilia ihre Liebe niemals nur ihnen schenken konnte. Emilia Engel gab es nur im Doppelpack mit Cleo, und das Tier, dem es nicht gelang, sich in ihr Herz zu schleichen, hatte sie noch nicht getroffen. Außerdem war sie ja nur für ein paar Monate in Zermatt. Sie war hierhergekommen, um zu entscheiden, wie es beruflich in ihrem Leben weitergehen sollte. Am Ende der Wintersaison musste sie eine Entscheidung treffen.

Zurück in die Münchner Luxus-Tierklinik und zu den Besitzern, die in ihren Tieren mehr Statussymbole als Lebewesen sahen und die ihr regelmäßig das Herz brachen, oder auf zu ganz neuen Ufern? So eine weitreichende Entscheidung wollte gut überlegt sein. Eine Ablenkung konnte sie sich nicht leisten. Und trotzdem, bei allen guten Vorsätzen: Laurin Taugwalder wollte sie kennenlernen.

3. KAPITEL

„Na, sag schon, wie heißt sie?“ Reto rammte ihm spielerisch einen Ellenbogen in die Rippen.

Nur widerwillig hob Laurin den Blick vom Handy-Display. „Wie heißt wer?“

„Na, die Frau, die dich so zum Lächeln bringt. Und stopp!“, er hob die Hand, „erzähl mir jetzt nicht, dass es nicht um eine Frau geht. Ich kenn dich, Boss, und so ein Lächeln habe ich bei dir schon lange nicht mehr gesehen.“

Wortlos zog Laurin die Augenbrauen in die Stirn und hielt das Telefon so, dass Reto auf den Bildschirm blicken konnte.

Sie saßen in der Osteria Lanterna, wo sie gemeinsam mit Vertretern der wichtigsten Sponsoren des Snow Hord Festivals das Abschlussessen genossen. Es war der vorletzte Tag im November. Wenn Laurin das hier hinter sich gebracht hatte, begann der Advent. Die erste Vorweihnachtszeit ohne Simon …

Wie sollte er das bloß ertragen? Weihnachten galt als Fest der Familie, doch seine Familie gab es nicht mehr. Seit fünfzehneinhalb schrecklichen Wochen. Auseinandergerissen durch ein tragisches Unglück. Kurz schloss er die Augen und konzentrierte sich wieder auf das Essen. Ein Anfall von Sentimentalität war das Letzte, was er sich vor seinen Geschäftspartnern leisten könnte.

Der mit mehreren Michelin-Sternen ausgezeichnete Koch der Osteria hatte das Menü persönlich zusammengestellt. Momentan befanden sie sich zwischen den Tortellini mit Sultaninen-Maronen-Füllung auf Grappa-Butter und dem ersten Fleischgang, Tagliata vom Rind auf einem Wildkräuterbeet mit Rucola und Pinienkernen.

Natürlich gehörte es nicht zum guten Ton, bei einem Geschäftsessen mit dem Handy herumzuspielen, aber als Laurin das Vibrieren in seiner Hosentasche gefühlt hatte, hatte er nicht widerstehen können. Und warum auch? Seinen Mittafelnden ging es gut. Sie sonnten sich in ihren Erfolgen und übertrafen sich gegenseitig dabei, zu schildern, wie großartig sie waren. Eines hatte Laurin in den Jahren im Veranstaltungsbusiness gelernt: Verderbe niemandem seine Selbstbeweihräucherung.

Reto war Laurins kleine Ablenkung natürlich dennoch aufgefallen. Sein Assistent wirkte erstaunt, dass es tatsächlich nicht das Bild einer Frau war, das Laurin so zum Lächeln brachte, sondern ein kurzer Videoclip. Die Hauptdarsteller waren zwei Hunde. Seite an Seite standen sie vor zwei gefüllten Futternäpfen, gefressen wurde allerdings nur aus einem. Cleo steckte ihre kurze, Cäsar seine lange Schnauze in den Napf, und weil die Hündin nicht bis ganz an den Rand kam, pickte Cäsar immer wieder ausgesuchte Köstlichkeiten heraus und legte sie direkt vor Cleo. Diese dankte ihm, indem sie ihm die Schnauze leckte, und, nachdem sie offenbar satt war, den zweiten, immer noch halb gefüllten Futternapf, nachdrücklich zu Cäsar schob. Kommentiert hatte Emilia das Video mit dem GIF eines Comic-Mädchens, über dessen Kopf ein Herzchenkranz schwebte.

„Wow. Eins zu null für dich. Das ist ja wirklich keine Frau. Ist das Simons Hund?“

„Der größere, ja.“ Laurin nahm das Telefon wieder an sich. Ihm kribbelte es in den Fingern, Emilia zu antworten, doch irgendwie kam es ihm in dieser Umgebung falsch vor. Zu unpersönlich, zu wenig intim. Im Laufe der vergangenen drei Tage waren ihre Textwechsel immer vertrauter geworden. Sicher, die Videos und Fotos, die sie ihm schickte, drehten sich stets um Cäsar. Aber ab und zu war auch sie darin zu sehen. Nie ganz, nie so, als würde sie sich in den Mittelpunkt drängen oder flirten wollen. Mal entdeckte er eine Hand, mal die Hälfte eines Gesichts. Einmal hatte sie ihm ein Bild von ihren Beinen geschickt. Sie lagen unter einer dicken Daunendecke und waren mit zwei faulen Hunden beschwert. Emilias Bilder waren ehrlich und süß und auf eine Weise herzerweichend, die nichts mit den Hunden zu tun hatte.

„Hattest du nicht gesagt, er würde schlecht fressen und hätte bedenklich viel abgenommen, seit du ihn hast? Auf dem Video sieht das ganz anders aus.“ Reto feixte.

„Was weiß ich denn von Hunden? Wahrscheinlich hat Emilia irgendeinen magischen Trick, um das Futter in ihn reinzubekommen.“

„Ohhh, Emilia.“ Reto wackelte mit den Augenbrauen. „Es spielt also doch auch eine Frau eine Rolle in diesem niedlichen Video. Und zwar eine ganz beachtliche, wie es scheint, wenn wir schon beim Du angekommen sind.“

„Sie ist die Hundesitterin, Reto. Mehr nicht.“

„Klar.“ Retos Tonfall troff gerade so vor Ironie. „Und du brennst gar nicht darauf, sie auch in echt kennenzulernen.“

Zum Glück wurde in diesem Moment der nächste Gang serviert. Das entband Laurin von der Notwendigkeit zu antworten.

Freute er sich darauf, Emilia kennenzulernen? Natürlich tat er das. Er war ein Mann, und seit Monaten hatte keine Frau mehr auch nur das leiseste Interesse in ihm geweckt. Zu viele andere Dinge hatten seit dem Sommer Vorrang besessen. Seit diesem fürchterlichen Tag im August. Himmel, er durfte daran nicht denken. Viel besser war es, sich auf Cäsars Retterin zu konzentrieren. Immerhin war Emilia mehr als attraktiv. Und doch war da mehr, spürte er, als er tags darauf mit dem Zug von Täsch, wo er sein Auto abgestellt hatte, in das Dorf seiner Kindheit fuhr.

Seine Eltern bewohnten immer noch das Haus, in dem er und Simon aufgewachsen waren. Laurin hatte es nach der Schule in die Ferne gezogen. Er hatte in Zürich studiert und in Deutschland und Österreich mehrere Praktika absolviert, ehe er zurück in die Heimat gekommen war, bereit, seine Firma Swisswizz zu gründen.

Zermatt war dafür nicht infrage gekommen. Zu eng. Zu abgeschieden und abgeschirmt vom Rest der Welt. Heute lebte er in Visp, mit rund achttausend Einwohnern die Hauptstadt des Bezirks, dem auch Zermatt angehörte. Visp war nah genug bei seiner Familie, um immer da zu sein, wenn sie ihn brauchten, und doch weit genug entfernt, um sich nicht eingeschlossen zu fühlen.

Obwohl er selbst schon seit Jahren nur noch zu Besuch in das kleine Dorf am Fuße des Matterhorns kam, kannte er das Haus Schalbetter natürlich. So war das in Zermatt. Die alteingesessenen Familien waren alle miteinander bekannt. Laurin glaubte sich sogar zu erinnern, dass sein Großvater jahrelang mit Urs Schalbetter „Jass“ gespielt hatte, ein urschweizerisches Kartenspiel, das von vielen Heimatverbundenen als Nationalsport betrieben wurde. Beide Männer waren seit Jahren tot. Ob überhaupt noch jemand von der alten Jass-Runde lebte? Wahrscheinlich nicht.

Mit einem Anflug von Nostalgie fragte Laurin sich, wie es wohl aufgenommen würde, wenn er ein Jass-Turnier in das Angebots-Portfolio von Swisswizz aufnehmen würde. Seine Berater würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und Zeter und Mordio schreien, da war er sich sicher. Die Events und Erlebnisgeschenke von Swisswizz richteten sich an Überflieger in jedem Sinne des Wortes, an Kunden, denen es nicht hoch genug, aufregend oder gewagt genug sein konnte. Ein geselliges Zusammensein mit ein paar Gläschen Gebranntem und einem Blatt Karten gehörte da sicher nicht dazu.

Über seine Grübeleien hatte er sein Ziel erreicht.

Er hob die Hand, um zu klopfen. Jetzt galt es also. Gleich würde er herausfinden, ob die bezaubernde Emilia auch in Wahrheit ein Engel war.

Eine Kerze brannte auf dem großen Adventskranz auf Marias Esstisch. Wunderschön hatte Emilias Zimmerwirtin den Kranz dekoriert. Mit dicken, roten Stumpenkerzen, die einen herrlichen farblichen Kontrast zu dem dunklen Tannengrün boten. Mit rot-weiß kariertem Band, verschiedenen Nüssen, Zimtstangen, Sternanis und getrockneten Orangenscheiben. Ein Blick auf diesen Kranz, und augenblicklich breitete sich in Emilia Weihnachtsstimmung aus. Ein Klopfen drang von der Haustür bis in die Küche. Emilia sprang auf, als hätte sie ein Floh in den Hintern gebissen.

„Langsam, Mädchen, der läuft schon nicht weg. Du hast seinen Hund.“ Maria lachte. Seit Cäsar vorübergehend bei ihr eingezogen war oder, besser gesagt, seit Emilias Telefon, immer in Erwartung einer neuen Nachricht von Laurin mit ihrer Hand verwachsen zu sein schien, war sie mehrfach Ziel von Marias Spott geworden.

„Hach, muss Liebe schön sein“, hatte ihre Vermieterin gestern gemurmelt, als Emilia Laurins letzte Nachricht beantwortet hatte. Ein Bild von einem herrlich aussehenden Dessert. Zuerst hatte Emilia geglaubt, es handle sich um einen Schokoladenkuchen, aber Laurin hatte sie schnell aufgeklärt. In Wahrheit war es eine Torta di pane ticinese. Eine Tessiner Brottorte, die aus altbackenem Brot, kandierten Früchten, gemahlenen Mandeln, Pinienkernen und Kakaopulver hergestellt wurde. Für den besonderen Kick sorgte ein Schuss Grappa. Laurin hatte den Geschmack des Kuchens – süß, aber nicht zu süß, herb, mit dem nötigen Biss, um auch was zum Kauen zu haben, aber doch so herrlich mürbe, dass er auf der Zunge zergeht – so köstlich gut beschrieben, dass Emilia frustriert aufgestöhnt hatte.

Jetzt habe ich wieder Hunger. Und du bist schuld!, hatte sie ihm zurückgeschrieben, und er hat zurückgetextet: Wenn du hier wärst, würde ich dich füttern. Was Cäsar kann, kann ich schon lange.

Vor Maria würde sie das nie zugeben, aber am vergangenen Abend war Emilia mit klopfendem Herzen und einem Gefühl von blubbernder Aufregung im Brustkorb ins Bett gegangen. Mit einem Gefühl, das sich anfühlte wie Verknalltsein. Dabei war sie natürlich nicht verknallt. Wie auch? Alles, was sie bisher von Laurin Taugwalder kannte, waren sein Profilbild in einem Messager-Programm und Dutzende Textnachrichten. Aber du kennst seine Stimme, erinnerte sie ihr pochendes Herz. Und du weißt, dass er ein wahnsinnig fürsorgliches Herrchen ist, das zu großer Sorge um seinen Hund fähig ist.

Ach, sei doch ruhig, Herz! Wir haben keine Zeit für romantische Tagträumereien. Noch einmal atmete sie tief durch, dann öffnete sie die Tür.

Im nächsten Augenblick war sie froh, die Türklinke in der Hand zu haben. Der Anblick von Laurin Taugwalder hätte sie um ein Haar umgehauen. Da stand er also. Lieber Himmel, sah der Mann gut aus! Hatte sie wirklich geglaubt, sein Profilbild hätte wenig mit der Wirklichkeit zu tun? Nun, sie hatte recht gehabt. Der echte Laurin Taugwalder sah nicht aus wie sein Profilbild, sondern zigmal besser. Viel echter. Nahbarer und gleichzeitig unendlich sexy.

Die letzten Nachmittagssonnenstrahlen malten kupferfarbene Reflexe in seine Haare. Die dicken Strähnen waren auf eine Weise verwuschelt, die mit Sicherheit nicht geplant war – im Gegensatz zu seiner Frisur in der Studioaufnahme. In der Hand hielt er eine Beanie-Mütze, die er sich gerade erst abgenommen haben musste. Seine Ohren waren ein klitzekleines bisschen zu groß, um dem Schönheitsideal zu entsprechen, und in seinem Kinn entdeckte sie ein Grübchen. Er trug einen langen, kamelhaarfarbenen Mantel und hatte sich einen dicken Wollschal mehrmals um den Hals geschlungen. Die meisten Menschen machte diese Farbe blass. Bei Laurin unterstützte sie seinen gebräunten Hautton, der auch seine Kieselwasseraugen geradezu hypnotisch leuchten ließ. Bevor sie sich am Riemen reißen konnte, scannte ihr Blick ihn von oben bis unten. An den Füßen trug er Lederstiefel. Die waren sicherlich teuer gewesen, aber sie fragte sich, wie er mit solchen Schuhen mit Cäsar Gassi gehen wollte. Der Zermatter Winterdienst tat sein Bestes, trotzdem sahen Emilias Kleider und Schuhe nach jedem Spaziergang aus, als hätte sie ein Bad in einer Schlammgrube genommen. Salzränder an den Schuhen, Matschspritzer auf dem Mantelsaum – das volle Programm.

Nicht so bei Laurin. Er wirkte gleichzeitig lässig und elegant. Als könnten simple Unannehmlichkeiten, wie Streusalz auf der Straße, ihn nicht tangieren.

Ihr Magen machte einen Salto, und sie schluckte trocken, um sicherzugehen, dass ihre Stimme ihr gehorchte.

„Hi“, piepste sie. So viel also dazu … „Du musst Laurin sein. Ich bin Emilia.“

Er schüttelte ihre ausgestreckte Hand. Sein Lächeln sollte wirklich mit einem Waffenschein kommen. „Freut mich, dich kennenzulernen.“

„Komm doch rein. Cleo und Cäsar sind im Garten. Er wird ganz aus dem Häuschen sein, dich zu sehen.“

Laurin murmelte etwas, das wie „das steht zu bezweifeln“ klang. Aber da musste Emilia sich verhört haben. Dass der Welsh-Border-Collie eine exzellente Ausbildung genossen hatte, war in den wenigen Tagen, die sie und Cleo mit Cäsar verbracht hatten, offensichtlich geworden. Eine gute Ausbildung kam immer von einer guten Beziehung zwischen Mensch und Tier. Wenn sie eines in ihren Jahren als Assistenzärztin in der Münchner Tierklinik gelernt hatte, dann das. Laurin und Cäsar mussten also ein Herz und eine Seele sein.

Laurin voran durchquerte sie den engen Flur des Hauses Schalbetter. Als sie die Tür zum Garten aufstieß, riss ihr eine Windböe die Klinke aus der Hand. Laurin reagierte blitzschnell. Er griff um sie herum, fing die Tür ein, ehe sie zuknallen und Emilias Finger einquetschen konnte.

Plötzlich war er ihr ganz nah. Wie in einer Umarmung schmiegte sich sein Brustkorb an ihren Rücken. Selbst durch die vielen Kleidungsschichten konnte sie die Wärme seines Körpers spüren. Sein Duft stieg ihr in die Nase. Eine aufregende Mischung aus kühlen, maskulinen Aromen, Pampelmuse und vielleicht ein Hauch Pfefferminz. Der Duft stieg ihr zu Kopf. Instinktiv inhalierte sie tief. Die winzigen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, und ein wohliges Schaudern überkam sie.

„Der Wind heute ist ziemlich heftig.“ Zum Glück interpretierte Laurin ihr Schaudern falsch. Er schob sich an ihr vorbei, stemmte die Tür weiter auf. „Hier, so geht es besser.“

Reiß dich am Riemen, Engel! Leichter gesagt als getan. Ihre Knie fühlten sich an, als wären sie mit Wackelpudding gefüllt.

„Cleo, Cäsar!“ Im Garten angekommen, rief sie nach den Hunden. War das ihre Stimme? Dieses atemlose Piepsen? Himmel, sie führte sich auf, als stünde sie zum ersten Mal im Leben einem attraktiven Mann gegenüber. Das war ja peinlich. „Schaut mal, wer da ist.“

Die Hunde verließen ihren Schnüffelposten. Vor allem Cäsar hatte es eilig, gab ein freudiges „Wau!“ von sich und galoppierte schwanzwedelnd auf sein Herrchen zu. Dabei überschlug er sich beinahe vor Freude. Er machte Bocksprünge und gab Freudenlaute von sich. Der ganze Hund wedelte mit dem Schwanz. Direkt vor Laurin bremste er ab. Kurz sah es aus, als wollte er an seinem Herrchen hochspringen, doch dann überlegte er es sich anders und knickte mit den Hinterbeinen ein. Auf halbem Weg zu einem Sitz verließ ihn die Geduld. Der wedelnde Schwanz war im Weg, und Cäsar fiepte und jaulte aus vollem Herzen um Aufmerksamkeit.

Lächelnd beobachtete Emilia das Spektakel. Nur mit Mühe konnte sie sich von so viel zur Schau gestellter tierischer Liebe losreißen. „Hach, das ist so …“ Was sie sagen wollte, verkümmerte auf ihren Lippen, als sie sich zu Laurin umwandte. Nichts, rein gar nichts von der Freude seines Hundes spiegelte sich auf der Miene des Besitzers.

„Sitz, Cäsar.“ Herrisch hob Laurin eine Hand und gab das Handzeichen für das Kommando, das Cäsar auch ohne die Erinnerung so verzweifelt versuchte, auszuführen. Begleitet von einem leisen Jaulen zwang sich der Collie zum Gehorchen. Unter dem zotteligen Fell sah man das Beben seiner Muskeln, so sehr musste er sich anstrengen, seine Freude zu unterdrücken. Laurin senkte die Hand. Ein Lob für seine Disziplin erntete Cäsar nicht.

„Warum bist du denn so streng? Er freut sich doch nur.“

Laurin blickte an ihr vorbei zur Tür. „Noch einmal danke für deine Hilfe, Emilia. Ich denke, wir sind hier fertig. Wenn du es dir anders überlegst und doch eine Aufwandsentschädigung für dein Engagement die letzten Tage …“

„Nicht nötig“, unterbrach sie ihn. „Ich hole die Leine, die ich für Cäsar gekauft habe, dann könnt ihr gehen.“ Schützend verschränkte sie die Arme vor der Brust.

Das hatte sie also davon, Luftschlösser zu bauen. Der Realität hielten sie nie stand, und um zu erkennen, dass Laurin Taugwalder nicht der war, den sie in ihm hatte sehen wollen, genügten die letzten drei Minuten.

„Danke.“

Sie ließ den Kopf hängen und trottete zurück ins Haus. Wie war das möglich? Wie hatte sie sich derart in dem Menschen täuschen können, dessen Nachrichten und Bilder sie so tief berührt hatten? Das konnte doch nicht sein!

Doch ihr Verstand wusste es besser. Natürlich konnte es sein. Sie hatte es Tag für Tag in der Tierklinik erlebt. Vernachlässigte Tiere. Misshandelte Tiere. Tiere, die als Spielzeug missbraucht oder zu vermenschlichten, lebenden Kuschelobjekten gemacht wurden. Genau aus diesem Grund hatte sie ihre Arbeit nicht mehr ausüben können. Als sie Mietzi auf eigene Kosten den Tumor hinterm Auge entfernt und anschließend die dann einäugige Katze auf einen Bauernhof vermittelt hatte, wo sie den Rest ihres Lebens im Kuhstall Mäuse fangen konnte, hatte sie das aus einem inneren Drang heraus getan. Dass sie dafür auch noch Ärger bekommen hatte, konnte sie bis heute nicht fassen. Zuerst hatte sich ihr Chef aufgeregt, dem es nicht gefiel, wenn sie zahlenden Kunden die Meinung sagte, und dann Paul, der doch tatsächlich eifersüchtig auf eine einäugige Katze geworden war! Kein Wunder, dass sie nach dem Debakel mit Paul der Männerwelt abgeschworen hatte. Menschen enttäuschten sie viel öfter, als dass sie sie positiv überraschten. Leider machten da Männer – und waren sie in anderen Lebensbereichen noch so charmant und herzlich – keine Ausnahme.

Von einem der Garderobenhaken im Flur schnappte sie sich Cäsars Leine. Laurin und sein Hund hatten allein den Weg zur Haustür gefunden.

„Hier.“ Emilia hielt Laurin die Leine hin.

Er nahm sie ihr aus der Hand. „Danke. Noch mal. Und adieu.“

„Macheds guet!“ Die schwyzerdütsche Verabschiedungsformel, die sie seit ihrer Ankunft gelernt hatte, kam ihr gerade recht. Auf Wiedersehen wollte sie nämlich keinesfalls sagen. Das wäre eine Lüge. Wenn es nach ihr ging, wollte sie Laurin Taugwalder so schnell als möglich vergessen.

Laurin klickte die Leine in Cäsars Halsband und wandte sich um. Der Blick, der Cäsar Emilia gleichzeitig zuwarf, drohte ihr das Herz in Stücke zu brechen. Und als der Collie dann auch noch ein winziges Fiepsen von sich gab, war es endgültig aus. Alle Schutzmauern, die Emilia um den verletzlichen Kern in ihrem Inneren gebaut hatte, um diesen Abschied erträglich zu machen, fielen in sich zusammen.

„Laurin, warte!“ Neben dem Collie fiel sie auf die Knie, schlang dem Hund beide Arme um den Hals und vergrub die Nase in dem schneefeuchten Fell. „Mach’s gut, Großer.“ Sie wuschelte ihm durch die drahtigen Strähnen, kraulte ihn hinter den Ohren, genau dort, wo er es besonders mochte. „Ich werde dich vermissen. Pass gut auf dich auf, ja? Und reiß nicht wieder aus. Solche Alleingänge sind gefährlich.“

Laurin ruckte an der Leine. „Fuß!“

Im nächsten Augenblick waren ihre Arme leer. Emilia erhob sich.

Noch vor einer halben Stunde hatte sie geglaubt, es würde der aufregendste und schönste erste Advent seit Langem für sie werden.

4. KAPITEL

Laurin starrte auf sein Handydisplay, das gerade Emilias Foto von Cäsar und Cleo zeigte. Nun friss doch, dachte er verzweifelt. Verdammt noch mal, friss! Du kannst es doch. Hier habe ich den Beweis. Bei Emilia konntest du die Schnauze gar nicht voll genug bekommen und hast sogar noch die Reste von Cleo vertilgt. Was zum Teufel muss ich tun?

Er spürte Cäsars Blick auf sich. Resolut deutete Laurin auf den gefüllten Napf. Das Spezialfutter, das er nur beim Tierarzt bekam, kostete ein Vermögen, und Simons Sturkopf von einem Hund rührte selbst das nicht an. Seit Cäsars Ferien bei der süßen Emilia und ihrer kessen kleinen Hündin war es sogar noch schlimmer geworden.

„Nimm!“, verlangte er. „Friss!“

Cäsar gab ein Fiepen von sich, aber gehorchte. Mit Widerwillen, der ihm geradezu ins Gesicht geschrieben stand, nahm er einen Brocken aus dem Napf und würgte ihn herunter.

„Noch mal!“

Wieder gehorchte der Hund. Laurin entfuhr ein Stoßseufzer. Na also. Ging doch. Bis der Napf zur Hälfte geleert war, machten sie so weiter. Bei jedem Bissen, den Cäsar zu sich nahm, kam Laurin sich noch etwas mehr vor wie ein Tyrann.

Aber was sollte er denn tun? Der Hund musste schließlich fressen. Laurin konnte ihn nicht verhungern lassen, und im Gegensatz zu Emilia verfügte er nicht über magische Hundeflüsterfähigkeiten. Emilia. Was hatte sie mit Simons Hund angestellt, dass er dort gefressen hatte, als wäre es das Natürlichste der Welt? Was es natürlich auch war.

Oft genug, seit er Cäsar abgeholt hatte, war Laurin nahe dran gewesen, sie anzurufen und zu fragen. Dann erinnerte er sich an den Schock in ihrer Miene, als sie begriffen hatte, dass er und Simons Hund keineswegs ein Dreamteam waren. Jedes Mal hatte er den Gedanken wieder verworfen. Was wusste sie schon? Sie hatte ja keine Ahnung davon, wie er zu diesem Hund gekommen war, hatte keine Ahnung, was es bedeutete, Tag für Tag durch dessen Anblick an eine Ungerechtigkeit erinnert zu werden, die er niemals würde verstehen, geschweige denn akzeptieren können.

Simon fehlte ihm so sehr. Dass Simon ihn, ausgerechnet ihn, darum gebeten hatte, Cäsar bei sich aufzunehmen, sollte ihm je etwas zustoßen, war der blanke Hohn. Laurin hatte nie besonders viel für Hunde übriggehabt, und Cäsar … nun, das war noch einmal eine ganz andere Geschichte. Doch gleichgültig, welchen Groll er gegen den Border Collie hegte: Verhungern lassen wollte er ihn auch nicht. Also hatte er das Internet zu Rate gezogen. Jeden Tag ging er stundenlang mit Cäsar spazieren, um sicherzustellen, dass er hungrig genug war, um Fressen anzunehmen. Sobald Cäsar sich von dem gefüllten Napf abwandte, räumte Laurin ihn weg. Der Hund sollte begreifen, wer der Herr über das Futter war. Gebracht hatte das alles gar nichts.

Autor

Anna Keller
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Nikki West
Foto: © schmidfoto.de
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Lilli Wiemers
Früher zog es Lilli Wiemers stets in die weite Welt hinaus. Kein Reiseziel war zu weit, kein Flug zu anstrengend. Erst durch ihren Ehemann hat sie erkannt, wie viel Wahrheit in dem alten Sprichwort steckt: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Heute erforscht sie gemeinsam...
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