Romanze in Venedig

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ew York, Paris, Venedig: Sophie reist an der Seite ihres neuen Chefs Marc Washington um die halbe Welt. Doch warum kommt ihr der erfolgreiche und überaus attraktive Unternehmer nur so vertraut vor? Erst der Zauber einer Laguneninsel weckt in Sophie die Erinnerung...


  • Erscheinungstag 22.02.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787981
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Ebenso kühl und gelassen wie alle anderen Reisenden, die einen Überschallflug über den Atlantik gebucht hatten, saß Sophie Hill in dem nur Concordepassagieren vorbehaltenen Wartesaal der Air France am New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen.

Allerdings versuchte sie mit dieser äußerlich entspannten Haltung nur ihre Nervosität zu überspielen, denn in Wahrheit fühlte sie sich keineswegs so selbstsicher, wie sie sich gab.

Mit ihrem eleganten Kostüm und dem dezenten Schmuck hätte sie eine junge aufstrebende Karrierefrau auf dem Weg zu einem gut bezahlten Posten in einer europäischen Großbank sein können. Tatsächlich gehörte sie jedoch zum kleinen Kreis der im Schatten ihrer Chefs agierenden persönlichen Assistentinnen von Spitzenmanagern. Sie hatte ihre berufliche Laufbahn als einfache Sekretärin begonnen, einige Zeit in Frankreich und danach in London gearbeitet und war schließlich nach New York gegangen, wo sie in den vergangenen zwei Jahren die rechte Hand des Inhabers einer bekannten Versicherungsagentur gewesen war.

Und nun würde sie für einen Mann tätig sein, dessen Firmenimperium zwar die ganze Welt umspannte, von dem sie aber so gut wie nichts wusste, da er offenbar die guten Kontakte zu den Medien dazu nutzte, seinen Namen aus Presse und Fernsehen herauszuhalten.

Noch immer rätselte Sophie, weshalb ihr ursprünglich in der Business Class vorgesehener Direktflug nach Italien in letzter Minute auf die Concorde via Paris umgebucht worden war. Ihr neuer Arbeitgeber schien nicht nur Spitzengehälter zu zahlen, sondern auch sonst seinen Angestellten gegenüber äußerst großzügig zu sein.

Allerdings wäre ihr wohler gewesen, wenn sie ihren künftigen Chef bereits gesehen hätte und ihn nicht erst jetzt, da sie den Arbeitsvertrag bereits unterschrieben hatte, kennenlernen würde. Schon deshalb, weil die Stellenausschreibung einige irritierende Forderungen enthalten hatte.

Allein wegen des hohen Gehalts hätte Sophie sich nicht über alle diesbezüglichen Bedenken hinweggesetzt, doch die Aussicht, in Venedig zu arbeiten, war zu verlockend gewesen. Gab es einen schöneren und romantischeren Ort als diese Stadt?

Die Passagiere wurden nun gebeten, an Bord zu gehen. Kurz bevor Sophie sich als eine der Letzten zum Einsteigen anschickte, betrat ein Spätankömmling den Wartesaal.

Er war ungewöhnlich groß und strahlte trotz seiner vergleichsweise legeren Kleidung unverkennbar Autorität aus. Die meisten männlichen Passagiere trugen die internationale Einheitstracht leitender Angestellter: maßgeschneiderter Anzug. Seidenhemd und teures Schuhwerk, ergänzt durch die üblichen kostspieligen Accessoires.

Dieser Mann hingegen hatte eine helle Hose an, ein cremefarbenes Hemd mit offenem Kragen und ein sportliches braunes Jackett. Und im Gegensatz zu Sophie und den anderen Mitreisenden bestand sein Handgepäck einzig und allein aus einem Buch.

Er sah sich unter den wenigen noch Wartenden um und kam dann schnurstracks auf Sophie zu.

„Guten Morgen, Sophie. Ich bin Marc Washington.“

Obwohl sie in ihrem Beruf allerhand gewohnt war, kostete es sie einige Mühe, Haltung zu bewahren. So hatte sie sich die erste Begegnung mit ihrem neuen Arbeitgeber nun wirklich nicht vorgestellt.

„Guten Morgen, Mr Washington“, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, während Sie sich den Kopf zermarterte, wieso er sie auf Anhieb erkannt hatte. „Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu treffen.“

„Unerwartete Situationen zu meistern zählt zu den Eigenschaften, die ich bei meinen Mitarbeitern voraussetze“, erklärte er und reichte ihr die Hand. „Der Flug gibt uns Gelegenheit, einander etwas kennenzulernen. Sollen wir …?“ Er beendete den Satz nicht, sondern deutete auf den zum Flugzeug führenden Tunnel.

Sophie nickte und folgte ihm schweigend. Trotz ihrer Größe von einem Meter dreiundsiebzig überragte er sie um mehr als einen Kopf, was ihr bei Männern selten passierte.

Sie hatte nur einen kurzen Blick in sein Gesicht werfen können und wenig mehr als braune Augen unter dichten dunklen Brauen sowie sommerliche Bräune wahrgenommen. Natürlich war ein Mann wie er um diese Jahreszeit nicht auf Sonnenstudios angewiesen. Er hatte genug Geld, seine Haut bei einem Skiwochenende in den Bergen oder einem Segeltörn in der Karibik nachzubräunen.

Bis jetzt hatte Sophie sich Marc Washington als einen arbeitswütigen Mittfünfziger vorgestellt, besessen von der Macht des Geldes und der Vergrößerung seines Firmenimperiums. Doch ihr neuer Chef war höchstens Mitte dreißig und schien seinen Körper auf angenehmere Weise in Form zu halten als ihr letzter Arbeitgeber, der auf ärztliche Anordnung mehrmals wöchentlich im Fitnessstudio gegen sein Übergewicht ankämpfte.

Aus Gesprächen mit Berufskolleginnen, deren Chefs regelmäßig mit der Concorde flogen, wusste Sophie, dass die vorderen vier Plätze stets für bekannte Persönlichkeiten reserviert waren. Heute belegten sie und Marc Washington zwei dieser Plätze, und wenngleich sein Name nie in der Presse auftauchte, schien ihn das Flugpersonal gut zu kennen.

Noch nie war Sophie von einer Stewardess derart aufmerksam umsorgt worden, und ihr war klar, dass sie diese bevorzugte Behandlung ihrem Begleiter verdankte. Sie wollte ihm den Fensterplatz überlassen, doch er schüttelte den Kopf und ließ ihr den Vortritt.

Nachdem sie sich gesetzt und angeschnallt hatte, fiel ihr beim Anblick ihrer seidenbestrumpften Knie wieder ein, welche Grundvoraussetzung Marc Washington für eine Bewerbung gestellt hatte: schöne Beine.

Zuerst hatte sie sich wegen dieser eindeutig sexistischen Forderung nicht bewerben wollen, es dann aber doch nicht über sich gebracht, nur deshalb auf eine so einmalige Chance zu verzichten.

Nun, da sich herausstellte, dass ihr neuer Chef wesentlich jünger als von ihr angenommen und ausgesprochen männlich war, regten sich in ihr erneut leise Zweifel an der Seriosität des Stellenangebots. Erwartete Marc Washington von seiner Assistentin etwa, dass sie nicht nur tagsüber für ihn arbeitete, sondern ihm auch nachts zu Diensten war?

Normalerweise hatte Sophie keine Angst vor sexueller Belästigung im Büro, aber vielleicht hatte sie bis jetzt nur Glück gehabt. Sie hatte immer für Männer gearbeitet, die sich Frauen gegenüber nie Zudringlichkeiten erlaubt hätten.

Der breitschultrige Mann neben ihr war in dieser Hinsicht viel schwerer einzuschätzen. Glaubte er, wegen des ungewöhnlich hohen Gehalts, das er zahlte, von ihr mehr als gute Arbeit im Büro verlangen zu können? Falls ihm so etwas vorschwebte, würde er bei ihr Pech haben.

Fairerweise musste sie ihm zugutehalten, dass es bis jetzt an seinem Verhalten nichts zu beanstanden gab. Ihm war es momentan wichtiger, seine eigenen langen Beine möglichst bequem unterzubringen.

Sophie versuchte unauffällig ihren Rock nach unten zu ziehen, doch der Saum befand sich immer noch einige Zentimeter über dem Knie.

Sie hatte für die Reise ein Kostüm mit schwarzem Rock, schwarz-weiß karierter Jacke und weißer Bluse gewählt, denn obwohl sie erst fünfundzwanzig war, bevorzugte sie bei ihrer Garderobe den eher konservativen Stil von etwas älteren Frauen, die bereits einige Sprossen auf der Karriereleiter erklommen hatten. Nur Schals und Unterwäsche genehmigte sie sich in den lebhaften Farben, die sie liebte und die zu ihren blaugrünen Augen passten.

Eine Stewardess bot Champagner an, doch Sophie lehnte dankend ab und bat um ein Glas Wasser.

„Mögen Sie keinen Champagner, oder haben Sie generell etwas gegen Alkohol?“, fragte Marc Washington und hob sein Glas mit der perlenden Flüssigkeit.

„Keineswegs. Wenn ich in New York in meiner Lieblingstrattoria gleich bei mir um die Ecke gegessen habe, habe ich mir auch den Hauswein schmecken lassen“, antwortete sie. Spontan fügte sie hinzu: „Aber heute wäre jedes Glas Champagner zu viel für mich. Ich schwebe schon jetzt in höheren Sphären, weil ich zum ersten Mal mit der Concorde fliege und auf dem Weg nach Venedig bin.“

Marc Washington verzog keine Miene, doch seine Augen funkelten belustigt.

„Das beruhigt mich“, sagte er, während das Flugzeug vom Boden abhob. „Ich bin ein Mensch, der das Leben liebt und genießt, und habe gern Leute um mich, die ebenso denken. Vorhin, bei der Begrüßung, wirkten Sie derart beherrscht, dass ich befürchtete, Audrey LaRue hätte sich getäuscht, als sie meinte, Sie seien die Richtige für den Posten in Venedig.“

„Es freut mich, dass Mrs LaRue so denkt. Ich wollte die Stelle unbedingt haben und bin schon gespannt auf meine künftige Arbeit. Bis jetzt weiß ich nur, dass ich viel mit den venezianischen Behörden zu tun haben werde, mehr nicht.“

„Damit Sie mehr darüber erfahren, reisen wir ja auch zusammen. In Ihrer Bewerbung haben Sie angegeben, Venedig bereits zu kennen. Wie lange waren Sie dort?“

Es wäre für Sophie zu schmerzlich gewesen, diese Frage umfassend zu beantworten.

„Länger als die meisten Touristen, die sich, wie ich gelesen habe, im Durchschnitt nur sechzehn Stunden dort aufhalten“, erwiderte sie ausweichend. „Ich kenne die Stadt ein wenig besser, wenngleich nicht so gut, wie ich es mir wünschte.“

Glücklicherweise schien ihn diese Antwort zufriedenzustellen. „Durch Ihre Arbeit werden Sie Venedig bald in- und auswendig kennen. Ich hoffe nur, die Schwierigkeiten, mit denen Sie zu kämpfen haben werden, verderben Ihnen nicht die Freude an der Stadt.“

„Ganz sicher nicht. Um welche Schwierigkeiten handelt es sich?“

„Das erkläre ich Ihnen, wenn wir unsere Bestellung aufgegeben haben“, sagte Marc, da soeben die Speisekarten verteilt wurden.

Schon als kleines Kind hatte Sophie gelernt, dass Gesichter ihre eigene Sprache hatten und viel über den Charakter eines Menschen aussagten.

„Gesichter sind wie Landkarten, Sophie. Landkarten des Lebens.“ Die Stimme, die ihr diesen Rat gegeben hatte, klang ihr noch so vertraut in den Ohren, als hätte sie diese erst gestern zuletzt gehört.

Sophie hatte gelernt, Menschen nach ihren Gesichtern zu beurteilen, doch aus Marc Washington wurde sie nicht schlau. Sie spürte zwar seine ungewöhnlich starke Ausstrahlung, aber es gelang ihr nicht, sich ein Bild von ihm zu machen. Der Mann war ihr in jeder Hinsicht ein Rätsel.

Das würde sich bestimmt bald ändern. In Abwandlung des französischen Sprichworts „Niemand kennt einen Mann besser als sein Diener“, war sie der Meinung, dass niemand einen Mann besser kannte als seine persönliche Assistentin, Sekretärin oder wie immer man seine rechte Hand nennen mochte.

Ihr letzter Arbeitgeber war ein netter und glücklich verheirateter Mann ohne Affären gewesen. Von ihrem jetzigen wusste sie nicht einmal, ob er verheiratet oder ungebunden war und vielleicht seine Freundinnen wie die Hemden wechselte.

Eine Stewardess erkundigte sich nach ihren Wünschen für das Mittagessen. Sophie bestellte Spargelcremesuppe, Wachteleier mit Salat und als Dessert pochierte Birnen in Rotweingelee.

Marc Washington entschied sich für etwas Handfesteres und wählte Austern, geschmortes Kaninchen in Senfsoße mit Gemüse und Mousse au chocolat zum Nachtisch.

„Haben Sie mit Ihren Freunden gebührend Abschied gefeiert in dieser Trattoria auf der West Side?“

Als sie vorhin das Lokal genannt hatte, hatte sie nur angedeutet, dass es nicht weit von ihrer Wohnung entfernt liege. Er musste sich also ihre in der Bewerbung angegebene Adresse gemerkt haben. Für einen Mann mit einem solchen Gedächtnis zu arbeiten hieß, auf jede noch so kleine Einzelheit zu achten.

„Oh ja, es war ein großartiges Abschiedsfest“, antwortete sie lächelnd. „Ich habe in Amerika einige sehr gute Freunde gewonnen und bereue nicht, den Atlantik überquert zu haben. Aber nun bin ich froh, wieder nach Europa zurückzukehren.“

Sie setzten die Unterhaltung nicht fort, da das Essen serviert wurde. Für Marc Washington ist das elegante Ambiente und das exquisite Essen hier sicher eine Selbstverständlichkeit, dachte Sophie, während sie den Löffel in die Suppe tauchte. Sie erinnerte sich mit Schaudern an den Billigflug nach Mexiko vergangene Weihnachten, bei dem das Essen nahezu ungenießbar gewesen war. Trotzdem hatten sie und ihre Freundin Merle sich köstlich amüsiert und wahrscheinlich mehr Spaß gehabt als die meisten Passagiere auf diesem Flug nach Paris.

Ihr Begleiter aß schweigend seine Austern, und so blieb auch sie stumm und beobachtete aus den Augenwinkeln die ruhigen Bewegungen seiner schlanken Finger. Er hatte gepflegte, aber keine auf Hochglanz polierten Nägel, und die Uhr an seinem Handgelenk war kein teures Statussymbol. Irgendwie unterschied er sich von seinen gut gekleideten und sorgfältig zurechtgemachten Mitpassagieren, hatte eine Lässigkeit, die den anderen fehlte.

Erneut tönte Sophie die wohlbekannte Stimme aus ihrer Vergangenheit in den Ohren. „Sei kein Herdentier. Geh deinen eigenen Weg.“

Entgegen diesem Ratschlag hatte sie sich angepasst, anpassen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ohne spezielle Begabung war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich dem Heer der Millionen Angestellten anzuschließen, die jeden Morgen in ihre Büros strömten.

Der nächste Gang wurde serviert. Als Sophie einen ersten Bissen von den auf Brokkolipüree angerichteten und mit cremiger Sauce hollandaise übergossenen Wachteleiern probierte, brach ihr Begleiter plötzlich sein Schweigen.

„Das erinnert mich an die besten Spiegeleier, die ich jemals gegessen habe. Gebraten in Olivenöl, mit einer Scheibe luftgeräuchertem Schinken und selbst gebackenem Brot. Dazu habe ich ein Glas Brandy getrunken, denn es ist ein sehr kalter Morgen gewesen.“

„Irgendwo in Italien?“

„Nein, in einem kleinen Gebirgsdorf in Südspanien. Ich wollte mir die alpinen Weltmeisterschaften in der Sierra Nevada ansehen, doch sie wurden wegen Schneemangels abgesagt, und so reiste ich einige Tage durch die Berge von Alpujarra.“

Aus der Art, wie er bei den spanischen Namen das R rollte, schloss Sophie, dass er die Sprache beherrschte. Das erstaunte sie, denn nach ihren Erfahrungen sprachen Amerikaner selten eine Fremdsprache, es sei denn, ihre Eltern oder Großeltern waren eingewandert.

„Sind Sie mehrsprachig, Mr Washington?“, erkundigte sie sich.

„Leider nein. Zwar kenne ich in verschiedenen Sprachen jeweils ein paar Wörter, aber nur Italienisch spreche ich fließend, was mir natürlich auch im Spanischen hilft. Weshalb haben Sie ausgerechnet Italienisch als erste Fremdsprache gewählt?“

„Als ich klein war, sprach jemand in meiner Familie italienisch. Es hat mir gefallen, und noch heute halte ich Italienisch für die musikalischste europäische Sprache.“ Um weiteren Fragen vorzubeugen, lenkte sie das Gespräch auf ein anderes Thema. „Sie wollten mir von den Schwierigkeiten erzählen, mit denen ich in meinem neuen Job zu tun haben werde.“

„Zuerst einmal zum Projekt selbst. Haben Sie bei Ihrem Aufenthalt in Venedig auch andere Inseln in der Lagune besucht, wie beispielsweise Torcello, Burano und Murano?“

Sie nickte, und er fuhr fort zu sprechen: „Das sind die drei bekanntesten, aber insgesamt gibt es mehr als dreißig. Um Venedig vor dem Verfall zu retten, sind riesige Summen nötig. Keine andere Stadt der Welt hat so viele historische Gebäude, und keine andere Stadt wurde direkt ins Meer gebaut. Um mehr Geld aufzutreiben, haben die Leute von der Stadtverwaltung auf einer Auktion langfristige Pachtverträge für dreizehn unbewohnte Inseln in der Lagune versteigert. Für eine Insel erhielt ich den Zuschlag. Sie heißt Capolavoro.“

„Was haben Sie damit vor?“

„Sie soll eine Zufluchtsstätte werden.“

„Für wild lebende Tiere?“

„Nein, für mich. Momentan wohne und arbeite ich im obersten Stockwerk eines Palazzos, den die Vorfahren meiner Mutter gebaut haben und den ich mir mit einigen älteren Verwandten teile. Ich brauche unbedingt einen Ort, wo ich in Ruhe arbeiten und für mich sein kann.“

„Mir war nicht bekannt, dass Sie mütterlicherseits von Venezianern abstammen.“

Nun, da sie es wusste, wunderte sich Sophie, wieso sie nicht selbst darauf gekommen war, dass zu seinen Vorfahren auch jene außergewöhnlichen Männer zählten, die in Venedig ihr Glück gemacht und die prachtvollen Palazzi entlang des Canale Grande gebaut hatten.

Es waren gewiefte Kaufleute gewesen, solche, die in der Verfolgung ihrer Ziele nicht eben zimperlich gewesen waren, darunter auch regelrechte Gauner. Sie hatten das Leben ebenso geliebt und in vollen Zügen genossen wie offenbar Marc Washington, der gemäß eigener Aussage eine solche Lebenseinstellung auch von seinen Mitarbeitern erwartete.

Sophie begann zu befürchten, sich eventuell übernommen zu haben. Ihr neuer Arbeitgeber war so völlig anders als ihre früheren Chefs, und sie hatte auf einmal Angst, seinen Anforderungen nicht zu genügen.

All das ging ihr sekundenlang durch den Kopf, ehe sie fragte: „Fühlen Sie sich mehr als Venezianer oder als Amerikaner?“

Sie bereute die Frage sofort wieder. Vielleicht war sie ihm zu persönlich.

„Ich bin immer dort zu Hause, wo ich mich gerade aufhalte“, antwortete er. „Es gibt wenige Orte auf der Welt, wo ich noch nicht war oder mich fremd fühle.“

Anders als die meisten Menschen, schweifte er nicht mit dem Blick ab, während er mit ihr sprach, sondern sah ihr forschend ins Gesicht.

„Und wo fühlen Sie sich zu Hause?“, wollte er wissen. „In dem kleinen Dorf in Devon, wo Sie geboren wurden?“

Er hatte wirklich ein phänomenales Gedächtnis, wenn er sich sogar an den Namen der Grafschaft erinnerte, in der ihr Geburtsort lag.

„Nein, dort am allerwenigsten“, sagte sie. „Ich habe nur die ersten sechs Monate meines Lebens dort verbracht und kam dann woandershin. Bis jetzt habe ich noch keinen Ort gefunden, wo ich mich wirklich zu Hause gefühlt habe.“

Schweigend aßen sie zu Ende, und erst beim Kaffee begann Marc Washington erneut zu sprechen. „Sobald ich Sie in Ihre Arbeit eingewiesen habe, werde ich wieder auf Reisen gehen. Natürlich können Sie mich jederzeit telefonisch erreichen, aber im Großen und Ganzen handelt es sich um eine selbstständige Tätigkeit. Ihre Aufgabe ist es, zwischen allen am Aufbau von Capolavoro Beteiligten, ob Architekten, Handwerker oder Ingenieure, die Verbindung zu halten und zwischen ihnen zu vermitteln, wenn es zum Streit kommt, was mit Sicherheit passieren wird.“

„Darf ich fragen, weshalb Sie für diesen Posten keine Einheimische engagiert haben?“

„Das wollte ich zuerst auch, doch keine der Bewerberinnen war genügend qualifiziert. In Italien zieht es alle gut ausgebildeten Kräfte nach Mailand oder Rom. Abgesehen davon hat es auch gewisse Vorteile, eine Ausländerin einzustellen, denn obgleich Italien zu den zivilisierten Ländern dieser Erde gehört, wird dort nicht so effizient gearbeitet wie in Amerika.“ Er lächelte. „Ich hatte natürlich erwartet, in New York würden sich nur Amerikanerinnen bewerben.“

„Und weshalb wurde dann unter den letzten drei Bewerberinnen schließlich ich ausgewählt?“, konnte Sophie sich nicht verkneifen zu fragen.

„Bezüglich der Qualifikation waren Sie alle drei gleich gut geeignet. In einem solchen Fall entscheidet das Auge des Betrachters, und Sie haben mir am besten gefallen.“

Einen Moment lang fühlte sie sich geschmeichelt, dann jedoch eher verunsichert. „Aber keine von uns hat ein Foto abgegeben. Wo haben Sie uns gesehen?“

„Im Wartezimmer. Der venezianische Spiegel, den Sie bei Ihrem Eintritt bewundert haben, ist auf einer Seite ein Fenster.“

„Ein Fenster!“, rief Sophie entrüstet.

„Ja“, erwiderte ihr neuer Chef gelassen. „Dass Sie als Einzige den wertvollen Rahmen des Spiegels zu würdigen wussten, war ein weiterer Pluspunkt für Sie. Ich mag Menschen, die sich für ihre Umgebung interessieren und einen Blick für schöne Dinge haben.“

Sophie hielt mit ihrer Meinung nicht zurück. „Es ist eine Schande, einen so wundervollen Spiegel auf diese Weise zu verschandeln!“

Normalerweise konnte man sie nur schwer aus der Fassung bringen, und es war Jahre her, dass sie so wütend gewesen war wie jetzt. „Menschen ohne ihr Wissen zu beobachten ist einfach …“ Ein drastisches Schimpfwort lag ihr auf der Zunge, doch sie konnte sich gerade noch mäßigen. „Unmoralisch.“

„Aber praktisch“, entgegnete Marc Washington ungerührt. „Es verrät mehr über einen Menschen, als ihm persönlich gegenüberzusitzen. Da Sie sich alle drei unbeobachtet wähnten, verhielten Sie sich viel natürlicher als bei einem Vorstellungsgespräch.“

„Haben Sie auch unsere Unterhaltung mitgehört?“

„Nein, das Zimmer ist nicht verwanzt.“

Seine kühle Gelassenheit stachelte ihren Zorn noch weiter an. „Das überrascht mich“, sagte sie sarkastisch. „Wenn Sie Leute schon ausspionieren, wieso dann nicht gleich richtig?“

„Jetzt übertreiben Sie. Leute zu beobachten und sie, unter bestimmten Umständen, abzuhören, ist nicht dasselbe wie jemanden auszuspionieren. Viele Unternehmen testen mit dieser Methode ihre Waren bei Kunden. Die Verbraucher bleiben unter sich und diskutieren in kleinen Gruppen über Vor- und Nachteile des Produkts. Sie wissen, dass alles auf Video aufgezeichnet wird, sprechen aber trotzdem offener als im Beisein eines Firmenangehörigen.“

„Der Unterschied ist nur, dass sie im Gegensatz zu uns Bescheid wissen. Wir dachten, Sie wären sonst wo. Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass wir ebenfalls ein Recht hatten, Sie zu sehen?“

Sophie war sich bewusst, dass ihm ihr Ton nicht gefallen würde, aber ihr ging es um das Prinzip.

„Heißt das, Sie hätten Ihre Bewerbung zurückgezogen, wenn Sie mich kennengelernt hätten?“

Die in seiner Frage mitschwingende Arroganz brachte Sophie noch mehr in Rage. „Ich hatte schon vorher gewisse Bedenken, und wahrscheinlich hätte ich abgesagt, wenn ich von dem falschen Spiegel gewusst hätte. Mrs LaRue hat dieses Versteckspiel gewiss auch nicht gefallen. Sie schien sich ziemlich unbehaglich zu fühlen, als sie uns mitteilte, dass Sie das Gespräch mit uns wegen eines anderen Termins absagen müssten.“

„Audrey mag nicht jede meiner Methoden lieben, aber sie weiß, wer ihre Brötchen bezahlt. Falls Sie meine Autorität nicht akzeptieren können, sondern jedes Mal einen Schmollmund ziehen, wenn Ihnen etwas an mir nicht passt, dann sollten wir uns am besten sofort wieder trennen. Sie können von Paris aus auf meine Kosten nach New York zurückfliegen, und ich lasse eine Ihrer beiden Mitbewerberinnen kommen.“

Marc Washington schwieg, da eine Stewardess die Kaffeetassen abräumte. Sobald sie außer Hörweite war, fuhr er fort: „Wer mit der Art, wie ich mein Unternehmen führe, nicht einverstanden ist, sollte nicht für mich arbeiten. Ich gebe Ihnen bis zum Ende des Flugs Bedenkzeit. Dann können Sie mir mitteilen, wofür Sie sich entschieden haben.“

2. KAPITEL

Eine Weile brütete Sophie schweigend vor sich hin. Allmählich verrauchte ihr Zorn, und sie machte sich Vorwürfe wegen ihrer unüberlegten Worte. Sie hätte besser den Mund halten und sich ihren Teil denken sollen, statt Marc Washington offen zu kritisieren, als er ihr von dem falschen Spiegel erzählte. Zumindest wusste sie jetzt, wieso er sie vorhin sofort erkannt hatte. Bestimmt würden ihre sämtlichen Freunde sie für verrückt halten, wenn sie wegen eines falschen Spiegels auf den Traumjob in Venedig verzichtete und nach New York zurückkehrte.

Nach einiger Zeit machte ihr Sitznachbar plötzlich sein Buch zu, klappte die Rückenlehne nach hinten und schloss die Augen. Sophie vermochte nicht zu beurteilen, ob er sich nur entspannte oder zu jenen Menschen gehörte, die überall und in jeder Lage schlafen und ihre Energien auftanken konnten.

Wie auch immer, jedenfalls wirkte sein gut geschnittenes Gesicht jetzt weicher, und sie bemerkte, dass er ungewöhnlich lange dunkle Wimpern hatte. Erstmals konnte sie ihn in Ruhe betrachten und hatte plötzlich das sonderbare Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein.

Aber wo? Sie ging in Gedanken die Städte durch, in denen sich ihre Wege gekreuzt haben könnten. Vielleicht waren sie beide nur irgendwo aneinander vorbeigegangen, und sie hatte die Erinnerung an sein markantes Gesicht unbewusst im Gedächtnis gespeichert? Doch sosehr sie sich auch den Kopf zermarterte, ihr fiel nichts weiter dazu ein.

Dagegen erinnerte sie sich noch sehr genau an den Abend, an dem alles angefangen hatte. Nicht, dass sie sofort erkannt hätte, welch entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben dieser Tag einleiten würde. Aber wurde einem so etwas nicht sowieso immer erst hinterher klar?

„Was gibt’s Neues im Büro?“, hatte ihre Wohnungsgenossin Merle beim gemeinsamen Abendessen gefragt.

Sophie hatte die Schultern gezuckt. „Nur das Übliche.“

Sie trug ihren weißen Frotteemantel, in dem sie laut Merle nicht wie fünfundzwanzig, sondern mindestens zehn Jahre jünger aussah. Und wenn sich, wie jetzt, das tagsüber straff nach hinten gekämmte und zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene blonde Haar in feuchten kleinen Locken um ihr Gesicht ringelte, war noch eine schwache Ähnlichkeit mit dem auf alten Schulfotos abgebildeten fröhlichen Kindergesicht zu erkennen.

Sowohl Merle als auch Sophie hatten einen Job, bei dem Überstunden zum Alltag gehörten. Heute war Sophie als Erste nach Hause gekommen, hatte schnell geduscht und anschließend etwas zu essen gemacht.

„Und wie war es bei dir?“, fragte sie ihre Freundin.

Merle aß schweigend und wies mit der Gabel auf ihren vollen Mund. Sie arbeitete als persönliche Assistentin in einem renommierten Personalvermittlungsbüro, das im Auftrag großer Firmen Spitzenkräfte der Wirtschaft abwarb. Manchmal, wenn spezielle Kenntnisse verlangt wurden, suchten sie im Auftrag ihrer Kunden auch nach nicht so qualifiziertem Personal wie Sachbearbeitern oder Sekretärinnen.

„Heute kam ein Angebot, bei dem sogar ich schwach geworden wäre“, sagte Merle, als sie wieder sprechen konnte. „Aber für diesen Wahnsinnsjob muss man leider fließend Italienisch sprechen können, und ich kann nur Französisch.“

„Warum ausgerechnet Italienisch?“

„Weil es sich um einen Job in Venedig handelt. Venedig in Italien, wohlgemerkt.“

Als sie nach New York gekommen war, hatte Sophie sich anfänglich gewundert, wieso Amerikaner immer von „Paris in Frankreich“ oder „Neapel in Italien“ sprachen. Mittlerweile wusste sie, dass fast jede größere europäische Stadt eine oder sogar mehrere Namensschwestern in den Vereinigten Staaten hatte.

Jede Erwähnung des für sie einzigen und wahren Venedigs weckte Sophies Interesse. Allerdings wussten nicht einmal ihre engsten Freunde, wie viel diese italienische Stadt ihr bedeutete und weshalb selbst noch das kitschigste Reisebüroposter mit Gondeln oder einem Markusplatz voller Tauben wehmütige Erinnerungen in ihr wachrief.

Autor

Anne Weale
Jay Blakeney alias Anne Weale wurde am 20. Juni 1929 geboren. Ihr Urgroßvater war als Verfasser theologischer Schriften bekannt. Vielleicht hat sie das Autorengen von ihm geerbt? Lange bevor sie lesen konnte, erzählte sie sich selbst Geschichten. Als sie noch zur Schule ging, verkaufte sie ihre ersten Kurzgeschichten an ein...
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