Rosie, das Glück und wir

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Ihre kleine Pension scheint rettungslos verloren: Der Immobilienmagnat Shep Bennett kauft sie auf! Paige ist verzweifelt. Doch dank der kleinen Rosie schließt Paige doch noch einen pikanten Deal mit dem Mann, den sie hassen sollte – und lieben lernt. Rosies Dad …


  • Erscheinungstag 16.08.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512787
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Paige Harper drückte den Handballen in den Brotteig, den sie gerade knetete, als es zum dritten Mal an der Tür läutete.

„Nein, ich mache noch immer nicht auf“, murmelte sie.

Sie wendete den Teig, drückte ihn flach, tastete nach dem Bluetooth-Lautsprecher und drehte die Musik lauter, bis Barry Manilow alles andere übertönte.

Sie knetete weiter und bestreute den Teig mit Mehl, als er an ihren Händen klebte. Brotteig war neu für sie, und sie liebte das Gefühl, ihn zu bearbeiten und zu einer glatten Kugel zu formen.

Sie schloss die Augen und trällerte mit, als Barry einen langen, steinigen Strand besang. In exakt dem Moment, in dem sich der Song in einem Crescendo steigerte, spürte Paige, wie jemand ihr auf die Schulter klopfte. Die Musik und die rhythmischen Bewegungen beim Kneten hatten sie vergessen lassen, dass außerhalb ihrer Küche noch etwas anderes existierte.

Und deshalb jagte ihr der Mann, der hinter ihr stand, einen höllischen Schreck ein. Sie schrie auf, packte den Teig und warf damit nach ihm. Er stieß ein Uff aus, als die Kugel ihn am Bauch traf und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden landete.

Paige schaltete die Musik aus. Schlagartig wurde es in der Küche totenstill. Sie und Shep Bennett starrten einander sekundenlang an, bevor sie den Blick senkten und den traurigen Klumpen Teig betrachteten.

„Was tun Sie in meinem Haus?“, fragte sie scharf. „Sie haben Glück, dass ich gerade Brot backe und nicht den Lauf meiner Glock poliere.“

„Sie haben eine Pistole?“, entgegnete Shep lächelnd. „Das glaube ich kaum.“

Okay, sie hatte noch nie eine Waffe besessen, erst recht keine Glock. Die kannte sie nur aus den unzähligen Folgen von Law & Order, die sie in dieser Woche gesehen hatte. Inzwischen war sie bei der sechsten von ungefähr dreihundertfünfzig Staffeln angelangt und wusste mehr über die Polizeiarbeit als ein durchschnittlicher Zivilist. Aber das ging Shep nichts an.

„Sie begehen Hausfriedensbruch“, sagte sie, obwohl er eher ihren inneren Frieden gefährdete, als ihr sein anerkennender Blick unter die Haut ging.

Mit gerade mal eins siebenundfünfzig, schmalen Hüften und eher wenig Kurven war Paige keine Frau, die einem umwerfend attraktiven Mann wie Shep normalerweise auffiel. Er war schlank und muskulös, und sein dunkles Haar sah immer leicht zerzaust aus. Und dann waren da noch die whiskeyfarbenen Augen.

Aber Paige wollte ihm gar nicht auffallen. Shep Bennett war jemand, an dem eine Frau sich leicht die Finger verbrennen konnte, und sie hatte auch so schon genug Probleme.

„Er ist mit mir hier“, ertönte eine Stimme, und Paige riss den Blick von Shep los.

Lorena Jones betrat die Küche. Sie war Mitte dreißig und die Maklerin, die Paiges Mutter angeheuert hatte, ohne es ihrer Tochter zu erzählen. „Ich habe drei Nachrichten geschickt, dass heute die abschließende Besichtigung stattfindet“, sagte sie und zog die geglossten Lippen herunter.

„Die habe ich nicht bekommen“, murmelte Paige.

„Lügnerin“, flüsterte Shep und zwinkerte ihr zu, als wäre das hier nur ein Spiel.

Aber für Paige war es kein Spiel. Es ging um ihr Leben, und Shep war dabei, es zu zerstören.

„Haben Sie Ihren Auszug schon organisiert?“, fuhr Lorena fort. „Ihre Mutter hat mir erzählt …“

„Sie verkauft das Haus nicht“, platzte Paige heraus. „Sie hat es sich anders überlegt.“

Lorena verschränkte die Arme vor der Brust, was ihren vollen Busen zur Geltung brachte. „Ich habe vorhin mit ihr gesprochen. Das hat sie da aber gar nicht erwähnt.“

Paige warf Shep einen Blick zu und erwartete, dass er Lorena anstarrte. Aber das tat er nicht, stattdessen musterte er Paige, als wäre sie ein Rätsel, das er lösen musste. Das kann nicht sein, dachte sie. Sie hatte keine Geheimnisse.

„Wahrscheinlich will sie Sie nicht verletzen“, log Paige. Ihre Mutter war der eigennützigste Mensch, den sie kannte. „Sie weiß Ihre Arbeit zu schätzen.“

Lorena lockerte ihr blondes Haar auf. „Ich habe doch kaum etwas getan. Sie haben uns ja nicht ins Haus gelassen.“

„Weil ich nicht ausziehe.“ Paige gratulierte sich zu ihrer festen Stimme.

„Der Verkauf ist so gut wie abgeschlossen“, entgegnete Lorena spitz. „Nur die Zahlungsmodalitäten müssen noch festgelegt werden. Shepherd übernimmt das Haus, also werden Sie es räumen müssen. Das wird zwar knapp, aber Sie haben keine andere Wahl, Paige. Die Möbel bleiben allerdings hier, denn die hat Ihre Mutter mitverkauft.“

„Was hat sie?“, fragte Paige ungläubig.

„Nehmen Sie mit, woran Ihr Herz hängt“, sagte Shep sanft. Aber es war bestimmt nicht echt. Der Mann war bestimmt kein sanfter Mensch. Dass er für sie so tat, erfüllte Paige mit Scham. War sie so bemitleidenswert?

„Mein Herz hängt an dem ganzen Haus.“ Sie klopfte auf die Arbeitsfläche. „Es ist mein Zuhause. Mein Geschäft.“

„Sie haben doch noch gar nicht offiziell eröffnet“, warf Lorena ein.

„Das ist mir bewusst.“ Paige packte die Kante und schaute auf ihre mit Mehl bestäubten Hände und wehrte sich gegen die Tränen. Eigentlich hätte das Bumblebee Bed & Breakfast längst in Betrieb sein müssen. Wenn alles so gelaufen wäre, wie sie es geplant hatte, wäre die Pension jetzt voller Gäste, die den Sommer in den Rocky Mountains verbringen wollten.

Aber bisher war für Paige nichts nach Plan gelaufen, seit Jahren nicht mehr. Sie hatte nicht vorgehabt, allein auf die dreißig zuzugehen, mit nichts als einem baufälligen Haus. Nein, noch nicht mal das. Denn ihre Großmutter hatte die alte viktorianische Villa ihrer einzigen Tochter hinterlassen, als sie vor einem Jahr gestorben war. Es tat weh, aber Paige träumte noch immer davon, das Vermächtnis ihrer Großmutter in Crimson fortzuführen.

Susan Harper hatte das Haus sofort verkaufen wollen, aber Paige hatte sie überredet, sie dort einziehen und mit der Renovierung beginnen zu lassen, um es wieder als Pension zu eröffnen. Nur noch ein wenig Zeit, und sie würde die ersten Gäste empfangen können. Mit den Einnahmen würde sie ihrer Mutter das Haus abkaufen und etwas daraus machen. Aus sich selbst.

„Ich brauche mehr Zeit“, sagte sie und wandte sich ab, damit niemand sah, wie verzweifelt sie war.

„Geben Sie uns eine Minute?“, bat Shep die Maklerin, die ihm ein süßliches Lächeln schenkte. Paige hatte Lorenas Gesicht auf Einkaufswagen, auf Plakatwänden und an Bushaltestellen gesehen. Die Frau warb damit, die Spitzenmaklerin von Crimson, Colorado zu sein.

„Kein Problem.“ Lorenas Absätze klackerten über den Dielenboden. Wer trug High Heels in Crimson? Sie legte eine Hand auf Sheps Arm. Hatten die beiden heimlich was miteinander? Das würde Paige nicht wundern.

Shep Bennett war neu in Crimson. Sein Unternehmen hatte kürzlich das Skiresort neben Nanas Haus gekauft. Es wurde gerade renoviert und sollte rechtzeitig zur Wintersaison neu eröffnen. Das machte Shep zu einer wichtigen Person in der Stadt, und Lorena schien der Typ zu sein, die einen einflussreichen Mann an ihrer Seite wollte.

„Ich muss die Schlafzimmer oben ausmessen.“ Sie zog eine Augenbraue hoch. „Ich nehme an, das ist Ihnen recht?“

„Natürlich.“

Lorena ging davon und ließ dabei aufreizend ihre Hüften schwingen.

„Sie haben einen grauenhaften Musikgeschmack“, sagte Shep und bückte sich, um den Teig aufzuheben. „Und Sie treffen keinen Ton, wenn Sie mitsingen. Ich schwöre, die Hunde in der Nachbarschaft haben mitgejault.“

„Meine Nana hat immer Barry Manilow gehört.“ Sie nahm ihm den Klumpen ab, warf ihn in den Müll, riss ein Papiertuch von der Rolle und drehte den Wasserhahn auf. „Er hilft mir, mich zu konzentrieren, wenn ich backe.“

„Mir hilft er, mich darauf zu konzentrieren, anständige Ohrstöpsel zu suchen.“

Paige musste sich beherrschen, um nicht mit dem nassen Papiertuch nach ihm zu werfen. Erst ruinierte er ihren Brotteig, jetzt stand er in ihrer Küche und kritisierte ihren Musikgeschmack.

Ihre Küche. Der Ort, an dem sie am glücklichsten war. Und Shepherd Bennett wollte ihn ihr nehmen.

Er ging auf die andere Seite der Küche und betrachtete die Eichenholzschränke, die Paige in einem fröhlichen Gelb gestrichen hatte, und die alten Teller, die an einer Wand hingen. „Ich bin heute zum ersten Mal in diesem Haus.“

Sie kniete sich hin und wischte den Fußboden. „Was für ein Trottel versucht, ein Haus zu kaufen, das er noch nie zuvor von innen gesehen hat?“

„Einer wie ich“, erwiderte er. „Und ich versuche, es nicht nur zu kaufen. Sie wissen, dass es mir schon bald gehört.“

„Nicht, wenn ich es noch verhindern kann“, murmelte sie.

„Können Sie nicht.“ Er klang nicht mehr sanft. „Das Haus interessiert mich nicht. Ich will das Grundstück.“

Sie hielt inne und starrte auf ihre Hände. Paige mochte auf manche Leute zart und zerbrechlich wirken, aber sie hatte kräftige Hände. Hände wie ihre Großmutter.

„Dieses Grundstück bietet einen weiteren Zugang zum Skigebiet und ermöglicht uns, eine Loipe für Langläufer und ein neues Gelände für Freestyler und Snowboarder anzulegen. Wir reißen das Haus noch im Sommer ab. Ich gebe Ihnen ein paar Wochen Zeit, um auszuziehen, falls Sie die brauchen.“

Fassungslos starrte Paige ihn an. Ihr wurde zugleich schwindlig und übel. „Nein“, flüsterte sie.

„Das mit den Möbeln war die Idee Ihrer Mutter. Ich glaube, Sie wollte Ihnen ersparen, alles ausräumen zu müssen. Sie sagt, es sei wertloses Zeug.“

Paige ging in die Hocke und sah zu ihm hoch, vorbei an den tief sitzenden Jeans und dem Button-down-Hemd mit den Flecken, wo ihr Teig ihn getroffen hatte.

„Ich hasse Sie“, sagte sie laut und deutlich. Shep zog einen Mundwinkel hoch, als hätte er mit genau dieser Antwort gerechnet, vielleicht sogar darauf gewartet.

„Früher oder später reagieren die meisten Frauen so auf mich.“

„Kein Wunder.“

„Ja, nicht wahr?“, sagte er und bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln, dem vermutlich schon unzählige Frauen erlegen waren. Nach einem Moment verschwand es. „Sie können es nicht aufhalten.“

„Ich kann es wenigstens versuchen.“ Sie erhob sich. „Ich rufe meine Mom an.“

Er schüttelte den Kopf. „Sie werden sie nicht umstimmen. Notfalls erhöhe ich mein Angebot. Ich bekomme immer, was ich will.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nehmen Sie es nicht persönlich.“

Nicht persönlich? Dieses Haus mit dem Bed & Breakfast, das ihrer Großmutter so viel bedeutet hatte, war alles, was es in Paiges Leben gab. Seit sie zehn Jahre alt war, hatte sie jeden Sommer hier verbracht und ihrer Großmutter geholfen. In Denver war sie nur während der ersten Highschool-Jahre geblieben, weil sie wegen der wöchentlichen Chemotherapie nicht hatte verreisen können.

Aber danach war sie wieder hergekommen, und die Arbeit in der Pension hatte ihr gutgetan. Irgendwann hatte sie daran geglaubt, dass sie den Krebs überleben würde, der ihr ganzes Leben verändert hatte.

Paige konnte sich nicht vorstellen, dass das Haus abgerissen wurde. Es steckte voller Erinnerungen. Und Hoffnungen.

„Vielleicht sollte ich mich mit Cole darüber unterhalten, ob Ihre Ankunft in Crimson nichts Persönliches ist“, sagte sie ruhiger, als sie sich fühlte.

Sheps Kopf zuckte zurück, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. Eine Sekunde lang schaute sie hinter die Fassade des hartgesottenen Geschäftsmanns oder unverbesserlichen Frauenschwarms. Eine Sekunde lang wirkte er verletzlich. Es war zu viel, zu vertraut. Shep Bennett war der Feind, das durfte sie nicht vergessen.

„Augenblick mal, ich erinnere mich an Sie“, murmelte er plötzlich, und seine Augen wurden groß. „Die Babyflüsterin.“

Ihre Wangen verfärbten sich. Sie waren einander schon mal begegnet. Na ja, nicht gerade begegnet, aber sie hatte ihn gesehen. Vor ein paar Wochen, Anfang Juli, auf dem Festival zum Unabhängigkeitstag. Sein Zwillingsbruder Cole, der beliebte Sheriff der Stadt, hatte gerade ihrer Freundin Sienna Pierce das Herz gebrochen und auf dem Easy Dunker gesessen.

Zusammen mit Sienna hatte Paige zu denjenigen gehört, die mit einem Ballwurf auf die Zielscheibe versuchten, Cole vom Kippsitz ins Wasser fallen zu lassen. Unter den belustigten Zuschauern war auch Shep gewesen. Seine kleine Tochter hatte die Arme nach ihr ausgestreckt, was Paige häufiger passierte. Vermutlich lag es an ihrer Größe und daran, dass sie eine so harmlose Ausstrahlung besaß.

„Rosie schien Sie zu mögen“, sagte Shep. „Normalerweise hasst sie jeden außer mir.“

„Lassen Sie ihr etwas Zeit“, entgegnete Paige und schlug die Hand vor den Mund. Sie mochte den Mann nicht, aber das ging eindeutig zu weit.

Es schien ihm nichts auszumachen. Weil er wusste, dass er es verdiente?

„Nun ja“, sagte er nach einem Moment und rieb sich das Kinn. „Sie lebt erst seit sieben Monaten bei mir und krabbelt noch, also wird sie wohl kaum vor mir davonlaufen.“

„Warten Sie einfach, bis sie ins Teenageralter kommt“, erwiderte Paige. „Aber selbst dann wird sie Sie nur reizen wollen.“

Er verzog das Gesicht. „Davor graut mir jetzt schon, aber ich liebe das Mädchen, also werde ich es ertragen.“

Sein Blick wurde warmherzig, und Paige hielt die Luft an. Gab es etwas Rührenderes als einen Mann, der von seiner kleinen Tochter schwärmte? Sie zwang sich, wieder an ihre Pläne für das Bed & Breakfast zu denken, und registrierte erleichtert, wie ihr Zorn zurückkehrte. Es fühlte sich besser an.

„Können wir gehen?“, fragte Lorena, als sie in die Küche schwebte.

„Ja.“ Shep strich sich durchs Haar.

„Sie haben nur die Küche gesehen“, sagte Paige. Wenn Shep verstand, was sie mit dem Bumblebee vorhatte, würde er sie vielleicht bleiben lassen. Oder wenigstens noch mal darüber nachdenken, ob er es wirklich abreißen wollte.

„Mehr muss ich nicht sehen“, antwortete er. „Ich habe Ihnen erklärt, warum ich das Haus kaufe.“

„Aber …“

„Wir müssen los“, unterbrach Lorena sie und stellte sich neben Shep, als gehörten sie beide zusammen. Paige fragte sich, was mit der Maklerin los war. Sie selbst war noch nie eine Konkurrenz für andere Frauen gewesen, schon gar nicht bei einem so attraktiven Mann wie Shep. „Bitte nehmen Sie den Auszug in Angriff, Paige. Ich habe keine Zeit für alberne Spielchen.“

Paige hörte ein Knirschen und stellte fest, dass es von ihren Zähnen kam. Sie entspannte sich und schenkte Lorena ihr süßestes Lächeln. „Es würde mir nie einfallen, Ihre wertvolle Zeit zu verschwenden.“

Lorena nickte, als wäre ihr Paiges Sarkasmus entgangen. „Gut. Shep, ich kümmere mich um alles.“ Sie warf ihm einen sinnlichen Blick zu. „Ich bin Profi.“

Paige lachte auf und hustete, um es zu tarnen.

„Wir sehen uns, Babyflüsterin“, sagte Shep zu ihr.

Lorena zog die Augenbrauen hoch, dann schüttelte sie den Kopf und geleitete ihn zur Hintertür.

Als die beiden fort waren, atmete Paige tief durch und versuchte zu begreifen, was gerade aus ihrem ohnehin schon chaotischen Leben geworden war. Als wäre es nicht schlimm genug, dass ihre Mutter das Haus verkaufte, es sollte auch noch abgerissen werden. Wie konnte jemand etwas zerstören, das Paige so viel bedeutete? Als wäre es unwichtig.

Als wäre sie unwichtig.

Paige tastete nach dem Smartphone, schaltete die Musik wieder ein und drehte den Lautsprecher auf, bis Nanas Lieblingssänger alles andere übertönte und sie wenigstens nicht hören musste, wie ihr Herz zerbrach.

Shep setzte sich Rosie auf die Hüfte, als er zwei Tage später seinen Bauleiter durch den großen Speisesaal des Crimson Ski Resort führte.

Das kleine Mädchen erschrak jedes Mal, wenn Bob McConnell, der stämmige, bärtige Mann, der für die Renovierung zuständig war, sie ansah. Das war immerhin ein Fortschritt, denn am Beginn dieses katastrophalen Rundgangs hatte sie schluchzend das Gesicht an die Schulter ihres Vaters gepresst, als Bob versucht hatte, sie unter dem Kinn zu kitzeln.

„Sind Sie sich sicher, dass es eine gute Idee ist, ein Kleinkind auf eine Baustelle mitzunehmen?“, fragte Bob und rieb über seinen dichten Bart.

„Kein Problem“, knurrte Shep, obwohl es ein gewaltiges war. Er hatte vier Babysitter an ebenso vielen Tagen verbraucht, weil es keine länger als eine Schicht mit seinem temperamentvollen Mädchen aushielt. Gestern war er nach Glenwood Springs gefahren, um den Fußbodenbelag für die Hauptlobby auszusuchen. In seiner Abwesenheit hatte Rosie so laut und lange geweint, dass sie sich irgendwann übergab.

Die Nanny hatte zwei Stunden durchgehalten, bevor sie ihn angerufen und aufgefordert hatte, sofort in die Wohnung zu kommen, die er am Rand der malerischen Altstadt von Crimson möbliert gemietet hatte. Kaum war er nach Hause gekommen, hatte Rosie die Arme nach ihm ausgestreckt, bekleidet mit nicht mehr als einer nassen Windel. Laut der Nanny hatte das vierzehn Monate alte Kind sich geweigert, etwas anzuziehen.

Wenige Minuten später kündigte die korpulente Mittfünfzigerin, die vier eigene Jungen großgezogen und versprochen hatte, mit jeder Krise fertigzuwerden. Rosie schlief sofort ein, an Sheps Brust geschmiegt. Er lauschte ihrem gleichmäßigen Atem, und sein Herz schmolz dahin wie ein Eis am Stiel auf heißem Asphalt. Rosie war alles, was er hatte, und er durfte sie nicht länger wechselnden Babysittern aussetzen. Wo zum Teufel blieb Mary Poppins, wenn man sie brauchte?

Shep brachte die Besprechung mit Bob irgendwie hinter sich und staunte, was man mit einer Hand schaffte, während man mit der anderen ein Kind streichelte. Wie war es seiner Mutter bloß gelungen, ihn und seinen Zwillingsbruder Cole streng, aber gerecht zu erziehen, während sie ihnen zugleich die Zuneigung schenkte, die sie brauchten?

Er wünschte, er könnte sie anrufen, und bereute, dass er ihr nicht häufiger gezeigt hatte, wie sehr er sie liebte und respektierte. Aber dazu war es zu spät.

Trotz des winzigen Schutzhelms und der Antilärmkopfhörer, die er für sie besorgt hatte, konnte er sie nicht immer auf die Baustelle mitnehmen. Staub, Lärm und Arbeiter, die gegen die lauten Presslufthämmer anschreien mussten, waren nichts für ein kleines Mädchen. Er schnallte sie in den Kindersitz und reichte ihr den Trinkbecher aus der Windeltasche, die er am Morgen gepackt hatte.

Shep Bennett, eingefleischter Junggeselle und erfolgreicher Frauenheld, füllte seinen Kühlschrank nicht mehr mit Bier, sondern mit Babynahrung. Rosie seufzte und zeigte ihm alle vier neuen Zähne, als sie ihn anstrahlte. Er hatte den Ausdruck um den Finger wickeln nie richtig verstanden, bis er seine Tochter zum ersten Mal gesehen hatte. Er war ihr auf der Stelle verfallen und hatte sofort gewusst, dass er alles für sie opfern würde.

Sein komplettes Leben, wie sich herausgestellt hatte. Auf der zwanzigminütigen Fahrt vom Resort in die Innenstadt genoss er den Anblick des Tals mit seinen verstreuten Farmen, Ranches und vereinzelten Siedlungen. Anders als das edle, nicht weit entfernte Aspen hatte Crimson den malerischen, aber ungezähmten Charme des alten Westens bewahrt.

Vermutlich hatte genau das Cole angezogen. Und weil sein Bruder hier war, war auch Shep hergekommen, obwohl er das niemals zugeben würde. Er hatte aus Los Angeles weggemusst, denn die riesige, turbulente Stadt der Engel war kein Ort für Rosie.

Bevor er vor einem Monat in Crimson eingetroffen war, hatte er sieben Jahre lang nicht mit Cole gesprochen. Shep hatte sich einfach darauf verlassen, dass sein gutherziger Zwillingsbruder bereit sein würde, sich mit ihm zu versöhnen, sobald er von Rosie erfuhr.

Zumal Cole sich gerade verliebt hatte. Shep hätte ihn um eine Niere bitten können, und Cole hätte sich operieren lassen und gleich darauf wieder Sienna Pierce, seiner bildhübschen und lebhaften Verlobten, schöne Augen gemacht.

Er hatte gehofft, dass die friedliche Stadt Rosie helfen würde, ihre Scheu und Angst vor fremden Menschen zu überwinden. Im Gegensatz zu Monica, seiner Exfreundin, würde er nicht aufgeben und das schwierige Kind einfach im Stich lassen.

Die Innenstadt war voller Menschen, als Shep in der Nähe der Bäckerei parkte, in der er sich mit Cole treffen wollte. Der Trubel stimmte ihn zuversichtlich, dass die Renovierung des Skiparks sich rechnen würde. Der Vorstand der Trinity Development Company, seiner Immobilienfirma, war skeptisch gewesen, einen ganzen Berg touristisch neu zu erschließen. Es gab einfach zu viele unkontrollierbare Faktoren, wie etwa das Wetter und die jährliche Schneefallmenge, um aus Crimson ein Projekt mit Erfolgsgarantie zu machen. Sein Vorstand brauchte Sicherheit, aber Shep hatte es geschafft, ihn von seinem Vorhaben zu überzeugen.

Er fragte sich, ob seine Entscheidung für Crimson mit dem wirtschaftlichen Potenzial des Skigebiets zu tun hatte oder eher damit, dass er hier leichter Hilfe für Rosie finden würde. Jetzt sah sie ihn mit großen blauen Augen an, als er sie aus ihrem Kindersitz losschnallte. Leichte Schatten verunzierten die weiche Haut darunter, und er fand es schrecklich, wie angespannt sie in ihrem Alter schon wirkte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sie quer über den halben Kontinent herzubringen, aber in L. A. war sie nicht glücklicher gewesen. Zudem hatte sein kalifornischer Lebensstil ihn daran gehindert, ihr die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie brauchte.

Er hob sie aus dem Wagen, warf die Tür zu und steckte ein paar Münzen in die Parkuhr.

Rosie zeigte aufgeregt auf eine Elster, die im Park auf der anderen Straßenseite auf einer Laterne saß. Sie kreischte begeistert, als der Vogel die Flügel ausbreitete und in die Luft stieg.

„Die geht jetzt etwas essen“, sagte Shep und küsste seine Tochter auf den Kopf. „Genau wie wir.“

„Makka“, rief sie und klatschte in die Hände. Dem Himmel sei Dank für Käsemakkaroni, denn die gehörten zu den wenigen Gerichten, die Rosie freiwillig aß.

„Ja, du bekommst Käsemakkaroni“, sagte er und wurde mit einem lauten Kuss aufs Kinn belohnt. Kein Zweifel. Um den Finger gewickelt. Ganz fest.

Glöckchen läuteten fröhlich, als er die Bäckerei namens Life is Sweet betrat. Er schaute sich kurz um und sah Cole an einem Tisch im hinteren Teil sitzen.

Sein Bruder trug ein hellbraunes Hemd mit Dienstmarke oberhalb der linken Brusttasche, eine dunkle Hose und ein Holster um die Taille. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Stetson-Hut, und Cole sah aus wie der klassische Gesetzeshüter im Wilden Westen.

Genau das ist er, dachte Shep und spürte, wie sich ihm der alte Neid regte. Cole war immer der Gute gewesen – der Musterknabe. Shep dagegen hatte sich immer dagegen gesträubt, der „zweitgeborene Sohn“ zu sein, obwohl er gerade mal vier Minuten jünger war.

„Hey“, sagte Cole und legte den Hut neben sich, bevor er den Kinderstuhl an den Tisch zog. „Hi Rosie, hast du Hunger?“

Wie erwartet, legte Rosie das Gesicht in Sheps Halsbeugte. „Sie kann auf meinem Schoß sitzen“, sagte er und nahm Cole gegenüber Platz. Er sah nach unten, als das Kleinkind sich bewegte und Cole einen verstohlenen Blick zuwarf. Cole und Shep waren eineiige Zwillinge, daher hatte Rosie vor ihrem Onkel nicht ganz so viel Angst wie vor anderen Erwachsenen.

Anders als manche Leute war Cole klug genug, sie nicht zu bedrängen. „Ich freue mich auch aufs Essen“, sagte er sanft lächelnd und wandte sich Shep zu. „Kein Babysitter heute?“, fragte er mitfühlend.

Rosie versteifte sich. Allein das gefürchtete Wort ängstigte sie.

„Nur ich und mein Mädchen“, erwiderte Shep unbeschwerter, als er sich fühlte, und streichelte Rosies Rücken. „Wir waren zusammen im Resort. Die Renovierung läuft wie geplant. Nächste Woche kommen die Klempner und Elektriker.“

„Das freut mich“, sagte Cole.

Shep lachte leise. „Rosie hält mich auf Trab.“ Ihr waren die Augen zugefallen. Er seufzte. „Gerettet. Sie gönnt mir eine Pause.“

„Noch immer so schlimm?“ Cole sah auf, als eine attraktive Brünette an den Tisch trat.

„Ich weiß nicht, ob ich mich jemals daran gewöhne, dass es gleich zwei von euch gibt“, sagte Katie Crawford lächelnd und zeigte mit einer Kopfbewegung auf die älteren Frauen, die am Tresen standen. „Aber ihr seid gut fürs Geschäft. Normalerweise gehen sie ins IHOP am Highway.“

Shep runzelte die Stirn. „Ich war erst einmal hier.“

„Stimmt. Und heute hast du deine bessere Hälfte mitgebracht.“ Vorsichtig berührte sie Rosies Haar. „Wacht sie auf, um zu essen?“

„Vielleicht.“ Hoffentlich nicht, dachte Shep. Rosie brauchte den Schlaf so dringend wie er. „Kannst du uns vorsichtshalber eine kleine Portion Mac and Cheese bringen?“

Autor

Michelle Major

Die USA-Today-Bestsellerautorin Michelle Major liebt Geschichten über Neuanfänge, zweite Chancen - und natürlich mit Happy End. Als passionierte Bergsteigerin lebt sie im Schatten der Rocky Mountains, zusammen mit ihrem Mann, zwei Teenagern und einer bunten Mischung an verwöhnten Haustieren. Mehr über Michelle Major auf www.michellemajor.com.

Mehr erfahren