Schicksalsreise in die Toskana

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Nacht für Nacht umarmt Gino die schöne Laura voller Leidenschaft. Doch wem gehört sein Herz in Wirklichkeit? Mit einer Reise in die Toskana fordert Laura das Schicksal heraus. Hier lebt ihre Rivalin, Ginos erste große Liebe, die er nicht vergessen kann...


  • Erscheinungstag 15.07.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733779054
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Einer der schönsten Männer, die von der Natur jemals erschaffen wurden, dachte Laura anerkennend. Und sie meinte nicht einfach nur gut aussehend. Wirklich schön!

Jeder hätte den Mann beachtet, der zurückgelehnt auf der Parkbank saß. Sein dunkles Haar lockte sich ein bisschen. Er hatte markante Gesichtszüge und einen sinnlichen Mund, und an seinem großen Körper mit den langen Beinen war kein Gramm zu viel. Die alte Jacke, abgetragene Jeans und ein Eintagebart erweckten den Eindruck, dass er ein Landstreicher war, aber einer mit Stil.

Wahrscheinlich hatte der Typ nichts zwischen den Ohren, allerdings war das mit so einem Aussehen auch nicht nötig. Im nächsten Moment überdachte Laura ihr Urteil. Die dunklen Schatten unter den geschlossenen Augen und der angespannte Zug um den Mund legten nahe, dass der Mann nervlich am Ende war und seit Monaten nicht richtig geschlafen hatte.

„Mom.“

Laura blickte ihre achtjährige Tochter an, die neben ihr stand und mit einem Fußball unter dem Arm ungeduldig darauf wartete, dass der Spaß losging. „Entschuldige, Schatz“, sagte sie und wandte sich von dem Mann auf der Bank ab.

Am ersten echten Frühlingstag hatte Debbie unbedingt in den Park gewollt. Zuerst hatte Laura protestiert.

„Es ist noch nicht wirklich warm genug.“

„Doch!“, hatte Debbie behauptet.

Und sie hatte recht. Das Wetter war herrlich. Laura hatte einen anderen Grund, warum sie der Welt nur ungern gegenübertrat, einen, den sie nicht aussprechen mochte, obwohl das kleine Mädchen auch ohne Worte verstand.

Bevor sie aus dem Haus gegangen waren, hatte Laura noch schnell ihr blondes Haar durchgekämmt, das immer unordentlich aussah, ganz gleich, wie sie versuchte, die üppigen Locken zu bändigen. Ihr Äußeres erzählte zwei verschiedene Geschichten. Das Haar schien zu einem fröhlichen, unbekümmerten Teenager zu gehören, und mit ihren zweiunddreißig Jahren hatte sie noch immer die schlanke Figur einer Jugendlichen. Ihr Gesicht war jedoch von Traurigkeit und Erschöpfung gezeichnet. Für Falten war es noch zu früh, aber ihre blauen Augen waren glanzlos geworden.

Ihre Tochter bekam allmählich den gleichen resignierten Blick. Mit acht Jahren verlor Debbie schon ihre kindliche Unbeschwertheit. Und ihre verzweifelte Mutter konnte nichts dagegen tun.

Der Park füllte sich bereits. Kinder spielten Ball, Erwachsene saßen auf den Bänken und genossen die Sonne.

Laura erkannte einige andere Mütter und winkte ihnen zu. Sie winkten ebenfalls, sahen dann aber schnell weg. Wie könnt ihr es wagen, meine Tochter abzulehnen?, wollte Laura in solchen Momenten schreien. Ihr Gesicht ist ein bisschen anders. Na und? Welchen Schaden fügt euch das zu? Sie blickte schnell Debbie an. Hatte sie es bemerkt? Anscheinend nicht. Sie lief los und dribbelte geschickt.

Der schöne Mann saß noch immer regungslos auf der Bank. Nicht, dass Laura großen Wert auf gutes Aussehen legte. Jack war auch attraktiv gewesen mit seinem breiten, gutmütigen Lächeln und dem liebenswürdigen Benehmen – bis zu dem Tag, an dem er seine Frau und seine Tochter ohne einen Blick zurück verlassen hatte.

Debbie ließ den Kinderfußball aufprallen und sah sich hoffnungsvoll um.

„Ich entdecke niemand, den wir kennen“, sagte Laura. „Spielen wir beide doch einfach zusammen.“

„Du meinst, die anderen Kinder wollen nicht mit mir spielen?“

Lauras Herz setzte einen Schlag aus, und es gelang ihr nicht, ihre Gefühle zu verbergen.

„Ist schon in Ordnung, Mom.“ Debbie rieb sich das Gesicht. „Die Leute verstehen das nicht.“

„Nein, sie verstehen es nicht.“

„Wolltest du deshalb nicht, dass wir hierher kommen?“

Du lieber Himmel, sie ist erst acht Jahre alt!, dachte Laura. Ihre Tochter wusste viel zu viel. „Ja. Wegen der Leute, die es nicht verstehen und unfreundlich zu dir sind.“

„Sie sind nicht direkt unfreundlich. Es ist nur so, dass sie mich nicht gern ansehen. Kümmere dich nicht darum.“ Debbie rannte ein Stück und begann zu dribbeln.

Laura stand einen Moment lang da und unterdrückte den Wunsch, einen Mord zu begehen. Aber wen umbringen? Das bösartige Schicksal, das dafür gesorgt hatte, dass ihr Kind anders war? Die ganze grausame, ignorante Welt, die für Debbie alles noch schlimmer machte? All die gedankenlosen Dummköpfe, die nur ihr Gesicht sehen konnten und nicht ihr reizendes, liebenswertes Wesen?

„Los, Mom!“, rief Debbie.

Sie spielten eine Weile, bis Debbie einen so kräftigen Schuss abgab, dass der Ball hoch in die Luft segelte und direkt auf dem Bauch des schlafenden Mannes landete. Er wachte mit einem Schrei auf und packte reflexartig den Ball.

Debbie lief zur Bank.

„Ist das deiner?“ Der Mann sprach mit fremdem Akzent.

„Ja. Tut mir leid.“ Debbie ging näher heran und stellte sich direkt vor ihn hin. Sie beobachtete ihn und wartete auf den Moment, in dem er den Blick abwenden würde.

Woher nimmt sie den Mut, das zu tun?, fragte sich Laura.

„Ich hoffe, es tut dir wirklich leid“, sagte er. „Ich habe gerade etwas Schönes geträumt und peng!“

Er hatte nicht auf ihr Gesicht reagiert. Debbie rückte weiter vor und riskierte grimmig, dass ihr Glück nicht anhielt. „Ich wollte das nicht.“

„Natürlich nicht.“

Laura kam zu ihnen. „Ich bitte um Entschuldigung. Hoffentlich sind Sie nicht verletzt.“

Er schenkte ihnen beiden ein strahlendes Lächeln, das die ganze Welt zu erhellen schien. Es machte das Leben schöner. „Ich denke, ich werde es überleben.“

„Der Ball hat einen Schmutzfleck auf Ihrem Hemd hinterlassen.“

Er blickte auf sein schon sehr mitgenommenes Hemd. „Wie können Sie das erkennen?“, fragte er traurig.

Debbie kicherte, und er lächelte sie an.

Passierte das wirklich? Laura beobachtete ihn eingehend. Andere Leute schreckten bei Debbies Anblick zurück oder wurden übertrieben freundlich, was fast noch schlimmer war. Dieser Mann schien nicht bemerkt zu haben, dass sie anders war. „Ich bin Laura Gray“, stellte sie sich vor. „Und das ist meine Tochter Debbie.“

„Gino Farnese.“ Er schüttelte Laura die Hand.

Seine Hand war groß und kräftig und ließ auf schwere körperliche Arbeit schließen. Trotz des behutsamen Drucks konnte Laura die Stärke spüren.

Er nahm Debbies Hand. „Buon giorno, signorina. Sono Gino.“

„Was heißt das?“, fragte das Kind.

„Guten Tag, junge Frau. Ich bin Gino.“

Sie runzelte die Stirn. „Du bist Ausländer. Du sprichst so komisch.“

„Debbie!“, rief Laura. „Wo sind deine Manieren?“

„Es stimmt wirklich. Ich bin Italiener.“ Anscheinend war er nicht beleidigt.

„Kannst du gut Fußball spielen?“

„Debbie!“

„Ich glaube, ich bin ziemlich brauchbar“, erwiderte Gino. „Vorausgesetzt, dass mein Gegner nicht allzu grob wird.“

Debbie hüpfte davon. „Los!“

„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Laura hilflos.

Er zeigte wieder sein strahlendes Lächeln. „Keine Sorge. Jetzt bin ich ja auf der Hut vor Ihrer wilden Tochter.“

„Das habe ich nicht …“

Er war schon weg und tänzelte um den Ball. Laura beobachtete, wie er ihn geschickt hierhin und dorthin trat, nicht zu hart und gerade so weit, dass Debbie dafür arbeiten musste. Und es wirkte völlig natürlich. Laura stolperte fast über einen Koffer, als sie sich auf die Bank setzte. Er hatte in einer Ecke ein Loch und sah genauso schäbig aus wie Gino selbst, der mehrere Nächte lang in seinen Sachen geschlafen zu haben schien.

Schließlich brachte er es fertig, den Ball so klug an Debbie zu verlieren, dass sie glauben konnte, ihn erobert zu haben. Sofort schoss sie ihn auf Gino ab. Er warf sich wie ein Torhüter zur Seite und verfehlte den Ball knapp.

Auf dem Boden sitzend, schrie Gino so laut „Tor!“, dass ihn mehrere Leute anstarrten und schnell weitergingen. „Das passiert immer“, erklärte er. „Die Leute laufen vor mir weg, weil sie mich für verrückt halten.“

„Bist du verrückt?“, wollte Debbie wissen.

„Ich glaube, ja. Also kann man es ihnen nicht verübeln.“

„Ich laufe nicht weg.“

„Danke.“ Gino stand auf und holte den Ball.

Debbie rannte zu ihrer Mutter. „Er hat es nicht gesehen, Mom. Er hat es nicht gesehen!“, flüsterte sie schnell.

„Liebling …“

„Alle anderen können es sehen, aber er nicht. Meinst du, ich bin verzaubert?“

Laura sehnte sich von ganzem Herzen danach, Ja zu sagen. Ihr wurde eine Antwort erspart, da Gino mit dem Ball zurückkehrte. „Es wird Zeit, dass wir nach Hause gehen und Tee trinken. Ich hoffe, Sie kommen mit. Nachdem meine Tochter Sie in Trab gehalten hat, ist eine Tasse Tee das Mindeste, was ich Ihnen anbieten kann.“

„Das ist sehr nett …“

„Schön, dann kommen Sie mit.“ Laura wollte Gino Farnese nicht entwischen lassen. „Das Haus ist gleich dort drüben. Außerdem ist Debbie wahrscheinlich nicht bereit, sich schon von Ihnen zu verabschieden.“

Das kleine Mädchen hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Laura konnte erkennen, dass ihre Tochter eine dieser spontanen, unerklärlichen Freundschaften geschlossen hatte, die manchmal bei Kindern vorkamen.

War sie unerklärlich? Gino Farnese hatte Debbie wie ein ganz normales Kind behandelt, und nur das wollte sie. Nein, es war keineswegs unerklärlich.

Sie hopste den ganzen Weg plappernd neben ihm her und kicherte über seinen Akzent. Sofort übertrieb er ihn und brachte sie dazu, noch mehr zu kichern. Laura gab ihm die höchste Punktzahl für Gutherzigkeit.

Das große, dreistöckige viktorianische Haus machte einen heruntergekommenen Eindruck, war drinnen jedoch sauber und gemütlich. „Leben Sie hier allein mit Ihrer Tochter?“, fragte Gino.

„Nein, ich vermiete Zimmer.“

„Ah! Sind sie teuer?“

„Nicht besonders, nein. Tatsächlich ist mein einziges noch freies Zimmer kleiner als die anderen und deshalb spottbillig.“ Laura hoffte, dass sie nicht zu eifrig klang, aber sie wollte, dass Gino Farnese bei ihr einzog und ihre Tochter zum Lächeln brachte.

Die Haustür führte in eine breite Diele. Rechts war die Treppe, links lag das Wohnzimmer. „Hier steht übrigens der einzige Fernsehapparat für alle Bewohner“, erklärte Laura. „Leider ist diese Pension so einfach. Und an der Rückseite des Hauses befindet sich die Küche.“

Sie war altmodisch und behaglich und hatte einen großen Tisch in der Mitte. Von den sechs Stühlen passten nur drei zusammen. Während Laura den Kessel auf den Herd stellte, sagte Gino: „Sie sollten vielleicht etwas über mich wissen, bevor Sie mich bei sich aufnehmen.“

Debbie legte gerade den Ball in den Dielenschrank, und Laura nutzte die Gelegenheit. „Ich weiß, dass Sie meine Tochter aufheitern können“, erwiderte sie leise. „Das ist wichtig.“

Gino dämpfte auch die Stimme. „Ja, ein kleines Mädchen zum Lächeln zu bringen ist wichtig. Aber Sie kennen mich nicht. Vielleicht habe ich sechs Frauen geheiratet und alle im Stich gelassen.“

„Sie sind zu jung, um schon sechsmal geheiratet zu haben. Viel älter als fünfundzwanzig können Sie nicht sein.“

„Neunundzwanzig“, berichtigte er sie gekränkt.

„Entschuldigung. Haben Sie sechs Ehefrauen verlassen?“

„Nur vier … nein, fünf. Das ist nicht so schlimm, oder?“

Ein Kichern von der Tür her verriet Laura und Gino, dass Debbie gelauscht hatte.

„Fünf sind in Ordnung, stimmt’s, Mom?“

Laura lachte. „Darüber können wir wohl hinwegsehen.“

„Das habe ich allerdings nicht gemeint, als ich gesagt habe, Sie sollten etwas über mich wissen. Ich habe im Moment kaum Geld, weil ich …“ Gino suchte nach den englischen Wörtern. „Come si dice? Ich bin überfallen und ausgeraubt worden.“

„Du meine Güte, wann?“

„In London. Ich mag die Stadt nicht. Sie ist zu groß und laut. Drei Kerle sind über mich hergefallen, haben sich meine Reisetaschen geschnappt und sind davongerannt. Zum Glück hatte ich meinen Pass und ein bisschen Geld in der Hosentasche, aber meine Kreditkarten und alle meine Sachen sind weg.“

„Sind Sie zur Polizei gegangen?“

„Klar. Die können nichts tun. Ich habe die Täter nicht einmal beschreiben können. Meine Kreditkarten habe ich sperren lassen, doch jetzt muss ich mir mehr Geld besorgen. Ich habe mir in einem Wohlfahrtsladen einige Sachen und den alten Koffer gekauft. Jetzt trage ich das schäbige Zeug, damit mein guter Anzug im Koffer bleibt. Ich hatte dann gerade noch genug Geld, um aus London herauszukommen. In einer hübsch aussehenden Kleinstadt bin ich einfach aus dem Zug gestiegen. Wo ich bin, weiß ich nicht. Auf dem Bahnhofsschild stand Elverham, aber wo ist Elverham? Was ist Elverham? Ist es real, oder habe ich es mir nur eingebildet?“ Gino bemerkte, wie Laura ihn anblickte, und wurde vernünftig. „Tut mir leid. Ich habe Sie gewarnt, dass ich ein bisschen verrückt bin.“

„Darauf haben Sie wohl ein Recht. Elverham liegt ungefähr sechzig Meilen nördlich von London und ist ein Marktflecken in einer ländlichen Gegend. Hier passiert niemals irgendetwas Aufregendes. Und was haben Sie gemacht, nachdem Sie aus dem Zug gestiegen waren?“

„Ich bin ziellos herumgewandert und schließlich im Park gelandet. Dort habe ich unter einem Busch übernachtet. Deshalb sehe ich ein bisschen aus wie … na ja …“ Gino wies mit einer Handbewegung auf seine ungepflegte Erscheinung.

Debbie strahlte. Sie hatte ihn gern, auch wenn er wie ein Landstreicher aussah.

„Morgen versuche ich, ein Bankkonto zu eröffnen und Geld aus Italien zu bekommen. Erst einmal habe ich fast nichts, und ich kann Ihnen heute keine Anzahlung für das Zimmer geben.“

„Es eilt nicht. Zuerst sollten Sie das Zimmer testen. Vielleicht gefällt es Ihnen nicht.“

„Nach dem, wie ich in der vergangenen Nacht geschlafen habe, wird es mir gefallen“, versicherte er Laura, und sie lachten alle.

„Wir haben Italien in Erdkunde durchgenommen“, sagte Debbie stolz. „Es sieht aus wie ein Stiefel. Aus welchem Teil bist du?“

Laura glaubte, dass Gino einen Moment lang zögerte, bevor er antwortete.

„Aus der Toskana.“

Debbie runzelte die Stirn. „Wo ist das?“

„Auf der linken Seite, ziemlich weit oben.“

„Und da ist dein Zuhause?“

Die Frage schien Gino zu beunruhigen. „Mein Zuhause“, murmelte er kaum hörbar.

„Ja, du weißt schon, wo man dich hereinlassen muss, auch wenn man dich nicht mag.“

„Debbie!“, stöhnte Laura.

„Das ist gar keine schlechte Beschreibung“, erwiderte Gino lächelnd. „Ja, in der Toskana ist der Ort, wo man mich hereinlassen müsste.“

„So einer wie dieser?“, fragte Debbie.

Gino lachte. „Nein, es ist ein Bauernhof.“

„Ist er groß?“

„Zu groß. Zu viel Arbeit. Ich bin einfach davongelaufen. Irgendetwas riecht hier gut.“

„Es ist nur der Tee. Ich schenke Ihnen eine Tasse ein.“ Laura musste anerkennen, wie geschickt Gino vom Thema abgelenkt hatte. Offensichtlich wollte er nicht über sein Zuhause sprechen. Sie hätte gern gewusst, wovor er davonlief. Nicht vor harter Arbeit, wie er angedeutet hatte. Aber er war vor irgendetwas auf der Flucht. Sein seltsamer Gesichtsausdruck hatte verraten, dass er sich in einer schwierigen Situation befand. Laura war nicht sicher, wie viel sie von der Geschichte mit dem Raubüberfall glauben sollte. Vielleicht wollte Gino ihr damit nur zu verstehen geben, dass er nicht wirklich ein Landstreicher war, ganz gleich, wie er aussah. Er ist ein Clown, für den Herumalbern eine Möglichkeit ist, sich zu verstecken, dachte sie.

Im Grunde genommen stimmte es, dass sie nichts über ihn wusste. Gino Farnese konnte irgendein irrer Typ sein.

Aber dann blickte sie ihn an und vergaß diesen Gedanken. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er ein anständiger Mann war.

„Ich mache jetzt Ihr Zimmer fertig“, erklärte sie.

Er folgte ihr in den ersten Stock, in dem drei der vermieteten Zimmer lagen, die anderen waren eine Etage höher. Laura führte ihn zu einem Raum am Ende des Flurs, Debbie bildete die Nachhut. Das Zimmer war wirklich klein. Es hatte einen Kleiderschrank, eine Kommode, einen Sessel und ein Waschbecken. Das Bett war schmal und gerade lang genug für ihn. Gino war trotzdem zufrieden. Für seine wenigen Habseligkeiten reichte der Platz.

Laura holte Laken und Decken und machte mit Debbies Hilfe das Bett.

„Kann ich mich nicht nützlich machen?“, fragte Gino.

„Du kannst das Kopfkissen beziehen“, antwortete Debbie.

„Danke, Madam.“

„Ich habe noch fünf andere Dauergäste“, erklärte Laura. „Sadie und Claudia sind Schwestern. Sie sind beide in einer hiesigen Computerfabrik angestellt. Bert ist Nachtwächter. Fred ist Rausschmeißer in einem Nachtclub. Und Mrs. Baxter ist Witwe und pensionierte Lehrerin. Sie passt auf Debbie auf, wenn ich abends arbeiten muss.“

„Sie führen diese Pension und arbeiten zusätzlich noch woanders?“, fragte Gino überrascht.

„Einige Stunden in der Woche als Bardame, ja. Der Pub ist nicht weit entfernt.“

Als sie fertig waren, traten sie zurück und betrachteten das Ergebnis.

„Ich fürchte, das Zimmer ist ein bisschen kahl“, stellte Laura fest.

„Ich weiß, was wir tun können.“ Debbie lief hinaus und kehrte kurz darauf mit einem Stoffhund zurück, den sie triumphierend auf die kleine Kommode neben dem Bett legte. „Er heißt Simon. Und er wird dir Gesellschaft leisten.“

Gino setzte sich aufs Bett, sodass seine Augen auf gleicher Höhe mit der des Kindes waren. „Danke. Das ist sehr nett von dir. Jetzt habe ich einen Freund.“

„Drei Freunde. Weil du uns auch hast.“

Gino blickte fragend Laura an.

Sie nickte. „Du hast jetzt drei Freunde. Ich muss mit dem Abendessen anfangen. Komm mit, Debbie. Da er im Park übernachtet hat, sehnt sich Gino wahrscheinlich danach, ein bisschen zu schlafen.“

Er lächelte und bestritt es nicht.

Als Laura und Debbie weg waren, legte er sich aufs Bett, sah an die Decke und wartete darauf, dass er einschlief. Nach der ungemütlichen Nacht, die er hinter sich hatte, musste das eigentlich schnell passieren. Wie er befürchtet hatte, hielt ihn seine innere Unruhe wach. Inzwischen war er daran gewöhnt. Früher hatte er immer gut geschlafen, aber das hatte sich in den sechs Monaten geändert, seit er Italien verlassen hatte. Anscheinend konnte er nur noch jede zweite Nacht richtig schlafen. In den anderen jagte er Träumen und Wunschbildern nach und kämpfte mit seiner Trauer.

Das Kind hatte ihn überrumpelt, als es „Zuhause“ erwähnt hatte. Wo man dich hereinlassen muss, auch wenn man dich nicht mag. Sein Zuhause war „Belluna“, das große Gut in der Toskana. Wenn er an die Tür klopfen würde, dann würden ihn sein Bruder und Alex, die Frau seines Bruders, denn so musste Gino sie jetzt nennen, hereinlassen. Sie müssten es tun, weil ihm die Hälfte des Besitzes gehörte. Zweifellos würden sie lächeln und sagen, wie schön es sei, ihn zu sehen, wie besorgt sie während seiner Abwesenheit gewesen seien und dass sie jeden Tag an ihn gedacht hätten.

Und alles wäre wahr. Aber eine andere Wahrheit würde niemand aussprechen. Rinaldo und Alex würden Angst haben, dass er, Gino, mit seiner Verbitterung, mit seiner qualvollen unerwiderten Liebe, ihre glückliche Ehe gefährden würde. Hinter seinem Rücken würden sie sich ansehen und beide wissen, dass ein Fremder zwischen sie getreten war. Und insgeheim würden sie sich danach sehnen, dass er abreiste.

„Ich kann dich niemals lieben“, hatte Alex gesagt. „Nicht so jedenfalls, wie du es möchtest.“

Selbst sie hatte nicht verstanden, wie sehr er sie liebte. Vorher hatte er sich schwindelerregend schnell von einer flüchtigen Vernarrtheit in die nächste gestürzt. Dann lernte er Alex kennen und lebte plötzlich in einer neuen Welt, einer, in der SIE existierte. Die eine, einzige Frau für ihn, denn wie viele junge Männer, die leichtfertig und sorglos liebten, hatte auch ihn die wahre Liebe wie ein Blitzschlag getroffen. Danach war keine Sorglosigkeit mehr möglich.

„Nicht so, wie du es möchtest“, hatte Alex gesagt.

Gino hatte alles von ihr gewollt, Liebe, Zärtlichkeit, Leidenschaft und ein Versprechen fürs ganze Leben.

Und er hatte geglaubt, alles zu bekommen. Bis zu der Nacht, in der er nach Hause zurückgekehrt war und Alex im Bett seines Bruders gefunden hatte.

2. KAPITEL

Manchmal waren die Träume schlimmer als die Erinnerungen. Wenn man wach war, konnte man beschließen, nicht weiter daran zu denken. Träume dagegen waren unbarmherzig.

In seinen Träumen musste Gino noch einmal durchleben, wie er Alex auf der Erntedankparty vor allen Nachbarn eine Liebeserklärung gemacht hatte. Was er getan und gesagt hatte, ließ ihn sogar jetzt noch vor Scham schaudern.

Er hatte ihr den mit Diamanten und Saphiren besetzten antiken Ring gezeigt. „Du hast immer gewusst, was ich für dich empfinde. Selbst als ich den Narren gespielt habe, hat mein Herz dir gehört.“

Dann kniete er vor ihr nieder und bat sie, seine Frau zu werden. Ihr Schweigen und ihren bestürzten Blick verstand er nicht. Er glaubte, es sei ihr peinlich, vor all den Leuten einen Heiratsantrag zu bekommen, und er war sicher, dass alles gut werden würde, als sie kurz darauf allein waren. Getrieben von seinen überwältigenden Gefühlen, sagte er ihr, dass sie die Einzige sei, „anders als die Frauen, mit denen ich gespielt und die ich für fünf Minuten geliebt habe. Diesmal ist es für mein ganzes Leben und darüber hinaus.“

„Nein!“, rief Alex. „Sag das nicht. Es darf nicht wahr sein.“

„Warum darf es nicht wahr sein?“, fragte er verwirrt.

„Weil ich dich nicht liebe.“

Er konnte, wollte es nicht glauben, weil es zu entsetzlich war. Also ging er und nahm sich vor, später zurückzukehren und es ihr verständlich zu machen.

Gino schreckte aus dem Schlaf auf, am ganzen Körper zitternd.

Es war dunkel. Von unten hörte er Gemurmel. Er stand auf und ging zum Fenster. Da sein Zimmer an der Hausecke lag, konnte er das erleuchtete Küchenfenster und hinter dem Vorhang sich bewegende Schatten sehen. Die anderen mussten zurückgekommen sein, aber jetzt mit ihnen zusammenzutreffen war unmöglich. Gino wusste aus Erfahrung, dass sich nicht anhalten ließ, was in seinem Kopf passierte. Nicht, wenn er diesen bitteren Weg im Traum betreten hatte. Dann musste er ihn zu Ende gehen, obwohl er dem nächsten Abschnitt gern auswich.

Kurz vor dem Ende der Party war er weggefahren und erst in den frühen Morgenstunden zurückgekehrt. Er hatte beschlossen, mit Rinaldo zu sprechen, dem älteren Bruder, der ihm wie ein zweiter Vater gewesen war und dem er mehr als jedem anderen Menschen vertraute. Rinaldo würde ihm einige gute Ratschläge geben.

Er ging in das Zimmer seines Bruders, ohne anzuklopfen. Was er sah, traf ihn wie ein Schlag. Im Bett lag Alex. Rinaldo schlief in ihren Armen, sein Kopf ruhte auf ihrer Brust. Das Laken war zurückgeworfen und zeigte, dass beide nackt waren.

Gino hatte davon geträumt, Alex’ nackten Körper zu sehen, aber nicht so.

Sie wachte zuerst auf und war bei seinem Anblick einen Moment lang wie gelähmt vor Entsetzen. Dann streckte sie die Hand nach ihm aus, aber er wich zurück, als würde ihn ihre Berührung umbringen. Während der nachfolgenden Auseinandersetzung machte er die grausame Entdeckung, dass Rinaldo und Alex in eine andere Welt entflohen waren, aus der er, Gino, ausgeschlossen war.

„Ich habe sie dir nicht weggenommen“, sagte Rinaldo traurig, aber bestimmt. „Sie hatte die Wahl.“

Erst einige Zeit später sah er ein, dass es stimmte. Alex hatte ihn nicht getäuscht. Er hatte sich selbst getäuscht. Er konnte ihr sowieso nicht die Schuld geben, weil er sie auf ihrem Podest lassen musste. Das tat weniger weh, als sie für seinen Kummer verantwortlich zu machen. Für ihn war eine Welt zerbrochen, doch er wusste, dass Rinaldo und Alex es nicht verstanden. Weil er sich durchs Leben gelacht hatte, glaubten die beiden, er würde auch dies lachend abtun: Der jungenhafte, unzuverlässige Gino hatte schon so viele Frauen gehabt, wenn er eine verlor, spielte das keine Rolle.

Nur er wusste, dass Alex „die eine“ gewesen war und es bleiben würde, solange er lebte. Dass seine Liebe nicht erwidert wurde, war eine Katastrophe, die ihn bis ins Innerste erschütterte und veranlasste fortzugehen, damit er seinen Bruder und Alex nicht zusammen sehen musste.

Und so hatte Gino nicht nur Alex, sondern auch sein Zuhause verloren. Sechs Monate lang war er gereist. Wohin, war ihm gleich gewesen, Hauptsache, er war weit weg von Belluna. Als Mitbesitzer hatte er das Recht, ein Einkommen aus dem Gut zu beziehen, aber er nahm so wenig wie möglich, weil er nicht dort war und bei der Arbeit half.

Er hatte jeden Job gemacht, den er hatte bekommen können, am liebsten war ihm schwere körperliche Arbeit gewesen, damit er am Ende des Tages zum Grübeln zu erschöpft war. Schließlich war er nach England gekommen, Alex’ Heimatland, und wahrscheinlich hatte er zwangsläufig hier landen müssen.

Jetzt schien er einen Ort ohne besondere Merkmale erreicht zu haben. Trotz Lauras Erklärung konnte sich Gino nicht richtig vorstellen, wo in England die Stadt lag. Und irgendwie gefiel ihm das. Er war nirgendwo und hatte nichts. Wenn er in der Bank gewesen war, würde er ein bisschen Geld besitzen, doch im Grunde würde er weiterhin nichts haben. Er war abgeschnitten von seiner Familie und allem, was er kannte, und er konnte nicht heimkehren, weil er kein Zuhause mehr hatte.

Gino öffnete die Augen und sah auf seine Armbanduhr. Es war fast Mitternacht. Er musste doch wieder eingeschlafen sein. Obwohl er von Alex geträumt hatte, fühlte er sich seltsamerweise gut ausgeruht. Er stand auf und blickte in den Flur. Im Haus war es dunkel und still. Die anderen Gäste mussten zu Abend gegessen haben und in ihre Zimmer gegangen sein. Er konnte in der Dunkelheit einige Türen ausmachen. Sie sahen alle gleich aus. Hinter welcher war das Bad? Wie fand ein Fremder das heraus? Jede ausprobieren? Verdammt!

Zu seiner Erleichterung hörte Gino die Haustür aufgehen. Er blickte über das Treppengeländer. Laura kam gerade herein. „Aiuto!“, sagte er eindringlich.

„Wie bitte?“

„Hilfe! T’imploro!

„Was ist denn los?

„Ich brauche …“ In seiner Panik fielen ihm die englische Vokabeln nicht ein. „Un gabinetto. Ti prego, un gabinetto.“

Laura konnte kein Italienisch, aber sein verzweifelter Ton verriet ihr, was Gino wollte. „Hier.“ Sie öffnete eine Tür unter der Treppe.

Grazie, grazie!“ Er nahm drei Stufen auf einmal und verschwand in dem kleinen Badezimmer.

Laura ging lächelnd in die Küche und setzte Wasser auf. Kurz darauf tauchte Gino auf, der jetzt viel glücklicher aussah.

„Danke. Tut mir leid, dass ich dich auf Italienisch angeschrien habe. Gabinetto heißt …“

„Inzwischen kann ich mir denken, was es heißt“, sagte Laura, und sie lachten beide. Als das Wasser kochte und sie zum Herd gehen wollte, hinderte Gino sie daran.

„Setz du dich hin. Ich mache den Tee. Du musst müde sein.“

Autor

Lucy Gordon
<p>Die populäre Schriftstellerin Lucy Gordon stammt aus Großbritannien, bekannt ist sie für ihre romantischen Liebesromane, von denen bisher über 75 veröffentlicht wurden. In den letzten Jahren gewann die Schriftstellerin zwei RITA Awards unter anderem für ihren Roman „Das Kind des Bruders“, der in Rom spielt. Mit dem Schreiben erfüllte sich...
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