Sinnliche Küsse, gefährliche Nähe

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Seit einem leidenschaftlichen One-Night-Stand ist Unternehmer Merrick Knowles verrückt nach Aly. Am liebsten würde er sofort wieder jeden Zentimeter ihres verführerischen Körpers küssen! Doch Vorsicht: Warum taucht die sexy Anwältin plötzlich auf Calcott Manor auf, dem Anwesen seiner Großmutter? Solange er nicht weiß, was sie im Schilde führt, sollte er sein Verlangen nach ihr besser unterdrücken. Bloß wie, wenn es trotz allem einfach immer unwiderstehlicher zwischen ihnen knistert?


  • Erscheinungstag 05.12.2023
  • Bandnummer 2319
  • ISBN / Artikelnummer 9783751515900
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ich weiß, dass ich nicht mehr lange auf dieser Welt sein werde, aber ich hatte ein langes Leben. Ich werde mich nicht der abgedroschenen Formulierung bedienen, dass es ein glückliches Leben war. Wie hätte es das sein können? Ich habe zu viele Tragödien durchgemacht. Erst den Tod meiner Zwillinge und ihrer Frauen, dann den meines ältesten Enkels Malcolm … So mutig, so brillant. So voller Narben. Aber ich, Lady Avangeline Forrester-Grantham, habe immer mein Bestes getan, und meine Familie war mir das Wichtigste.

Drei Monate früher

Für einen One-Night-Stand, den ersten in Aly Garwoods Leben, war er bemerkenswert zärtlich und rücksichtsvoll. Merrick fragte sie nicht nur, ob er sie hier oder da küssen durfte – es war ihr recht, dass er sie überall küsste –, sondern behandelte sie wie eine Geliebte, nicht wie ein Hilfsmittel, um sich einen runterzuholen.

Er erkundete ihren Körper, machte aber keine Bemerkung über ihre Narbe. Seine Lippen streiften deren Ränder und bewegten sich dann weiter. Er schlief in aller Ruhe mit ihr, führte sie in Höhen der Lust, die sie nie zuvor erreicht hatte, brachte sie zum Lächeln und sorgte dafür, dass sie sich sicher fühlte.

Der beste Sex aller Zeiten.

Nun, am Morgen danach, setzte Merrick sich auf ihre Seite des Betts und schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. Seine blauen Augen waren unverwandt auf ihre gerichtet.

„So etwas mache ich sonst nicht, aber … kann ich deine Handynummer haben? Ich würde dich gern wiedersehen.“

Aly wandte den Blick ab und ließ sich mit der Antwort Zeit. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich so rasch eine Verbindung zwischen ihnen entwickelte oder dass sie so entspannt miteinander lachen würden.

Sie hatten sich am Vorabend im Clancy’s kennengelernt, der beliebten irischen Bar von Hatfield. Er bot an, ihr einen Drink auszugeben. Vier Stunden später lud sie ihn in ihr Zimmer ein und ließ zu, dass er sie auszog und mit ihr schlief.

Sie liebte jeden einzelnen Moment mit ihm, und obwohl er darum bat, sie wiedersehen zu dürfen, war sie sich sicher, dass er nicht mehr wollte als noch einmal so heißen Sex wie in dieser Nacht. Ihr Zusammensein war zwar unglaublich gewesen, ihr war allerdings nicht nach einer simplen Affäre. So etwas hatte sie schon früher versucht, aber irgendwie hatte sie sich meist tiefer darauf eingelassen, als ihr guttat. Sie wusste, dass es böse enden würde, zumindest für sie.

Leute gingen immer – manchmal freiwillig, manchmal auch nicht –, das war in ihrem Leben eine Tatsache. Es war besser, selbst zu gehen, bevor man emotional zu sehr an jemandem hing. Merrick mit seinem tollen Körper und seinen maskulinen Gesichtszügen hatte alles zu bieten. Er war rücksichtsvoll, hatte großartige Qualitäten als Liebhaber und war der Typ Mann, den Frauen ihrer Mutter vorstellten, wenn sie denn noch eine hatten.

Sie hatte keine mehr.

Er war ein Mann, in den sie sich verlieben könnte. Nicht, dass er es zu schätzen wüsste, wenn sie das täte. Er würde sich nicht in sie verlieben, und sie konnte keine liebesbedingten Komplikationen gebrauchen.

Weder jetzt noch später.

Aly wollte Nein sagen, vorschlagen, einen Schlussstrich zu ziehen, aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Aus irgendeinem Grund hatte sie den Eindruck, dass sie es für den Rest ihres Lebens bereuen würde, wenn sie ihn einfach gehen ließe. Sie war Anwältin, praktisch veranlagt und ohne große Fantasie, also waren ihre verträumten, romantischen Gedanken nach nur einer gemeinsamen Nacht absolut untypisch für sie. Und obwohl sie versuchte, mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, ging ihr das zynische Herz auf.

Der Rest des Tages würde stressig sein, doch das Wissen, Merrick später wiederzusehen, munterte sie auf. Sie war in Hatfield, Connecticut, um sich der Familie ihres Organspenders vorzustellen und sich für die zweite Chance auf ein Leben zu bedanken.

Ob sie auch alles andere erwähnen würde, musste sie erst noch entscheiden. Sie wollte abwarten, wie das Treffen mit Avangeline Forrester-Grantham verlief. Auf jeden Fall war sie sicher, dass sie danach gestresst und emotional erschöpft sein würde. Die Gesellschaft eines humorvollen, klugen, sexy Mannes würde sie trösten.

„Klar, ruf mich später an“, sagte sie, legte die Arme um seine Schultern und küsste ihn. Die Bettdecke rutschte hinab und enthüllte ihren nackten Oberkörper. Merrick umfasste ihre Brust, und seine Daumen liebkosten ihre Brustwarzen. Aly vertiefte den Kuss und ließ ihre Hand nach unten zu seinem Glied gleiten, heiß, hart und bereit.

Er lachte. „Ich kann nicht, ich muss los. In einer halben Stunde habe ich einen Termin.“

Sie schwang eins ihrer Beine über seine, sodass ihr Schoß über seinem harten, wunderschönen Penis war. „Das hier ist es wert, dafür zu spät zu kommen.“

Er sah sie mit Augen an, die die Farbe altmodischer Tinte hatten, und grinste. „Das ist es wirklich.“

Er lachte, als er sie aufs Bett drückte, nach einem Kondom griff und mit einer geschmeidigen Bewegung in sie eindrang. Aly hatte heißen, schnellen Sex erwartet, aber er ging langsam vor und sehr erotisch …

Merrick brach mit einer Stunde Verspätung zu seinem Termin auf.

Aly saß im exquisit eingerichteten Salon in Calcott Manor und sah in einen eindrucksvollen Rosengarten hinaus, der, wie sie erkannte, voll seltener alter Rosensorten war. Avangeline Forrester-Granthams Haus – oder der kleine Teil davon, den sie gesehen hatte – war mit Kunstwerken und edlen Möbeln gefüllt, doch sie fühlte sich von den Rosen und dem englischen Landschaftsgarten dahinter angezogen.

Mom hätte ihn geliebt, dachte Aly. Sie hatten ihr Leben lang in winzigen, furchtbaren Wohnungen gelebt, aber Martine zog Usambaraveilchen, Kräuter und andere Zimmerpflanzen, die den sonst seelenlosen Zimmern eine gewisse Fröhlichkeit verliehen.

Nach dem Tod ihrer Schwester Avery und nach Alys Diagnose vernachlässigte ihre Mutter die Pflanzen und ihre Gesundheit, bis beide dahingewelkten.

Avangeline, ein Musterbild an Eleganz, beugte sich vor und tätschelte ihre Hand. Aly hatte nicht gewusst, was sie von dem Treffen mit der Großmutter ihres Organspenders erwarten sollte, aber sowohl die Milliardärin als auch deren Haushälterin Jacinta Knowles, die beiden Frauen, die Malcolm nach dem Tod seiner Eltern großgezogen hatten, hießen sie mit offenen Armen und ein paar Tränen willkommen.

Na ja – sie und Jacinta hatten ein wenig geweint. Avangeline war ungerührt geblieben, obwohl sie gerade die Frau kennengelernt hatte, die die Leber ihres geliebten Enkels in sich trug.

„Erzählen Sie uns von sich“, bat Avangeline.

Aly erzählte ihnen ein bisschen über ihr Leben, dass sie Anwältin und auf Social-Media-Recht spezialisiert war, dass sie verwaist war und in Jersey City lebte. Sie erklärte, dass Hepatitis C ihre Leber zerstört hatte, sodass sie ein Spenderorgan gebraucht hatte.

Sie beschloss, nicht zu sagen, dass sie in den letzten paar Monaten von Zeit zu Zeit die Vision gehabt hatte, wie ein Flugzeug gegen einen Berg prallte.

Avangelines leuchtend blaue Augen musterten sie forschend. „Was verschweigen Sie uns?“

Aly senkte den Blick. „Warum glauben Sie, dass ich Ihnen nicht alles sage?“

„Meine Liebe“, antwortete Avangeline mit ihrem aristokratischen englischen Akzent, „ich habe dreißig Jahre lang ein internationales Firmenimperium geführt. Ich merke es, wenn man mir Informationen vorenthält.“

Wie es schien, hatte die alte Dame nichts von ihrem Scharfsinn verloren.

„Okay, da ist noch was, aber ich muss Sie bitten, unvoreingenommen zu sein.“

Avangeline und Jacinta tauschten verwirrte Blicke. Aly fragte sich, wie sie ihnen etwas erklären sollte, das sie selbst nicht verstand. Sie glaubte an Fakten, Regeln und Gesetze, und was sie empfand und erlebte, war wissenschaftlich kaum zu untermauern und schlimmstenfalls völliger Quatsch.

Sie sah auf ihre Hände. „Ich weiß, dass Malcolm, mein Spender, Autos und Motorräder mochte.“

„Er hat Geschwindigkeit geliebt“, stimmte Jacinta zu.

Aly holte tief Luft. „Ich habe nie Auto fahren gelernt und hatte auch kaum Interesse daran. Öffentliche Verkehrsmittel waren genau das Richtige für mich. Aber kurz nach der Operation habe ich eine Krankenschwester um das neueste Heft von Popular Cars gebeten und die Artikel darin verschlungen. Bis zu dem Zeitpunkt konnte ich einen SUV nicht von einer Fließhecklimousine unterscheiden. Jetzt habe ich Ahnung von Drehmoment, Pferdestärken und Motorleistung. Ich habe meinen Führerschein gemacht und träume davon, mir irgendwann ein schnelles Auto oder sogar ein Motorrad zu kaufen.“

Avangeline runzelte die Stirn. „Ich nehme an, Sie wollen auf etwas Bestimmtes hinaus?“

Ja. Aly sprach rasch weiter: „Vor meiner Operation habe ich nie Zucker gegessen, sondern alles Süße gehasst. Jetzt nehme ich Zucker in meinen Kaffee, bin süchtig nach Süßigkeiten und kann nicht zu Bett gehen, ohne vorher Karamelleis zu essen.“

Jacinta fasste sich ans Herz. „Karamell war Mals Lieblingseissorte. Ich habe ihm immer Vorwürfe gemacht, weil er zu viel Zucker zu sich genommen hat.“

Genau. Aly stützte die Unterarme auf ihre Oberschenkel und verschränkte die Finger. „Es gibt eine Theorie, die man als zelluläres Gedächtnis bezeichnet. Sie beruht auf der Hypothese, dass Charakterzüge und Erinnerungen auch in anderen Organen als im Gehirn gespeichert werden. Ich muss Ihnen sagen, dass es keinen wissenschaftlichen Nachweis für diese Theorie gibt. Ich will selbst nicht daran glauben, ich bin viel zu rational und pragmatisch veranlagt …“

„Aber?“, fragte Avangeline.

„Ich kann mir meine Liebe zu Geschwindigkeit und meine Zuckersucht nicht anders erklären, und wenn das alles wäre, hätte ich Ihnen gar nicht davon erzählt.“

Avangeline nagelte sie mit einem Blick fest. „Was ist da noch?“

Oh Gott. Na gut, selbst wenn Avangeline sie hinauswarf, hatte sie sie zumindest kennengelernt und ihr gedankt. Sie würde einfach hoffen müssen, dass die kurzen Blicke auf den Flugzeugabsturz irgendwann verschwanden.

„Ich habe den Eindruck, dass da noch etwas ist – am Rand meines Bewusstseins. Etwas, das erledigt werden muss, wenn Sie so wollen.“ Sie musste eigentlich nur herausfinden, warum das Flugzeug abgestürzt war, aber das würde sie vorerst für sich behalten. „Ich habe das Gefühl, hier in Hatfield sein zu müssen, um dahinterzukommen – in Ihrer Nähe und der Ihrer Familie. Deshalb habe ich mir ein Sabbatjahr genommen und arbeite währenddessen hin und wieder im Home-Office für meine Firma.“

In dem Schweigen, das darauf folgte, schloss Aly die Augen, lauschte dem Meeresrauschen und atmete den wunderschönen Duft der Rosen ein, der mit der frühsommerlichen Brise hereingeweht kam. Calcott Manor war ein privates Anwesen an der Küste von Connecticut, nur fünfundvierzig Minuten von New York City entfernt, aber Aly hatte das Gefühl, in einem englischen Landhaus zu sitzen.

„Möchten Sie für eine Weile bleiben?“, fragte Avangeline.

Schockiert hob Aly den Kopf und riss die Augen auf. „Wie bitte?“

Als Avangeline sie nur anlächelte, breitete Aly verwirrt die Hände aus. „Ihnen ist klar, dass ich seltsame, unerklärliche Gedanken an Malcolm habe?“

„Ich bin nicht dumm, Mädchen. Bleiben Sie nun hier oder gehen Sie?“

Äh ... Aly sah Jacinta an, aber die nickte, als wäre das alles völlig normal. „Ich kann den Rest des Tages und morgen bei Ihnen verbringen“, antwortete sie. Den Abend wollte sie sich freihalten, falls Merrick sich bei ihr meldete. „Oder soll ich morgen wiederkommen?“

Avangeline schüttelte den Kopf. „Ich dachte, Sie könnten für den Sommer hier einziehen. Wir würden Sie gern besser kennenlernen.“

„Wirklich?“, fragte Aly zweifelnd. Avangeline gehörte zur amerikanischen Elite, sie … nicht. Sie war als Kind in Armut aufgewachsen und hatte hart darum kämpfen müssen, zur Mittelschicht aufzusteigen. Avangeline hatte auf ihrem Anwesen schon Mitglieder aus Königshäusern zu Gast gehabt. Sie dagegen hatte bisher noch nie auch nur einen Adligen gesehen.

„Am Ende meines Gartens gibt es einen Strand. Wir haben Pferde zum Reiten und Wälder, die sich erkunden lassen. Ich habe einen privaten Fitnessraum – meine Enkel haben darauf bestanden –, zwei Swimmingpools und eine riesige Bibliothek“, erklärte Avangeline.

Das alles waren gute Argumente, aber ein noch besseres war, dass sie hier in Calcott Manor – Malcolms Zuhause – vielleicht endlich erkennen würde, warum sie den Drang verspürte, mehr über den Flugzeugabsturz herauszufinden, bei dem seine Eltern, sein Onkel und seine Tante ums Leben gekommen waren.

Die Anwältin in ihr bestand jedoch darauf, die Bedingungen ihrer Abmachung von vornherein festzulegen. „Ich verlange nichts von Ihnen. Ich will nichts. Ich brauche weder Ihr Geld noch Ihren Einfluss oder sonst irgendetwas, sondern nur ein bisschen Zeit mit Ihnen. Das möchte ich gleich klarstellen.“

Sie hatte einen Großteil ihres Lebens auf sich und ihre kleine Schwester aufgepasst – das hatte sie tun müssen, weil ihre Mom drei Jobs gleichzeitig gehabt hatte, um ihnen ein Dach über dem Kopf, Essen im Kühlschrank und etwas zum Anziehen zu bieten. Sie brauchte nichts von irgendjemandem.

Avangeline winkte ab. „Das weiß ich, Alyson. Ich hätte Sie nicht auf mein Anwesen gelassen, ohne Sie gründlich zu überprüfen.“

Okay. Aly atmete aus. „Danke. Etwas Zeit mit Ihnen hier zu verbringen, wäre wunderbar.“

„Hervorragend“, stellte Avangeline fest.

Während Avangeline und Jacinta das Mittagessen besprachen – frische Lachssteaks mit Gartensalat –, warf Aly einen Blick auf ihr Handy. Ihr Herz schlug Purzelbäume, als sie sah, dass sie eine Nachricht von Merrick bekommen hatte. Albern – so schlecht hatte sich ihr Herz bisher nie benommen.

Sie öffnete die Nachricht und las sie. Dann las sie sie noch einmal.

Hey, wie wär’s mit einem späten Mittagessen? Wir können uns in einer Stunde treffen. Ich bin gerade in Calcott Manor angekommen und muss eine Hochstaplerin in die Flucht schlagen, die versucht, meine Großmutter übers Ohr zu hauen. Sobald ich nachher wieder in der Stadt bin, freue ich mich, wenn du mich in deinem Bett erwartest – nackt.

Ihr wurde heiß, dann kalt. Sie war noch dabei, seine Worte zu verdauen, als ihr Liebhaber vom Abend zuvor den Salon betrat.

Seine Augen richteten sich sofort auf sie und er stemmte die Hände in die Hüften. Sein schönes Gesicht wirkte finster. Verachtung, Enttäuschung und Schock traten in rascher Folge in seinen Blick, als ihm klar wurde, dass sie die Hochstaplerin war, die er hinauswerfen wollte.

„Scheiße“, murmelte er.

Scheiße, in der Tat.

Heute

Merrick Knowles stand in Avangelines Lieblingssalon in Calcott Manor und sah die üppigen Rosenbüsche draußen finster an. Es war völlig windstill. Der Himmel war leuchtend blau und es war ein perfekter Spätsommertag.

Er hätte gern mit der Faust eine der kleinen Glasscheiben eingeschlagen, aus denen die zweieinhalb Meter hohe Schiebetür zusammengesetzt war. Stattdessen ließ er seine Stirn am kühlen Glas ruhen und atmete tief durch. Und noch einmal. Nein. Er war stinksauer.

Das hätte er nicht sein sollen. Avangelines Erpresser – der Grund dafür, dass sie kein aktuelles Testament machen wollte – war endlich entlarvt. Avangeline hatte inzwischen ihren langjährigen, leidgeprüften Anwalt nach Calcott Manor bestellt, um ein neues Testament aufzusetzen. Eins der beiden Probleme, die ihn und seine Brüder belastet hatten, war gelöst.

Alles hatte im Frühling angefangen, als er, Soren, Jack und Fox erkannten, dass Avangelines Testament nicht mehr aktuell war. Weil ihre Großmutter nicht nur Anteile an den Firmen ihrer Enkel besaß, sondern ihnen auch Kredite gewährt hatte, hatten sie sich Sorgen gemacht, dass dem laufenden Betrieb bürokratische Hürden drohten, falls ihre Lieblings-über-Achtzigjährige verstarb. Misstrauisch geworden, weil ihre Großmutter sich geweigert hatte, das Vernünftige zu tun, suchten sie nach den Gründen dafür.

Irgendwann erfuhren sie von dem Erpresser – und von Familiengeheimnissen wie dem unkonventionellen Nebenerwerb von Jacks und Fox’ Eltern. Sie wussten jetzt auch, dass Avangeline seit Langem einen Geliebten hatte, dessen Identität noch immer unbekannt war.

Immerhin hatten sie den Erpresser enttarnt, der zufällig der Vater von Peyton war. Sie war Malcolms frühere und Jacks jetzige Verlobte.

Leider hatten sie das andere Problem, das sich Anfang des Sommers stellte – Avangeline von Alyson Garwood loszueisen –, nicht mal annähernd gelöst. Inzwischen hatte Aly sogar seine Brüder dazu gebracht, ihre Geschichte zu glauben, dass sie Malcolms Erinnerungen in sich trug.

Merrick seufzte.

Er hörte, wie eine Tür hinter ihm aufschwang. Als er sich umdrehte, sah er seine Mom in den Salon kommen. Sie trug ein Silbertablett mit Kaffeekanne und Bechern. Manchmal wirkte Jacinta kaum älter als die junge Frau, die sie gewesen war, als sie hier eingezogen war, um als Haushälterin für Avangeline zu arbeiten. Er war damals acht. An anderen Tagen sah man ihr an, dass sie über fünfzig war. Immer noch schlank und hübsch, aber weiser, mit einem lebenserfahreneren Gesichtsausdruck, und jetzt gerade mit einem traurigen.

Merrick knirschte mit den Zähnen. Wenn er den Bildhauer Pasco Conway fand, würde er ihm eine seiner eigenen Skulpturen in den Arsch schieben, weil er seiner Mom wehgetan hatte. Er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen und verhindern, dass die Romanze zwischen seiner Mom und dem berühmten Künstler überhaupt begann. Niemand durfte jemandem wehtun, den er liebte.

Genau das war auch der Grund für seinen intensiven Zorn. Er war der Beschützer der Familie Grantham, derjenige, der auf die Grantham-Jungs aufpasste – die zwar nicht in leiblicher, jedoch in jeder anderen Hinsicht seine Brüder waren – und auf Jacinta und Avangeline. Er war derjenige, der zum Militär gegangen war und über besondere Fähigkeiten verfügte.

Aber was hatte er dazu beigetragen, den Erpresser zu finden? Nichts.

„Irgendwann musst du mal aufhören, so finster vor dich hinzustarren“, sagte Jacinta und drückte ihm das Tablett in die Hand.

Er nahm es, und sie öffnete eine der beiden riesigen Glastüren, um hinaus auf die Terrasse zu einem schmiedeeisernen Tisch zu gehen. Merrick folgte ihr, stellte das Tablett auf den Tisch, goss sich einen Becher schwarzen Kaffee ein, setzte sich und streckte die langen Beine aus.

„Jetzt, da alle weg sind, ist es sehr still“, bemerkte seine Mutter.

Seine Brüder und ihre Partnerinnen waren heute Morgen abgereist. Für ihn fühlte es sich an, als hätte Calcott Manor, das efeubewachsene Herrenhaus hinter ihm, die Augen geschlossen und wäre eingeschlafen.

„Wir hatten viel zu besprechen“, sagte er und kreuzte die Knöchel.

„Peyton tut mir so leid. Sie ist ein reizendes Mädchen. Es ist schrecklich für sie, dass ihr Vater Avangeline erpresst hat.“

„Aber sie hat Jack und Noah“, stellte Merrick fest. Noah war Peytons und Jacks Sohn, das Resultat eines One-Night-Stands vor zwei Jahren. Aus ihrer Begegnung war also nach einiger Zeit doch noch etwas geworden. Im Gegensatz dazu hatte sich das, was er und Aly gehabt hatten, im Nachhinein als Katastrophe erwiesen.

„Wir sind nicht die Art von Familie, die Kinder für die Sünden ihrer Väter büßen lässt“, fügte Jacinta hinzu.

Er spürte ihren Blick auf seinem Gesicht und schloss hinter seiner Sonnenbrille die Augen. Nein, sind wir nicht.

„Sie haben viel durchgemacht“, stimmte er zu. „Es war eine ganz schöne Achterbahnfahrt, besonders für Avangeline.“

Merrick war sehr dankbar dafür, dass Harry – Peytons Vater und Avangelines Erpresser – auch nicht wusste, wie Avangelines Geliebter hieß, er wusste nur, dass sie einen hatte. Harry, der nicht im Gefängnis landen wollte, hatte sich bereiterklärt, den Mund über The Basement zu halten, den fragwürdigen Sadomaso-Club, dessen Eigentümer Fox’ und Jacks Eltern heimlich gewesen waren. Seine Brüder waren überzeugt, dass Avangeline nichts vom Basement wusste, doch er hatte seine Zweifel.

Avangeline wusste immer über alles Bescheid.

„Sie ist erstaunlich, oder?“, fragte Jacinta leise. „Sie ist meine Heldin.“

„Meine auch“, sagte Merrick leise. „Du aber auch.“ Er nahm die Sonnenbrille ab und umfasste ihre Hand. „Mom. Sie hat Unglaubliches geleistet, aber vergiss nicht, was du getan hast.“

„Ich hätte ihn nie heiraten sollen, Mer.“

„Du warst siebzehn. Wie hättest du ahnen können, dass hinter seiner charmanten Fassade ein Monster lauerte?“

Merrick verzog das Gesicht, als er daran zurückdachte, wie seine Mutter seinen Vater um Essen, Kleidung und Putzmittel anbetteln musste. Sein Vater hatte sie dafür geohrfeigt.

Er erinnerte sich, dass der Mann handgefertigte Lederschuhe und teures Eau de Cologne trug, während seine Frau und sein Kind sich fragten, wann sie das nächste Mal etwas zu essen bekommen würden. An die Blutergüsse seiner Mutter, ans Auftreffen eines Ledergürtels auf seinem Po und seinem Rücken.

„Er war ein gewalttätiges Arschloch, doch du bist ihm entkommen und hast uns zwei Jahre lang ganz allein vor ihm versteckt. Du hattest keinen Schulabschluss, aber dafür umso mehr Mut. Wenn wir geblieben wären, hätte er uns umgebracht.“

„Ich weiß.“ Jacinta lächelte leicht. „Gott sei Dank sind wir hier gelandet. Bei Avangeline.“

Merrick nickte. Ihr Job in Calcott Manor war der Rettungsring für sie gewesen. Natürlich hatten sie nicht geahnt, dass wenige Tage nach ihrer Ankunft Avangelines Zwillingssöhne und deren Frauen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen würden. Seine Mom organisierte die Beerdigung, richtete Zimmer für die vier Jungen ein und nahm sie in den Arm, wenn sie weinten. Er hielt sich im Hintergrund, um die Familie und seine Mom nicht noch mehr zu belasten.

Ungefähr sechs Wochen nach der Beerdigung sackte ihm das Herz in die Hose, weil er erfuhr, dass Avangeline seine Mutter dauerhaft und in aller Form einstellen wollte. Mit acht wusste er noch nicht, wie das System funktionierte, nur, dass sie darin nicht auftauchen durften, wenn sein Vater sie nicht finden sollte.

Er hatte Jacinta nie erzählt – und würde es auch nie tun –, dass er sich damals in Avangelines Arbeitszimmer schlich, um ihr das zu erklären.

Avangeline zog eine Augenbraue hoch und fragte ihn, was er sich dabei dachte, so bei ihr hereinzustürmen.

Er zog sein Shirt hoch und zeigte ihr die Narben von den Schlägen, die er bekommen hatte. „Wenn mein Vater uns findet, bringt er uns um“, sagte er. „Aber ich biete Ihnen einen Deal an …“

Sie legte den Kopf schief. „Ich höre.“

„Sie beschützen meine Mom, ich beschütze Ihre Enkel.“

„Du bist acht“, wandte Avangeline ein. „Was kannst du schon tun?“

„Schicken Sie mich auf dieselbe Schule, dann beschütze ich Malcolm, Fox, Jack und Soren.“

Avangeline reichte ihm die Hand und er schüttelte sie. Als er später in dem Monat auf die neue Schule kam, hatte Merrick Cantor sich in Merrick Knowles verwandelt.

Als er fünfzehn war, setzte Avangeline sich mit ihm und seiner Mutter zusammen und sagte ihnen, dass sein Vater tot war. Sie bot ihnen an, die Kosten dafür zu übernehmen, dass sie ihren alten Namen zurückbekamen, aber sie beschlossen, dass sie mit ihrer Vergangenheit nichts mehr zu tun haben wollten.

Avangeline tat viel mehr, als sie ursprünglich versprochen hatte. Sie bezahlte Schule und College für ihn und behandelte ihn wie einen weiteren Enkel. Sie unterstützte ihn, als er nach dem College beschloss, zum Militär zu gehen. Alles, was ihre Enkel bekamen, bekam auch er. Als er vom Militär zurückkehrte und nur die vage Idee hatte, aus einem Foodtruck gesundes Essen zu verkaufen, half sie ihm, einen Businessplan aufzustellen, und gab ihm das nötige Startkapital, sodass er seine Träume in ein millionenschweres internationales Franchiseunternehmen verwandeln konnte.

Sie war seine Großmutter, wenn auch nicht leiblich, und er würde alles für sie tun, aber er hatte absolut nichts dazu beigetragen, den Erpresser aufzuspüren.

„Warum siehst du so finster drein, Merrick?“, fragte Jacinta und schaute sich um. „Aly ist doch gar nicht hier.“

Er verzog das Gesicht. „Sehr witzig.“

Er und Aly hatten eine Nacht lang umwerfenden Sex gehabt und lieferten sich nun schon seit drei Monaten einen verbalen Schlagabtausch. Vermutlich, weil er wenige Augenblicke nach ihrem Wiedersehen in Calcott Manor und nur acht Stunden, nachdem er sie zu einem intensiven Orgasmus gebracht hatte, behauptete, dass sie eine Betrügerin sei.

Autor

Joss Wood

Schon mit acht Jahren schrieb Joss Wood ihr erstes Buch und hat danach eigentlich nie mehr damit aufgehört. Der Leidenschaft, die sie verspürt, wenn sie ihre Geschichten schwarz auf weiß entstehen lässt, kommt nur ihre Liebe zum Lesen gleich. Und ihre Freude an Reisen, auf denen sie, mit dem Rucksack...

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