Sinnliche Winternächte am Kamin

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IN DER HITZE DER NACHT

Ein romantisches Feuer knistert im Kamin, während draußen vor den Fenstern der Schneesturm tobt. Verlangend schmiegt Neve sich an den glutäugigen Fremden, der sie aus dem Unwetter gerettet hat. Obwohl sie Severo Constanza gerade erst kennengelernt hat, begehrt sie ihn wie noch keinen Mann zuvor. Und so schiebt sie in der Hitze der Nacht alle Bedenken beiseite. Sie will ein einziges Mal glücklich sein, den Liebesschwüren dieses faszinierenden Mannes glauben. Denn wenn er erst von dem Skandal in ihrem Leben erfährt, wird er sie bestimmt eiskalt wieder fallenlassen …

SINNLICHE NÄCHTE AM KAMIN

Im Schein des Kaminfeuers schläft Leo Cavallo, den Oberkörper entblößt und die pure Verlockung. Der Milliardär hatte sich in Phoebes Berghütte eingemietet - und ihr den schönsten Winter ihres Lebens beschert. Gemeinsam haben sie Weihnachten geplant, das Baby ihrer Schwester gehütet, verheißungsvolle Küsse getauscht … Doch der Zauber ihrer Zweisamkeit weckt bittere Erinnerungen an ihr verlorenes Familienglück. Und mit Workaholic Leo kann es kein Neues geben. Oder? Phoebe mustert den Adonis. Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden - sie muss es ausprobieren. Und zwar jetzt!

VERSÖHNUNG AM KAMIN

"Verzeih mir …" Verzweifelt steht Helen vor Alexander, mit dem brennenden Wunsch im Herzen, das Unrecht an dem Mann, den sie liebt, wieder gut zu machen. Wird er ihre Entschuldigung annehmen, sie zärtlich am Kaminfeuer küssen - oder sie kühl fortschicken?

KÜSSE IN DER WEIHNACHTSNACHT

Eingeschneit an Weihnachten mit einem aufregenden Fremden! Davon hätte die scheue Lehrerin Jessica nie zu träumen gewagt. In einer einsamen Hütte weit draußen im kanadischen Bergland schmiegt sie sich in seine Arme - und ahnt dabei nicht, mit wem sie diese Winternacht verbringt ?


  • Erscheinungstag 01.02.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733735432
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Kim Lawrence, Janice Maynard, Penny Jordan, Catherine Spencer

Sinnliche Winternächte am Kamin

Kim Lawrence

In der Hitze der Nacht …

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2010 by Kim Lawrence
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 2007 - 2012 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Christiane Hesse

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format im 01/2012 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86494-019-4

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY, STURM DER LIEBE

 

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1. KAPITEL

In jeder Hand einen dampfenden Becher balancierend versuchte Neve sich einen Weg durch das Gedränge zu bahnen, wobei sie entschuldigend nach allen Seiten lächelte. Es gab keinen einzigen freien Sitzplatz mehr, und überall standen Gepäckstücke herum. Suchend blickte Neve umher, aber Hannah schien verschwunden zu sein. Zumindest war sie nicht mehr dort, wo Neve sie zurückgelassen hatte.

Mein Fehler, schoss es ihr durch den Kopf. „Bleib hier, bis ich wiederkomme!“, hatte sie Hannah gebeten, bevor sie sich selbst an der Bar anstellte.

Sie seufzte einmal tief auf. Du lernst auch nie.

Hannah reagierte auf jede Anordnung – oder das, was sie als eine solche empfand – damit, das genaue Gegenteil zu tun. Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben, in den Ferien könnten wir zueinanderfinden? Diese Hoffnung kam Neve jetzt geradezu lächerlich vor.

Suchend sah sie sich um. Ihr Blick schweifte durch die schummrige Wirtsstube, in der sich ihre Leidensgenossen drängten – Menschen, die ebenso wie sie selbst vom Schneesturm überrascht in diesem abgelegenen Landgasthof gestrandet waren. Neve sah zum Fenster hinüber – hinter den bleigefassten Butzenscheiben tobte der Blizzard mit unverminderter Heftigkeit. Inzwischen war bereits der gesamte Verkehr im westlichen Landesteil lahmgelegt, und es sah nicht so aus, als würde sich der Himmel bald aufhellen.

Plötzlich blitzte in einiger Entfernung etwas auf, und Neve entdeckte den grellblau gesträhnten Haarschopf ihrer Stieftochter, die inzwischen auf einer Holzbank am Fenster saß.

Neve holte tief Luft und begann in Hannahs Richtung zu steuern – möglichst, ohne jemanden mit dem heißen Kakao zu verbrühen.

„Gut gemacht! Du hast tatsächlich noch einen Sitzplatz ergattert!“ Es schien ihr das Klügste zu sein, gar nicht auf die neue Provokation einzugehen. „Ich dachte schon, ich hätte dich verloren.“ Neve stellte den Kakao auf dem Fensterbrett neben einer Schale mit blauen Hyazinthen ab und nahm die Wollmütze vom Kopf. Mit beiden Händen fuhr sie sich durch die rotbraunen Locken, die ihr nun ungebändigt über die Schultern fielen.

Das lodernde Kaminfeuer verbreitete eine angenehme Wärme im Raum. Erleichtert zog Neve die dicke Winterjacke aus. „Ich dachte mir, ein heißer Kakao könnte unsere Lebensgeister wieder wecken … mit einer Extraportion Sahne natürlich!“ Sogar in ihren eigenen Ohren klangen diese Worte künstlich und leicht gezwungen.

Offenbar empfand Hannah das genauso, denn sie bedachte Neve mit einem so verächtlichen Blick, wie ihn nur ein renitenter Teenager zustande brachte. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele Kalorien in so einer Tasse Kakao sind? Eigentlich müsstest du rund wie eine Kugel sein!“

Neve fragte sich, ob sie vielleicht besser miteinander auskämen, wenn sie zwanzig Pfund schwerer wäre.

Aber das würde sie sowieso nie erreichen. Sie konnte essen, was sie wollte, ihr Körper blieb immer gertenschlank. Liebend gern hätte sie ihn gegen einen etwas weiblicheren mit üppigeren Rundungen eingetauscht.

Kaum saß Neve neben Hannah auf der Bank, als diese auch schon ans andere Ende rückte. Neve seufzte innerlich und gab den Versuch auf, weiterhin gute Laune zu versprühen.

„Es wird sicher bald aufhören zu schneien.“

Allerdings sah es nicht so aus, als würde sich diese Prognose in naher Zukunft erfüllen. Das bedeutete, sie saßen weiter hier fest – was allerdings auch nicht gerade ein unzumutbarer Zustand war, wie Neve fand. Es gab Schlimmeres, zum Beispiel da draußen im Schneesturm zu stecken. Unwillkürlich überlief Neve ein Schauer, als sie an die schneebedeckten Weiten der Moore von Devon dachte.

Hannah schüttelte unwillig den Kopf, als hätte sie gerade etwas besonders Dummes gehört, und eine leuchtend blaue Strähne fiel ihr ins Gesicht. Diese Strähnen waren der Grund für das Gespräch gewesen, zu dem die Direktorin des Internats Neve kürzlich einbestellt hatte.

Natürlich war Neve sofort erschienen. Doch in dem nüchternen Büro der Schulleiterin saß sie schließlich etwas verloren vor dem wuchtigen Schreibtisch und fühlte sich nicht wie eine Mutter, die die Sorge der Direktorin teilte, sondern eher wie eine zurechtgewiesene Schülerin.

„Es sind nicht nur die Haare, Mrs Macleod … oder die Zigaretten.“ Stirnrunzelnd öffnete die Direktorin die Akte auf ihrem Schreibtisch. „Ich habe den Eindruck, die Situation spitzt sich zu. Allmählich sollte man wirklich ernsthaft durchgreifen. Und dafür müssen wir an einem Strang ziehen.“

Neve nickte kleinlaut. Hoffentlich sah die Direktorin ihr nicht an, wie überfordert sie sich fühlte. Offensichtlich war sie als Erziehungsberechtigte eine Niete!

„Es gab bereits zahlreiche Zwischenfälle – nicht immer ganz harmlos. Wir können von Glück sagen, dass der Besitzer des Lieferwagens auf eine Anzeige verzichtet hat. Normalerweise hätte dieser letzte Vorfall den sofortigen Ausschluss aus der Schule bedeutet. Angesichts der tragischen Umstände jedoch …“

„Für Ihr Verständnis sind wir Ihnen wirklich sehr dankbar.“ Dass es mit Hannahs Dankbarkeit nicht weit her war, verschwieg Neve wohlweislich.

„Die größten Sorgen macht uns Hannahs aggressives Verhalten. Sie scheint die Konfrontation geradezu zu suchen.“

Ach, tatsächlich? spottete Neve innerlich. Laut sagte sie: „Ich bin mir sicher, es ist nur eine Phase.“

„Auch ihre Leistungen haben drastisch nachgelassen.“

„Es ist wirklich schwer für meine Stieftochter – sie und ihr Vater standen einander sehr nahe.“

„Ich kann mir denken, dass die Situation für Sie beide nicht ganz einfach ist.“

Entsetzt fühlte Neve die Tränen aufsteigen. Dabei wollte sie doch unbedingt einen reifen, gefassten Eindruck machen.

Aber die unvermittelte Wärme in der Stimme der älteren Frau brachte Neves mühsam errichtete Selbstbeherrschung ins Wanken. Etwas, was alle Schmähungen der Presse und all die ihr entgegengeschlagene Verachtung nicht vermocht hatten.

Neve fischte dankbar ein Kleenex aus der Schachtel, die die Direktorin ihr hinüberschob, und putzte sich geräuschvoll die Nase.

„Vielen Dank“, murmelte sie und meinte damit nicht nur das Taschentuch.

Hinter ihr lagen harte Monate, in denen die Presse nicht gerade zimperlich mit ihr umgegangen war. Man stempelte sie als eiskalt und berechnend ab, als eine Frau, der es nur um das Vermögen eines Todgeweihten ging. Damals meinte ihr Bruder Charlie, es gebe doch Schlimmeres: Früher wäre Neve – allein schon ihrer roten Haare wegen – als Hexe verbrannt worden.

Anfangs gab es durchaus noch Menschen, die zu ihr hielten und sie nicht von vornherein verurteilten. Aber als ein ehrgeiziger Journalist dann weiter recherchierte und herausfand, dass Charlie in James’ Firma Gelder veruntreut hatte, war es mit dem Verständnis vorbei.

Neve versuchte gar nicht erst, sich zu verteidigen. Wie auch? Die Tatsachen konnte sie nicht leugnen: Sie hatte einen sterbenden Mann geheiratet, der ihr ein unermessliches Vermögen hinterlassen hatte. Und Charlie hatte tatsächlich Gelder veruntreut.

Niemand würde sich für die Wahrheit interessieren: Dass sie keinen Cent von dem Erbe für sich selbst ausgab und James’ Heiratsantrag damals aus Dankbarkeit angenommen hatte – Dankbarkeit für sein Verständnis und seine Güte ihr und ihrem Bruder gegenüber.

„Wir haben schon viel Verständnis für Hannah gezeigt. Aber ein Kind braucht Grenzen“, unterbrach die Stimme der Direktorin Neves Gedanken.

Schuldbewusst nickte sie. Leicht gesagt! Hannah hört mir ja nicht einmal zu, wenn ich mit ihr rede! Wenn sie selbst nur halb so viel natürliche Autorität ausstrahlen würde wie die Direktorin, sähe sicher alles ganz anders aus …

„Ich habe den Eindruck, dass Hannah die erneute Beurlaubung auf die leichte Schulter nimmt. Wenn ich Ihnen einen Rat geben dürfte …?“

„Ich bitte Sie darum!“

„Sie will doch in den Weihnachtsferien mit ihrer Freundin und deren Eltern in den Skiurlaub fahren, nicht wahr?“

Neve nickte zögernd. Es dämmerte ihr bereits, worauf die Direktorin hinauswollte – und dass das ihr Leben nicht einfacher machen würde.

Und so kam es auch – schlagartig wurde sie zum Feind Nummer eins – schuld an aller Unbill, die ihrer Stieftochter je widerfahren war, schlechtes Wetter eingeschlossen.

Irgendetwas machte sie falsch. Es musste an ihr liegen, dass alles so schwierig war.

Wie hatte James es ausgedrückt: Du mit deinen dreiundzwanzig Jahren hast noch nicht vergessen, wie es ist, ein Teenager zu sein.

Das stimmte zwar, aber sie selbst war ein ganz anderer Teenager gewesen als Hannah.

Ich verlange ja auch gar nicht, dass du ihr die Mutter ersetzt, Neve. Aber du kannst für sie da sein. Sie wird eine Freundin brauchen.

Das war schon möglich. Aber Hannah wollte nicht ausgerechnet sie. Im Gegensatz zu James erwartete Neve das auch gar nicht. Aber eine so heftige Feindseligkeit war doch schwer auszuhalten.

Es machte alles unglaublich anstrengend. Neve fühlte sich zutiefst erschöpft … und deprimiert.

Wäre James’ Verfügung für Neve in seinem Testament nicht ganz so großzügig ausgefallen, hätte es vielleicht keinen so großen Skandal gegeben. Er wollte nur ihr Bestes – die gute Absicht schlug jedoch ins Gegenteil um.

Die Beziehung zu James’ Tochter war für Neve nie einfach gewesen, jetzt aber schlug ihr deren grenzenlose Verachtung entgegen. Für Hannah stand inzwischen fest, dass es Neve ausschließlich um das Geld gegangen war.

Neve fühlte sich als völlige Versagerin. James hatte ihr vertraut – dabei fühlte sie sich schon überfordert, wenn sie lediglich ein Haustier versorgen sollte. Und hier ging es um ein halbwüchsiges Mädchen! Welcher Teufel hat mich nur geritten, dem zuzustimmen … mich darauf einzulassen?

Hannahs Stimme riss Neve aus ihren Gedanken. „Ich langweile mich“, jammerte sie in einem Ton, in dem ein deutlicher Vorwurf mitschwang.

Wer sollte auch sonst schuld sein? dachte Neve sarkastisch. Offensichtlich funktionierte die Taktik der Konfliktvermeidung überhaupt nicht. Allerdings erschien es ihr ebenso sinnlos, die böse Stiefmutter zu spielen. Es musste doch einen Mittelweg geben!

„Ich habe mir überlegt, vielleicht könnten wir in den Ferien etwas zusammen unternehmen? Shoppen gehen oder …“

„Na, vielen Dank! Es ist nicht mein Ding, in Secondhandläden rumzuhängen“, gab das Mädchen spitz zurück und verdrehte die Augen. „Außerdem – hat dir noch nie jemand gesagt, dass rote Haare und ein pinkfarbener Pullover absolut nicht zusammenpassen?“ Demonstrativ schüttelte sie sich, während sie abwechselnd Neves wilde Locken und deren Pulli geringschätzig musterte.

Diese Kritik ließ Neve, selbst Besitzerin eines Secondhandladens, relativ kalt. Sie bekannte sich zu ihrem Geschmack. Ihr Pulli stammte sogar aus ihrem eigenen Laden. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, und sie hatte spontan beschlossen, ihn selbst zu behalten. Seit ihrer Jugend liebte sie Vintagekleidung. Sie konnte Stunden damit zubringen, in den Läden die Wühltische mit gebrauchter Kleidung oder die Kleiderkammern sozialer Einrichtungen zu durchstöbern. Daraus entwickelte sie einen Stil, den wohlmeinende Freunde als höchst individuell bezeichneten, die meisten anderen Menschen jedoch etwas befremdlich fanden.

Neves Geschmack und Kleidungsstil veränderten sich nach der Hochzeit mit James nicht, obwohl dieser ihr ein eigenes Konto eingerichtet und monatlich eine äußerst ansehnliche Summe überwiesen hatte. Seine Großzügigkeit war ihr jedoch immer unangenehm gewesen, da die Ehe letztlich nur auf dem Papier bestanden hatte.

„Vintage ist im Moment absolut in, weißt du das denn nicht?“ Neves Kunden wussten es jedenfalls, der Laden boomte förmlich.

„Was du da anhast, war nie in!“

„Du könntest mich ja beim Shoppen beraten!“, schlug Neve versöhnlich lächelnd vor.

„Du kannst ruhig aufhören, so scheinheilig zu tun! Es ist niemand da, dem du etwas vormachen musst. Außerdem gelingt es dir sowieso nicht, die Leute zu täuschen. Jeder weiß, warum du Dad geheiratet hast.“

„Ich habe deinen Vater sehr geschätzt, Hannah.“

„Du meinst wohl, sein Geld! Oder willst du etwa behaupten, du hättest ihn geliebt?“

„Dein Vater war ein äußerst liebenswerter Mensch“, antwortete Neve ausweichend.

„Und du bist eine geldgierige Tussi!“, schrie Hannah sie an und stürmte wütend davon.

Hochrot vor Scham wich Neve den Blicken der Umstehenden aus. Sie wünschte sich nur noch, der Fußboden möge sich auftun und sie gnädig verschlingen.

Als klar wurde, dass nur noch ein Wunder ihn rechtzeitig zum Meeting bringen würde, war Severo nicht gerade begeistert, nahm es aber mit schicksalsergebener Gelassenheit. Die Aussicht, womöglich in seinem Geländewagen übernachten zu müssen, stimmte ihn zwar nicht heiter, erschien ihm aber auch nicht als Katastrophe.

Vorsichtig nahm er eine Kurve und trat fluchend auf die Bremse. Es gelang ihm gerade noch, einen Auffahrunfall zu vermeiden, denn ein Personenwagen stand quer mitten auf der Straße. Severo stieg aus und ging durch das dichte Schneegestöber auf den Wagen zu. Da die Autotüren verschlossen waren, ging er davon aus, dass den Insassen nichts zugestoßen war.

Dieser Zwischenfall machte ihm endgültig klar, dass es keinen Sinn hatte, weiterzufahren. Dem Wetterbericht zufolge lagen die Straßen dieser Gegend unter einer dichten Schneedecke, und die Polizei rief dazu auf, nur dann zu fahren, wenn es absolut unumgänglich war.

Man solle zu Hause bleiben, war der Rat. Dazu müsste man erst einmal dort hinkommen, dachte Severo lakonisch, während er sich zu seinem Auto zurückkämpfte. Fast hatte er es erreicht, als er durch das Flockentreiben hindurch die hell erleuchteten Fenster eines Hauses erblickte. Nach zehn Minuten Fahrt durch kniehohe Schneeverwehungen kam er schließlich dort an.

Anscheinend bin ich nicht der Einzige, der hier mitten im Nirgendwo gestrandet ist, dachte er, als er beim Aussteigen die verschneiten Autos vor dem Pub sah.

Er wollte gerade die Eingangstür öffnen, als sein Handy klingelte. Schnell warf er einen Blick auf das Display, aber als er die Nummer erkannte, hätte er den Anruf am liebsten ignoriert. Beim letzten Telefonat mit seiner Stiefmutter war sie gerade wegen Ladendiebstahls festgenommen worden.

Nicht abzunehmen konnte jedoch dramatische Konsequenzen nach sich ziehen. Einmal hatte sie daraufhin kurzerhand einen Ring aus dem Familienschmuck verkauft – etwas, was ihr gar nicht zustand. Das Schmuckstück wieder zurückzukaufen erwies sich damals als äußerst schwieriges und langwieriges Unterfangen.

Als Kind musste Severo miterleben, wie Livia seinen Vater hinterging und ihm darüber hinaus allerhand Lügengeschichten über seinen Sohn auftischte. Damals hatte Severo sich geschworen, es ihr heimzuzahlen, sobald ihm das möglich sein würde.

Jetzt war es so weit, aber die Prioritäten in seinem Leben hatten sich geändert. Seinem Vater konnte dieses raffgierige Weib endgültig nicht mehr schaden, und ihm selbst konnte sie auch nichts mehr anhaben – wenn man einmal davon absah, dass sie ihn von einer peinlichen Situation in die nächste brachte. Und damit schadete sie ständig dem Ruf seiner Familie.

Aber das war ihm gleichgültig. Severo war inzwischen in einer Position, in der ihm die Meinung der Leute völlig gleichgültig war. Auch der Vergangenheit trauerte er nicht nach. Um das Vermögen der Constanza-Familie wäre es allerdings besser bestellt gewesen, wenn etwas mehr Realitätssinn statt verklärender Nostalgie geherrscht hätte.

Heute ließ Livia – einst Livia Larsen, eine viel beachtete blonde Schönheit – nichts unversucht, um sich zu ruinieren.

Severo konnte sich also Zeit und Energie sparen. Er wünschte sich lediglich, sie würde einfach in einem jener teuren Sanatorien bleiben, in denen sie von Zeit zu Zeit eincheckte.

„Livia?“

Schnell hielt er den Hörer vom Ohr weg, als die schrille Stimme seiner Stiefmutter ertönte. Wie üblich begann sie sofort, ihn wüst zu beschimpfen, dass er sich nicht genug um sie kümmere.

„Wie soll ich denn von diesen Almosen leben, die du mir zugestehst?“, beklagte sie sich. „Du hast mehr Geld, als du ausgeben kannst! Du bist stinkreich – wie dieser König aus der griechischen Sage: Was du anfasst, wird zu Gold.“

Severo rieb sich erschöpft die Stirn. Immer wieder dieselbe Tirade! Gleichgültig, wie viel Geld er Livia gab – es reichte ihr nie. Aber was sollte er machen?

„Kannst du mir nicht etwas leihen? Ich zahle es auch ganz sicher zurück! Mit Zinsen! Dein Vater hätte sich bestimmt gewünscht, dass …“ Plötzlich brach die Verbindung ab.

Ohne Bedauern schaltete Severo sein Handy aus und steckte es in die Tasche.

Er wollte gerade die Gaststube betreten, als die Tür aufgestoßen wurde und ein kleines, zierliches Persönchen an ihm vorbei nach draußen stürmte. Trotz der arktischen Temperaturen trug sie weder Hut noch Jacke. Verblüfft sah Severo ihr nach und registrierte den hellrosa Pullover mit den Gänseblümchen, als sie herumwirbelte: „Haben Sie gesehen, in welche Richtung sie gelaufen ist?“

Fragend blickte sie Severo mit angsterfüllten blauen Augen an – sie waren von einem so strahlenden Blau, dass er gar nichts anderes wahrnahm. Dieser Moment dauerte nur sekundenlang – schon drehte sie sich um und rannte weiter.

Sie lief zum Parkplatz – ein winziger rosa Punkt inmitten der weißen wirbelnden Flocken. „Oh, nein!“, hörte Severo sie aufschreien, während ein Auto mit quietschenden Reifen davonraste.

Eigentlich war Severo nicht der Beschützertyp. Er spielte nicht gern den Ritter, denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass Frauen das oft missverstanden. Aber etwas in ihm wurde angerührt und trieb ihn dazu, diesem hilflosen Wesen mit dem flammendroten Haarschopf zu Hilfe zu eilen. Fast hatte er sie eingeholt, als sie in eines der Autos sprang und losfuhr. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm klar wurde, dass es sein eigener Wagen war.

Reglos blieb er mitten im Schneetreiben stehen: Der Zündschlüssel – er hatte ihn im Schloss gelassen! Außerdem lag sein Laptop mit sämtlichen brisanten Geschäftsdaten noch im Wagen. Und das Einzige, woran er denken konnte, war ein Paar strahlendblauer Augen!

Severo verfluchte sich für seine Dummheit, was leider auch nichts mehr nützte. Dann drehte er sich um, atmete einmal tief durch und öffnete die Tür zum Lokal.

2. KAPITEL

Als die Tür aufflog, wurde es für einen Moment ganz still im Lokal. Gespräche und Lachen verebbten, während alle Blicke sich auf den eintretenden Fremden richteten.

Der hochgewachsene, breitschultrige Mann schien nicht zu bemerken, welche Wirkung sein Erscheinen ausübte. Suchend sah er sich im Gastraum um.

Mit seinen klassischen Gesichtszügen und dem Körper eines Olympioniken schien er geradewegs einem Businessmagazin für Top-Manager entstiegen zu sein.

Nichts an ihm verriet, dass er gerade einem Blizzard entronnen war – lediglich ein paar Schneeflocken lagen auf seinem kurzen schwarzen Haar und dem Kamelhaarmantel, den er jetzt langsam aufknöpfte. Darunter wurden ein blütenweißes Hemd und eine sorgfältig geknotete Seidenkrawatte sichtbar.

Zielstrebig ging er auf die Theke zu. Als wäre ein Bann gebrochen, nahmen die anderen Gäste ihre Gespräche wieder auf.

„Mein Auto ist gerade auf dem Parkplatz gestohlen worden – von einer Frau mit roten Haaren, die aus Ihrem Lokal kam“, teilte er dem Wirt mit.

„Weit wird sie es ja nicht schaffen“, erwiderte dieser knapp.

„Höchstens bis zum nächsten Graben“, warf einer der Gäste trocken ein und trank einen Schluck aus seinem Bierglas.

Severo schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben, das plötzlich vor seinem inneren Auge aufstieg: Wie in Zeitlupe sah er die zierliche rothaarige Person gegen die Windschutzscheibe fliegen. Ob sie überhaupt daran dachte, sich anzuschnallen? Er warf dem Zyniker an der Bar einen eisigen Blick zu, worauf dieser verlegen in sein Bierglas sah.

„Tja, ich fürchte, da können wir nicht viel tun. Waren denn Wertgegenstände im Wagen?“

Irritiert von der Gleichgültigkeit des Wirts schüttelte Severo den Kopf. Im Geiste ging er alle Dinge im Auto durch: Pass, Kreditkarten und natürlich Geschäftsunterlagen mit geheimen Details von unschätzbarem Wert für seine Konkurrenten.

„Na, dann ist es ja gut.“

Severos innere Anspannung wuchs. Er schloss die Augen und rieb sich mit einer Hand den Nacken, um die Muskeln zu lockern.

„Wie wäre es mit einem Drink?“

„Nein, danke.“

„Eine Rothaarige war es, haben Sie gesagt?“

Bestätigend nickte Severo und sah wieder die wilde Lockenmähne vor sich.

„Vielleicht kennt sie hier ja jemand. Allerdings ist es heute ziemlich überfüllt, wie Sie sehen …“ Der Wirt machte eine ausholende Geste über die Köpfe der Anwesenden hinweg. Mit einem lauten Knall setzte er einen Bierkrug auf der Theke ab. „Hat jemand hier eine Rothaarige bemerkt?“, versuchte er mit seinem lauten Bass das Stimmengewirr zu übertönen.

Sofort hoben sich ein paar Hände – von männlichen Gästen. Wie könnte es anders sein, dachte Severo. Die Autodiebin gehörte nicht zu dem Frauentyp, der von Männern übersehen wurde. Niemand schien sie jedoch zu kennen.

„Dann bleibt mir nur übrig, Ihnen einen Platz am Kamin und eine Decke anzubieten – und natürlich gibt es reichlich zu essen und zu trinken.“ Den Wirt schien wirklich nichts aus der Ruhe bringen zu können.

Allerdings konnte Severo diese Gelassenheit nicht teilen. Ablehnend schüttelte er den Kopf, als der Wirt die Whiskyflasche hob.

Wieder tauchte vor Severos innerem Auge ein Bild auf – diesmal das eines leblosen Körpers, der unbeweglich über dem Lenkrad hing und nach und nach von Schneeflocken bedeckt wurde, die durch die zertrümmerte Windschutzscheibe hereinwirbelten.

Es war nicht seine Schuld, wenn diese Verrückte in seinem Auto zu Schaden kam. Schließlich hatte er sie nicht darum gebeten, es zu stehlen!

„Morgen, wenn die Straßen geräumt sind …“

Dann konnte es bereits zu spät sein! „Wir sollten die Polizei benachrichtigen.“

Severo nahm sein Handy aus der Manteltasche. Ein Blick genügte – keine Verbindung!

„Das Festnetz funktioniert auch nicht. Im Moment geht gar nichts mehr. Wenn Sie mich fragen, trinken Sie am besten erst mal was. Mehr können Sie im Moment nicht tun.“

Severo nickte und bestellte einen Kaffee. Vielleicht hatte der Mann recht – andererseits gab es immer verschiedene Optionen.

„Diese Skier auf der Veranda, wem gehören die eigentlich?“

Der Wirt deutete auf eine Gruppe junger Männer. „Studenten – wollten noch weiter rauf in die Berge.“

Severo durchzuckte ein Gedanke. Eine Viertelstunde später war er bereits dabei, ihn in die Tat umzusetzen – gegen alle Warnungen. In einem geliehenen Skianzug, ein Paar Skier untergeschnallt, fuhr er los – in die Richtung, in der sein Wagen verschwunden war.

Inzwischen hatte der Sturm zwar etwas nachgelassen, aber der Schnee fiel unvermindert heftig.

Mit Sicherheit wäre er an dem Fahrzeug vorbeigefahren, hätte er nicht auf einer Anhöhe gehalten und den Horizont abgesucht. In einiger Entfernung sah er das Scheinwerferlicht des Wagens, der offenbar tief in einer Schneewehe steckte.

Severo glitt durch das dichter werdende Schneetreiben auf den Geländewagen zu. Das Bild, das sich ihm beim Eintreffen bot, entsprach fast genau der Szene aus seiner Fantasie – glücklicherweise ohne den leblosen Körper über dem Lenkrad. Sie ist nicht nur eine Diebin, dachte er zynisch, sie ist auch noch lebensmüde. Wie konnte sie bei diesem Wetter den Schutz des Wagens verlassen!

Glücklicherweise befanden sich seine Sachen genau dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Das Vernünftigste wäre, alles zusammenzupacken und zurück zum Gasthof zu gehen. Schließlich war er nicht für eine unbekannte Verrückte verantwortlich, die im Schnee herumirrte. Es geschähe ihr recht, wenn sie als Opfer in die Unfallstatistik Eingang fände – er selbst aber würde sich für den Rest seines Lebens Vorwürfe machen!

Nach einem kurzen, aber heftigen inneren Kampf gab er seufzend auf und begann nach der verschwundenen Fahrerin zu suchen. Er hoffte nur, niemand würde von seiner Mission erfahren, sonst wäre sein Ruf als nüchterner und hartgesottener Geschäftsmann vollends ruiniert.

Ein Lächeln voll grimmiger Genugtuung huschte über sein Gesicht, als er nach kurzer Suche die ersten Fußabdrücke entdeckte. Weit konnte die Diebin demnach nicht sein, sonst wären die Spuren schon zugeschneit!

Es war ihm ein Leichtes, den Weg zu verfolgen, den sie genommen hatte: Abgesehen davon, dass sie öfter hingefallen war … drehte sie sich im Kreis!

Die dichte Schneedecke schien alle Geräusche zu schlucken. Nur noch die eigenen keuchenden Atemzüge drangen an Neves Ohr, während sie sich Schritt für Schritt vorankämpfte. Sie war völlig erschöpft. Lediglich die Verzweiflung hielt sie noch aufrecht. Von Sekunde zu Sekunde wurde ihre Panik größer – es kostete sie die letzten Reserven, nicht aufzugeben.

„Ich mag Schnee, ich liebe Schnee!“, murmelte sie wie ein Mantra vor sich hin. Wieder stürzte sie – mindestens zum fünften Mal, wenn sie sich nicht verzählt hatte.

Ihre Enkelkinder, sollte es diese jemals geben, würden eines Tages gelangweilt die Augen rollen, wenn sie wieder mit dieser Geschichte anfinge. Andererseits war eine Geschichte, die mit dem Tag begann, „als Großmutter damals das Auto stahl“, vielleicht nicht gerade pädagogisch wertvoll.

Sie blieb auf dem weichen Schnee liegen und schloss die Augen. Nur für einen kurzen Moment, sagte sie sich, dann wollte sie wieder aufstehen. Ansonsten würde es später keine Enkel geben, für die sie ein warnendes Vorbild sein konnte.

Sie musste aufstehen, weil James ihr vertraut hatte und sie ihn niemals enttäuschen durfte.

Während sie da im Schnee lag, erschien es ihr plötzlich, als hörte sie seine Stimme: „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Neve.“

„Aber natürlich – alles was du willst!“, hatte sie geantwortet und es auch so gemeint.

James Macleod war ein Studienkollege ihres Vaters gewesen. So kam es, dass er Charlie einen Job anbot. Was dieser ihm dankte, indem er Geld unterschlug, um seine Spielsucht zu finanzieren.

Als Charlie klar wurde, dass die ganze Sache auffliegen würde, wollte er außer Landes fliehen. Vorher allerdings beichtete er alles seiner Schwester, die dann zu James ging und ihn anflehte, die Polizei aus dem Spiel zu lassen.

Erstaunlicherweise ging dieser darauf ein. Er beglich die unterschlagene Summe aus seinem Privatvermögen – unter einer Bedingung: Charlie musste sich wegen seiner Spielsucht in therapeutische Behandlung begeben.

Und deshalb würde Neve James jeden Gefallen tun.

„Heirate mich.“

Damit allerdings hatte sie nicht gerechnet!

„Du bist schockiert.“

„Nein! Nein“, log Neve. Nie hätte sie vermutet, dass James Gefühle solcher Art für sie hegte.

Leider erwiderte sie diese nicht. Schuldbewusst fragte sie sich, ob irgendetwas in ihrem Verhalten Hoffnungen ihn ihm geweckt haben könnte. Das Blut schoss ihr in die Wangen, während sie verzweifelt überlegte, wie sie den Heiratsantrag ablehnen könne, ohne James zu verletzen.

„Das … das ist … ich fühle mich geehrt, aber ich …“, stammelte sie.

„Du liebst mich nicht … natürlich nicht. Ich könnte dein Vater sein … Weißt du, es wäre auch nicht für lange, Neve. Ich weiß, das klingt seltsam, aber bitte höre mich in Ruhe an … ich habe nicht mehr viel Zeit …“

Neve wusste, was James damit meinte: Die Krankheit war zurückgekehrt – die Krankheit, gegen die er seit Jahren ankämpfte.

„Die Prognose ist nicht günstig. Ich habe noch zwei Monate – höchstens. Bitte weine nicht, Neve. Ich hatte Zeit, mich darauf einzustellen und meinen Frieden zu machen. Ich bin müde – und das Kämpfen leid. Mein einziges Problem ist Hannah ... sie allein zu lassen. Sie ist noch ein Kind. Schutzlos wird sie den Aasgeiern ausgeliefert sein, denen es nur um ihr Geld geht, denn sie wird einmal eine sehr reiche junge Frau werden. Neve, wenn wir heiraten – natürlich nur auf dem Papier – und du Hannah adoptierst, dann wirst du nach meinem Tod das Sorgerecht für sie erhalten. Ich kann dir vertrauen. Ich weiß, du wirst sie beschützen.“

Bei der Erinnerung stiegen Neve die Tränen in die Augen. „Das ist mir ja wunderbar gelungen!“, murmelte sie. Sie ballte die Fäuste: „Los, stell dich nicht so an! Hör auf, dich zu bemitleiden, und steh auf!“

Verzweifelt kämpfte sie gegen die Versuchung an, einfach liegen zu bleiben. Mühsam rollte sie sich auf den Rücken. Allein diese Anstrengung erschöpfte sie schon deutlich. Während sie versuchte, sich aufzuraffen, hörte sie ein Geräusch. Es war nicht der Wind – es war die Stimme eines Menschen!

„Hallo!“, rief sie mit letzter Kraft. „Ich bin hier!“

Von dem Gefühl der Erleichterung beflügelt gelang es ihr, sich aufzurichten. Mit der Hand beschirmte sie die Augen und versuchte den Flockenwirbel zu durchdringen. „Hannah?“

Enttäuscht sank sie zurück. Eindeutig näherte sich ihr nicht die Gestalt eines jungen Mädchens, sondern die eines Mannes. Eines hochgewachsenen Mannes … auf Skiern. Der Schnelligkeit nach zu urteilen wusste er, was er tat.

Na gut, es ist nicht Hannah, aber es ist jemand, der mir helfen kann, Hannah zu finden!

Panik überfiel Neve: Was, wenn der Mann auf den Skiern sie nicht sähe und vorbeiführe? Verzweifelt begann sie zu rufen und zu winken, aber der Wind schien ihre Hilferufe fortzutragen. Und gerade als sie davon überzeugt war, alles sei vergebens, hielt der Mann an. Schnee stob auf, als er neben ihr zum Stehen kam.

Ein Schluchzen der Erleichterung stieg in ihrer Kehle hoch. Sie wollte den Mann vor dem abschüssigen Gelände warnen, aber offensichtlich war er sich der Gefahr bewusst. Er schnallte die Skier ab und kam zielstrebig auf sie zu. Die Bewegungen der ganz in Schwarz gekleideten Gestalt glichen denen eines Panthers.

Bitte beeile dich, flehte sie innerlich. Sie musste dem Helfer unbedingt die Dringlichkeit der Situation klarmachen … er musste ihr helfen, Hannah zu finden.

„Sie ahnen gar nicht, wie froh ich bin, dass Sie da sind!“

Einen Moment lang verharrte die Gestalt reglos wie eine Statue. Ob auch er froh war, sie gefunden zu haben, oder womöglich einfach nur überrascht, inmitten eines Schneesturms auf einen Menschen zu stoßen, konnte Neve nicht erkennen, da eine schwarze Skimaske sein Gesicht vollständig bedeckte. Lediglich das Glitzern eines dunklen Augenpaares war durch die Schlitze in der Maske zu sehen.

Wortlos streckte er ihr eine Hand entgegen, die Neve dankbar ergriff. Mit stählernem Griff zog er sie hoch.

„Vielen, vielen Dank.“ Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihrem Retter ins Gesicht blicken zu können. Angesichts seiner Größe und der schwarzen Kleidung ging etwas leicht Bedrohliches von ihm aus. Aber natürlich war sein Outfit den Witterungsverhältnissen durchaus angemessen.

Inzwischen fühlte Neve sich wie ein Eiszapfen. Sie hatte schon Angst davor, wie schmerzhaft es sein würde, wenn sich ihre Hände und Füße wieder aufwärmten.

„Haben Sie hier draußen noch jemanden entdeckt? Ein junges Mädchen … einen Teenager?“

Der Fremde zeigte keinerlei Reaktion auf ihre Frage – schweigend starrte er sie weiter an.

„Dunkles Haar … mit einem roten Dufflecoat?“ Der leider viel zu dünn und nicht einmal wasserdicht ist, dachte Neve verzweifelt. Sie biss sich auf die zitternden Lippen. „So kann man sie auch von Weitem sehen!“

Immer noch keine Reaktion von dem Fremden.

„Ich meine, Rot hat ja Signalwirkung … wie Ihnen jede Rothaarige bestätigen wird“, versuchte sie zaghaft einen Scherz. „Wir werden sie doch sicher finden, oder?“

„Finden? Wen?“ Prüfend betrachtete Severo Neves blasses Gesicht, in dem die Sommersprossen deutlich hervortraten. Sorgen bereitete ihm, dass ihre Lippen schon blau wurden. Darauf hätte er eigentlich sofort achten sollen, aber – wie er zu seiner Verteidigung vorbrachte – die ungewöhnlich strahlend blauen Augen lenkten ihn ab.

„Wen?“ Hört dieser Mensch denn nicht zu? „Hannah natürlich!“

Der Fremde zog plötzlich seine Jacke aus und legte sie Neve um die schmalen Schultern. „Ist sie auch rothaarig?“

„Nein! Sie hat einen roten Mantel an!“ Die Jacke, die noch die Hitze seines Körpers speicherte, war wirklich angenehm, aber Neve konnte sie unmöglich annehmen. „Vielen Dank, aber ich kann wirklich nicht erlauben ….“

„Habe ich etwa um Erlaubnis gefragt?“

So ungehalten wie sein Tonfall war auch der Blick, mit dem er sie bedachte.

„Aber Sie werden frieren …“

Ohne auf ihren Protest einzugehen, nahm er ihren Arm und stopfte ihn in einen Jackenärmel – als wäre sie ein Kind.

„Aber …“, ihr Protest erstickte schon im Keim, als er energisch den Reißverschluss zuzog … vielleicht etwas energischer, als unbedingt notwendig gewesen wäre. Mit klappernden Zähnen sah Neve wortlos zu ihm hoch. Verwirrt registrierte sie den Ausdruck von Wut in seinen Augen.

„Ich brauche wirklich nicht Ihre …“

Severo fluchte und packte Neve bei den Schultern. Höflichkeitsfloskeln waren jetzt wirklich unangebracht. Diese Frau machte ihn rasend: Die Jacke konnte sie nicht annehmen … aber sein Auto stehlen!

Eindeutig war sie ein Fall für einen Psychologen. Allerdings konnte man das auch über ihn selbst sagen. Welcher vernünftige Mensch wagte sich schon bei einem solchen Wetter nach draußen?

Mit einem energischen Ruck zog er den Reißverschluss die letzten paar Zentimeter hoch. Jetzt ragte nur noch Neves Nasenspitze aus der Jacke heraus.

„So gerne ich mit Ihnen plaudern würde … irgendwie scheint jetzt nicht ganz der richtige Zeitpunkt dafür zu sein. Und um eines klarzustellen: Ganz sicher spiele ich hier nicht den selbstlosen Retter. Ich trage nämlich mehrere Schichten Kleider übereinander – deshalb können Sie die Jacke ruhig annehmen.“ Trotzdem drang ihm die Kälte in die Knochen, wie er sich insgeheim eingestand.

Er mochte sich gar nicht vorstellen, was aus der Frau geworden wäre, hätte er sie nicht so schnell gefunden. Eine Stunde später, und es wäre vielleicht schon zu spät gewesen.

Wieder fühlte er Wut in sich aufsteigen. Diese Wahnsinnige schien sich wirklich überhaupt nicht bewusst zu sein, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte.

„Ist Ihnen eigentlich klar, dass sie gekleidet sind, als wollten Sie einen Strandspaziergang unternehmen? Menschen wie Sie, die keine Ahnung von den Naturgewalten haben und mit unangemessener Kleidung in einem Schneesturm oder in den Bergen herumlaufen, bringen andere in Gefahr, weil die sie dann retten müssen!“ Über so viel Unverantwortlichkeit konnte Severo nur den Kopf schütteln. Wieder sah er ihr prüfend ins Gesicht. Mein Gott, dachte er, das ist ja so, als würde man ein hilfloses Kätzchen anschreien.

„Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede, nicht wahr?“

„Ich habe noch nie versucht, einen Berg zu besteigen.“

Entnervt seufzte Severo auf. „Thema beendet. Wir verschwenden nur unsere Zeit.“

„Genau!“ Erleichtert stimmte Neve ihm zu. „Ich habe mir überlegt, wenn wir vielleicht auf eine Anhöhe gehen …“

„Wir müssen eine geschützte Stelle finden, keinen Berg.“

„Aber dann sehen wir doch nichts!“

„Was sollten wir denn sehen?“, unterbrach Severo sie irritiert.

„Hannah!“ Plötzlich wurde Neve bewusst, welchen Akzent sie heraushörte. Es war Italienisch.

In dem Restaurant, in dem sie mit Hannah Kakao getrunken hatte, bedienten einige italienische Kellner. Allerdings konnte sie sich nicht erinnern, dass einer von ihnen so groß gewesen war.

„Hannah?“

„Ich bin ihr nachgefahren … in diese Richtung.“ Neve deutete eine vage Bewegung mit der Hand an. „Sie fuhr einen blauen …“, plötzlich konnte sie sich nicht einmal mehr an die Marke ihres eigenen Autos erinnern, „… Wagen. Von wo sind Sie noch mal gekommen? Haben Sie sie gesehen?“

„Nein. Niemanden“, antwortete Severo ungeduldig. „Außerdem fehlt uns sowieso die Ausrüstung für eine Rettungsaktion. Diese Frau, sollte sie überhaupt existieren, muss sich selbst helfen.“

„Es handelt sich nicht um eine Frau! Sie ist noch ein Kind! Und was soll das überhaupt heißen: Sollte sie existieren? Wir müssen sofort …“

„Wir?“

Erschrocken hielt Neve inne. Wie selbstverständlich war sie davon ausgegangen, der Fremde würde ihr helfen – eindeutig ein Irrtum.

Entschlossen begann sie, die Jacke auszuziehen.

„Schön. Ich finde sie auch allein. Allerdings fände ich es nett, wenn Sie die Polizei darüber benachrichtigen würden, dass eine Vierzehnjährige vermisst wird. Natürlich nur, wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände bereitet.“

Diese Person war unmöglich! Wütend unterdrückte Severo einen Fluch. Energisch hielt er Neve fest und zog den Reißverschluss der Jacke wieder hoch. „Die können Sie selber anrufen, sobald wir wieder in der Zivilisation ankommen.“

Neve öffnete den Reißverschluss wieder ein paar Zentimeter. „Ich glaube, Sie missverstehen mich. Ich kann nicht zurück. Ich muss Hannah finden. Sie ist …“

„Sie sind diejenige, die hier etwas missversteht!“ Diese Frau hatte den Überlebensinstinkt eines Lemmings!

„Hannah ist …“

Severo biss die Zähne zusammen und rang um Beherrschung. Grob packte er sie bei den Schultern. „Wir müssen unbedingt Schutz suchen!“ Und das würde nicht so leicht sein, denn der Schnee fiel inzwischen in immer dichteren Flocken.

Severo betrachtete prüfend den grauschwarzen Himmel. Noch eine halbe Stunde, und die Dunkelheit würde hereinbrechen. Am sichersten erschien es ihm, zurück zum Geländewagen zu gehen. Der bot wenigstens Schutz vor dem Blizzard. Aber den Wagen überhaupt wiederzufinden würde schon nicht so einfach sein. Die Fußspuren waren inzwischen völlig zugeschneit, und in der endlosen weißen Landschaft war es nicht leicht, sich zu orientieren.

„Nein!“, protestierte Neve und versuchte, sich aus seinem eisernen Griff zu befreien.

„Sie müssen wirklich von einem Todeswunsch beseelt sein … ich jedoch nicht!“

Neve blickte ihn voll strafender Verachtung an. „Gut. Sie können ja zurückgehen, wenn Sie wollen. Ich werde jedenfalls weitersuchen.“

Severo starrte auf ihren Mund. Sah, wie die Lippen sich bewegten – hörte jedoch kein einziges Wort. Ausgerechnet in einem Moment, in dem es ums Überleben ging und er seine ganze Konzentration darauf verwenden sollte, sich in Sicherheit zu bringen, war das Einzige, was ihn beschäftigte, der Schwung dieser vollen Lippen.

Typisch, dachte er – dann jedoch gewann sein stählerner Wille wieder die Oberhand. Hier ging es um Minuten, und es war keine gute Idee, im Dunkeln herumzuirren.

„Was … was soll das?“ Erschrocken schrie Neve auf, als er sie hochhob und sich ohne Umschweife über eine Schulter legte. „Lassen Sie mich sofort wieder runter!“

Severo gab einen unwilligen Laut von sich, als ein Tritt ihn traf. Er verstärkte seinen Griff, damit das Zappeln nachließ. Dann begann er sich mit gesenktem Kopf durch das Schneetreiben zu kämpfen.

3. KAPITEL

Mit einem hörbaren Ausatmen setzte Severo seine Last ab.

Als Neve schwankte, hielt er sie fest. „Alles in Ordnung?“

Seine Stimme klang jedoch eher irritiert als besorgt. Mit letzter Kraft befreite Neve sich aus seinem Griff. In Ordnung? Welch ein Glückspilz sie doch wieder einmal war: Da wurde sie von einem Mann gerettet – oder doch eher gekidnappt? –, der kaum den Mund aufmachte, und wenn er es tat, dann nur, um Unsinn zu reden!

„Nein! Nichts ist in Ordnung!“, schnaufte sie.

Soeben war sie wie ein Sack Kohle durch die Gegend geschleppt worden – erschöpft, bis auf die Knochen durchgefroren und außer sich vor Sorge um Hannah. Wie konnte er da fragen, ob alles in Ordnung sei?

Neve biss sich fest auf die Lippen, um der Versuchung zu widerstehen, einfach schluchzend in den Schnee zu sinken.

Severo entschied sich, das Zittern in Neves Stimme zu ignorieren. Die meisten Menschen wären in einer solchen Situation schon längst zusammengebrochen. Dieser Rotschopf war vielleicht naiv – aber mutig.

„Sie sind am Leben.“ Was sie immerhin ihm verdankte. Wenn er sie nicht gefunden hätte … „Also hören Sie auf zu jammern!“

Ungläubig starrte Neve ihn an. „Was glauben sie eigentlich, wer Sie sind …“ Die Worte erstarben ihr im Mund. Tatsächlich wusste sie ja nichts über diesen Mann – abgesehen davon, dass er unsensibel, ungehobelt und unglaublich stark war. Selbst jetzt, nachdem er sie eine Viertelstunde durch den tiefsten Schnee geschleppt hatte, war er offenbar noch topfit. Neves Blick glitt über seine athletische Brust – nicht einmal wirklich außer Atem war er.

„Genau … wer sind Sie eigentlich?“

„Der Mann, der Ihnen das Leben gerettet hat. Sie können mir später danken, wenn ich Ihnen meine Lebensgeschichte erzähle.“

„Ihr Name reicht mir vollkommen. Außerdem habe ich Sie nicht darum gebeten, mich zu retten. Glauben Sie mir: Es war völlig unnötig!“

Ein spöttisches Lächeln umspielte Severos Lippen. „Stimmt – eigentlich hätte ich sofort sehen müssen, dass Sie alles im Griff hatten.“ Er zog sein Handy aus der Tasche und suchte nach einem Signal: Nichts!

Der Sarkasmus war an Neve völlig verschwendet. Sie sah nur das Handy. Enttäuscht beobachtete sie, wie Severo es wieder einsteckte.

„Kein Netz?“

Schweigend schüttelte er den Kopf.

Wieder drohte die Verzweiflung Neve zu überwältigen – die Panik, seit Hannah aus dem Gasthaus gestürmt war –, und nur mit Mühe konnte sie sich beherrschen. Energisch nahm sie die Schultern zurück. Das war jetzt absolut der falsche Zeitpunkt, um die Nerven zu verlieren. Mit ihren Blicken versuchte sie das Schneetreiben zu durchdringen. Plötzlich entdeckte sie die erleuchteten Fenster eines Hauses. Erleuchtete Fenster bedeuteten Menschen …

„Sehen Sie! Dort!“ Es war die Antwort auf ihre Gebete. Jetzt würde sie Hilfe holen können! Endlich! Natürlich, wenn ich auch nur eine Sekunde nachgedacht hätte, statt Hannah einfach nachzulaufen, könnten die Suchtrupps schon längst unterwegs sein. Womöglich liegt sie hilflos … Neve schüttelte den Kopf, um die Katastrophenfantasien zu vertreiben.

Es war wichtig, positiv zu denken!

Sie würde Hannah finden – und zwar wohlauf!

Anders konnte es gar nicht sein!

Zunehmend fasziniert beobachtete Severo Neve. Innerhalb von Sekunden spiegelten sich die unterschiedlichsten Gefühle in ihren Zügen: von tiefster Verzweiflung bis hin zu eiserner Entschlossenheit.

In der Stummfilmzeit hätte sie eine großartige Schauspielerin abgegeben – dieses Gesicht vermittelte mehr Dramatik als die ausführlichsten Dialoge.

Als Severo nicht reagierte, schob Neve sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihn fragend an.

„Ich würde sagen, es ist eine umgebaute Scheune … und ein sicherer Unterschlupf.“ Insgeheim fragte er sich, ob dieser Frau überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt bewusst geworden war, in welch großer Gefahr sie geschwebt hatte.

Zum Glück schien sie einen Schutzengel zu haben – und ihn, der gerade sein Faible für rotes Haar und strahlendblaue Augen entdeckte.

Neve holte tief Luft. Sie brauchte keinen sicheren Unterschlupf, solange Hannah irgendwo da draußen war. „Dort unten sind hoffentlich Menschen, die nicht so viel Angst um ihre eigene Haut haben wie gewisse andere Personen!“

„Könnten Sie mit der Analyse meines Charakters vielleicht warten, bis wir in Sicherheit sind? Wir Feiglinge pflegen nämlich nicht mitten in einem Blizzard ein Plauderstündchen zu halten. Und versuchen Sie nicht wieder wegzulaufen: Es irritiert mich nämlich zunehmend, Sie ständig wieder einfangen zu müssen.“

Mitten in der Bewegung erstarrte Neve. „Soll das eine Drohung sein?“

„Betrachten Sie es einfach als eine höfliche Formulierung“, erwiderte Severo und stapfte die schneebedeckten Steinstufen hoch.

Durch schmale Glasschlitze im dicken Mauerwerk und ein Fenster über der Haustür drang Licht.

Severo schlug mit der Faust gegen die massive Holztür. Als niemand öffnete, drückte er zusätzlich noch die Klingel. Der Lärm hätte eigentlich Tote zum Leben erwecken müssen, aber nichts regte sich im Inneren des Hauses. Waren die Bewohner taub oder einfach nur übervorsichtig?

Letztlich erübrigte sich diese Frage jedoch – sollte er die Bewohner des Hauses erschreckt haben, würde er sich nachträglich entschuldigen. Wichtig war jetzt nur, ins Warme zu kommen. Die Temperatur sank immer mehr – auch ohne Thermometer konnte man das deutlich spüren. Allmählich wurde die Situation gefährlich.

Als ob es nicht schon genügte, mit einer verrückten Kriminellen in einem Blizzard zu stecken, schoss es Severo durch den Kopf.

Dabei – wenn er sie so betrachtete –, in der Jacke, die ihr bis zu den Knien reichte, wirkte sie wirklich süß und fast zerbrechlich. Die Sorte Frau, die den Beschützerinstinkt in einem Mann weckte – zumindest wenn sie gerade keine schmerzhaften Tritte austeilte.

„Rühren Sie sich nicht von der Stelle!“, warf er ihr über die Schulter zu und kämpfte sich bis zur Rückseite des Hauses vor. Beinahe hätte er eine Seitentür übersehen, die halb von einer Schneewehe verdeckt war.

Im Türblatt entdeckte Severo ein Glasfenster. Hier würde er leichteres Spiel haben als bei der massiven Eichentür am Eingang. Es wurde auch höchste Zeit, endlich ins Warme zu kommen. Jetzt brauchte er nur noch die Tür freizuschaufeln …

Hastig begann er, den Schnee mit den Händen wegzuräumen, als er hinter sich ein Geräusch hörte.

„Ich habe doch gesagt, Sie sollen sich nicht von der Stelle rühren!“

Dieser Mann hatte anscheinend den sechsten Sinn – oder Augen im Rücken.

Seinem Verhalten nach zu schließen schien er es gewohnt zu sein, dass man seine Anordnungen widerspruchslos befolgte. „Stimmt“, gab Neve deshalb unumwunden zu, bevor sie sich daran machte, ihm zu helfen.

„Was tun Sie denn da?“ Wütend sah Severo sie an.

Neve holte tief Luft und sah, wie ihr Atem in der Schwärze der Nacht weiß emporstieg. Durch den Schleier hindurch konnte sie Severos Augen hinter der Skimaske funkeln sehen. An seinen Wimpern formten sich Eiskristalle.

Es waren die längsten Wimpern, die Neve jemals bei einem Mann gesehen hatte. Wie konnte sie sich in einer solchen Situation nur mit so nebensächlichen Details befassen! Energisch strich sie sich wieder die feuchten Haare aus dem Gesicht. „Ich helfe Ihnen!“

Entnervt schüttelte Severo den Kopf. Zumindest war sie ihm diesmal nachgegangen und nicht wieder davongerannt. Er nahm ihre Hände in die seinen. Was für schmale Handgelenke und feingliedrige Finger sie hat, dachte er. Allerdings waren sie jetzt blau gefroren.

Ihre Blicke trafen sich … und Severo verlor sich fast in dem Strahlen dieser Augen – diesem intensiven Blau, wie er es noch nie gesehen hatte.

Unwillig riss er seinen Blick los und zog die Ärmel der Jacke über Neves Hände. Schnell wandte er sich ab und begann mit neuer Energie, den Schnee wegzuräumen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, wenn sie Erfrierungen bekäme!

„Vielen Dank, aber ich bin durchaus fähig …“ Ein plötzliches Nachlassen des Sturms ließ Neves Stimme überlaut erklingen.

Severo bedeckte ihren Mund mit seiner Hand. „Ich habe gesehen, wozu Sie fähig sind.“

„Ich wollte ja nur helfen.“ Die meisten Menschen wären dankbar gewesen, aber dieser Mann hier war eindeutig kein Teamspieler.

„Es wäre nicht hilfreich, wenn Ihnen die Hände abfrieren würden.“

Da musste Neve ihm zustimmen … allerdings äußerst widerwillig. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie keinerlei Gefühl mehr in den Händen hatte. Trug Hannah eigentlich Handschuhe? In Gedanken sah sie ihre Stieftochter hilflos im Schnee herumirren, und eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen.

Sofort kämpfte sie die aufsteigende Panik nieder. „Gut, dann sagen Sie mir, was ich tun kann!“ Wenn er unbedingt die Kontrolle behalten wollte ... Trotzdem ließ sie sich nicht einfach so zur Untätigkeit verurteilen.

Severo warf ihr einen kurzen Blick zu. „Gar nichts. Das dürfte am sichersten sein.“

Was für ein arroganter Widerling, dachte Neve. Reglos blieb sie stehen und sah ihm zu, wie er in wenigen Minuten den Schnee beseitigte.

Dann blickte er sich suchend nach einem Gegenstand um, mit dem er die Glasscheibe einschlagen konnte. Zufrieden entdeckte er einen faustgroßen Stein.

„Drehen Sie sich um, und halten Sie sich die Hände vor das Gesicht.“

„Sie wollen einbrechen!“

Severo ließ den erhobenen Arm sinken. „Finden Sie es nicht etwas heuchlerisch, plötzlich die Entrüstete zu spielen?“

Neve verstand nicht, was er meinte, beschloss aber, darüber hinwegzugehen.

„Sollen wir nicht lieber noch einmal klopfen?“ Inzwischen schlugen ihre Zähne vor Kälte aufeinander.

„Klar! Wir könnten auch morgen wiederkommen!“

Unwillkürlich schrie Neve auf, als Severo erneut die Faust hob. Sie hielt die Hände vors Gesicht und spähte zwischen den Fingern hindurch. Schon glaubte sie das Splittern der Scheibe zu hören … sie schloss die Augen … alles blieb still!

Als sie die Augen öffnete, sah sie ihn die Türklinke hinunterdrücken.

Die Tür schwang auf, und Neve hörte Severo lachen – ein attraktives Lachen, schoss es ihr durch den Kopf.

Hinter seiner Skimaske grinste Severo zufrieden. Er ließ den Stein fallen und betrat das Haus, wobei er sich bemühte, nicht zu viel Schnee hineinzutragen – auf den schwarz-weißen Kacheln des Fußbodens entstand bereits eine kleine Wasserlache.

Anscheinend standen sie in einer Art Hauswirtschaftsraum. Schemenhaft nahm Severo die chromglänzende Oberfläche einer Arbeitsplatte und weiße Regale wahr. An einer Waschmaschine in der Ecke leuchtete noch ein Lämpchen.

Er stampfte einige Male mit den Füßen auf, um die Stiefel vom Schnee zu befreien, und tastete nach dem Lichtschalter. Reflexhaft blinzelte er, als die grelle Neonleuchte anging. Dann sah er Neve in der Türöffnung stehen.

„Kommen Sie rein – oder wollen Sie draußen warten?“

Neve überging die rhetorische Frage und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. Immerhin waren sie soeben in ein Haus eingebrochen!

Vielleicht hat er ja Erfahrung mit … solchen Situationen? dachte sie unbehaglich. Zumindest konnte er in einer Notsituation umsichtig handeln, soviel stand fest. Allerdings bezweifelte Neve, ihn jetzt noch motivieren zu können, weiter nach Hannah zu suchen. Vielleicht sollte sie ihm Geld anbieten?

Egal! Sie würde auch ohne seine Hilfe weitersuchen. Sobald sie sich ein bisschen aufgewärmt hatte. Neve rieb die tauben Hände aneinander. Schließlich brauchte sie diesen Mann nicht.

Das sagst du dir verdächtig oft, Neve.

Sie ignorierte die leise innere Stimme und musterte stattdessen die dunkle Gestalt ihres Retters.

Ehrlicherweise musste sie zugeben, dass seine muskulöse, kraftvolle Statur ihr da draußen in der eisigen Kälte – umgeben von unendlichen Schneeflächen und mitten in einem Sturm – ein gewisses Sicherheitsgefühl vermittelt hatte. Jetzt in diesem engen Raum jedoch … Es spielte auch keine Rolle, ob sein Gesicht hinter der Skimaske gut aussehend oder unattraktiv war, mit diesem Körper würde er jeden Raum dominieren.

Hochgewachsen und mit breiten Schultern wirkte er wie ein Athlet. Erst jetzt wurde Neve bewusst, dass dieser Athlet sie fragend ansah.

„Was ist los?“ Verlegen wandte sie den Blick ab. Wie peinlich, dabei ertappt zu werden, ihn so eingehend zu mustern!

„Ich habe gefragt, ob Sie wohl die Tür …?“ Irritiert brach er ab und kam auf Neve zu.

Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. Sie hob die Hand an den Mund, um den Schrei zu ersticken, der ihr in der Kehle aufstieg – da registrierte sie, dass er lediglich die Tür hinter ihr schließen wollte.

Verwundert sah er zu ihr herunter, während er sich neben ihr an die Wand lehnte.

Neve blickte verlegen zu Boden.

„Was haben Sie denn?“, hörte sie ihn fragen.

Stumm schüttelte Neve den Kopf, den Blick weiterhin auf den Boden geheftet. Sie schämte sich furchtbar für ihre alberne Reaktion.

Und sie schämte sich für die Gefühle, die dieser Mann in ihr auslöste.

Es war ihr einfach unerklärlich: Da konnte sie sich kaum aufrecht halten, war halb erfroren, zitterte am ganzen Körper, und dennoch – oder gerade deshalb? – fühlte sie eine magische Anziehung.

Seit sie das Haus betreten hatten, spürte sie den irrationalen Impuls, nicht zurückzuweichen, sondern sich an ihn anzulehnen. Seine Ausstrahlung und Kraft, die Wärme seines muskulösen, starken Körpers wirkten wie ein Magnet auf sie. Je länger er sich zu ihr herunterbeugte und seine männliche Aura auf sie einwirkte, desto schwieriger war es zu widerstehen.

„Was dachten Sie denn, was ich vorhätte?“

Wieder schüttelte Neve stumm den Kopf. Sollte er doch denken, was er wollte. Sie konnte ja wohl schlecht sagen: Ich dachte, Sie wollten mich küssen.

Wie sich das wohl anfühlen würde? Erleichtert seufzte sie auf, als er sich abwandte und durch den Raum ging.

Sie ließ die schützend erhobenen Hände sinken und blickte ihm nach. Sein Gang faszinierte sie.

Resolut verbannte sie solche Gedanken aus ihrem Kopf. „Sie … Sie haben mich erschreckt“, murmelte sie.

„Entspannen Sie sich. Von mir haben Sie bestimmt nichts zu befürchten.“

Die Ironie in seiner Stimme entging Neve nicht, und das Blut schoss ihr ins Gesicht. „Gut zu wissen!“

„Wahrscheinlich sehen Sie gar nicht so übel aus, wenn Sie sich etwas zurechtmachen“, sagte er bedächtig – sein ganzer Tonfall eine einzige Beleidigung –, „aber im Moment, cara, wirken Sie ganz sicher nicht wie eine Frau, deretwegen ein Mann außer Fassung gerät.“ Zumindest keiner, der auch nur halbwegs bei Verstand war, fügte er insgeheim hinzu. Allmählich begann er allerdings etwas um seinen eigenen Verstand zu fürchten.

Warum verspürte er das unwiderstehliche Bedürfnis, diese von Kälte gerötete Nase zu küssen? Und was tat er überhaupt hier?

Auf seinen analytischen Verstand und seinen Realitätssinn war er immer stolz gewesen – zurzeit schienen ihn beide gründlich im Stich zu lassen. War es etwa vernünftig, in einem Blizzard sein Leben zu riskieren?

Als bräuchte ich ihn dazu, mir meiner mangelnden Attraktivität bewusst zu werden, dachte Neve ihrerseits. „Ich nehme an, Sie bevorzugen Frauen, die vor allem dekorativ aussehen.“ Sie formulierte es nicht als Frage.

„Freut mich, dass Sie sich so für mein Liebesleben interessieren, aber könnten wir vielleicht dieses Gespräch später fortsetzen?“

Eisig blickte Neve ihn an und rang um eine würdevolle Haltung, während sie ihm ins obere Stockwerk folgte. „Es ist doch immer schön, wenn man sich auf etwas freuen kann!“, murmelte sie.

Wenn Severo wirklich etwas unter die Haut ging, dann eine Frau, die stets das letzte Wort behalten musste.

4. KAPITEL

Der großzügige offene Wohnbereich war in gedämpftes Licht getaucht. Ein großer Ofen sorgte für behagliche Wärme – die ihm gegenüber liegende Wand nahm eine hochmoderne Küchenzeile ein.

Die geschickt platzierten Stehlampen schienen nicht durch eine Zeitschaltuhr geregelt zu werden – vielmehr machte der Raum einen bewohnten Eindruck. Auf einem kleinen Tisch lag eine Zeitung mit dem aktuellen Datum.

Neve blieb in der Tür stehen. „Wir können doch nicht einfach in ein fremdes Haus einbrechen und alles durchstöbern!“, protestierte sie, als Severo einen Laptop aufklappte.

Mit Nachdruck schloss er ihn wieder. Neves offensichtliche Skrupel wunderten ihn immer mehr. „Was würden Sie denn vorschlagen? Dass wir draußen in der Kälte stehen bleiben und uns die Nasen an den Scheiben platt drücken?“ Er gab sich betont sarkastisch, aber es entging ihm nicht, dass Neve wirkte, als würde sie gleich zusammenbrechen.

„Nein. Das natürlich auch nicht, aber …“ Sie schüttelte den Kopf und tat einen zaghaften Schritt nach vorne.

Offensichtlich ein Fehler! Noch nie in ihrem Leben war Neve bewusstlos geworden. Aber als plötzlich ein Rauschen ihren Kopf erfüllte und der Fußboden auf sie zuzukommen schien, glaubte sie, nun sei es so weit.

Auf keinen Fall jedoch wollte sie diesem Mann die Genugtuung geben, ihm zu Füßen niederzusinken – auch wenn er sie offensichtlich für naiv und hilflos hielt. Sie konnte sehr wohl für sich selbst sorgen. Genau genommen tat sie das sogar schon seit ihrem vierzehnten Lebensjahr – aber das würde sie ihm auf keinen Fall verraten.

„Kein Aber – wenn die Alternative Tod durch Erfrieren ist.“

Er drehte ihr den Rücken zu, und Neve griff hastig nach einer Stuhllehne, um sich festzuhalten. Ihre steifgefrorenen Finger hatten jedoch keine Kraft und glitten von dem polierten Holz ab.

„Setzen Sie sich hin!“ Sie spürte seine Hände auf den Schultern.

Verwirrt blinzelte Neve. Wie konnte er denn so plötzlich bei ihr sein? Für einen Mann seiner Statur bewegte er sich wirklich unglaublich schnell und lautlos. Sie ergab sich jedoch dem Druck seiner Hände und ließ sich auf den Stuhl sinken.

„Tief durchatmen!“

Severos Ruhe und Gelassenheit halfen Neve, sich ein wenig zu erholen. Nach ein paar tiefen Atemzügen ließ das Rauschen in ihrem Kopf nach, und der Schwindel legte sich.

„Geht es Ihnen jetzt besser?“

„Bestens! Danke!“

Ihr Blick fiel auf ein Telefon auf einem Schränkchen. „Funktioniert das?“

Severo folgte ihrem Blick. Er nahm den Hörer ab und lauschte. Nach ein paar Sekunden schüttelte er den Kopf. „Tot!“

Das war keine besondere Überraschung, aber auf Neves Gesicht spiegelte sich deutlich die Enttäuschung – als wäre sie ein Kind, dem man sein Eis weggenommen hat.

Diese Frau sollte niemals Poker spielen! In Severos Leben zeigten die Frauen selten, was sie wirklich dachten und wollten. Sie versuchten eher, mit den Waffen einer Frau ihr Ziel zu erreichen. Da war es ungewohnt und geradezu reizvoll, mit einer Frau zusammen zu sein, die nicht nur geradlinig und ehrlich wirkte, sondern der auch noch jede Regung deutlich im Gesicht abzulesen war.

Nun, alles Neue wird irgendwann langweilig. Auch der Reiz dieser kornblumenblauen Augen würde sicher bald nachlassen.

„Offensichtlich hatte es hier jemand sehr eilig“, stellte Severo fest und ging zum Tisch, auf dem noch das Abendessen stand. Er zog einen Handschuh aus und berührte den Teller. „Kalt.“ Dann entledigte er sich auch noch des anderen Handschuhs und knetete seine klammen Finger.

Neve sah ihm nach, während er auf die Treppe zuging und laut „Hallo!“ rief. Seine Stimme verhallte unbeantwortet.

„Wie gut, dass der Ofen noch brennt.“ Er drehte auch den Regler der Heizung hoch. Als er hörte, wie Neve aufzustehen versuchte, drehte er sich um. Sie ist so unsicher auf den Beinen wie ein junges Fohlen, dachte er.

„Wie heißen Sie eigentlich?“

„Neve. Neve Gray. Nein … Macleod.“

„Lassen Sie sich ruhig Zeit zum Überlegen … und wenn Sie zu einem abschließenden Ergebnis gekommen sind, teilen Sie es mir mit.“

„Neve Macleod“, antwortete Neve eisig.

„Okay, Neve. Ich werde jetzt oben nachsehen, und Sie ziehen die nassen Sachen aus.“

Es klang eher wie eine Anordnung als eine Bitte.

Dieser Mann war es eindeutig gewohnt, Befehle zu erteilen – und offensichtlich ging er davon aus, dass sie umgehend befolgt wurden. Wahrscheinlich gab es irgendwo eine Freundin oder womöglich sogar Ehefrau, die beim leisesten Wink sprang.

Er blieb nicht lange fort, und als er zurückkam, hatte Neve sich noch nicht einmal der nassen Jacke entledigt. Es war ihr unmöglich, auch nur einen Finger zu heben – nicht einmal mehr dazu reichte ihre Energie aus.

Durchgefroren bis auf die Knochen stand sie zitternd da, als er zurückkam.

„Keine Seele im ganzen Haus!“, verkündete er und zog sich die Skimaske vom Kopf. „Es sieht nach einem überstürzten Aufbruch aus, den offenen Schranktüren und der Unordnung nach zu schließen. Allerdings habe ich da so eine Vermutung …“ Er strich sich das kurze, dunkle Haar zurück, ging zum Ofen und legte Holz nach.

Neve interessierte sich nicht im Geringsten für seine Vermutungen – eigentlich hörte sie schon gar nicht mehr richtig zu. Sie starrte ihn an wie das Kaninchen die Schlange. Seine Gesichtszüge – bis eben durch die Skimaske verhüllt – waren so beeindruckend schön, wie sie sie noch nie bei einem Mann gesehen hatte. Üblicherweise würde sie selbst bei einem sehr attraktiven Mann nicht von Schönheit sprechen – für ihn aber gab es einfach keinen passenderen Ausdruck.

Er ließ sie an eine griechische Heldenstatue denken – und gleichzeitig ging eine unwahrscheinlich starke erotische Anziehung von ihm aus. Jedes Merkmal in seinem Gesicht verlieh dem Begriff Vollkommenheit neue Bedeutung – von den vollen sinnlichen Lippen bis hin zu den ebenholzschwarzen, kühn geschwungenen Augenbrauen.

Wie versteinert stand Neve da und ließ ihren Blick über die ebenmäßigen Züge, die hohen Wangenknochen, das kantige, männliche Kinn gleiten. Die funkelnden, dunklen Augen waren nur eine Nuance heller als die sie umgebenden langen Wimpern.

Langsam setzte Neves Atem wieder ein. Was für ein Mann!

„Kommen Sie zum Feuer – Sie zittern ja immer noch!“, befahl Severo barscher als beabsichtigt. Er nahm es sich übel, über das Rätsel der verschwundenen Bewohner des Hauses sinniert zu haben, statt sich um diese unterkühlte Frau zu kümmern, die jederzeit kollabieren konnte.

Beim Klang seiner Stimme fuhr Neve zusammen. Sie fühlte sich wie in einer Trance. Immerhin hatte sie ihn nicht mit offenem Mund angestarrt – aber doch beinahe. Verlegen blickte sie zu Boden.

„Danke, aber es geht mir gut.“

Noch nie hatte sie sich zu dem Typ des gut aussehenden Machos besonders hingezogen gefühlt – und jetzt war bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt, dies zu ändern. Reiß dich zusammen, Neve! rief sie sich zur Ordnung. Das Äußere ist nicht alles! Was sich dahinter verbirgt, zählt.

Vor allem, wenn das Verborgene ein wahrscheinlich höchst erotischer Körper ist, flüsterte ihr plötzlich ein kleines Teufelchen ins Ohr.

Beschämt über ihre Gedanken schlug sie die Augen nieder und hoffte, Severo würde ihr nicht ansehen, dass ihr das Herz bis zum Halse schlug.

„Es geht Ihnen gut?“ Spöttisch verzog Severo die Lippen. „Wenn man bedenkt, wie reich unsere Sprache ist, kommt mir Ihr Wortschatz bedenklich eingeschränkt vor.“

„Okay – es könnte etwas wärmer sein.“

„Etwas wärmer! Den Kurs in ‚Untertreibung‘ haben Sie wohl mit Auszeichnung bestanden! Zugegebenerweise bin ich nicht vom Fach – ich habe nur zwei Semester Medizin geschafft –, aber blaue Lippen halte ich nicht für normal.“

Neve legte eine Hand an ihre zitternden Lippen und versuchte sich vorzustellen, wie Severo mit besorgtem Blick im Arztkittel neben ihrem Bett stand.

„Ich habe doch gesagt, es könnte wärmer sein.“

„Jetzt hören Sie mal zu: Sie …“, betonte Severo, „stehen kurz vor einer Unterkühlung dritten Grades – falls es so etwas gibt. Und wir werden sehr viel besser miteinander auskommen, wenn Sie endlich aufhören, ständig die Heldin zu spielen.“

„Ich will überhaupt nicht besser mit Ihnen auskommen.“

Severo hob die Hand und winkte Neve zu sich heran. Als sie sich nicht bewegte, ging er entschlossen auf sie zu, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah zu ihr herunter.

Ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, schob er sie zum Kamin und drückte sie in einen Sessel vor dem wärmenden Holzfeuer.

Mit zitternden Knien gab Neve dem Druck seiner Hände nach.

Severo hockte sich hin, öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und zog sie ihr aus.

Dann begann er, ihr den rosa Pulli über den Kopf zu ziehen. Neve versuchte sich zu wehren, aber erwartungsgemäß ignorierte er ihre Proteste.

„Ich bin doch kein hilfloses Weibchen“, wehrte sie ab. Insgeheim würde sie sich jedoch am liebsten einfach an seine breite starke Brust sinken lassen.

Dio mio, hören Sie denn nie auf, sich zu beschweren?“

Er warf den nassen Pulli achtlos auf den Boden. Weit weniger achtlos betrachtete er das, was unter der Kleidung zum Vorschein kam. Dieser Rotschopf hat ja einen atemberaubenden Körper, staunte er. Schlank und doch mit den entsprechenden Kurven – grazil und zugleich perfekt proportioniert.

Neve warf Severo einen wütenden Blick zu. „Und Sie hören wohl nie auf zu sagen, wo es langgeht, oder?“

„Manche Menschen sind eben für diese Rolle geboren – andere hingegen dazu, sich zu fügen … am besten widerspruchslos.“

„Und in Ihren Augen sind diese geborenen Führungspersönlichkeiten natürlich Männer!“, stieß Neve mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie zitterte wie Espenlaub.

Unter dem Pulli trug sie ein dünnes T-Shirt, dessen nasser Stoff jetzt wie eine zweite Haut an ihrem Körper haftete und nicht nur ihre Formen deutlich hervortreten ließ, sondern auch den hauchdünnen BH und die festen Spitzen ihrer Brüste – von denen Severos Blick magisch angezogen wurde. Je mehr er sich bemühte, nicht hinzusehen, desto mehr drängte sich ihm die Vorstellung auf, wie es sich wohl anfühlen mochte, diese Brüste zu liebkosen … zu küssen …

Er atmete einmal tief durch, um die Fassung wiederzugewinnen. Dabei nahm er auch deutlich den Duft ihrer Haut wahr, was nicht gerade dazu beitrug, sein erhitztes Blut abzukühlen.

Erst jetzt registrierte Neve, was den Mann, der da vor ihr kniete, so faszinierte. Erschrocken schrie sie auf und verschränkte schützend die Arme vor der Brust.

„Entspannen Sie sich!“ Vielleicht sollte ich erst mal selbst meinem Rat folgen?

„Mir ist kalt.“

„Das ist mir nicht entgangen.“

Er ging zu einem der Sofas, nahm eine Decke und legte sie Neve über die Beine.

„Keine Angst, Sie haben nichts, was ich nicht schon einmal gesehen habe.“

Dio mio, wie originell von mir, dachte er. Diese Frau brachte ihn noch um den Verstand. So erregt und unfähig, sich in den Griff zu bekommen, war er das letzte Mal mit fünfzehn gewesen.

„Ziehen Sie sich aus. Ich hole ein paar Handtücher“, presste er mit heiserer Stimme hervor.

„Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst! Ich werde gar nichts ausziehen.“

Severo zuckte nur die Achseln.

„Auch gut. Dann werde ich das eben für Sie tun.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und lief die Treppe hoch.

Neve verkniff sich den Protest, der ihr auf den Lippen lag. Wahrscheinlich fühlte diese Sorte Mann sich durch Widerstand nur ermutigt!

Mit geschlossenen Augen stellte sie sich vor, wie sich seine starken Hände auf ihrer Haut wohl anfühlen mochten. Erregung stieg in ihr auf, die sie schnell unterdrückte.

Sie entledigte sich hastig ihres T-Shirts und versuchte gerade, sich mit ihren klammen Fingern die Jeans über die Hüften zu schieben, als sie seine Schritte hörte.

Schnell wickelte sie sich in die warme Wolldecke.

Mit klopfendem Herzen sah sie ihm entgegen. Offensichtlich hatte er weitaus weniger Probleme damit, sich auszuziehen, als sie selbst.

Er trug nun eine verwaschene Jeans, die etliche Zentimeter zu kurz war. Die Bundweite stimmte auch nicht ganz, und die Hose hing lose um die schmalen Hüften und ließ einen flachen Bauch sichtbar werden.

Neve bemühte sich, ihn nicht anzustarren, aber da er halb nackt dastand – ein Handtuch dekorativ um den Nacken geschlungen –, konnte sie ihre Augen einfach nicht von seinem athletischen braun gebrannten Oberkörper, den breiten Schultern und den muskulösen Armen abwenden.

Das Herz pochte ihr bis zum Hals, und in ihrem Bauch breitete sich eine eigenartige Hitze aus.

Fast schämte sie sich für ihre leidenschaftliche körperliche Reaktion, aber zum Glück bemerkte er nichts davon. Zumindest schien es so.

Severo sah Neve aufmerksam an. Sein Blick fiel auf ihre Jeans, die inzwischen bis zu den Knöcheln gerutscht war. Dem feuchten Schimmer ihrer Haut nach zu urteilen hatte sie schwer mit ihrer Kleidung gekämpft. Eine eigenartige Regung durchfuhr ihn – eine Art fürsorglicher Zärtlichkeit. Er legte den mitgebrachten Stapel Handtücher auf einen Stuhl.

„Ich fürchte, Sie müssen meine Hilfe akzeptieren, cara.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, hockte er sich vor Neve hin. Seine Hände glitten unter die Wolldecke und zerrten an dem feuchten Stoff der Hose.

Neve blickte auf den dunklen Haarschopf des vor ihr knienden Mannes. Sie gab keinen Laut von sich … wagte nicht zu atmen. Erst als er ihr das nasse Kleidungsstück auszog und eine Hand auf ihren Schenkel legte, riss sie sich zusammen. Instinktiv zuckte sie zurück und rang mühsam um Fassung.

Severo gab einen unwilligen Laut von sich. „Halten Sie still! Sie sind ja eiskalt!“ Er begann, heftig ihre Beine zwischen seinen Händen zu massieren. Von den Fußgelenken an … die Waden hinauf bis zu den Knien. Neve überlief ein Schauer nach dem anderen.

„Können Sie mich überhaupt fühlen?“

„Nein … kaum“, log Neve. Wenn es doch nur so wäre, flehte sie inständig, während sie sich auf die Lippen biss und die Augen schloss. Die Berührung seiner Hände auf ihrer Haut hatte sich jedoch bereits in ihrer Erinnerung eingebrannt.

Sie versuchte, die Situation analytisch zu betrachten. Warum übte dieser Mann eine solche Wirkung auf sie aus? Dafür musste es doch eine logische Erklärung geben!

Ausgehungert nach Zärtlichkeit zu sein, wäre eine sehr plausible Erklärung – nur, dass ihr eigentlich gar nicht so viel an körperlicher Nähe lag. Deshalb hatte sie auch bis jetzt noch nie einen Partner gehabt. Was das Thema Sex betraf, gestand sie sich eine leise Neugier ein … allerdings war diese nie groß genug gewesen, um eindeutige Angebote von Männern anzunehmen. Sex ohne Gefühle, ohne Liebe erschien ihr unvorstellbar.

Sie atmete hörbar ein, als Severos Hand auf ihrem Schenkel nach oben wanderte.

Fragend sah er sie an.

„Das tut weh“, antwortete sie ausweichend.

Wahrscheinlich eine Art posttraumatisches Stresssymptom, dachte Severo – anders war ihre Reaktion nicht zu erklären.

„Es soll ja auch wehtun. Stellen Sie sich nicht so an!“

Neve presste die Lippen aufeinander.

„Ich versuche nur, Ihre Blutzirkulation wieder anzuregen“, erklärte er mit belegter Stimme.

Sein eigenes Blut hatte dergleichen ganz bestimmt nicht nötig – im Gegenteil, es schien förmlich zu kochen.

„Waren Sie nicht der Meinung, ich solle nicht die Heldin spielen? Wie hätten Sie es denn nun gerne?“

„Ich hätte Sie …“ Abrupt brach Severo ab. Er ließ den Blick prüfend auf ihrem Gesicht ruhen.

Der Ausdruck seiner Augen war so intensiv, dass Neve sich fühlte wie das Kaninchen vor der Schlange. Sie spürte in sich die beginnende Bereitschaft, der Versuchung nachzugeben – nicht mehr dagegen anzukämpfen.

Kämpfen? Wogegen? Gegen wen? fragte eine Stimme in ihrem Hinterkopf.

„Sie werden es nicht schaffen, sie zu zählen. Ich habe es bereits versucht“, stieß sie schließlich heiser hervor.

Fragend hob er eine Augenbraue.

„Meine Sommersprossen!“

Severo ignorierte den zaghaften Versuch, die Atmosphäre aufzulockern, und griff nach einem Handtuch, um ihre Beine damit abzureiben. Obwohl das höllisch schmerzte, zog Neve diese Tortur der Berührung seiner Hände auf ihrer Haut vor.

Trotzdem erlebte sie nie zuvor empfundene Regungen. Obwohl Severo sich äußerst korrekt verhielt und seine Massage der eines Physiotherapeuten glich, tobte in Neve ein kaum erträglicher Tumult. Auf der Stelle musste sie dem ein Ende bereiten. „Danke“, stieß sie hervor. „Es ist schon viel besser, ähm …“ Sie verstummte.

Vor ihr kniete ein halb nackter Mann, der in ihr die intensivsten erotischen Gefühle auslöste – und sie wusste noch nicht einmal, wie er hieß!

Er hielt inne, sah sie an und erhob sich dann mit der ihm eigenen geschmeidigen Bewegung. „Severo. Severo Constanza.“

Eigentlich hatte Neve nie verstanden, warum der Typ „Latin Lover“ so begehrt war – jetzt wünschte sie sich, sie würde immer noch so denken.

„Wir haben heute in einem italienischen Restaurant gegessen – irgendwie kann ich mich aber nicht an Sie erinnern.“

Sie hielt ihn für einen Kellner! Das war ihm nun wirklich noch nie passiert.

Plötzlich gewann sein Sinn für Humor wieder die Oberhand. „Das wäre auch unwahrscheinlich.“

„Machen Sie sich etwa lustig über mich?“, fragte Neve ihn misstrauisch.

„Nein. Über mich. Sollte ich jemals Gefahr laufen, den Meldungen meines Pressesprechers zu glauben, weiß ich ja, an wen ich mich wenden muss, um nicht größenwahnsinnig zu werden.“

Überrascht weiteten sich Neves Augen. „Pressesprecher?“

„Das meinte ich natürlich nur im übertragenen Sinn.“

Neve warf ihm einen skeptischen Blick zu. Dann kuschelte sie sich tiefer in den Sessel und zog die Wolldecke bis zur Nasenspitze hoch.

„Wie wäre es, wenn ich mal nachsähe, ob es hier etwas zu essen oder zu trinken gibt?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang Severo auf, ging in die Küchenecke und begann, die Schränke zu öffnen.

Die Atmosphäre als gemütlich zu bezeichnen, wäre in Neves Augen eine gnadenlose Übertreibung gewesen – wer konnte schon entspannt sein, wenn er sich mit einem Raubtier in einem Zimmer befand? Zumindest hatte die aggressive Spannung aber etwas nachgelassen. Und außerdem … sie war unglaublich hungrig.

Plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke: Etwas Gefährliches lag in der Luft!

Neves Erleichterung verflüchtigte sich schlagartig. Unvermittelt stand sie auf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, die Situation zu analysieren. Alles, was sie von ihrem Ziel ablenkte, war gefährlich.

„Ich habe keinen Hunger. Ich muss Hannah finden.“

Ungeduldig fuhr Severo sich durch die Haare und versperrte ihr den Weg. „Setzen Sie sich wieder hin, bevor Sie umfallen!“

Kämpferisch hob sie das Kinn und funkelte ihn wütend an.

„Ich muss Hannah finden! Keine Angst, ich werde Sie nicht bitten, mir zu helfen.“ Dass er wie ein Märchenprinz aussah, bedeutete nicht, dass er auch tatsächlich einer war. Wenn er sich nur endlich etwas überziehen würde, fiele es Neve auch leichter, das nicht zu vergessen.

Widerstrebend zwang sie sich, ihren Blick von diesem atemberaubend maskulinen Oberkörper zu lösen.

5. KAPITEL

„Wie denn?“

Severo begegnete Neves verständnislosem Blick.

„Wie gedenken Sie Ihre Schwester zu finden, Neve Gray Macleod?“

Diese Frage beschäftigte Severo schon, seit sie in dem Haus Zuflucht gefunden hatten. Am erfolgversprechendsten erschien es ihm, einfach zu der Stelle zurückzugehen, wo er Neve gefunden hatte. Allerdings lag die größte Schwierigkeit vermutlich darin, sie davon zu überzeugen, dass er sich am besten allein auf den Weg machte.

Er könnte es mit dem Argument versuchen, allein käme er viel schneller voran. Ob sie allerdings rationalen Gründen zugänglich sein würde, wagte er mittlerweile zu bezweifeln.

Die Chancen, das Mädchen zu finden, standen nicht gut – wobei nicht gut viel besser klang als gleich null.

„Was meinen Sie damit?“, unterbrach Neves Stimme seine Überlegungen.

„Das, was ich gesagt habe: Wie wollen Sie sie finden?“

Er bemerkte den verwirrten Ausdruck in ihren Augen und ertappte sich bei einer ganz untypischen Regung – am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und ihr ins Ohr geflüstert: Alles wird gut.

Dafür würde er sorgen!

Unwillig presste er die Lippen aufeinander: Dieses Versprechen konnte er unmöglich geben – es stand einfach nicht in seiner Macht. Ebenso wenig wie er dieser Frau einen emotionalen Halt geben konnte.

„Ich weiß einfach, es wird mir gelingen. Weit kann sie ja nicht gekommen sein.“ Selbst in ihren eigenen Ohren klang diese Behauptung wie ein frommer Wunsch.

„Weit gekommen? Von wo aus denn? Haben Sie denn überhaupt eine Ahnung, wo wir sind?“ Vor seinem geistigen Auge sah Severo, in welchem Zustand er Neve gefunden hatte … halb erfroren, reglos. Seine Stimme nahm einen scharfen Ton an. „Vielleicht sollten Sie sich mal überlegen, wie Sie Ihrer Schwester helfen wollen, wenn man Sie in einem Leichensack abtransportiert hat.“

Schockiert zuckte Neve zusammen.

Drastische Umstände erfordern drastische Worte, dachte Severo.

„Sie können zurzeit nichts tun als abzuwarten und zu hoffen. Akzeptieren Sie das endlich! Vielleicht ist Hannah ja vernünftiger, als Sie annehmen, und hat einfach im Auto abgewartet, bis Hilfe kommt. Der Wirt in dem Gasthaus hat erzählt, beim letzten Schneesturm sei auch niemand ums Leben gekommen.“

Severo sah einen Funken Hoffnung in Neves Augen aufsteigen, sodass ihm seine Notlüge durchaus gerechtfertigt erschien.

„Wirklich? Glauben Sie wirklich, man wird Hannah finden?“

Neves Augen weiteten sich, als Severo ihr Gesicht in seine Hände nahm, jedoch wich sie nicht zurück. „Ja, das glaube ich wirklich.“

Seine Zuversicht gab Neve neuen Mut, ihre Anspannung ließ etwas nach. Zum ersten Mal erfüllte sie ein leiser Hoffnungsschimmer.

„Wahrscheinlich sitzt Ihre Hannah irgendwo in einer warmen Stube und macht sich Sorgen um Sie.“

Neve lachte trocken auf. „Ganz bestimmt nicht!“

Sie bezweifelte, dass es ihr jemals gelingen würde, Hannahs Vertrauen zu erringen. Würde sie für das vaterlose junge Mädchen immer ein Feind bleiben?

Fasziniert betrachtete Severo Neves Gesicht. Jeder Gedanke ließ sich unmittelbar an ihrer Mimik ablesen. Wie kann so ein Mensch sein Leben meistern, fragte er sich, dem man jede Regung sofort ansieht?

„Ihre Schwester und Sie hatten Streit?“

„Hannah ist nicht meine Schwester.“

Neve dachte daran, wie oft James den Irrtum korrigieren musste, sie selbst sei seine Tochter. Eigentlich kümmerte Neve sich nicht besonders darum, was die Leute dachten. Aber da es zwischen ihr und James keine Liebesheirat gewesen war, sondern eine Zweckehe, beschämten die erstaunten Blicke und hochgezogenen Augenbrauen sie zutiefst.

„Nicht Ihre Schwester?“

„Sie ist meine Stieftochter.“ In ihrer Stimme schwang bereits eine Rechtfertigung mit, und sie ärgerte sich über sich selbst.

Severo erstarrte. Über seine Züge glitt ein Ausdruck, den Neve nicht zu deuten wusste.

Neve war es gewohnt, dass andere Menschen befremdet reagierten. Das war ihr jedoch immer noch lieber, als diesem wissenden Blick zu begegnen, der Neve in die Schublade der Erbschleicherin steckte.

Glücklicherweise wurde sie damit nicht allzu oft konfrontiert – nicht einmal auf dem Höhepunkt des Skandals. Wahrscheinlich, weil in den Zeitungen nur ein einziges Foto von ihr existierte – von den Paparazzi auf James’ Beerdigung aufgenommen.

Auf diesem Foto trug sie ein schlichtes schwarzes Kleid und als einzigen Schmuck eine Perlenkette. Die Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt – Neve erkannte sich selbst kaum auf dem Bild.

Eine Woche später war sie unerkannt in Dirndl, Ballerinas, einer kanariengelben Jacke und unter einer Baskenmütze verstecktem Haar an den Paparazzi vorbeispaziert, die das Haus belagerten, um Fotos von der „scharlachroten Witwe“ zu bekommen.

Glücklicherweise hatte sich die Regenbogenpresse bald ein neues Opfer gesucht, und das Interesse an ihrer Person war erloschen.

Aber letztlich konnte es ihr ja egal sein, ob dieser Fremde sie für eiskalt und berechnend hielt – sie hatte wirklich drängendere Sorgen.

Unwillkürlich glitt Severos Blick zu Neves Hand hinunter. Ein Ehering war dort nicht zu sehen.

Wie sich wohl ihre schlanken Finger anfühlen? überlegte er. Schnell schob er den Gedanken beiseite – gewöhnlich konnte er sich besser kontrollieren.

„Sie sind verheiratet?“ Ihm fiel selbst auf, dass in seinem Ton eine eigenartige Heftigkeit lag.

Neve senkte den Blick und nickte. „Ich war verheiratet. Er – Hannahs Vater – ist tot.“

Noch immer brachte sie es nicht über die Lippen, von James als ihrem Ehemann zu sprechen.

Obwohl sie rein juristisch Mann und Frau waren, hatten sie die Ehe doch nie vollzogen. Neve betrachtete James als guten Freund, den sie sehr vermisste – aber nicht als ihren Ehemann.

Überrascht hob Severo die Brauen.

„Sie sind verwitwet? Seit wann?“

„James starb vor einem halben Jahr.“

„Und jetzt müssen Sie für seine halbwüchsige Tochter sorgen?“

Statt der üblichen Beileidsbekundungen versteckte Kritik an James zu hören, brachte Neve sofort dazu, diesen zu verteidigen.

„Meine Stieftochter! Und falls es sie interessiert, es ist eine sehr beglückende Erfahrung …“

„… ein Vorbild zu sein?“

„Ich gebe es ja zu, manchmal mache ich Fehler“, antwortete Neve kleinlaut.

„Natürlich machen Sie Fehler.“ Severo betrachtete eindringlich Neves mädchenhaftes herzförmiges Gesicht. Er spürte Empörung in sich aufsteigen. Diese junge Frau sollte eigentlich ihr Leben genießen und Spaß haben …

„Sie sind doch selbst noch ein Kind“, sagte er sanft und versuchte gleichzeitig, die ganz und gar unkindlichen Formen ihres Körpers zu übersehen.

„Ich bin vierundzwanzig!“, protestierte sie und richtete sich auf.

„So alt schon?“, spöttelte Severo. „Ließ sich denn da kein passenderer Ehekandidat finden?“

„Einer, der verhindern konnte, dass ein junges Mädchen in einem Schneesturm herumirrt, meinen Sie?“

„Ich dachte, sie wäre in einem Auto davongerast?“

„Vielen Dank, dass Sie mich daran erinnern!“, konterte Neve ironisch. „Zwei Minuten lang musste ich mir gerade mal nicht vorstellen, wie sie gegen einen Baum fährt oder einen Hang hinunterstürzt.“

„Sie neigen stark zum Dramatisieren.“

Neve fühlte sich einem hysterischen Anfall nahe. „Wenn dies hier keine dramatische Situation ist, dann müssen Sie ein sehr viel aufregenderes Leben führen als ich.“

„Ihr Problem ist Ihre Fantasie – sie ist einfach zu lebhaft.“

Lebhafte Fantasie! Das konnte doch wohl nicht sein Ernst sein! Wenn sie ihrer Fantasie wirklich die Zügel schießen lassen würde, dann hätte er Grund, sich zu beschweren. Im Moment legte sie doch noch eine heroische Selbstbeherrschung an den Tag.

„Meine Fantasie wäre weit weniger lebhaft, wenn Sie sich endlich ein Hemd überziehen würden!“

Ihre Blicke trafen sich – zwar nur für Bruchteile von Sekunden, aber es lag eine intensive Erotik darin. Schnell schlug Neve die Augen nieder. Bitte lass mich auf der Stelle im Erdboden versinken, flehte sie.

„Es ist peinlich“, fügte sie wenig überzeugend hinzu.

„Mein Körper ist Ihnen peinlich?“

Er braucht gar nicht so unschuldig zu tun, dachte Neve. Die Wirkung, die er auf mich hat, kann ihm ja wohl nicht entgangen sein. Und offensichtlich weidet er sich auch noch daran!

„Peinlich ist der falsche Ausdruck. Schließlich bin ich ja nicht prüde oder so.“

Nun hatte sie sich geoutet. „Andererseits – lieber prüde als exhibitionistisch“, schob sie aggressiv nach. Demonstrativ betrachtete sie ihn von oben bis unten.

Oh mein Gott, warum benehme ich mich nur so? Er muss mich ja für sexuell absolut ausgehungert halten!

„Sie halten mich für einen Exhibitionisten?“ Er klang überhaupt nicht beleidigt, lediglich leicht überrascht.

„Ich halte Sie …“ Abrupt brach sie ab. Leider ließ sich der Tumult in ihrem Inneren nicht so leicht abstellen.

„Ich habe keine Ahnung, wofür ich Sie halten soll“, gestand sie schließlich. Sie konnte sich vorstellen, dass manch eine Frau dies liebend gerne herausfinden würde – sie selbst gehörte jedoch nicht dazu.

„Keine Angst – ich bin harmlos, eine Stütze der Gesellschaft.“

Ganz bestimmt, schnaubte Neve innerlich ironisch, aber sie beschloss, nicht darauf einzugehen.

„Das beruhigt mich ungemein.“

„Ihre Stieftochter …“ Severo verstummte. „Dio!“, rief er unvermittelt aus. Er strich Neve über die Wange. „Es ist wirklich schwierig, Sie sich als Mutter vorzustellen!“

„Vielleicht sollten Sie nicht nach dem Äußeren urteilen?“, meinte Neve schnippisch, drehte sich um und ging durchs Zimmer.

„Vielleicht.“

„Was macht Sie eigentlich zum Experten in Sachen ‚gute Stiefmutter‘?“

„Ich bin Experte in Sachen ‚schlechte Stiefmutter‘.“

Etwas in seiner Stimme ließ Neve innehalten. Sie drehte sich zu Severo um. „Anscheinend fühlt sich diesbezüglich jeder zum Experten berufen.“ Es gelang ihr nicht, ihre Verbitterung ganz zu unterdrücken. „Wir Stiefmütter haben wirklich einen schlechten Ruf.“

„Leider spreche ich da aus Erfahrung. Mein Vater hat wieder geheiratet, als ich zehn war.“ Mein Gott, warum erzähle ich dieser Frau das alles!

„Und Sie haben darunter gelitten?“

Severos Miene wurde undurchdringlich. Über bestimmte Dinge redete er nicht – und er würde auch jetzt nicht damit anfangen.

„Vielen Dank für Ihre tiefenpsychologische Analyse, aber es geht im Moment wirklich nicht um meine Kindheit!“

„Vielleicht hat Ihre Stiefmutter ja versucht, ihr Bestes zu geben? Haben Sie daran mal gedacht?“

„Das hat Livia ganz bestimmt versucht.“ Tatsächlich war sie sehr talentiert darin, einen Keil zwischen Vater und Sohn zu treiben.

„Ich weiß natürlich nichts über die näheren Umstände, aber …“

„Richtig – und das wird sich auch so schnell nicht ändern. Ich schlage vor, Sie kümmern sich erst einmal um Ihre eigenen Angelegenheiten. Anschließend können Sie Ihre tiefgründigen Einblicke in die menschliche Seele immer noch mit anderen teilen.“

Bei dem sarkastischen Ton wurde Neve leichenblass. „Ich will überhaupt nichts mit Ihnen teilen.“

„Das macht mich jetzt aber wirklich betroffen.“

Ein eisiges Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.

„Wo sind meine Kleider?“

„Seien Sie nicht albern! Setzen Sie sich wieder. Sie werden nirgendwo hingehen.“

Aber er würde gehen – und zwar sofort, bevor er noch völlig die Kontrolle verlieren, sie an sich reißen und küssen würde. Diese Frau hatte etwas, das den Wall niederzureißen drohte, den er mühsam um sich errichtet hatte.

„Was soll das? Wo gehen Sie hin?“, rief Neve ihm nach, als er sich seine Jacke schnappte, die Tür aufriss und ohne ein weiteres Wort hinausstürmte.

Neve wollte ihm nachlaufen, als die Tür auch schon krachend ins Schloss fiel.

Was soll ich jetzt bloß tun? Mich hinsetzen und warten?

Zumindest war sie vorläufig erst einmal von seiner Gegenwart befreit. Was für ein unmöglicher Mann! Aber als Minute um Minute verstrich, begann sie sich Sorgen zu machen. Wenn er sich nun auch im Schneetreiben verirrt hatte? Wenn er womöglich verletzt war? Es war völlig unvernünftig gewesen, einfach so davonzustürmen! Wahrscheinlich wollte er ihr Angst einjagen! Da hatte er sich aber geschnitten. Es war ihr völlig egal, wenn er sich in Gefahr brachte!

Neves Gedanken drehten sich immer mehr im Kreis. Eine Katastrophenvorstellung jagte die nächste. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.

Irgendetwas musste sie tun!

Sie riss die Haustür auf und blickte in die Dunkelheit hinaus. Die Kälte traf sie wie eine Faust, und sie wickelte sich fester in die Decke. Immer noch versuchte sie die Finsternis zu durchdringen, als eine wütende Stimme ertönte: „Madre di Dio! Was machen Sie denn da! Gehen Sie sofort wieder hinein!“

Vor lauter Erleichterung hätte Neve am liebsten geweint, als die dunkle Gestalt aus den Schneewehen vor ihr auftauchte. Sie sah ihm zu, wie er ins Haus stapfte und sich die Schneeflocken abklopfte.

Plötzlich schlug ihre Stimmung um. Was glaubt er eigentlich, wer er ist!

„Sind Sie denn verrückt geworden!“

Diesmal war Severo es, der entgeistert aufblickte.

„Sie hätten umkommen können da draußen!“ Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf. „Das würde mir zu meinem Unglück gerade noch fehlen, dass auch Ihnen noch etwas passiert!“

„Ach so, es geht mal wieder nur um Sie. Ich muss sagen …“ Betroffen brach Severo ab, als Neve plötzlich zu weinen begann.

Tränen ließen ihn ja eigentlich unberührt, aber dieses Schluchzen, das ihren ganzen Körper ergriff, rührte ihn.

Er hielt die Arme steif an die Seiten gepresst und ballte die Fäuste, um dem Impuls, sie an sich zu reißen, nicht nachzugeben. Vor lauter Anstrengung, sich zu kontrollieren, bemerkte er nicht einmal, dass er sich bei dem Sturz verletzt hatte und der Schnitt in seiner Handfläche blutete.

„Bitte weinen Sie nicht! Es tut mir leid, wenn ich Sie geängstigt haben sollte!“

„Ich hatte keine Angst!“, log Neve. Sie schämte sich für ihren Ausbruch. „Aber ich bin total wütend. Was ist denn das für eine Art – einfach so davonzurennen und … Was wollten sie eigentlich da draußen?“

„Ich habe Ihren Ratschlag beherzigt. Bevor man eine Suchaktion startet, sollte man das Terrain sondieren. Deshalb habe ich eine Anhöhe gesucht.“

Genau genommen war es das Dach eines baufälligen Schuppens, das nach einiger Zeit unter Severos Gewicht zusammengebrochen war.

Über Neves Gesicht breitete sich ein Strahlen aus. Sie eilte auf ihn zu. „Sie wollen mir wirklich helfen, Hannah zu finden?“

Severo blickte gerührt in ihre strahlendblauen Augen, die dankbar zu ihm aufblickten.

Zögernd schüttelte er den Kopf. „Wir sind angewiesen worden, uns nicht von der Stelle zu rühren.“

„Wie? Das verstehe ich nicht.“ Neves Lächeln erlosch schlagartig.

„Es ist mir gelungen, mit dem Handy eine Verbindung zu bekommen. Ich habe den Rettungsdienst informiert.“

Eine Welle der Erleichterung durchströmte Neve. „Das ist ja fantastisch! Haben Sie ihnen von Hannah erzählt?“

Severo nickte. „Ein Suchtrupp wird nach ihr Ausschau halten. Man geht jedoch davon aus, dass sie bereits in Sicherheit ist.“

„Glauben Sie das auch?“

„Selbstverständlich! Auf jeden Fall haben sie mir dringend davon abgeraten, auf eigene Faust etwas zu unternehmen.“

„Aber ist es nicht besser, wenn sich so viele Helfer wie möglich auf die Suche machen?“

„Erfahrungsgemäß enden diese ‚Helfer‘ wohl meistens selbst als Opfer, die gerettet werden müssen.“

Frustriert sank Neve in sich zusammen. „Aber man muss doch irgendetwas tun! Geben Sie mir Ihr Handy!“

„Tut mir leid, aber die Verbindung ist wieder abgebrochen.“ Und solange man das Dach des Schuppens nicht reparierte, würde das auch so bleiben.

Misstrauisch sah Neve ihn an, während er den Reißverschluss seiner Jacke öffnete.

„Ich würde es trotzdem gern probieren.“

„Ich habe doch gesagt, es geht nicht.“

„Wie soll ich denn wissen, ob Sie die Wahrheit sagen?“

Ungläubig starrte Severo sie an. „Sie meinen, ich lüge?“

Neve beschloss, sich nicht einschüchtern zu lassen. „Sie waren doch von Anfang an dagegen, Hannah zu suchen.“

Severo weigerte sich, sich provozieren zu lassen. In aller Gemütsruhe zog er seine Jacke aus, die er über dem nackten Oberkörper trug. Die Jacke, die den Aufprall bei seinem Sturz gedämpft und ihn einigermaßen vor den Splittern des eingebrochenen Daches geschützt hatte.

Allerdings nicht ganz. Neves Augen weiteten sich vor Schreck, als sie die Abschürfungen auf Rücken und Schultern sah.

„Sie sind ja verletzt!“

„Halb so schlimm.“ Eigentlich hatte er großes Glück gehabt. Die Verletzungen am Oberkörper waren nur oberflächlich – allerdings musste der Schnitt in der Handfläche wahrscheinlich genäht werden.

„Halb so schlimm! Und Sie wagen es, mir vorzuwerfen, ich würde die Heldin spielen! Setzen Sie sich hin, ich werde …“

Neve zog einen Stuhl heran.

„Ich brauche keine Krankenschwester! Danke.“ Er ging an Neve vorbei ins Wohnzimmer.

Autor

Janice Maynard
Janice Maynard wuchs in Chattanooga, Tennessee auf. Sie heiratete ihre High-School-Liebe während beide das College gemeinsam in Virginia abschlossen. Später machte sie ihren Master in Literaturwissenschaften an der East Tennessee State University. 15 Jahre lang lehrte sie in einem Kindergarten und einer zweiten Klasse in Knoxville an den Ausläufern der...
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